Cover

Buch

London, 1841. James Trenchard ist ein ehrgeiziger Mann, der sich mit seinem Baugewerbe einen gewissen Wohlstand erarbeitet hat. Vor 25 Jahren starb seine Tochter im Kindbett. Ihr Sohn Charles, Spross einer heimlichen Liaison mit einem Mann aus dem Hochadel, wurde in die Obhut eines Geistlichen gegeben und seine Herkunft vertuscht. Jetzt droht das Familiengeheimnis enthüllt zu werden. Einzig die beiden Großmütter Anne Trenchard und Lady Brockhurst können den Enkelsohn vor üblen Machenschaften bewahren. Trotz des unterschiedlichen gesellschaftlichen Standes müssen sie gemeinsam für den Enkel einstehen. Können sie das Geheimnis um Charles’ Herkunft lüften und alles zum Guten wenden? Und wird er die Frau heiraten können, die er liebt, obwohl sie einem anderen versprochen ist?

Autor

Julian Fellowes wurde 1949 in Ägypten geboren, wuchs in England auf und studierte in Cambridge. Er ist Schauspieler und preisgekrönter Autor von Romanen, Drehbüchern und Theaterstücken; für »Gosford Park« wurde er mit einem Oscar ausgezeichnet, die Serie »Downton Abbey« hat ihn weltweit berühmt gemacht. 2009 wurde er in den Adelsstand erhoben. Julian Alexander Kitchener-Fellowes, Baron Fellowes of West Stafford, lebt mit seiner Frau Emma im Südwesten der englischen Grafschaft Dorset.

Auf Deutsch liegen außerdem seine Romane »Snobs« und »Eine Klasse für sich vor«.

Julian Fellowes

Belgravia

Roman

Aus dem Englischen
von Maria Andreas

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»Belgravia« im Verlag Weidenfeld & Nicolson,
an imprint of The Orion Publishing Group Ltd., London.

Copyright © 2016 by Julian Fellowes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Covermotiv: © Lee Avison , Philip Askew, Ilina Simeonova / Trevillion Images; Marc Owen/Arcangel

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20517-1
V004

www.cbertelsmann.de

Meiner Frau Emma gewidmet,
ohne die
nichts in meinem Leben
so ganz gelingen könnte

Tanz in die Schlacht

Die Vergangenheit – wir haben es schon oft gehört – ist ein fernes Land, dort gelten andere Regeln. Das mag zutreffen, ganz augenfällig sogar, was Sitten und Moral angeht, die Rolle der Frau, die Herrschaft der Aristokratie und Millionen Alltagsdinge. Anderes wiederum mutet uns sehr ähnlich an. Ehrgeiz, Neid, Zorn, Habgier, Güte, Selbstlosigkeit und vor allem anderen die Liebe haben Entscheidungen schon immer ebenso machtvoll mitbestimmt wie heute. Diese Geschichte handelt von Menschen, die vor zweihundert Jahren lebten, aber wonach sie sich sehnten, womit sie haderten, die Leidenschaften, die in ihren Herzen wüteten, das alles gleicht nur zu oft den Dramen, die wir in unserer Zeit, auf unsere Art durchleben …

Die Stadt wirkte nicht gerade wie kurz vor Kriegsausbruch, noch weniger wie die Hauptstadt eines Landes, das vor kaum drei Monaten einem Königreich entrissen und einem anderen einverleibt worden war. Im Juni 1815 schien Brüssel ein einziges Fest, die Menschen drängten sich vor den bunten Marktständen, und durch die breiten Avenuen rollten offene, in auffälligen Farben lackierte Kutschen, die ihre Fracht, hochnoble Damen und deren Töchter, zu dringlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen beförderten. Niemand hätte vermutet, dass Napoleon Bonaparte auf dem Vormarsch war und jeden Augenblick am Rand der Stadt sein Lager aufschlagen konnte.

Das alles interessierte Sophia Trenchard wenig, als sie sich einen Weg durch die Menge bahnte, mit einer Entschlossenheit, die ihre achtzehn Jahre Lügen strafte. Wie jede wohlerzogene junge Frau, noch dazu, wenn sie sich im Ausland aufhielt, wurde sie von ihrer Zofe begleitet, Jane Croft, mit ihren zweiundzwanzig Jahren ihrer Herrschaft um vier Jahre voraus. Aber wenn man von einer der beiden Frauen behaupten konnte, dass sie die andere vor schmerzhaften Zusammenstößen schützte, dann von Sophia, die sichtlich bereit war, es mit allem aufzunehmen. Sie war hübsch, auf ihre blonde, blauäugige, klassisch englische Art sogar sehr hübsch, aber der überaus scharfe Schnitt ihres Mundes verriet, dass diese junge Dame keine Erlaubnis ihrer Frau Mama einholen würde, um sich in ein Abenteuer zu stürzen. »Ein bisschen Beeilung, bitte, sonst ist er schon beim Lunch, und unser Ausflug war umsonst.« Sie steckte in einer Lebensphase, die fast jeder Mensch durchmachen muss, wenn er die Kindheit hinter sich gelassen hat und in einem Gefühl scheinbarer Reife, unbehelligt von Erfahrungen, alles für möglich hält. So lange jedenfalls, bis er wirklich erwachsen wird und das Leben ihn mit Nachdruck eines Besseren belehrt.

»Ich gehe, so schnell ich kann, Miss«, murmelte Jane, und wie zum Beweis wurde sie von einem vorbeieilenden Husaren zur Seite gestoßen; der Mann blieb nicht einmal stehen, um zu sehen, ob er sie verletzt hatte. »Das ist ja wie auf dem Schlachtfeld hier.« Jane war keine Schönheit wie ihre junge Herrschaft, hatte aber ein lebhaftes, rotbackiges Gesicht mit robusten Zügen und hätte wohl besser aufs Land gepasst als in die Großstadt.

Auf ihre Art war sie sehr resolut, was ihre junge Herrschaft an ihr schätzte. »Nur keine Schwäche vortäuschen.« Sophia hatte ihr Ziel fast erreicht und bog von der Hauptstraße in einen Hof, der einst ein Viehmarkt gewesen sein mochte, nun aber von der Armee als Versorgungslager requiriert worden war. Von großen Wagen wurden Kisten und Säcke abgeladen und in die umgebenden Lagerhäuser geschafft; es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Offizieren aus jedem Regiment, die sich in Gruppen beratschlagten und zuweilen auch stritten. Die Ankunft einer aparten jungen Frau und ihrer Zofe blieb nicht unbemerkt; die Gespräche ebbten ab, verstummten fast. »Bitte lassen Sie sich nicht stören«, sagte Sophia und sah sich ruhig um. »Ich bin auf dem Weg zu meinem Vater, Mr Trenchard.«

Ein junger Mann trat vor. »Wissen Sie, wohin, Miss Trenchard?«

»Ja, vielen Dank.« Sie ging auf einen etwas imposanteren Eingang im Hauptgebäude zu und stieg, die aufgelöste Jane im Schlepptau, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Hier traf sie auf weitere Offiziere, die offenbar darauf warteten, vorgelassen zu werden. Aber Sophia dachte gar nicht daran, sich in die Schlange einzureihen, sondern stieß gleich die Tür auf. »Sie bleiben inzwischen hier«, sagte sie zu Jane. Die trat ein paar Schritte zurück und hatte durchaus nichts dagegen, von den Männern neugierig beäugt zu werden.

Der Raum, den Sophia betrat, war groß, hell und ansprechend, eingerichtet mit einem stattlichen Schreibtisch aus poliertem Mahagoni und weiteren Möbeln im selben Stil, aber er diente dem Geschäft, nicht der Geselligkeit, man kam zur Arbeit her und nicht zum Vergnügen. In der Ecke musste sich ein Offizier in Galauniform die Belehrungen eines korpulenten Mannes Anfang vierzig gefallen lassen. Der kleine Dicke fuhr angesichts der Störung herum: »Wer zum Teufel platzt hier so einfach herein?« Doch beim Anblick seiner Tochter hob sich seine Laune sofort, und in seinem zornroten Gesicht leuchtete ein zärtliches Lächeln auf. »Ja?«, sagte er. Sophia warf einen Blick zu dem Offizier. Ihr Vater nickte. »Captain Cooper, Sie müssen mich entschuldigen.«

»Schön und gut, Trenchard …«

»Trenchard?«

»Mr Trenchard. Aber wir müssen das Mehl noch heute Abend haben. Ich musste meinem befehlshabenden Offizier versprechen, nicht ohne Mehl zurückzukehren.«

»Und ich verspreche Ihnen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, Captain.« Der Offizier war sichtlich verärgert, musste sich aber damit zufriedengeben, weil er nichts Besseres mehr erwarten konnte. Mit einem Nicken zog er sich zurück, und der Vater blieb mit seiner Tochter allein. »Hast du sie?« Seine Aufregung war mit Händen zu greifen, seine Begeisterung fast anrührend: Dieser beleibte Geschäftsmann mit dem schütteren Haar war plötzlich aufgekratzt wie ein kleines Kind an Heiligabend.

Sophia trieb die Spannung bis zum Äußersten; ganz langsam öffnete sie ihren Pompadour und zog behutsam ein paar weiße Karten hervor. »Ich habe drei.« Sie kostete ihren Triumph voll aus. »Eine für dich, eine für Mama und eine für mich.«

Er riss sie ihr geradezu aus der Hand. Nach einem Monat hungern und dürsten hätte er nicht gieriger sein können. Der Kupferdruck war von schlichter Eleganz:

Die Duchess of Richmond

lädt in ihr Palais

Rue de la Blanchisserie 23

Donnerstag, 15. Juni 1815

Kutschen ab drei Uhr Tanz ab zehn Uhr

Er starrte auf die Einladungen. »Vermutlich ist Lord Bellasis schon vorher geladen, zum Dinner?«

»Sie ist seine Tante.«

»Natürlich.«

»Es wird kein Dinner geben. Kein offizielles. Nur für die Familie und ein paar Leute, die bei ihnen zu Besuch sind.«

»Es heißt immer, dass es kein Dinner gibt, aber in der Regel gibt es doch eins.«

»Du hast doch nicht erwartet, dass du dazugebeten wirst?«

Er hatte davon geträumt, aber nicht damit gerechnet. »Nein. Nein. Ich freue mich sehr.«

»Edmund meint, irgendwann nach Mitternacht wird ein Souper serviert.«

»Edmund darfst du ihn nur vor mir nennen, vor niemandem sonst.« Doch seine fröhliche Laune war wiederhergestellt, die flüchtige Enttäuschung durch den Glanz des Bevorstehenden weggewischt. »Du musst gleich zu deiner Mutter zurück. Sie wird jede Minute für die Vorbereitungen brauchen.«

Sophia war zu jung und besaß zu viel unverdientes Selbstvertrauen, um zu erfassen, was sie da Ungeheuerliches erreicht hatte. Außerdem dachte sie praktischer als ihr Papa, der von der vornehmen Welt wie hypnotisiert war. »Es ist ohnehin zu spät, um neue Kleider nähen zu lassen.«

»Aber nicht zu spät, um alte aufzuputzen.«

»Mama wird nicht hingehen wollen.«

»Wird sie aber, weil sie muss.«

Sophia wandte sich zur Tür, doch dann fiel ihr noch etwas ein. »Wann sagen wir es ihr?« Sie sah ihren Vater eindringlich an. Die Frage überrumpelte ihn; er begann, mit den goldenen Schlüsselringen an seiner Uhrkette zu klimpern. Es war ein merkwürdiger Moment. Alles schien noch wie einen Augenblick zuvor, aber der Ton und der Inhalt des Gesprächs hatten sich verändert. Jedem Außenstehenden wäre klar gewesen, dass Vater und Tochter plötzlich von Gewichtigerem sprachen als von der Wahl der Garderobe für den Ball der Duchess.

Trenchard antwortete sehr bestimmt. »Noch nicht. Alles muss korrekt vonstatten gehen. Wir sollten auf ein Zeichen von ihm warten. Und jetzt fort mit dir. Schick diesen dummen Schwätzer wieder herein.« Seine Tochter tat wie geheißen und schlüpfte hinaus, aber noch nach ihrem Verschwinden hing James Trenchard seltsam unruhigen Gedanken nach. Dann ging die Tür auf, und Captain Cooper trat herein. Trenchard nickte ihm zu. Zeit, wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Sophia hatte recht. Ihre Mutter wollte nicht auf den Ball gehen. »Wir sind nur gefragt worden, weil jemand abgesagt hat.«

»Was macht das schon?«

»Es ist einfach Unsinn.« Mrs Trenchard schüttelte den Kopf. »Wir werden dort keine Menschenseele kennen.«

»Papa wird Leute kennen.«

Es gab Momente, in denen Anne Trenchard sich über ihre Kinder ärgerte. Sie wussten so wenig vom Leben, und dann diese herablassende Art! Sie waren von klein auf nach Strich und Faden verwöhnt worden, ihr Vater hatte sie verhätschelt, bis sie beide ihre glücklichen Lebensumstände für selbstverständlich hielten und kaum einen Gedanken daran verschwendeten. Sie wussten nichts von dem Weg, den ihre Eltern gegangen waren, aber ihre Mutter erinnerte sich an jeden winzigen Schritt auf dem steinigen Pfad. »Er wird ein paar Offiziere kennen, die zu ihm ins Kontor kommen und Proviant ordern. Die werden nicht schlecht staunen, wenn sie den Ballsaal mit dem Mann teilen, der ihre Leute mit Brot und Bier beliefert.«

»Ich hoffe, vor Lord Bellasis wirst du nicht so reden.«

Mrs Trenchards Züge wurden ein wenig weicher. »Liebes«, sagte sie und nahm die Hand ihrer Tochter zwischen die ihren, »hüte dich vor Luftschlössern.«

Sophia riss ihre Hand los. »Du traust ihm natürlich keine ehrenhaften Absichten zu.«

»Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass Lord Bellasis ein ehrenhafter Mann ist. Und ganz gewiss sehr liebenswert.«

»Na also.«

»Aber er ist der älteste Sohn eines Earls, mein Kind, mit aller Verantwortung, die eine solche Position mit sich bringt. Er kann bei der Wahl seiner Frau nicht nur sein Herz sprechen lassen. Das nehme ich ihm nicht übel. Ihr seid beide jung und seht blendend aus, und ihr habt euren kleinen Flirt genossen, der keinem von euch geschadet hat. Bisher.« Dem letzten Wort gab sie besonderes Gewicht, ein klarer Hinweis, worauf sie hinauswollte. »Aber das muss aufhören, bevor schädliches Gerede aufkommt, sonst wirst du darunter zu leiden haben, Sophia, nicht er.«

»Und dass er uns Einladungen zu dem Ball seiner Tante verschafft hat, bedeutet für dich gar nichts?«

»Es bedeutet für mich nur, dass du ein reizendes Mädchen bist und er dir eine Freude machen möchte. In London wäre ihm das nicht gelungen, aber in Brüssel wirft der Krieg auf alles seine Schatten und setzt die normalen Regeln außer Kraft.«

Letztere Bemerkung brachte Sophia mehr auf als alles andere. »Du meinst, nach den normalen Regeln sind wir für die Freunde der Duchess keine akzeptable Gesellschaft?«

Auf ihre Art stand Mrs Trenchard ihrer Tochter an Charakterstärke nicht nach. »Genau das meine ich, und du weißt, dass es stimmt.«

»Papa wäre anderer Meinung.«

»Dein Vater hat erfolgreich einen weiten Weg zurückgelegt, weiter, als es sich die meisten Leute vorstellen können. Deshalb ist er blind für die natürlichen Grenzen, die seinem Aufstieg gesetzt sind. Sei zufrieden mit dem, was wir heute sind. Dein Vater hat es in der Welt weit gebracht. Darauf kannst du stolz sein.«

Die Tür ging auf, und Mrs Trenchards Zofe trat mit dem Kleid für den Abend ein. »Komme ich zu früh, Madam?«

»Nein, gar nicht, Ellis. Kommen Sie nur herein. Wir waren fertig, nicht wahr?«

»Wenn du meinst, Mama.« Sophia verließ das Zimmer, aber ihr hochgerecktes Kinn verkündete, dass sie sich noch lange nicht geschlagen gab.

Ellis schwieg nachdrücklich, während sie ihren Pflichten nachging, ein Zeichen, dass sie nur so brannte vor Neugier, worüber die beiden Frauen gestritten hatten. Doch Anne ließ sie ein paar Minuten zappeln; sie wartete, bis Ellis ihr Nachmittagskleid aufgeknöpft hatte und sie es von den Schultern gleiten lassen konnte.

Dann sagte sie: »Wir sind am Fünfzehnten zum Ball der Duchess von Richmond eingeladen.«

»Ist nicht wahr!« Mary Ellis war in der Regel mehr als geschickt darin, ihre Gefühle zu verbergen, aber diese Nachricht überrumpelte sie schlichtweg. Doch sie erholte sich rasch. »Das heißt, wir sollten eine Entscheidung über Ihre Garderobe treffen, Madam. Ich brauche Zeit, um sie herzurichten, wenn es denn so ist.«

»Wie wäre es mit dem seidenen Dunkelblauen? Ich habe es in dieser Saison nicht oft getragen. Vielleicht können Sie schwarze Spitze auftreiben, um den Halsausschnitt und die Ärmel zu garnieren.« Anne Trenchard war praktisch veranlagt, aber nicht gänzlich frei von Eitelkeit. Sie hatte sich ihre gute Figur bewahrt, und mit ihrem klaren Profil und dem kastanienbraunen Haar konnte sie durchaus als Schönheit gelten. Das wusste sie auch, ohne sich deshalb närrischen Illusionen hinzugeben.

Ellis kniete auf dem Boden und hielt ihrer Herrin ein strohfarbenes Abendkleid aus Taft hin, damit sie hineinsteigen konnte. »Und der Schmuck, Madam?«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich werde wohl tragen, was ich habe.« Sie drehte sich um, damit die Zofe das Kleid im Rücken mit den vergoldeten Stiften schließen konnte.

Anne hatte klar und entschieden mit Sophia gesprochen, was sie nicht bereute. Sophia lebte wie ihr Vater in einer Traumwelt, und solche Träume konnten Unvorsichtige leicht in Schwierigkeiten bringen. Anne lächelte unwillkürlich. Sie hatte gesagt, dass James einen weiten Weg zurückgelegt hatte, aber manchmal zweifelte sie daran, ob selbst Sophia wusste, wie weit er tatsächlich gewesen war.

»Ich nehme an, Lord Bellasis hat die Einladung zum Ball arrangiert?« Ellis blickte vom Boden hoch, wo sie noch immer zu Anne Trenchards Füßen kauerte, um ihre Schuhe zu wechseln.

Anne ärgerte sich über die Frage. Warum sollte sich eine Zofe laut Gedanken darüber machen, wie ihre Herrschaften auf den Olymp der Gästeliste gelangt waren? Oder warum sie überhaupt irgendwo eingeladen wurden? Anne enthielt sich jeder Antwort und überging die Frage einfach. Aber sie begann tatsächlich über die Seltsamkeiten ihres Brüsseler Lebens nachzugrübeln. Seit der große Duke of Wellington auf James aufmerksam geworden war, hatte sich viel für die Trenchards verändert. Eines stand fest: Mochte noch so große Knappheit herrschen, mochten die Kämpfe noch so erbittert sein, die Landstriche noch so leer gefegt, James gelang es stets, irgendwo Nachschub aufzutreiben. Der Duke nannte ihn den »Zauberer«, und James schien tatsächlich einer zu sein. Aber der Erfolg hatte seine maßlosen Ambitionen, die unerreichbaren Gipfel der Gesellschaft doch zu erklimmen, nur noch weiter geschürt, sein Drang nach oben nahm obsessive Ausmaße an. James Trenchard, der Sohn eines Markthändlers, den zu heiraten Annes Vater ihr verboten hatte, empfand es als die natürlichste Sache der Welt, bei einer Duchess zu Gast zu sein. Anne hätte seine ehrgeizigen Wünsche gern lächerlich genannt, hätten sie nicht die unheimliche Eigenschaft besessen, sich zu erfüllen.

Anne hatte wesentlich mehr Bildung genossen als ihr Gatte, wie es sich für eine Lehrerstochter von selbst versteht, und als sie einander begegneten, stand sie schwindelerregend hoch über ihm, eine hervorragende Partie. Aber sie wusste nur zu gut, dass er sie inzwischen um Längen überholt hatte. Sie fragte sich sogar, wie lange sie mit seinem grandiosen Aufstieg noch Schritt halten könnte. Oder sollte sie sich, wenn die Kinder erwachsen wären, in ein schlichtes Cottage auf dem Land zurückziehen und ihm das Gipfelstürmen allein überlassen?

Ellis schloss aus dem Schweigen ihrer Herrschaft, dass sie etwas Unpassendes gesagt hatte, und suchte nach einer Bemerkung, mit der sie sich bei Anne Trenchard wieder einschmeicheln könnte, beschloss dann aber, den Mund zu halten und abzuwarten, bis der Sturm sich legte.

Die Tür ging auf, und James streckte den Kopf herein. »Sie hat es dir also gesagt, ja? Dass er es gedeichselt hat.«

Anna warf ihrer Zofe einen kurzen Blick zu. »Danke, Ellis. Wenn Sie in einer kleinen Weile wiederkommen möchten.«

Ellis zog sich zurück. James konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Du rüffelst mich, dass ich mich über meinen Stand erhebe, aber wie du deine Zofe rauswirfst, erinnert mich an die Duchess höchstpersönlich.«

Anne fuhr auf. »Das will ich doch nicht hoffen.«

»Warum nicht? Was hast du gegen die Duchess?«

»Ich habe nichts gegen sie, aus dem einfachen Grund, weil ich sie nicht kenne. Genauso wenig wie du.« Anne hatte das Bedürfnis, dieses absurde und gefährliche Geschwätz wieder auf den Boden der Realität zurückzuholen. »Deshalb sollten wir auch nicht so weit gehen, uns der armen Frau aufzudrängen und Platz in ihrem Ballsaal zu beanspruchen, der eigentlich ihren eigenen Bekannten zustünde.«

Aber James war zu aufgeregt, um sich zum Schweigen bringen zu lassen. »Das meinst du doch nicht wirklich so?«

»Doch, aber ich weiß, dass du nicht auf mich hören willst.«

Sie hatte recht. Es bestand keinerlei Aussicht, seine Freude zu dämpfen. »Was für ein Glücksfall für uns, Annie. Du weißt doch, dass der Duke da sein wird? Zwei Dukes sogar. Mein Feldherr und der Gemahl unserer Gastgeberin.«

»Anzunehmen.«

»Und regierende Fürsten.« Er hielt inne, platzte schier vor Begeisterung. »James Trenchard, dessen Karriere an einem Marktstand in Covent Garden angefangen hat, muss sich in Schale werfen, um mit einer Prinzessin zu tanzen.«

»Du wirst keine der Damen zum Tanz auffordern. Du würdest uns nur beide unsäglich blamieren.«

»Das werden wir sehen.«

»Das ist mein Ernst. Schlimm genug, dass du Sophia ermutigst.«

James runzelte die Stirn. »Du glaubst es zwar nicht, aber der Junge meint es ehrlich. Da bin ich mir ganz sicher.«

Anne schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nichts bist du. Lord Bellasis glaubt vielleicht selbst, dass er es ehrlich meint, aber er ist außerhalb ihrer Reichweite. Er ist nicht sein eigener Herr, und es kann nichts Schickliches daraus werden.«

Von der Straße drang Getrappel hoch, und sie trat an eines der Fenster, die auf eine breite, belebte Durchgangsstraße hinausgingen. Unten marschierten ein paar Soldaten in scharlachroten Uniformen vorbei, die Sonne blitzte auf den goldenen Tressen. Wie seltsam, dachte Anne, überall Anzeichen nahender Kämpfe, und wir sprechen über einen Ball.

»Davon weiß ich nichts.« James gab seine Schwärmereien nicht so leicht auf.

Anne wandte sich wieder um. Ihr Mann machte ein Gesicht wie ein Vierjähriger, der sich in die Ecke gedrängt sieht. »Aber ich. Und wenn sie wegen dieses Unsinns Schaden nimmt, dann mache ich dich persönlich dafür verantwortlich.«

»Kannst du gerne.«

»Und ich finde es unaussprechlich beschämend, dass du den jungen Mann dazu erpresst hast, seiner Tante Einladungen für uns abzubetteln.«

Jetzt hatte James genug. »Du wirst mir den Ball nicht vermiesen. Das lasse ich nicht zu.«

»Ich brauche dir den Ball gar nicht zu vermiesen. Das wird er schon ganz von alleine schaffen.«

Das bedeutete für James das Ende des Gesprächs. Er stürmte hinaus, um sich zum Dinner umzukleiden, und Anne klingelte nach Ellis.

Anne war mit sich unzufrieden. Sie stritt nicht gern mit ihrem Mann, aber die ganze Angelegenheit setzte ihr zu. Ihr Leben gefiel ihr, wie es war. Sie waren jetzt reich, hatten Erfolg und wurden in den Londoner Geschäftskreisen umworben. Trotzdem versteifte sich James darauf, alles zu verderben, weil er nicht genug bekommen konnte. Sie musste es sich gefallen lassen, durch eine endlose Reihe von Salons geschoben zu werden, wo sie weder gemocht noch geschätzt wurden. Sie sah sich gezwungen, mit Herren und Damen Konversation zu machen, von denen sie insgeheim – oder nicht so insgeheim – verachtet wurde. Dabei hätten sie in aller Behaglichkeit leben können, von ihresgleichen respektiert, wenn James es nur zuließe. Aber während ihr all das durch den Kopf ging, wusste sie zugleich, dass sie ihren Mann nicht bremsen konnte. Niemand konnte es. Sein Vorwärtsdrang lag ihm einfach im Blut.

Im Lauf der Jahre wurde so viel über den Ball der Duchess of Richmond geschrieben, bis ihn ein solcher Glanz, eine solche majestätische Pracht umwehten, wie man sie höchstens vom Krönungszeremoniell einer mittelalterlichen Königin kennt. Der Ball kehrt in jeder Art von Erzählliteratur wieder, und jede neue bildliche Darstellung des Abends ist grandioser als die vorige. Auf Henry O’Neills Gemälde von 1868 findet der Ball in einem weitläufigen Palais mit riesigen Marmorsäulen statt, in dem sich Hunderte von Gästen drängen, die vor Kummer und Entsetzen weinen, dabei aber mehr Glamour entfalten als eine Revuetruppe in der Drury Lane. Wie bei so vielen ikonenhaften Momenten der Geschichte verhielt es sich in Wirklichkeit ganz anders.

Die Richmonds waren zum Teil aus Ersparnisgründen nach Brüssel übersiedelt, um die Lebenshaltungskosten während einiger Auslandsjahre niedrig zu halten, zum Teil aber auch, um ihre Solidarität mit ihrem berühmten Freund zu bekunden, dem Duke of Wellington, der dort sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Richmond selbst, ein ehemaliger Offizier, sollte die Verteidigung Brüssels organisieren, falls es zum Schlimmsten käme und der Feind einmarschierte. Richmond nahm das Angebot an. Er wusste, dass es sich größtenteils um Verwaltungsarbeit handelte, aber die Aufgabe musste erledigt werden und würde ihm die Befriedigung verschaffen, an den Kriegsanstrengungen teilzunehmen und nicht nur als Zaungast in der Stadt zu sein. Davon tummelten sich hier genug.

Prachtvolle Palais gab es in Brüssel nur in beschränkter Zahl, die meisten waren schon vergeben, und so entschied man sich schließlich für ein Haus, in dem einst ein renommierter Kutschenbauer gewohnt hatte. Es lag in der Rue de la Blanchisserie, wörtlich übersetzt »Wäschereistraße«, was Wellington veranlasste, das neue Heim der Richmonds als »Waschhaus« zu titulieren, ein Scherz, über den sich die Duchess weniger amüsierte als ihr Gemahl. Zu dem Saal, den wir heute als den Showroom des Kutschenbauers bezeichnen würden, ein großer, scheunenartiger Bau links von der Eingangstür, gelangte man durch einen kleinen Raum, in dem einst mit den Kunden die Polsterung und andere Extrawünsche besprochen wurden; in den Memoiren der dritten Tochter der Richmonds, Lady Georgiana Lennox, stieg er allerdings zum Antichambre auf. Die Halle selbst, in der vormals die Kutschen ausgestellt wurden, war mit einer Tapete ausgekleidet, auf der sich Rosen an Gittern rankten, und wurde für durchaus ballsaaltauglich befunden.

Die Duchess of Richmond hatte ihre ganze Familie auf den Kontinent mitgebracht, und vor allem die Mädchen sehnten sich nach ein wenig Abwechslung, also wurde eine Gesellschaft geplant. Dann marschierte Napoleon, der im März aus seinem Exil auf Elba geflohen war, Anfang Juni von Paris los und stellte sich den Alliierten entgegen. Die Duchess fragte Wellington, ob es anginge, ihre Vergnügungspläne weiterzuverfolgen, und ihr wurde versichert, alles sei bestens. Es war sogar der ausdrückliche Wunsch des Duke, der Ball möge als Demonstration englischer Gelassenheit stattfinden, um allen vor Augen zu führen, dass sich selbst die Damen vom Vormarsch des französischen Kaisers nicht erschüttern ließen und ihre Belustigung deshalb nicht aufschieben wollten. Das war natürlich alles recht und gut, aber …

»Ich hoffe, das Ganze ist kein Fehler«, sagte die Duchess zum zwanzigsten Mal innerhalb einer Stunde und warf einen forschenden Blick in den Spiegel. Was sie darin sah, gefiel ihr ausnehmend gut: eine schöne Frau am Anfang der besten Jahre, in helle, cremefarbene Seide gekleidet und immer noch so attraktiv, dass sich die Köpfe nach ihr drehten. Ihre Diamanten waren erstklassig, auch wenn sie unter ihren Freundinnen eine Diskussion entfachten, ob die Originale im Zuge der Sparmaßnahmen nicht durch Strasskopien ersetzt worden waren.

»Jetzt ist es zu spät für solches Gerede.« Der Duke of Richmond fand die Lage fast amüsant: Sie hatten Brüssel als eine Art Flucht vor der Welt betrachtet, aber zu ihrer Überraschung war ihnen die Welt auf dem Fuße gefolgt. Und jetzt gab seine Frau eine Gesellschaft mit einer Gästeliste, die in London ihresgleichen gesucht hätte, während sich im selben Augenblick die Stadt gegen den Donner französischer Kanonen rüstete. »Das war ein exzellentes Dinner. Ich werde später beim Souper nichts mehr essen können.«

»Wirst du schon.«

»Ich höre eine Kutsche. Wir sollten nach unten gehen.« Der Duke war ein angenehmer Mensch, ein warmherziger, zärtlicher Vater, den seine Kinder anbeteten, und Persönlichkeit genug, um es mit einer der Töchter der notorischen Duchess of Gordon aufzunehmen, deren Eskapaden in ganz Schottland den Klatsch jahrelang nicht verstummen ließen. Er wusste durchaus, dass damals viele meinten, er hätte es sich mit seiner Wahl bequemer machen und dann auch ein bequemeres Leben führen können, doch alles in allem empfand er kein Bedauern. Seine Gemahlin war, daran gab es nichts zu rütteln, extravagant, zeichnete sich aber durch ein freundliches Naturell, durch Schönheit und durch Klugheit aus. Er war froh, dass er sich für sie entschieden hatte.

In Georgianas Antichambre, dem kleinen Salon, den man auf dem Weg zum Ballsaal durchqueren musste, waren erste Gäste eingetroffen. Die Floristen hatten sich mit den riesigen Blumenarrangements selbst übertroffen, zartrosa Rosen und weiße Lilien vor hohem Blattwerk in verschiedenen Grüntönen; darüber hinaus hatten sie von den Lilien sämtliche Staubblätter abgeknipst, um die Damen vor Blütenstaubflecken zu schützen. Die floralen Kunstwerke verliehen den Räumen des Kutschenbauers eine Pracht, die sie bei Tageslicht vermissen ließen, und die vielen Kronleuchter tauchten mit ihrem Kerzenschimmer alles in ein sanft schmeichelndes Licht.

Edmund, Neffe der Duchess und Viscount Bellasis, unterhielt sich mit Georgiana. Sie gingen gemeinsam zu den Eltern der jungen Dame hinüber, die ihre Mutter fragte: »Wer sind diese Leute, die einzuladen Edmund dich gezwungen hat? Warum kennen wir sie nicht?«

»Nach dem heutigen Abend wirst du sie kennen, Georgiana«, warf Lord Bellasis ein.

»Sehr mitteilsam bist du nicht gerade«, bemerkte Georgiana, zu ihrer Mutter gewandt.

Die Duchess hegte einen bestimmten Verdacht und bedauerte bereits ihre Großzügigkeit. »Ich hoffe, ich werde mir nicht den Zorn deiner Mutter zuziehen, Edmund.« Sie hatte Edmund die Einladungen bedenkenlos gegeben, aber nach kurzem Überlegen gelangte sie zu dem Schluss, dass sie tatsächlich mit dem allergrößten Zorn ihrer Schwester zu rechnen hatte.

Wie auf ein Stichwort ertönte die Stimme des Zeremonienmeisters: »Mr und Mrs Trenchard. Miss Sophia Trenchard.«

Der Duke sah zur Tür. »Du hast doch nicht etwa den Zauberer eingeladen?« Seine Gattin sah ihn verwirrt an. »Wellingtons obersten Proviantmeister. Was hat der denn hier zu suchen?«

Die Duchess wandte sich mit gestrenger Miene an ihren Neffen. »Den Proviantmeister des Duke of Wellington? Ich habe einen Essenslieferanten zu meinem Ball gebeten?«

Lord Bellasis ließ sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen. »Meine liebe Tante, du hast einen der treuesten, tüchtigsten Helfer beim Kampf des Duke um den Sieg eingeladen. Ich würde meinen, jeder loyale Brite wäre stolz, Mr Trenchard in seinem Haus zu empfangen.«

»Du hast mich hereingelegt, Edmund. Ich mag es nicht, wenn man mich zum Narren macht.« Doch der junge Mann hatte sich bereits entfernt, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Die Duchess starrte ihren Gatten an.

Er amüsierte sich eher über ihre Empörung. »Schau mich nicht so an, meine Liebe. Du hast sie eingeladen, nicht ich. Und du musst zugeben, sie macht etwas her.«

Das zumindest stimmte. Sophia war schön wie nie zuvor.

Es fehlte die Zeit für einen weiteren Austausch, die Trenchards traten bereits heran. Anne sprach als Erste. »Zu gütig von Ihnen, Duchess.«

»Nichts zu danken, Mrs Trenchard. Ich höre, Sie haben meinen Neffen sehr liebenswürdig aufgenommen.«

»Die Gesellschaft von Lord Bellasis ist immer ein Vergnügen.« Anne hatte ihre Garderobe gut gewählt. In der blauen Seide war sie eine würdevolle Erscheinung, und Ellis hatte als Besatz eine edle Spitzenborte gefunden. Die Diamanten reichten vielleicht nicht an die meisten anderen im Saal heran, konnten sich aber durchaus sehen lassen.

Die Duchess war ein wenig besänftigt. »Es ist schwierig für die jungen Männer, so weit weg von zu Hause«, sagte sie einigermaßen freundlich.

James kämpfte die ganze Zeit gegen seine Überzeugung, dass die Duchess mit »Euer Gnaden« anzusprechen sei. Seine Frau hatte zwar als Erste das Wort ergriffen, und anscheinend hatte niemand Anstoß genommen, trotzdem war er nicht ganz sicher. Er öffnete schon den Mund …

»Also, wenn das nicht der Zauberer ist!« Richmond strahlte ihn ausgesprochen leutselig an. Falls er überrascht war, diesen wackeren Handelsmann in seinem Ballsaal vorzufinden, ließ er es sich nicht anmerken. »Erinnern Sie sich, dass wir gemeinsam Pläne geschmiedet haben, falls die Reservisten zu den Waffen gerufen werden?«

»Ich erinnere mich sehr gut, Euer – an den Ablaufplan, meine ich. Duke.« Das letzte Wort klappte nach, als hätte es mit dem vorangegangenen Gespräch nichts zu tun. James kam es vor wie ein Kieselstein, der plötzlich in einen stillen Teich geplumpst war. Ein paar heikle Momente lang schlugen die Wellen seines peinlichen Verhaltens über ihm zusammen. Doch Anne beruhigte ihn mit einem unmerklichen Lächeln und einem Nicken, zu seiner Erleichterung schien sich niemand daran zu stören.

Anne übernahm das Ruder. »Darf ich meine Tochter vorstellen, Sophia?« Sophia knickste vor der Duchess, die sie von Kopf bis Fuß musterte, als wolle sie eine Rehkeule fürs Abendessen kaufen, auch wenn ihr nichts ferner lag. Sie sah, dass das Mädchen hübsch und auf seine Weise recht anmutig war, aber ein Blick auf den Vater erinnerte sie nur zu deutlich daran, dass die Sache überhaupt nicht infrage kam. Ihr graute davor, dass ihre Schwester von diesem Abend erfahren und sie beschuldigen würde, die beiden zu ermutigen. Aber Edmund konnte doch ganz bestimmt keine ernsten Absichten haben? Er war ein vernünftiger Junge und hatte noch nie die geringsten Schwierigkeiten gemacht.

»Miss Trenchard, würden Sie mir erlauben, Sie in den Ballsaal zu begleiten?« Edmund bemühte sich, eine souveräne Höflichkeit an den Tag zu legen, doch seine Tante konnte er nicht täuschen, sie war viel zu welterfahren, um sich von seiner plumpen Darbietung von Nonchalance irreführen zu lassen. Im Gegenteil, ihr sank das Herz, als sie sah, wie das Mädchen den Arm durch den seinen schob und sie sich gemeinsam aufmachten, leise flüsternd, als wären sie einander längst zugeeignet.

»Major Thomas Harris.« Ein äußerst gut aussehender junger Mann verbeugte sich leicht in Richtung seiner Gastgeberin. Da rief Edmund:

»Harris! Dich habe ich hier nicht erwartet.«

»Na, ich muss doch auch ein bisschen Spaß haben«, sagte der junge Offizier und lächelte Sophia zu, die in ein Lachen ausbrach, als fühlten sich alle völlig ungezwungen und zusammengehörig. Dann schritten sie auf den Ballsaal zu, von Edmunds Tante bang beobachtet. Ein hübsches Paar, musste sie zugeben: Sophias blonde Schönheit unterstrich Edmunds dunkle Locken und seine markanten Züge, sein harter Mund zog sich über dem Kinngrübchen zu einem Lächeln auseinander. Die Duchess fing den Blick ihres Gatten auf. Beide wussten, dass die Situation drauf und dran war, außer Kontrolle zu geraten. Oder vielleicht längst außer Kontrolle geraten war.

»Mr James und Lady Frances Wedderburn-Webster«, verkündete der Zeremonienmeister, und Richmond trat vor, um die neuen Gäste zu begrüßen. »Lady Frances, Sie sehen wunderbar aus.« Er bemerkte den besorgten Blick, den seine Gemahlin dem jungen Liebespaar hinterherschickte. Es gab nichts, was die Richmonds tun konnten, um die Lage zu entschärfen. Er sah den Kummer im Gesicht seiner Frau und beugte sich zu ihr. »Ich werde später mit ihm reden. Er wird schon Vernunft annehmen. Wie immer.« Sie nickte. Das war das einzig Richtige. Das Problem später aus der Welt zu schaffen, wenn der Ball zu Ende und das Mädchen fort wäre. An der Tür entstand ein kleiner Tumult, und der Zeremonienmeister verkündete mit tönender Stimme: »Seine Königliche Hoheit, der Prinz von Oranien-Nassau.« Ein freundlich wirkender junger Mann näherte sich den Gastgebern, und die Duchess versank mit kerzengeradem Rücken in einem tiefen Hofknicks.

Der Duke of Wellington erschien erst kurz vor Mitternacht, bewundernswert gelassen angesichts seiner Verspätung. Er ließ die Blicke durch den Ballsaal schweifen, und zu James Trenchards großer Freude kam er, sobald er ihn entdeckt hatte, zu ihm herüber. »Was führt den Zauberer heute Abend hierher?«

»Ihre Gnaden hat uns eingeladen.«

»Tatsächlich? Alle Achtung. Hat sich der Abend bislang als vergnüglich erwiesen?«

James nickte. »O ja, Euer Gnaden. Aber es wird viel vom Vorrücken Napoleons gesprochen.«

»Donner und Doria, tatsächlich? Gehe ich richtig in der Annahme, dass diese bezaubernde Dame Mrs Trenchard ist?« Kein Zweifel, der Duke hatte sich perfekt im Griff.

Selbst Anne versagten die Nerven, als sie ihn mit »Duke« hätte anreden müssen. »Die Besonnenheit, die Euer Gnaden ausstrahlen, ist sehr beruhigend.«

»So soll es sein.« Er lachte leise und wandte sich an einen Offizier, der in der Nähe stand. »Ponsonby, haben Sie schon Bekanntschaft mit dem Zauberer geschlossen?«

»Gewiss, Duke. Ich habe schon eine Menge Zeit vor Mr Trenchards Kontor mit Warten verbracht, bis ich mich für die Belange meiner Männer einsetzen konnte.« Er sagte dies jedoch mit einem Schmunzeln.

»Mrs Trenchard, darf ich Ihnen Sir William Ponsonby vorstellen? Ponsonby, das ist die Gattin des Zauberers.«

Ponsonby verbeugte sich leicht. »Ich hoffe, dass er zu Ihnen freundlicher ist als zu mir.«

Auch Anne lächelte, aber bevor sie antworten konnte, trat Georgiana zu ihnen, Richmonds Tochter. »Der ganze Ballsaal brummt nur so von den Gerüchten, die herumschwirren.«

Wellington nickte vielsagend. »Das ist mir bewusst.«

»Aber treffen sie denn zu?« Gut sah sie aus, die junge Georgiana Lennox, und die Sorge in ihrem klaren, offenen Gesicht unterstrich nur den Ernst ihrer Frage und die Bedrohung, die über ihnen allen schwebte.

Als der Duke in die ihm zugewandten Augen sah, wurde seine Miene zum ersten Mal nahezu ernst. »Ich fürchte, so ist es, Lady Georgiana. Es sieht ganz danach aus, als brächen wir morgen auf.«

»Wie furchtbar.« Sie drehte sich um und sah den Paaren zu, die auf dem Parkett herumwirbelten; die meisten der jungen Männer, die mit ihren Tanzpartnerinnen plauderten und lachten, trugen Galauniform. Wie viele würden die kommenden Kämpfe überleben?

»Was für eine schwere Last Sie tragen müssen.« Auch Anne Trenchard betrachtete die Tanzenden. Sie seufzte. »Manche dieser jungen Männer werden in den nächsten Tagen fallen, was nicht einmal Sie verhindern können, wenn wir diesen Krieg gewinnen sollen. Ich beneide Sie nicht.«

Wenn Wellington von ihren Worten überrascht war, dann angenehm. Er hatte die Frau seines Proviantmeisters vor diesem Abend kaum zur Kenntnis genommen. Nicht jeder begriff, dass es hier nicht nur um Ruhm ging. »Ich danke Ihnen für diese aufmerksame Beobachtung, Madam.«

Da wurden sie von einem gewaltigen Getöse unterbrochen: Zwanzig Dudelsackpfeifer bliesen in ihre Instrumente, was das Zeug hielt, und die Tänzer flohen und räumten das Parkett für eine Truppe der Gordon Highlanders. Diesen Coup de théâtre hatte die Duchess inszeniert. Sie hatte sich die Einlage vom rangältesten Offizier erbeten, mit einem Hinweis auf ihr Gordon’sches Blut. Da die Highlanders ursprünglich vor zwanzig Jahren von ihrem verstorbenen Großvater gegründet worden waren, konnte sich der Kommandant ihrer Bitte schlecht widersetzen. Allerdings verschweigt die Geschichtsschreibung, was er wirklich davon hielt, dass er seine Männer für einen Auftritt als Hauptattraktion eines Balls hergeben musste, und das am Vorabend einer Schlacht, die über das Schicksal Europas entscheiden würde. Jedenfalls war ihre Vorführung für die anwesenden Schotten herzerwärmend und auch für ihre englischen Nachbarn noch einigermaßen unterhaltsam, doch die Nichtbriten verhehlten ihre Verwirrung nicht. Anne Trenchard beobachtete, wie der Prinz von Oranien-Nassau seinen Adjutanten fragend ansah und bei dem Lärm die Augen verdrehte. Doch dann begannen die Männer den Reel zu tanzen, und bald zogen die Leidenschaft und die Kraft ihres Tanzes auch die Zweifler in den Bann; die ganze Gesellschaft fing Feuer, bis selbst die konsternierten Prinzen aus dem alten Preußen sich mitreißen ließen, klatschten und jubelten.

Anne wandte sich an ihren Mann. »Es erscheint mir so grausam, dass sie in den Kampf ziehen müssen, noch bevor der Monat um ist.«

»Der Monat?« James lachte bitter auf. »Eher die Woche.«

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da flog die Tür auf und ein junger Offizier, der sich nicht damit aufgehalten hatte, den Schmutz von seinen Stiefeln zu kratzen, hastete in den Ballsaal. Er sah sich suchend um, bis er seinen Befehlshaber gefunden hatte, den Prinzen von Oranien-Nassau. Mit einer Verbeugung hielt er ihm einen Umschlag entgegen, der sofort die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft auf sich zog. Der Prinz nickte, erhob sich und ging zum Duke of Wellington hinüber. Er präsentierte ihm die Nachricht, doch der Duke schob sie ungelesen in die Westentasche, während der Zeremonienmeister das Souper ankündigte.

Trotz aller unheilvollen Ahnungen musste Anne lächeln. »Seine Selbstbeherrschung ist bewundernswert. Die Nachricht ist vielleicht das Todesurteil für seine eigene Armee, aber er geht lieber ein Risiko ein, als sich das kleinste Zeichen von Besorgnis entschlüpfen zu lassen.«

en vogue

Später fragte sich Anne immer wieder, wie sie damals so sicher sein konnte, dass Sophias Geschichte damit zu Ende war. Aber wer, sagte sie sich dann, begriffe besser als sie, dass im Rückblick wie durch ein Prisma alles anders aussieht?

Sie stand auf. Es war an der Zeit, dass sie nun selbst hinunterging und ihre Tochter tröstete, die aus einem schönen Traum herausgerissen worden war, um in der grausamen Wirklichkeit zu erwachen.