Ille C. Gebeshuber
Wo die Maschinen wachsen
Wie Lösungen aus dem Dschungel
unser Leben verändern werden
Dem Leben gewidmet. Diesem magischen Funken,
der purer Physik und Chemie Sinn und Freude verleiht.
Und für das wir alle Verantwortung tragen.
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ISBN 978-3-7110-5158-5
Im Jahr 2008 rief mich der Regenwald zu sich.
Angefangen hat alles ganz langsam und unvermutet: Im März wurde ich vom österreichischen Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie als erfolgreiche Frau in Forschung und Technologie ausgezeichnet. Die Zeitschrift Woman ehrte mich als eine der zehn wichtigsten Frauen im Bereich »Wissenschaft und Forschung« in Österreich. Ich hatte viele gute Studenten und Studentinnen und war gerade dabei, meine Habilitationsschrift in Experimentalphysik am Institut für Allgemeine Physik der Technischen Universität Wien einzureichen. Im Juni gründeten wir das Exzellenzzentrum für Biomimetik der Technischen Universität Wien, genannt TU Bionik, in dem alle Fakultäten, die in dieser Richtung arbeiten, vertreten sind. In diesem Monat geschah dann auch etwas, das unser gesamtes weiteres Leben verändern würde – meines, das meines Mannes und das unserer zwei Graupapageien: Malaysia wurde Teil unseres Lebens. Ein fernes, tropisches Land, mit modernen Städten, alten Regenwäldern und mit zwei Bundesländern auf der magischen Insel Borneo.
Das erste Mal in Asien war ich 2006, in Singapur. Damals war Malaysia für mich eine fremde Welt im Norden des Stadtstaates. Nun sollte es meine Heimat werden! Mein Mann Mark, der vier Studien abgeschlossen hat – Bergbau, Verfahrenstechnik, Wirtschaft und Jus –, erhielt ein wunderbares Angebot, in Kuala Lumpur für eine österreichische Firma zu arbeiten, und nach einigen Diskussionen beschlossen wir, für ein paar Jahre in die Tropen zu gehen. Ich sah mir die malaysischen Universitäten im Internet an, und eine fremde Welt offenbarte sich mir. Fremd aussehende Männer mit langen Bärten, ein komplexes Universitätssystem aus Forschungs-, Lehr- und Privatuniversitäten, und das meiste war in einer mir fremden Sprache – Bahasa Melayu – verfasst. Da ich nicht zig Bewerbungsschreiben verfassen wollte, beschloss ich, mich auf mein Glück zu verlassen, und besuchte die malaysische Botschaft im 21. Wiener Bezirk. Eine nette Dame, malaysische Physikerin bei der Internationalen Atomenergiebehörde, der IAEA, empfing mich, und ich teilte ihr mit, dass ich für einige Jahre bei einer Universität in ihrem Land arbeiten möchte. Sie nahm einige Eckdaten auf, ich gab ihr meinen Lebenslauf und dann fuhr ich wieder zur TU.
Eine Woche später kam ein Anruf: Professor Datin Dr. Siti Rahayah Ariffin, Dekanin der Erziehungswissenschaften an der Nationalen Universität Malaysia, sei gerade in Wien und würde mich gern treffen. Ich fuhr zur Botschaft und wir setzten uns zusammen. Wir plauderten stundenlang, dann wollte sie mein Labor sehen. Ein Fahrer der Botschaft brachte uns mit einem schönen, eindrucksvollen Botschaftsauto vor die Tore der TU. Ich zeigte ihr mein Labor, meine Arbeiten, wissenschaftlich und populärwissenschaftlich, und am Abend gingen mein Mann, Professor Siti und ich essen. Wieder eine Woche später erhielt ich einen weiteren Anruf – und hatte eine volle Professur in einem unbekannten, fernen Land!
Wir heirateten im Juli, mein Mann fuhr im August in die Tropen, ich habilitierte mich Ende November und Anfang Dezember machte ich mich mit unseren beiden afrikanischen Graupapageien Hasi und Jocki auf die lange Reise. In Malaysia angekommen, war ich überwältigt von der Freundlichkeit der Menschen, der Hitze und hohen Luftfeuchtigkeit, dem guten Essen und der Großstadt, in der wir nun lebten. Der Großraum Kuala Lumpur hat über sieben Millionen Einwohner, die aus verschiedensten Volksgruppen stammen. Es gibt Malayen, Chinesen, Inder und vereinzelt Europäer. Ich begann schnell, diese fremde Welt zu lieben. Auch die Vögel fanden die Bedingungen ganz hervorragend und genossen ihre Außenvoliere im 16. Stock.
Im Jänner fing ich dann an, am Institut für Mikroingenieurswissenschaften und Nanoelektronik an der Nationalen Universität Malaysia zu arbeiten. Ich hatte nette Kollegen und die Labors waren beeindruckend. Allerdings leider nur optisch – viele der Geräte funktionierten nicht. Ich war verzweifelt und wusste nicht so recht, was ich als Experimentalphysikerin in diesem Land tun sollte, in dem zwar alle sehr nett waren, aber einfach nicht die Rahmenbedingungen herrschten, die ich gewohnt war – an meinem wissenschaftlichen Heimatinstitut in Wien haben wir ein top ausgestattetes Nanotechnologielabor mit wunderbaren Mikroskopen und anderen Geräten, um die Welt der Physik zu erforschen. Eines dieser Mikroskope, ein Ultrahochvakuum-Rasterkraftmikroskop gekoppelt mit einem Rastertunnelmikroskop, mit dem man sich kleinste Oberflächen unter hochreinen Bedingungen ansehen kann, hatte mich 1999 von meinem Postdoc-Aufenthalt in Kalifornien nach Wien gelockt. Von da an war ich voll in meinem Element gewesen und hatte mit Studenten aus verschiedensten Ländern, die durch internationale Forschungsprojekte gefördert wurden, spannende Dinge wie Ionen-Oberflächeninteraktionen, Nanotribologie und hochauflösende Mikroskopie von lebenden Zellen erforscht. Irritiert ob der nicht vorhandenen Möglichkeit, experimentell zu arbeiten, schrieb ich in Malaysia vorerst einmal etliche Artikel für wissenschaftliche Journale und Buchkapitel. Auch privat wurde das Land langsam etwas eintönig.
»Gibt es hier nichts anderes als Shopping und Essen? Das ist ja eine Zeit lang recht lustig, aber ...« – die ältere Professorin sah mich freundlich an. Wir waren bei einem offiziellen Abendessen der Universität, und ich saß am Tisch mit den Dinosauriern, wie sie sich selbst nannten. Professoren, die schon seit dem Beginn ihrer Laufbahn an meiner neuen Universität arbeiteten.
Sie sagte: »Ja, gibt es! Die malaysischen Naturfreunde. Sie veranstalten Regenwaldexpeditionen. Werden Sie doch Mitglied und schauen Sie sich das an.«
Gesagt – getan. Schon bei meiner ersten Expedition, im Juni 2009 nach Borneo, wurde mir klar, was ich in diesem Land machen würde: keine Laborexperimente für die nächsten Jahre. Kein Ansammeln von Unmengen von Daten. Sondern vom Regenwald lernen. Mein Labor war nun der Dschungel.
Ansatzweise hatte ich diese andere Art des Zugangs zur Forschung schon im Jahr 2008 in Costa Rica kennen- und lieben gelernt. Damals waren wir jedoch nur einige Tage im Regenwald gewesen. Nun hatte ich mehrere Jahre. Geplant waren zwei, schlussendlich wurden es sieben. Eine wunderbare Zeit in meinem Leben, die ich um nichts missen möchte.
In Malaysia hatte ich nun malaysische, indische, indonesische, vietnamesische, britische, deutsche und österreichische Studenten aus diversen Fachgebieten wie der Architektur, der Kunst, der Biologie, der Nanoelektronik, der Medizintechnik, dem Tissue Engineering, der Physik, den Materialwissenschaften, der Veterinärmedizin und der Mechanik. Wir waren in den verschiedensten Regenwäldern der malaysischen Halbinsel und Borneos, in Kuba, in Indien, in Neuseeland, in Thailand, in Indonesien und Sri Lanka. Wir lernten von Farnen, Bäumen, Pilzen, Früchten, Blumen, Schmetterlingen, Motten, Käfern, Spinnen – und voneinander. Anfangs konzentrierten wir uns hauptsächlich auf materialwissenschaftliche Aspekte.
Dies sollte sich ändern, als ich eine Einladung als Keynote-Sprecherin für eine Konferenz in Saudi-Arabien erhielt, deren Thema »Nachhaltigkeit durch Biomimetik« war. Ich begann, mich mit Nachhaltigkeit intensiv auseinanderzusetzen. Ich sah mir David Attenboroughs DVD-Serie State of the Planet (Der Zustand des Planeten) an, die von der BBC herausgegeben worden war. Dann las ich für meine wissenschaftliche Arbeit für die Konferenz, die ich unter dem Titel Nachhaltigkeit in Wissenschaft, Architektur und Design: Lektionen von Attenborough, Loos and Biornametics verfasste, die wissenschaftlichen Originalquellen. Und war zwei Wochen lang völlig aufgelöst: Mir war bewusst geworden, wie traurig es um unsere Welt steht, und dass massiver Handlungsbedarf herrscht. Wir stehen an der Schwelle zu einem menschengemachten Massenaussterben der Arten. Wir haben unsere Erde an einen Wendepunkt gebracht – von einem Tag zum anderen könnten sich die Umgebungsbedingungen rapide ändern. Wir haben etliche Grenzen unseres Planeten endgültig überschritten und verunmöglichen dadurch gutes Leben für uns, nachfolgende Generationen und die Biosphäre generell. Wir verpesten Luft, Erde, Ozeane, Flüsse und uns selbst. Unsere Art und Weise, mit natürlichen Ressourcen umzugehen, die Gewinnung der Grundmaterialien für unsere Produkte, die Herstellungsweisen, die Entsorgung – überall da müssen wir besser werden. Es reicht nicht, traurig zu sein. Wir müssen handeln.
Die Welt ist so groß und vielfältig und bunt, dass es einem Menschen allein nicht möglich ist, alles zu verstehen und alles zu wissen. Wenn wir versuchen wollen, die großen Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich anzugehen, müssen wir gemeinsam agieren. Es gibt kein Allheilrezept und oft die Gefahr, fatale Fehler zu machen. Naturwissenschaftler allein können nicht für alles die Lösungen erarbeiten, ebenso wenig wie Politiker oder Sozialwissenschaftler. Aber wir können versuchen, gemeinsam zu arbeiten, interdisziplinär und fächerübergreifend. Sehr wichtig ist es dabei, Input von anderen zu akzeptieren, nicht nur von Menschen, sondern auch von der uns umgebenden Natur. Dies ist einer der Gründe, warum ich so gern mit interdisziplinären Teams auf Regenwaldexpeditionen gehe.
Unser Planet zeigt uns in vielen Bereichen selbst, wie wir ihn schützen können. In den wenigen weltweit verbliebenen jungfräulichen Regenwäldern ist die Sache noch einigermaßen in Ordnung. Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen und Menschen leben im Einklang, verstorbene Organismen dienen als Futter oder Dünger für Lebewesen. Dort lebende Urvölker, die uns über Kontaktleute mitteilten, dass sie keine Begegnungen mit der modernen Zivilisation wünschen, nennen uns »Dämonen«.
In den sieben Jahren in Malaysia genoss ich die Freiheit, auf ausgedehnte Expeditionen zu gehen, mit verschiedensten Experten und Expertinnen zu reden, mit Wissenschaftlerinnen, Studenten und der indigenen Bevölkerung zu interagieren, mich völlig losgelöst von Fachgrenzen mit dem Zustand der Welt zu beschäftigen und mögliche Herangehensweisen zu entwickeln, wie wir die globalen Probleme der Menschheit angehen könnten. Wissenschaft und Technologie können derart große, miteinander verknüpfte und einander bedingende Problemkreise natürlich nicht allein lösen. Wir müssen alle zusammenarbeiten und unseren Egoismus und unsere Gier abstreifen. In diesem Sinn ist das Konzept der siebten Generation erwähnenswert, das von einigen indigenen Völkern vertreten wird: Bei allen Handlungsweisen ist die Auswirkung auf die siebte nachfolgende Generation zu beachten, und nichts von dem, was wir tun, soll deren Möglichkeit, gut zu leben, negativ beeinflussen.
Es gibt viele wunderbare Spezialisierungen in der heutigen Wissenschaft. Unmengen an Publikationen werden verfasst, meistens in einer Sprache, die nur für Kollegen und Kolleginnen aus demselben Fachgebiet verständlich ist. Doch die großen Probleme der Menschheit sind nicht nur in einzelnen Fachgebieten angesiedelt. Um sie erfolgreich zu adressieren, brauchen wir Zugang zum Wissen der Menschheit, in einer verständlichen Form, die transdisziplinären Wissensaustausch der unterschiedlichen Disziplinen möglich macht. Spezialisten brauchen eine Sprache, die auch die anderen verstehen, um gemeinsam Dinge erforschen und entwickeln zu können.
Ich halte es für gefährlich, wenn man sich auf all seine Fragen Antworten aus dem Internet holt, ohne davor gründlich drüber nachgedacht zu haben. Man verlernt, folgerichtig zu denken, zu verknüpfen und Trends und Entwicklungen zu erkennen. Ich möchte Ihnen hierzu ein Beispiel geben: Sehr oft werde ich bei Interviews gefragt, was meine wichtigste wissenschaftliche Erkenntnis sei. Meine Antwort ist für viele überraschend: Ich entdeckte, im zarten Alter von fünf Jahren, wofür Samen gut sind. Ich war im Garten meines Elternhauses und beobachtete die Blumen, wie sie auf- und verblühten, wie Samenkapseln entstanden, die Samen rausfielen und wie kleine Pflänzchen an diesen Stellen wuchsen. Diese wissenschaftlichen »Experimente« dauerten viele Monate und am Ende hatte ich die Lösung. Ich glaube, dass mein gesamter Lebensweg anders verlaufen wäre, hätte ich damals, als ich das erste Mal eine Samenkapsel sah, googeln können, wofür sie gut ist. Und deswegen, trotz all der schönen Erkenntnisse, die ich seither gewonnen habe, halte ich mein eigenständiges Verknüpfen von Knospe, Blüte, Samenkapsel, Samenkorn und neuer Pflanze für meine wichtigste.
Ich sehe mich selbst als Grenzgängerin in den Naturwissenschaften, ein ganzheitlicher und interdisziplinärer Zugang zur Forschung ist für mich extrem wichtig. Durch die Ausbildung meiner Studenten, durch Vorträge für die Fachwelt und für die breite Öffentlichkeit, durch Radio- und TV-Sendungen, durch meine wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen streue ich Samen, die die Möglichkeit haben, zu starken und gesunden Pflanzen heranzuwachsen, die hoffentlich dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Die belebte Natur ist nicht nur funktional, sondern auch wunderschön. Immer wieder wird bei Expeditionen innegehalten und gestaunt, ob der überwältigenden Einzelheiten, ob der Kooperation über Artengrenzen hinweg, die wir feststellen, und ob der Ruhe und Gelassenheit, in der einfachste Völker leben. Und genau diese Freude und das Staunen über die Schönheit der Natur gibt uns die Motivation für unsere Forschungen. Die Kommunikation (Crosstalk, also ein gegenseitiges Geben und Nehmen, nicht eine Übertragung, die nur in eine Richtung erfolgt) zwischen Natur, Mensch und Technik ermöglicht neue Zugänge und Blickweisen, sie bringt uns dazu, die Natur nicht als Feind zu sehen, sondern als Partner und Freund.
Stechmücken sind dafür ein gutes Beispiel. Normalerweise denkt man bei einer Stechmücke an juckende, rote Pusteln, an nervenaufreibende Geräusche in der Nacht und aktuell an das Zika-Virus. Wenn meine Studenten und ich an Stechmücke denken, haben wir neben diesen Assoziationen noch einige weitere, wie Pumpen, Sensoren, reproduzierende Nanosysteme und Mikroflieger. Eine Stechmücke ist ein sehr kleines Tier, das so viel kann. Sie kann fliegen, sie hat schillernde Flügel, sie kann Menschen finden, sie kann der nach ihr schlagenden Hand ausweichen, sie kann Blut saugen, sie kann sehen, hören, sie kann sich vermehren. Und das alles, indem sie aus der lokalen Umgebung ein paar Tropfen Blut oder Nektar und ein wenig Wasser aufnimmt. Wenn die Stechmücke tot ist, wird sie zu Futter oder Dünger für andere Lebewesen. Eigentlich ein Wunder. Wenn wir einen Roboter bauten, der dasselbe kann wie eine Stechmücke, wäre das Konstrukt groß, schwer und teuer, es würde unzählige Metalle beinhalten, die aus verschiedensten Teilen der Welt stammen, transportiert und in Form gepresst werden müssen. Und unsere Robotermücke könnte auch niemandem als Futter oder Dünger dienen – man müsste sie am Ende ihrer Zeit umständlich entsorgen.
Interessiert hat mich die Biologie schon immer. Studieren wollte ich sie nicht – zu schlechte Berufsaussichten, zu wenige Biologen, die schlussendlich etwas arbeiten, das sie freut und fasziniert. Aber als ich hörte, dass es im Rahmen der Biomimetik die Möglichkeit gibt, sich als Physikerin, als Technikerin, intensiv mit der Biologie auseinanderzusetzen, begann ich sofort, in diesem Gebiet loszustarten.
Ich habe in diesem Buch Erfahrungen aus sieben Jahren Leben und Arbeit in Malaysia niedergeschrieben. Verfasst wurde es in den letzten Wochen in den Tropen, Ende 2015, und in den ersten Wochen wieder zurück in Europa, Anfang 2016. Ich möchte den Lesern und Leserinnen das Inspirationspotenzial der belebten Natur im Allgemeinen und der Biomimetik im Speziellen für wegweisende neue technische Herangehensweisen näherbringen. Diese Art, Forschung zu betreiben, ist für jede Wissenschaft potenziell von Bedeutung, und jeder Wissenschaftszweig kann von ihr profitieren.