Alois Wintersteller
Überschreitung
der Grenzen
Erzählungen
Ansichten
Essays
Gedichte
wider dem
Zeitgeist
1996 – 2015
Alois Wintersteller
Überschreitung der Grenzen
Erzählungen, Ansichten, Essays, Gedichte
wider dem Zeitgeist 1996 – 2015
ISBN 978-3-86460-196-5
Dieses Buch ist auch als Taschenbuch im gleichen Verlag erschienen unter
ISBN 978-3-86460-408-9
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Der Autor legt Wert darauf, daß das Buch der alten Rechtschreibung folgt.
Eine der Erzählungen in diesem Buch lautet Wohin gehst du, Adam? Die Welt ist durch die Herrschaft des Kollektivs, das, gleich welcher Art, immer lebensfeindlich ist, endgültig aus den Fugen geraten. Die dem Menschen vom Himmel gesetzten Grenzen sind überschritten, die Folgen der Grenzüberschreitungen unumkehrbar. Die Rache der Götter nimmt ihren Lauf. Nach vollzogenem Pakt mit dem Teufel und den Folgen des "Technischen Zeitalters" nun das "Zeitalter der Informationsübertragung". Die ferngesteuerte Masse mutiert zum geist- und seelenlosen Technikteil, zum jederzeit überwach- und steuerbaren Gerätemensch, zum Homo Xerox. Parallel dazu nimmt die Macht der Dämonen immer zerstörerische Ausmaße an. Für den Autor wurde die Zeit der Niederschrift der Essays, Erzählungen, Ansichten und Gedichte zur Katharsis, zur geistigen und seelischen Bereinigung. Der Inhalt dieses Buches, vor allem die Essays zum Zeit geschehen, sind geprägt durch die Münchner Rhythmenlehre von Wolfgang Döbereiner, dessen Schüler der Autor von 1992 bis 2014 sein durfte und dem dieses Buch gewidmet ist.
Dieses Buch ist Wolfgang Döbereiner
28.2.1928 bis 5.4.2014
meinem Lehrer, Mentor, Berater, Seelenfreund und
Helfer in allen Lebenslagen, gewidmet.
Der größte Astrologe, der je gelebt hat,
dessen wahre Bedeutung man erst begreifen wird,
wenn der Logos untergegangen ist,
und
seiner lieben Frau Petra Döbereiner,
die ihm unermüdlich zur Seite stand
sein Vermächtnis fortsetzt
und mich darin bestärkte,
dieses Buch zu veröffentlichen.
Irene, meiner geliebten Frau, die mich bereits mehr als 30 Jahre durch alle Höhen und Tiefen meines Lebens begleitet und Yvonne, unserer Tochter, die auf einem guten Weg ist.
Das Wort „Zeitgeist“ besteht aus „Zeit“ und „Geist“. „Zeit“ heißt griechisch „daiesthai“, die indogermanische Wurzel ist „däi“. Beides bedeutet „Teil, teilen“.
Die Wurzel des Wortes „Geist“ ist „gheis-d“ und bedeutet „außer sich sein, erschrecken, schaudern“.
„Zeitgeist“ bedeutet demnach: ein Teil (der Zeit), vor dem man „erschrickt, erschaudert“.
INHALT
WIDMUNG
VORWORT
ERZÄHLUNGEN 1996 – 2009
NACHDENKLICHES
WOHIN GEHST DU, ADAM?
ZERSTÖRUNG EINES FLUSSES
GÖTTERDÄMMERUNG
EINE KUH NAMENS LISA
MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN
DIE HEUSCHRECKLINGE
DIE PROPAGANDAMASCHINE
DIE NEUEN SÜNDER
ÜBERZEUGUNGEN
MÄRCHENHAFTES
DIE RECHENHEXE
DAS VERZAUBERTE KANINCHEN
EINE WEIHNNACHTSGESCHICHTE
VERSCHIEDENES
ABFALLBEAUFTRAGTER
TRINKGEWOHNHEITEN
IM FERNSEHEN
IM HAMSTERRAD
PSYCHOTHERAPEUTISCHES GESPRÄCH
GEISTERBAHNFAHRT
HANDY-WAHNSINN
KEIN ANSCHLUSS UNTER DIESER NUMMER
REISELUST – REISEFRUST
KANONENDONNER – 1- Teil
KANONENDONNER – 2. Teil
FRIEDHOFRITUALE
SCHIZIRKUS
BEGEGNUNG MIT EINEM ENGEL
ANSICHTEN 2000 – 2015
ESSAYS ZUM ZEITGESCHEHEN 2010 – 2015
DIKTATUR UND GRÖSSENWAHN
DER ANFANG VOM ENDE
DIE RACHE DER GÖTTER
DER GERÄTEMENSCH
DIE KULTURLOSE GESELLSCHAFT
DER BERG ALS GERÄT
DER PAKT MIT DEM TEUFEL – TEIL 1
DER PAKT MIT DEM TEUFEL – TEIL 2
DIE MACHT DER DÄMONEN – TEIL 1
DIE MACHT DER DÄMONEN – TEIL 2
HIMMEL, HÖLLE, FEGEFEUER – TEIL 1
HIMMEL, HÖLLE, FEGEFEUER – TEIL 2
ANHANG
GEDICHTE WIDER DEM ZEITGEIST 1996-2010
ENTBILDERUNG
ORDINÄRES HANDYNIEREN
SEELENLOSE WELT
DER WELT-NEUROSENBAUM
BEEREN-PHILOSOPHIE oder VOR DEN WAHLHEN
VIRUSBEFALL
SCHICKSAL EINES BAUMES
EIN ETWAS ANDERES WEICHNACHTSGEDICHT
SILVESTERNACHT
KALENDERBLÄTTER
RELIGIÖSES 2011 – 2015
ICH BIN BEI DIR
GEFALLENER ENGEL
HIMMLISCHE WOHNUNG
HEIMKOMMEN oder ABSCHIED VON EINEM GELIEBTEN MENSCHEN
GOTTES SOHN
Über den Autor
Literaturverzeichnis
LITERATURHINWEISE
BIBELN UND NACHSCHLAGEWERKE
Anmerkungen
Und Adam sprach: Nun, mein Sohn, das Essen von diesem Baum war nicht allein der Grund der Verbannung, sondern das „Überschreiten einer Grenze“.[1]
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Die Menschheit ist – nach dem „Technischen Zeitalter“ – im Zeitalter der Informationsübertragung angekommen. Computer und Handy haben die Herrschaft übernommen, das Individuum mutiert zum „Homo Xerox“ zum geist- und seelenlosen, jederzeit kontrollierbaren und kopierbaren Gerätemenschen.
Umso dringlicher erscheint es geboten, gegen diese gottlose, areligiöse, heillose und unselige Zeit „anzuschreiben“, die Dinge, so gut es eben gelingen mag, beim Namen zu nennen, denn „die Grundlage allen Heils ist die Wahrheit“ (Romano Guardini).
Es geht in diesem Buch um Wahrheiten in einem sich belügenden und betrügenden System, das ein empfindsamer, das Leben und die Ruhe liebender Mensch kaum mehr erträgt.
Die Welt ist endgültig aus den Fugen geraten, aus reiner Profitgier werden letzte Gefüge zerstört. Die dem Menschen vom Himmel gesetzten Grenzen sind unwiderrufbar überschritten, die Folgen dieser Grenzüberschreitungen auch für die blinden Blindenführer sichtbar.
Explodierende Atomkraftwerke, Gentechnik, weltweiter selbst verschuldeter Klimawandel und die damit verbundenen und immer heftiger werdenden Naturkatastrophen sprechen für sich.
Bitter rächt sich, daß das der Mensch sein Ego bis zur Unkenntlichkeit aufgebläht und zum Gott erhoben hat. Für eine Umkehr scheint es zu spät.
Bitter rächt sich, daß man sich blind einem Fortschrittsglauben ergab, einem Fort-Schreiten weit weg von einem Dasein. Und so erfüllt sich der Spruch: „Wer Wind sät wird Sturm ernten“ – im wahrsten Sinne des Wortes! Und der Sturm, er wurde längst zum Orkan.
Für mich wurde die Zeit der Niederschriften der Essays, Erzählungen, Kurzgeschichten, Ansichten und Gedichte zur „Katharsis“, zur geistigen und seelischen Bereinigung von Inhalten, welche in die Zeit drängten.
Die Essays zum Zeitgeschehen, aber nicht nur diese, sind geprägt durch die Münchner Rhythmenlehre von Wolfgang Döbereiner, dessen Schüler ich von 1992 bis zu seinem Heimgang im April 2014 sein durfte.
Eine Grenzüberschreitung anderer Art wurde in dem Essay „Himmel, Hölle, Fegefeuer“ versucht. Hier habe ich, nach Studium einschlägiger Literatur, einen Blick in das Jenseits gewagt.
Alois Wintersteller
Dezember 2015
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„Wenn die Ordnung der Natur für Vögel und Maulwürfe reicht, dann reicht sie auch für den Menschen. Die Natur ist eine sanfte aber ebenso kluge wie gerechte Führerin. Wir Menschen haben sie mit künstlichen Fußstapfen verwischt.“
„Laßt Euch nicht aus Euch selbst vertreiben, sie wollen Euch zu Markte bringen und verbrauchen.“
(Michel de Montaigne – 16. Jh.)
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„Je länger der sogenannte Volkswohlstand dauert, je häßlicher wird das Land. Die Wälder werden abgeholzt, die Berge aufgeschürft, die Bäche abgeleitet, verunreinigt. Die Wiesen werden mit Fabriken besetzt, die Lüfte mit Rauch erfüllt, die Menschen unruhig, unzufrieden, heimatlos gemacht. Die Ursache an dem Elend ist die Industrie. Die übergroße, gefräßige Industrie. Sie frißt nicht nur die Bauersleute auf, sondern auch ihre Wälder und säuft ihre Wasser aus. Was sie übrig läßt, das verdirbt sie, so daß sogar des Wassers urangestammter Bewohner, der Fisch, darin verenden muß. Die Industrie, die unsere politischen und sozialen Verhältnisse von Grund auf ändert wird auch unser grünes Heimatland ändern, wird eine Mondlandschaft aus ihm machen.“
(Peter Rosegger – Ende 19. Jh.)
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„Informationen wie Computer, Fernsehen etc. können sich nur durch Vervielfältigung und Expansion als Erscheinung halten, weil eine Information hat kein Wachstum, kein Geschehen, kein Leben, keine Zeit, gar nichts. Und die Menschen da draußen sind alle nur mehr die Erscheinung einer Information.“
(Wolfgang Döbereiner – Ende des 20. Jh.)
„ER sah: ja, groß war die Bosheit des Menschen auf Erden und alles Gebild der Planungen seines Herzens bloß böse all den Tag; da leidete IHN, daß er den Menschen gemacht hatte auf Erden, und er grämte sich in sein Herz. ER sprach: Wegwischen will ich vom Antlitz des Ackers den Menschen, den ich schuf …“ (Genesis 6,5-6).[2]
Da war ein leises Wispern in seinem Kopfe; dieses Wispern wurde zu einem Flüstern, wuchs an zu einem heftigen Rauschen, ging über in ein gewaltiges Brausen und aus diesem Brausen war plötzlich eine Stimme zu vernehmen. Und in dieser Stimme lag unendliche Trauer: „Adam, oh Adam, sag, wohin gehst Du?“ Adam hielt auf seiner nun schon Jahrtausende währenden Wanderschaft überrascht inne und lauschte. Wer sprach da zu ihm? Es war niemand zu sehen und doch hatte er eine Stimme vernommen, die ihm bekannt vorkam. Er glaubte sich zu erinnern, sie schon einmal gehört zu haben, vor langer, langer Zeit. „Wer spricht da?“, erwiderte er forsch, „wer Du auch bist und was Du auch willst, es ist mir einerlei! Laß mich in Ruhe meines Weges ziehen, was kümmert es Dich, wohin ich gehe?“
„Ach Adam, Du weißt, wer zu Dir spricht“, darauf die Stimme, „Du kannst den nicht verleugnen, der Dich aus dem Ackerboden erschaffen und Dir den Hauch des Lebens verlieh. Weit, sehr weit hast Du Dich auf Deiner Wanderung von mir entfernt, mühsam war es daher, zu Dir durchzudringen.“ „Nein, nein, ich kenne Dich nicht!“ darauf Adam erzürnt. Doch die Stimme in seinem Kopfe ließ sich nicht zum Verstummen bringen.
„Der Zorn, er richtet sich, wie schon so oft auf Deinem Weg, gegen Dich und Deinesgleichen. Einst übergab ich Dir die Erde und was auf ihr ist, über sie zu herrschen als ein gütiger und weiser König: über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Lande regen. Die Pflanzen, ihre Samen zu hegen; die Bäume mit ihren nahrhaften Früchten. All das zu hüten und zu schützen an meiner statt. Siehe, was ist daraus geworden!“
Adam fiel auf die Knie und warf sich in den Staub, aus dem er gemacht. Er zitterte vor Angst und Erregung, hielt sich beide Ohren zu und wälzte sich auf dem Boden. Die Stimme, diese Stimme! Er wußte ja längst, wer da zu ihm sprach. „DU bist es! DU! DU!“ stieß er heiser vorher.
„Ja, Adam, ICH BIN ES, Dein Herr und Dein Gott. Ich will Dir eine allerletzte Warnung zukommen lassen, eingedenk des Bundes, den ich nach der großen Flut im Zeichen des Regenbogens mit Dir geschlossen. Nämlich Dich nicht mehr zu vertilgen von der Erde, auch wenn es mir schwer fällt, angesichts Deiner zahlreichen Missetaten. Dein Ende wird schrecklich sein, wenn Du den Weg, den Du eingeschlagen, fortsetzt. Noch hast Du die Wahl, Dich zu befreien aus den Fesseln des Bösen, die Grenzen zu respektieren, die Dir gesetzt. Haftest Du aber den Einflüsterungen des gefallenen Engels und seiner Dämonenschar weiter an, ist Dein Untergang unausweichlich.“
„Nein, Nein, ich will das nicht hören!“, schrie Adam. Die Erde liegt allein in meiner Verfügungsgewalt, was geht es Dich an, was ich mit ihr mache! Sie ist mein, mein ganz allein!“
„Adam, was soll dieses Geschrei, was der Selbstbetrug“, darauf der Herr. „Nichts ist Dein, gar nichts, nicht einmal Dein Leben! Durch Deine egoistisch Weltherrschaft sind Tier und Pflanze, Erde, Wasser und Luft tagein, tagaus Deinen Verderben bringenden Händen ausgeliefert.“
„Aber Herr, warum ließest Du mich von der verbotenen Frucht essen? Warum Verbannung, weil mich nach Wissen dürstete?“ darauf Adam weinerlich. Und wenn mein Tun hier gar so verwerflich ist, warum läßt Du es geschehen, der Du doch allmächtig bist? Warum nimmst Du die Last der Laster nicht von mir, die da heißen: Gier, Neid, Zorn, Völlerei, Wollust Trägheit und Hochmut. Verbannst den Fürst dieser Welt und seine Helfer, die mir das Leben schwer machen, in die tiefsten Tiefen der Erde und wendest wieder alles zum Guten? Ein leichtes wäre all dies für Dich.“
Und Gott, der Herr sprach: „Weil ich Dich liebte, gab ich Dir einen freien Willen. Ich habe Dich nicht versucht. Allein Dein Verlangen nach Erkenntnis, Wissen und Macht waren der Grund, durch die die Schlange erst möglich, der Biß in die Frucht der Vergänglichkeit und Verlust der Einheit unumkehrbar wurde. Deshalb musstest Du die himmlische Heimstatt jenseits von Zeit und Raum, verlassen. Seither stehen Dir zwei Wege offen: der schmale und der breite. Ersterer führt Dich zurück zu mir, letzterer in den Untergang. In Anbetracht der unzähligen von Dir verschuldeten Katastrophen, ist es der breite Weg, den Du gehst. Alle Warnungen schlägst Du aus Anmaßung, Überheblichkeit, Geltungssucht und Machtgier in den Wind. Blind bist Du unter Blinden, taub unter Tauben. Darum, bereue Adam, bereue und kehre um, bevor es zu spät ist.“
Adam wußte vor Scham nicht mehr, wohin sich wenden und es übermannte ihn unermeßlicher Schmerz. Ihm wurde allmählich bewußt, was er getan, was er unterlassen und wie weit er sich von seinem Schöpfer entfernt hatte. Bittere Tränen der Reue rannen ihm über das von Staub bedeckte Gesicht und hinterließen tiefe Furchen. „Mein Herr und mein Gott!“, stammelte er, „tief betrübt bin ich über Dein hartes Urteil und. aus tiefstem Herzen bereue ich all meine Missetaten!“
Und Gott, der Herr, sprach:
„Gut, Adam. Kommt Deine Reue, wie Du sagst, aus Deinem Herzen, ist Dein Schmerz nicht geheuchelt und willst Du Mich und meine Schöpfung und die Dir vom Himmel gesetzten Grenzen wieder achten, soll Dir ein letztes Mal vergeben werden.“
„Herr! Ich heuchle nicht! Wahr ist‘s, was ich sage und echt meine Reue! Bitte vergib mir mein Tun wider Dich! Steh mir bei, Herr! Hilf mir, auf dem Weg zurück zu Dir! Bitte, hilf mir, dieses eine Mal noch!“
„Wir werden sehen“, so die Stimme in seinem Kopfe, die wieder leiser und leiser wurde, „wir … werden … sehen; … werden … sehen …, sehen …, sehen …“ – Stille.
Kniend und lauschend verharrte Adam eine geraume Zeit, erhob sich schwerfällig, klopfe sich den Staub aus seinen Kleidern und setzte kopfschüttelnd seine Wanderung durch die Zeiten fort. Ob seine Reue echt, ob er sich auf dem schmalen oder breiten Weg befindet, ob er die Grenzen, die ihm vom Himmel gesetzt sind, einhält, kann jeder daran ermessen, wie es gerade um die Welt und was sich auf ihr befindet, beschaffen ist.
Es war einmal vor langer Zeit, da entließ Okeanos[3] in einem fernen Gebirge eine sprudelnde und gurgelnde Quelle aus einer Felsspalte in die Welt. Es war ein heiterer Frühlingsmorgen, am blauen Himmel tanzten kleine Herden von Schäfchenwolken ihren Reigen, die Sonne erweckte mit ihren zärtlichen Strahlen die noch schlafende Natur. Zaghaft war das Rinnsal, vorsichtig tastete und schlich es sich über steiniges Gelände. Hohe Gebirge türmten sich ringsum auf, die Gipfel von Schnee bedeckt. Das kleine Bächlein wollte kurz innehalten, um all das Unbekannte zu bestaunen, doch wurde es durch eine unbekannte Kraft unaufhörlich weiter und weiter talabwärts gezogen, dem grünenden Tale zu. Bald darauf traf es Schwestern gleicher Art. Sie vereinigten sich, tollten und hüpften alles vergessend eilig dahin. Und so wuchsen und schwollen ihre Wasser, nahmen zu an Größe, Kraft und Gestalt und bannten sich ihren Weg durch die erblühende Landschaft.
Es währte nicht lange, da machten ihnen die Töchter Okeanos ihre Aufwartung. Die Nymphen[4] der Haine, Schluchten und Waldtäler, die Berg- und Talnymphen, die Nymphen der Quellen und Bäche, der Wiesen, Blumen und Bäume, alle begrüßten ihr stetes Fließen, tanzten und lachten in diesem sie umgebenden prachtvollen Garten der Schöpfung. Und hier erfuhr die Quelle und ihre Spielgefährtinnen von den Najaden[5], daß aus ihnen nun ein einziger großer Fluß geworden war, der sich stolz durch das Land schlängelte.
Und der Fluß, er diente allerlei Fischen, Krebsen, Muscheln und zahlreichen anderen Wasserwesen als Lebensraum. Am Ufer labten sich Hirsche, Rehe, Hasen und Füchse am kühlen Naß. In den Auen machten prachtvolle Bäume – Weiden, Birken, Erlen, Eichen, Ulmen und Eschen – dem Himmel seine Aufwartung. Dotterblumen, Schlüsselblumen, Wiesenschaumkraut, Lichtnelken und Schneeglöckchen erfreuten sich der Feuchtigkeit, die er spendete. Die Luft war erfüllt von mannigfachem Bienen- und Hummelgebrumm. Schmetterlinge und Libellen tanzten im Reigen mit zahlreichen Mücken in der Abenddämmerung zu den herrlichen Klängen eines Froschkonzertes, begleitet von heiterem Grillengezirpe. Käfer hielten in ihren emsigen Wanderungen inne, lauschten der Musik und applaudierten mit den Fühlern.
Und erst die unzähligen bunt gefiederten Vögel, die sich in den Auen und auf den zahlreichen Bäumen niederließen und dort ihre kunstvollen Nester bauten. Bachstelzen, Wasseramseln, Gänse, Enten, Schwäne, Meisen, Störche, Reiher. Alle und alles erquickte sich an der Anwesenheit des Flußes. Er gab ihnen, was sie im Wechsel der Jahreszeiten zum Leben brauchten.
Dann kam eine Zeit, an der sich an den Ufern Menschen niederließen, kleine Behausungen errichteten, und sich von dem ernährten, was die Fluten bereithielten. Und so manches Liebespaar, so mancher Dichter und Maler verweilte an den Gestaden, genoß die Ruhe, das Rauschen und Plätschern, und brachte dabei seine Empfindungen zu Papier. So verging Jahrhundert um Jahrhundert. Alles hatte sein Dasein und seinen Frieden.
Doch die Ansiedlungen beidseits des Flußes wuchsen und wuchsen, wurden zu Städten mit Häusern hoch bis zu den Wolken. Bald überspannten unzählige Brücken beide Ufer, auf denen rauchende und lärmende Gebilde geschäftig hin und her eilten.
Und eines Tages geschah etwas Schreckliches, Ungeheuerliches. Der Mensch war den Titanen[6] anheimgefallen und bemächtigte sich nun dem Flußgefüge. Riesige unzählige stinkende Ungetüme näherten sich von allen Seiten den prächtigen Auen. Mit großen dröhnenden Stahlmessern wurde damit begonnen, all die herrlichen Bäume zu fällen, fraßen sich die gigantischen Maschinen in unglaublicher Schnelligkeit durch die Landschaft bis zu den Ufern. Die Dryaden[7] starben samt ihrer Heimstatt zu Tausenden. Rehe und Hirsche, Füchse, Hasen und Vögel flohen panisch vor der drohenden Vernichtung. Doch Käfer und Ameise, Schnecke und Wurm, sie wurden zermalmt und zerstampft, ebenso die herrlichen Blumen und Gräser, die den Bienen und Schmetterlingen als Nahrung dienten. Lange wehrten die Schmerzens- und Todesschreie der dem Untergang geweihten Kreaturen.
Als das Zerstörungswerk beendet war, sich kein Leben mehr regte, bewegten sich erneut Stahlungeheuer mit zähnefletschenden Schaufeln auf den Fluß zu und warfen Unmengen von Gesteinsbrocken auf ihn. Tag um Tag, Woche um Woche, solange, bis der Fluß gezwungen war, gegen seinen Willen seinen gewohnten Lauf zu ändern, gefangen und eingeschnürt in einem Korsett aus Menschenhand. Dort, wo einst sein Bett gewesen, zappelten unzählige Fische auf dem Trockenen und hauchten ihr Leben aus. Der Jahrtausende währende schlingende Tanz des einst stolzen und erhabenen Flusses war vorbei. Nun mußte er dort fließen, wo titanisches Menschenwerk es für richtig befand. Alles Leben, das das Gewässer einst umgab, war verschwunden.
Anstelle der einst lieblichen Auen standen jetzt Fabriken, die durch Rohre ihre stinkende Brühe in den einst erhabenen Fluß ergossen, so daß nun auch jene Fische, die das Massaker überlebt hatten, qualvoll starben. An ausgewählten Stellen wurde das träge gewordene Fließen durch riesige Mauern aufgehalten und durch Maschinen gepreßt, um, wie sie es nannten, „Strom“ zu erzeugen. Allein zu dem Zwecke, all die unzähligen Geräte des zum Titanen gewordenen Menschen zu betreiben und die Nacht zum Tage zu machen.
So war nun der Fluß seines Daseins beraubt, war ohne Gestalt, Gefüge und Heimat. Was ihm blieb, waren Erinnerungen an vergangene Tage, Tage des Friedens und der Harmonie, die ihn einst umgaben. Ohne Hoffnung, daß all das, was verloren, einmal wiederkehre. Und wer Ohren hatte zu hören, der hörte ihn in seinem Leid folgende Worte gurgeln:
„Okeanos, erhöre mein Klagen, hilf mir in meiner Not! Meine Wut und mein Haß gegen die Werke des titanischen Menschen sind grenzenlos! Gott der Wasser, gib Auftrag den Hyaden[8]! Lasse sie Regen vom Himmels hernieder fallen, heftig und in großen Mengen, bis ich anschwelle, an Kraft gewinne, um über die mich erstickenden und einschnürenden Mauern zu treten, um endlich Rache zu üben!“ Und geschah so.
Doch ließ der Mensch nicht ab von seinem Tun, verbaute weiter Fluß um Fluß. Die Überschwemmungen und Vermurungen um das Erdenrund häuften sich – und auch der Meeresspiegel begann zu steigen, langsam, sehr langsam, aber stetig....
Und es begab sich, daß Poseidon[9] Ares[10] und Apoll[11] wieder ihre ursprüngliche Gestalt angenommen hatten mit dem einen Ziel, den Homo Xerox, den vervielfältigen Vervielfältiger, zu vernichten. Dieses Millionenheer von blutleeren, geist- und seelenlosen Menschenautomaten, die sämtliches Leben auf Erden verbrauchen, ersticken, zerstören; kein Maß, keine Grenzen mehr kennend.
Vogelgleich fliegt er in immer größeren und immer zahlreicheren Behältern durch die Lüfte. In nicht mehr zu zählenden, lärmenden, stinkenden Containern – angetrieben aus dem Moder von Jahrmillionen – rast er ziellos umher auf ortlosen Wegen, macht diese Wege zu seinem Ziel, um im Nirgend anzukommen. Das Land überzieht er mit stählernen Schienen, auf denen er in langen aneinandergereihten Wagen sitzend immer schneller und schneller durch die Lande hetzt. Nicht einmal Hades[12] und sein Reich werden davon verschont.
Poseidons Gewässer durchpflügt er mit Schiffen, Städten gleich. Sämtliche Geschöpfe der Meere leiden unaussprechliche Qual und Not. Die Profitgier des Homo Xerox ist unersättlich. Allein aus diesem Grunde rottet er unzählige Fischarten aus, kippt seine nicht mehr brauchbaren Erzeugnisse, die er „Kunststoff“ nennt, in die heiligen Gewässer. Alles Leben, das sich darin verfängt, erstickt qualvoll.
Er spaltet den kleinsten Kern der Schöpfung, packt den dadurch entstandenen, auf Jahrtausende todbringenden Abfall in Behälter und versenkt diese in den Tiefen der Erde. Ohne Skrupel öffnet er die seit Jahrmillionen fest versiegelten Schlünde, um an jenen Stoff zu kommen, der sein ortloses Fortkommen erst ermöglicht. Ungezählte Flugapparate sind bis weit in die himmlischen Regionen vorgedrungen, umkreisen Mutter Erde, damit der Menschenautomat mittels handgroßer Geräte immer und überall kommunizieren kann. Zieht er sich in seine Wohnbatterien zurück, sitzt er vor einem sich ständig wechselnden Bild, hackt hektisch auf einem kleinen Buchstabentablett herum, ist in seiner Techniksprache „On-Line“ um zu „Surfen“, zu „Posten“ und „Face zu booken“.
Die restliche Zeit, die ihm bleibt, nennt er „Urlaub“ und stürzt sich mit Freuden in nicht enden wollende Containerkolonnen, bewegt sich Lemmingen gleich Richtung Meer oder in die Berge. Dort angekommen, miß- und verbraucht der Homo Xerox die Natur, macht aus Gebirgen, Seen, Wälder und Fluren Geräte zum Vollzug seiner Neurosen und nennt es „Spaß haben“. Er widersetzt sich jeglicher göttlicher Ordnung, schlimmer noch, er hält sich selbst für Gott alles Machbaren. Der Gerätemensch ist ein Parasit, der alles, was noch Leben in sich trägt, befällt, verbraucht und zerstört.
Apoll schwört, den Überschreiter der Grenzen unerbittlich zu verfolgen, um seinen Untergang herbeizuführen. Er wird nicht eher ruhen, bis der letzte dieser gottlosen Brut vernichtet ist.
Katastrophe über Katastrophe wird er über den Homo Xerox bringen.
Er wird ihn samt seinen Fluggeräten vom Himmel holen, wird die stählernen Ungetüme von den Schienen fegen, wird ihn samt seinen Riesenschiffen ersäufen, wird seine todbringenden Kraftwerke, die ihm zur Energiegewinnung dienen, zerstören. Poseidon wird mit seinem Dreizack den Meeresboden auf das Heftigste erschüttern, wird die Winde sammeln und Kräfte entfesseln, wie sie auf Erden noch nie dagewesen. Ares wird ihm dabei unerbittlich zur Seite stehen. Auch Hephaistos[13] bleibt nicht untätig. Mit seinem riesigen Hammer wird er die feurigen Schlünde öffnen und Feuer und Asche regnen lassen.
Die maßgeschneiderten Kleider der Schicksalsgöttinnen[14] finden keine Gestaltträger mehr, sämtliche Fügungen sind aus den Fugen geraten. Auch für den Herrscher der Unterwelt ist das Maß längst überschritten. Es finden sich keine Seelen mehr in dieser seelenlosen Welt. Also wurde von den Göttern beschlossen: der Untergang des seelenlosen Menschenautomaten, der Untergang des Homo Xerox.
Ach, wie gut, daß wenigstens Sie mir zuhören. Ich möchte Ihnen nämlich, falls Sie Zeit haben, etwas erzählen. Wie bitte? Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, Sie einfach so anzusprechen. Aber ich muß dringend etwas loswerden, bevor es zu spät ist. Wenn ich mich kurz vorstellen darf. Mein Name ist Lisa. Ich bin, das heißt, ich war eine glückliche, braun-weiße Kuh und kann auf einen langen, langen Stammbaum zurückblicken. Nie war jemand von meinen Vorfahren ernstlich krank.
Ich hatte bisher ein sehr angenehmes Leben. Der Stall, in dem ich wohne, ist geräumig, luftig und sauber und im Winter angenehm warm. Ich werde, so wie meine 9 Schwestern auch, pünktlich zweimal am Tag gemolken und in der kalten Jahreszeit, wenn wir nicht mehr hinaus mögen, bekommen wir ausreichend gutes Heu und frisches Wasser.
Von Frühjahr bis Herbst sind wir auf einer schönen Alm, wo wir uns nach Herzenslust, auch mit so manchem Stier, austoben können. Später bringen wir unsere Kälber auf die Welt, säugen sie, umhätscheln sie bis sie groß sind und alle sind zufrieden. Ah, und wenn ich an die saftigen Gräser dort oben denke, tropft mir, ich kann gar nichts dagegen tun, der Speichel aus dem Maul.
Und hat man in diesem Stall das gewisse Alter erreicht, bekommt man ein Festmahl, wird gestriegelt und gebürstet und anschließend in einen eigens dafür vorgesehenen hellen Raum hier am Bauernhof gebracht. Bevor die Auserkorene dort eintritt, sagt man ihr, dass sie keine Angst haben brauche und jetzt in den Menschen eingehen darf. Doch nun ist alles ganz anders.
Wir Kühe sind bis ins Mark erschüttert! Böse Menschen haben uns unseres Daseins beraubt! Aus reiner Profitgier wollen sie uns zu Kannibalen machen! Stellen Sie sich das einmal vor! Unsere eigenen Artgenossen sollen wir verspeisen, in Pulverform! Wir, die nur Gräser und Heu zu sich nehmen! Ist das nicht verrückt? Ist das nicht zum Verrückt werden?
Nur, damit wir mehr Milch geben, die sie dann nicht brauchen können und wegschütten. Nur, damit wir dick und fett werden und uns nicht mehr rühren können, bevor wir in den Menschen eingehen. Aber dem Kuhhimmel sei Dank! Uns hier betrifft es ja nicht. Oder doch? Aber wie? Ach ja! Wo war ich stehengeblieben?
Obwohl wir hier auf diesem schönen Hof nicht mit diesem Zeug gefüttert werden, geht es mir seit ein paar Tagen gar nicht gut. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich bald sterben werde. Denn da oben, zwischen den Hörnern, da ist etwas, das der Mensch Hirn nennt, und da braut sich was zusammen. Ich merke es ganz deutlich. Ich sehe schon alles doppelt, mir ist schwindelig und schlecht und die Beine lassen auch schon ein wenig nach. Vermutlich habe ich zu viele Eier gelegt.
Was wollte ich sagen? Ich bin ja nur eine langsam verblödende Kuh, aber ich weiß immer noch, was unsereiner von gewissenlosen Menschen angetan wird. Oh weh, oh weh, was ist bloß aus uns geworden! Auch den armen Schweinen und den dummen Schafen ergeht es nicht viel besser. Sie dienen nur dem, was der Mensch „Mehreinnahmen“ nennt.
Au weh, da sind sie wieder, diese komischen Schockwellen da oben. Jetzt spüre ich es ganz deutlich. Es ist wirklich zum aus der Kuhhaut fahren. Oh, ich verliere schon wieder ein paar Federn. Na egal, fliegen war noch nie meine Stärke.
Wo war ich stehengeblieben? Ja, ja, da werden sie blöd schauen, diese Massenmörder auf zwei Beinen, wenn wir alle nicht mehr da sind. Dann können sie sich ihre Tiermehlsuppe selber auslöffeln.
Hoppla, meine Hühnerbeine geben nach! Oh, ist mir schwindlig! Alles dreht sich im Kreise, ich glaube ich muß mich gleich übergeben. Wie? Was? Ach, egal, alles nicht so schlimm! Jetzt noch ein paar Mohrrüben zum Frühstück und dann wieder in den Bau gehoppelt und ein Ei gelegt. Es ist ja so schön, ein Hasenhuhn zu sein!
Nachtrag:
„Zehn Jahre nach BSE ist die Verfütterung von Tiermehl wieder ein Thema. Die Landwirtschaft will eine Lockerung des Verbots. Erlaubt werden soll die Verfütterung von Schlachtabfällen von Nicht-Wiederkäuern untereinander, also Abfälle aus der Schweinschlachtung an Geflügel oder von Geflügelmehlen an Schweine. An dem Verbot der Verfütterung von Schlachtabfällen an Rinder und andere Wiederkäuer soll dabei nicht gerüttelt werden.“ Salzburger Nachrichten vom 18.6.2011
Ein stattlicher Mann um die 60, mittelgroß, braun gebrannt, mit leichtem aber sichtbarem Bauchansatz, bekleidet mit einem Trachtenanzug und Haferlschuhen, dazu weißes Hemd, dunkelgrüne Krawatte (darauf ein röhrender Hirsch), dazu passendem Trachtenhut mit einer kecken Auerhahnfeder und diversen Vereinsabzeichen, geht an einem wunderschönen sonntäglichen Vormittag in der Stadt gemächlich und vor sich hin pfeifend Richtung Stammgasthaus zu seinem geliebten Frühschoppen. Völlig unerwartet wird er von einem unbekannten jungen Mann mit Vollbart, langen strähnigen dunklen Haaren, auf dem Kopf ein farblich nicht mehr definierbares Barett mit verblassendem Sowjetstern, abgetragener Jeanshose, rotem T-Shirt, auf dem schwarz und verwaschen die Umrisse von Che Guevara prangen, die nackten Füße in ausgelatschten Sandalen, angesprochen:
Unbekannter:
Entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche, aber ich habe eine Frage: Sie sind von hier oder von auswärts?
Einheimischer:
Wieso? Warum soll ich von auswärts sein? Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich bin, wie Sie sehen, ein waschechter Einheimischer.
Unbekannter:
Ein Einheimischer, kein inländischer Ausländer oder ausländischer Inländer, schade.
Einheimischer:
Na hören Sie mal! Wieso schade! Ich bin vor fast genau 60 Jahren hier geboren, in einer Stadt, die sogar einen Mozart hervorgebracht hat. Was soll diese alberne Frage?
Unbekannter:
Schauen Sie, wenn Sie, sagen wir mal, keine Mozartkugel auf zwei Beinen wären, sondern ein Fremder unter Fremden, dann könnte ich eventuell auf Sie zugehen und Sie umarmen. Aber so, wie Sie einer sind, die mag ich überhaupt nicht. Die riechen nach abgestandener Tradition, nach langweiligem Brauchtum und nach volksverdummender Musik.
Einheimischer:
Sie wollen mich umarmen? Mich? Sind Sie vom anderen Ufer, oder was? Und was meinen Sie mit Volksverdummung? Woher kommen Sie überhaupt?
Unbekannter:
Also, Mozartstädter, pass auf. Ich komme aus W., studiere in eurem von Touristen verseuchtem Kaff Sozialpädagogik und Kommunikationswissenschaften. In meiner Freizeit bin ich radikaler Antikapitalist, Kommunist der Reserve und Wanderdemonstrant. Deshalb nahm ich letztes Wochenende in der deutschen Hauptstadt an einer voll geilen Kundgebung für das Wohlergehen ausländischer Inländer teil. War echt cool und relaxt! Wir hielten uns an den Händen und bildeten eine Menschenkette um das Regierungsgebäude. Der Platz davor war übersät mit tausenden roten Fahrradblinklichtern, weil echte Kerzen ja so häßliche Wachsflecken machen auf Jacken und Mänteln. Und die Parolen waren richtig heavy: „Den Rechten eine Linke“, oder „Nieder mit Faschismus und Kapitalismus“, „Ho Chi Ming lebt“, „Che Guevara is back!“ Verdammte Scheiße, echt voll graß, bis die Bullen kamen!
Einheimischer:
Ja, Kruzi Türken, was geht den mich dein blödes Geschwafel an, das ich sowieso nicht verstehe und eure saublöden Demos.
Lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem depperten Revolutionsgefasel. Das ist mir alles Wurst, ich mische mich da nicht ein in die Politik. Eine Frechheit sondergleichen! Da möchte ich wie jeden Sonntag um diese Zeit in Ruhe zu meinem Stammtisch, dort eine halbe Bier trinken oder zwei, dazu gemütliche eine Zigarre rauchen, und dann so was! Jetzt, gehen‘s weg da, mir langt‘s!
Unbekannter:
Ah, da schau her! Seine Ruhe will er haben, dort im Wirtshaus, und das vermutlich jeden Tag, weil der Herr ist ja Großkapitalist und kann sich das leisten! Egal ist dem Trachtenheini die Konterrevolution! Den Arglosen spielt er! Da hab ich wieder einen erwischt!
Einheimischer:
Wie bitte? Was soll ich sein? Wen haben Sie erwischt?
Unbekannter:
Na, einen einheimischen Studentenfeind, einen faschistoiden Gestrigen, einen bierverseuchten Geldsack!
Einheimischer:
Jetzt halten Sie aber die Pappen, Sie billiger Hanswurst Sie! Was bilden Sie sich überhaupt ein? Ich lasse mich doch von so einem Gesindel, wie Sie es sind, nicht auf das Übelste beleidigen. Tun Sie doch, was Sie wollen, aber mich lassen Sie in Ruhe! (will weitergehen, wird aber von dem Unbekannten am Arm gepackt)
Unbekannter (kreischt laut und hysterisch):
Gesindel! Er hat Gesindel gesagt, weil ich kein Hiesiger bin! Er ist einer, ich habe einen. Hilfe! Hilfe!
Einheimischer:
Was soll ich gesagt haben? Na warte, du Studentenbürscherl, Du abgestandenes, laß mich sofort los, sonst passiert was!
Unbekannter (läßt den Arm los, kann sich aber nicht beruhigen): Ich habe es mir gleich gedacht, wie ich Sie gesehen habe, daß Sie einer von denen sind, so einen rieche ich auf 100 Meter, mindestens! Und duzen Sie mich nicht!
Einheimischer (beherrscht sich ein wenig):
So, jetzt will ich Dir einmal was sagen, Du demonstrierendes Fahrradblinklicht, Du windiges. Seit über 30 Jahren wohne ich in einem Mietshaus mit über 60% Prozent inländischen Ausländeranteil. Dort leben Familien aus Kroatien, Slowenien und Serbien. Nie ist ein böses Wort zwischen uns gefallen, im Gegenteil. Ab und zu gehe ich zum Türken auf ein Kebab und ein Bier. Und einem Schwarzafrikaner, weil Neger sage ich nicht, der ist mir von allen Taxifahrern der liebste. Aber wieso rechtfertige ich mich überhaupt vor so einem Hippieverschnitt von vorvorgestern aus dem linken aller linken Lager. Das habe ich ja schon gar nicht notwendig! Also, auf nimmer Wiedersehen, Hanswurst von einem Studenten!
Unbekannter (schreit laut):
Da! Er hat Neger gesagt! Er hat Neger gesagt! Ich habe einen Rassisten erwischt, der sich als Biedermann tarnt!
Einheimischer (schreit jetzt ebenfalls laut):
Ja, zum Teufel noch mal! Mir ist das doch Scheißegal ob einer weiß, schwarz, gelb, rot, rosa, orange oder blau ist!
Unbekannter (schreit lauter)
Da, blau! Jetzt hat er auch noch blau gesagt! Er hat sich geoutet! Ein Einheimischer Rechtsradikaler! Ein blau getarnter Brauner Stammtischbruder!
Einheimischer (laut):
Leck mich doppelt und kreuzweise am Arsch, du deppertes W. du deppertes! Ich interessiere mich nicht für Politik und schon gar nicht für die ihre Parteien. Meine Brauchtumsgruppe und mein Stammtisch sind mir wichtiger!
Unbekannter (schreit noch lauter):
Das ist ja noch schlimmer! Die kenn ich, die keine Meinung haben, sich für nix interessieren, für nix gerade stehen wollen und am Wirtshaustisch große Reden schwingen! Und beleidigen lasse ich mich von Dir schon gar nicht, und duzen auch nicht und von wegen am Arsch lecken! (packt den Einheimischen mit beiden Händen am Mantelkragen und schüttelt ihn heftig).
Einheimischer:
Laß sofort los, Du schwindsüchtiges Zigarettenbürscherl, du kommunistisches, sonst hau ich Dir eine in Deine vorlaute Studentengoschen!
Unbekannter:
Trau Dich doch, Du Kapitalistenschwein, trau Dich! Auf harmlose Studenten losgehen, das ist es, was ihr könnt, ihr Faschisten! Heute Studenten hauen und morgen...
Unverständlich, da der Unbekannte von dem Einheimischen, nachdem sich dieser los gerissen hatte, mit der Rechten einen heftigen Faustschlag auf das Kinn erhält. Dieser taumelt zurück, senkt den Kopf, stürmt auf den Einheimischen zu und nimmt ihn in den Schwitzkasten. Beide gehen zu Boden. Eine immer dichtere Menschenmenge umringt die beiden raufenden Kontrahenten.
Ich setze 5 Euro auf den Trachtenanzug. Ich 10 Euro auf Che Guevara! Da tauchen zwei Polizisten auf, sehen die Streithähne sich am Boden wälzen und versuchen sie zu trennen und wieder auf die Beine zu stellen, was ihnen nur mit Mühe gelingt.
Unbekannter (schreit leicht lispelnd):
Ah, du Bullenschwein, laß mich los. Er hat angefangen, nehmt ihn mit, er ist ein faschistoider Ausländerfeind, ein brutaler Schläger, ein ... (Beamter versucht, ihm den Mund zuzuhalten)
Einheimischer (wird von dem zweiten Polizisten gehalten):
Dir werd ich‘s zeigen! (reißt sich überraschend los und versucht, dem Unbekannten mit dem rechten Fuß in den Schritt zu treten)
Bravo, bravo! Weiter so! die Menge tobt.
Unbekannter beißt dem Beamten in die Hand und will sich ebenfalls losreißen. Dieser wendet geistesgegenwärtig die Armwinkelsperre an, geht mit dem Studenten wieder zu Boden, bringt ihn in Rückenlage und legt ihm laut fluchend Handschellen an.
Das Publikum applaudiert heftig.
Zweiter Beamter ringt den tobenden Einheimischen unter dem Gejohle der Masse ebenfalls nieder; auch ihm werden Handschellen angelegt. Über Funk wird Verstärkung angefordert. Kurz darauf treffen zwei Wagen ein. Beide Kontrahenten werden unter Pfiffen und Applaus von der Staatsmacht jeweils in eines der beiden Polizeifahrzeuge verfrachtet, und ab geht es, mit Blaulicht und Folgetonhorn.