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KARL

GABL

„Ich habe die Wolken von oben und unten gesehen“

DIE BERGE. DAS WETTER. MEIN LEBEN.

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Für Edith und Stephanie

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Berge hinterlassen Spuren: Nach der Expedition auf den Putha Hiunchuli (7246 Meter) im Oktober 2012

VORWORT

Als der Everest-Pionier George Leigh Mallory einmal gefragt wurde, weshalb er auf Berge steige, soll er geantwortet haben: „Weil sie da sind.“ Weshalb ich dieses Buch geschrieben habe? Die Antwort ist ganz einfach: Weil ich darum gebeten wurde. Und ich muss zugeben, ich habe mich lange Zeit davor gedrückt. Nicht nur, weil mir das Ansinnen, meine Memoiren zu verfassen, vor Augen führte, dass mein Cursor auf der Zeitleiste des Lebens schon weit nach rechts gerückt ist. Vor allem war mir bewusst, dass wer sich an sein Leben zurückerinnert, nicht nur an die schönen Momente denken kann. So hat auch der Rückblick auf die 70 Jahre meines Lebens frappierende Ähnlichkeit mit einem spannenden, nicht endenden Bergwetterbericht, der Perioden mit Hochs und Tiefs, mit strahlendem Sonnenschein, mit dichtem Nebel, aber auch mit Schneesturm, Gewittern und Naturkatastrophen beschreibt.

Was bleibt, sind dann aber doch die schönen Stunden. Ich habe sie vor allem entdeckt, als ich mein umfangreiches fotografisches Archiv in Augenschein nahm. Denn es sind ja insbesondere diese Ereignisse, die wir für später festhalten. Für die Retrospektive kramte ich in Tausenden von Fotos. Ich wühlte mich durch Kartons voller Papierbilder, durchforstete Kleinbild- und Mittelformatdias und Ordner mit digitalen Aufnahmen. Die Bilder erinnerten mich an große Abenteuer und berührende Momente. Wochenlang standen auf dem Esstisch und auf dem Fußboden, auf dem Sideboard und dem Couchtisch die grauen Dia-Boxen. Wie die Türme der Sella-Gruppe wuchsen sie in die Höhe. Mal wirkten sie auf mich bedrohlich, weil ich es vor langer Zeit verabsäumt hatte, die Boxen zu beschriften, mal empfand ich unermessliche Mühe, die Dias abzuarbeiten, und das andere Mal hatte ich große Lust auf dieses besondere Abenteuer, das mich natürlich in die Berge führte.

Zwar verbinden viele mit meinem Namen vor allem die Wetterberatung von Bergsteigern. In aller Bescheidenheit möchte ich aber doch behaupten, dass es eine Zeit gab, in der ich ganz passabel unterwegs war: In den Nordwänden von Königsspitze und Ortler und auch in der Ostwand des Monte Rosa. Auch den Peutereygrat am Mont Blanc habe ich gemacht. Im Fels der Dolomiten die Agnèrkante, Routen an der Tofana di Rozes, die „Lacedelli/Ghedina“ in der Scotoni-Westwand, die Nordwand der Großen Zinne, die „Gelbe Kante“ und die „Egger/Sauschek“ an der Kleinen Zinne; im heimischen Karwendel den Hechenbergpfeiler, die meisten klassischen Routen in der Martinswand und auch die Laliderer-Nordwand. Viele dieser Routen kletterte ich zu einer Zeit, als beim Abseilen noch die Dülfer-Methode das Nonplusultra war. Mit einigen bis zum heutigen Zeitpunkt nicht wiederholten Erstbegehungen habe ich lokale Bergsteigergeschichte geschrieben. Mit unserer Skiexpedition zum Noshaq stellten wir sogar den Höhenweltrekord für Skibergsteiger auf. Mittlerweile habe ich fast fünfzig Gipfel über 5000 Meter Höhe bestiegen, zahlreiche Sechstausender und drei Siebentausender. Auf 17 Vulkanen bin ich gestanden, darunter auf dem höchsten aktiven Vulkan der Erde, dem Ojos del Salado (6893 m) in Chile. Und dass ich es im fortgeschrittenen Alter von 66 Jahren noch auf einen Siebentausender geschafft habe, erfüllt mich doch mit einer gewissen Zufriedenheit.

Wer 70 Jahre in zwei Buchdeckel packen will, der kann nur unvollständig bleiben. Meine Memoiren sind deshalb keine taxative Aufzählung aller meiner Taten und auch keine Chronik meiner Missetaten. Sie können dem Leser nur einige für mich wichtige Momente am Berg, im Beruf und mit der Familie näherbringen.

Zwar dachte ich zunächst, mein Leben würde nie und nimmer ein ganzes Buch füllen können. Nachdem ich mir aber die ersten Zeichen mühevoll abgerungen hatte, bestand die Schwierigkeit am Ende darin, mich zu beschränken. Ich konnte deshalb nicht alle Wegbegleiter namentlich erwähnen und genauso wenig all jene, die mir heute wichtige Stützen und liebe Freunde sind. Sie mögen mir das verzeihen.

Danken möchte ich an dieser Stelle Anette Köhler und Margret Haider, die meinen Text mit großer Umsicht und mich zur rechten Zeit auch mit dem nötigen Nachdruck begleitet haben. Ich danke allen Bergsteigern, die zu diesem Buch einen Beitrag beigesteuert haben. Über die Jahre sind sie mir sehr ans Herz gewachsen und zu Freunden geworden. Und schließlich möchte ich auch meiner Frau Stephanie danken, ohne deren Unterstützung ich mir dieses Projekt nie und nimmer zugetraut hätte.

Karl Gabl

Sankt Anton, 26. Juli 2016 – am Fest der heiligen Anna

INHALT

Der „Piargers Karl“

In der Stella Matutina

Bergleidenschaft

Skigeschichten

Spiel und Ernst: Meine Zeit bei Fußball, Musikkapelle und Bergrettung

Ein Weltrekord auf 7492 Meter Höhe

Wolfgang Nairz: Vor dem Sturm am Elbrus

Neue Wege in Südamerika

Thomas Klimmer: Touren in Fels und Eis

Im Lawinenstrich

Bergpraxis

Ernst Vogt: Das „Rucksackradio“

Im Dienste der Sicherheit am Berg

Gegen den weißen Tod

Thomas Huber: Vier perfekte Tage am Ogre

Alexander Huber: Free solo am Grand Capucin

Wetterwissen

Stephan Siegrist: Die halbe Miete

Familienwege

Simone Moro: Im Vertrauen

Die Arlberger Baruntse-Expedition

Alix von Melle: Sturm am Dhaulagiri

In Richtung Achttausender

Ralf Dujmovits: Ohne Erfrierungen

Schienen durch St. Anton: Wie es zur Bahnverlegung kam

Axel Naglich: Nicht ohne Charlys Handynummer

Von Goldmedaillen, Warnsystemen und Wetter-Radarstationen

Tamara Lunger: Das unsichtbare Teammitglied

Wetterfenster in Sicht – Expeditionsberatungen

Gerlinde Kaltenbrunner: Noch eine Chance am K2

Ungewöhnliche Prognosen

Heinz Zak: Ein langer Weg mit Charly

Weitere Expeditionen an hohen Bergen

Hansjörg Auer: Die Richtung, aus der das Wetter kommt

Touren in Afrika

Ines Papert: Ein Grundkurs in Wetterprognose

Mit 66 Jahren

DER „PIARGERS KARL“

Bei meiner Geburt im Dezember 1946 war der Zweite Weltkrieg gerade eineinhalb Jahre vorüber. Mein Vater Karl, von Beruf Malermeister, hatte den Krieg als Soldat der Wehrmacht hauptsächlich an der Eismeerfront in der Nähe von Murmansk verbracht, am einzigen eisfreien Hafen nördlich von Finnland. Meine Mutter Marianne ängstigte sich und zitterte, ob mein Vater wieder aus dem Krieg nach Hause kommen würde. Meine Schwester Erika, die im September 1939 geboren wurde, und mein Bruder Sigi, der im April 1944 zur Welt gekommen war, mussten ihre ersten Lebensjahre ohne Vater auskommen. Ich hatte es da besser.

Die Zeit nach dem Krieg war von Entbehrungen geprägt. Die Leica, die sich mein Vater während des Kriegs gekauft hatte, tauschte er nach seiner Rückkehr aus Russland gegen eine Ziege ein, um täglich frische Milch für die Familie zu haben. Das ist auch der Grund, weshalb es keine Fotos von mir als Baby gibt. Alles, was ich über meine ersten Wochen und Monate sagen kann, weiß ich aus den Erzählungen meiner Mutter. Etwa, dass Weihnachten 1946 sich alles um mich scharte, den „Piargers Karl“ – „Piargers“ ist unser Hausname, der wohl von den Vorfahren herrührt, die von Tannberg, also von der anderen Seite des Arlbergs, stammten. Der Piargers Karl lag also Weihnachten 1946 in seinem Bett und die Nachbarn kamen mit Geschenken, um das „Christkindl“ mit den blonden Haaren und den blauen Augen zu bestaunen. So erzählte es meine Mutter.

Obwohl ich ein Nachkriegskind bin, sind meine ersten eigenen Erinnerungen aus meiner Kindheit die Erzählungen vom Krieg. Fast jeder Kunde meines Vaters, der den elterlichen Malerbetrieb als Ältester übernommen hatte, erzählte von seinen Erlebnissen an diversen Kriegsschauplätzen im hohen Norden, in Russland oder auf dem Balkan. Ich hörte auch manchmal etwas von den Partisanen dort, vor denen sich alle fürchteten. Mir machten die Erzählungen, die ich als Kind belauschte, fürchterliche Angst. Das führte so weit, dass ich höllische Angst hatte, wenn eine Eisenbahn, deren Strecke direkt an unserem Haus verlief, vorbeifuhr. Noch heute sehe ich die Räder des Zuges vor mir, wie sie sich um die Achse drehen, und noch immer steigt bei dem Gedanken daran latente Angst in mir hoch. Als ich den ersten Düsenjäger durch das Stanzertal donnern sah und hörte, lief ich schreiend ins Haus und verkroch mich. Woher sollte ich als Kind wissen, dass das nicht der Vorbote eines weiteren Krieges war?

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Meine Eltern Marianne und Karl Gabl

Natürlich waren mir auch die Besatzungssoldaten nicht geheuer. Noch gut erinnere ich mich an eines der Wintermanöver. Bei großer Kälte in weiße Mäntel gehüllt, führten uns französische Soldaten auf der anderen Talseite, in der Wolfsgrube, ihre Präsenz deutlich vor Augen. Meine Mutter machte ihnen viele Kannen Tee und ich schaute zu, wie die Franzosen ihre kalten Hände an den dampfenden Tassen wärmten. Zum ersten Mal sah ich auch „Neger“. So hieß das damals. Und besonders stolz war ich, als mir ein schwarzer Soldat Bonbons schenkte.

Neben den Nachkriegserzählungen habe ich eine weitere dramatische Erinnerung aus meiner Kindheit. In unserem Radio, einem alten Röhrenempfänger mit massiver Holzverkleidung und Stoffbespannung über dem Lautsprecher, wurde Anfang Februar 1953 über die Flutkatastrophe in Holland berichtet. Durch einen Orkan war das Wasser gegen Deiche gedrückt worden, woraufhin diese zerbarsten. Fast 2000 Menschen ertranken damals in den Fluten. Gespannt saß ich vor dem Radio und hörte die Berichte über die unfassbare Katastrophe. Vielleicht hat dieses Ereignis mich unbewusst zur Meteorologie gebracht. Letztlich war es aber wohl mehr ein Artikel über den Innsbrucker Meteorologen und Glaziologen Herfried Hoinkes, der das Internationale Geophysikalische Jahr 1956 in der Antarktis verbrachte. Die Aussicht, möglicherweise ebenfalls einmal am Südpol zu sein, lockte mich mehr, als ein Jus-Studium oder die Ausbildung zum Steuerberater, die sich mein Vater hätte für mich vorstellen können.

Der Beginn meiner Bildungskarriere verlief recht holprig. Ich verbrachte gerade einmal zwei Tage im Kindergarten in St. Anton, dann entschloss ich mich, fortan wieder zu Hause zu bleiben. Der erste Grund war die überaus gestrenge geistliche Schwester in ihrem Ordenskleid, die mich nicht das tun lassen wollte, was mir gefiel. Der zweite war wahrscheinlich die Tätigkeit meiner Eltern. Meine fleißige Mutter, die ohne weitere Hilfe für ihre drei Kinder, ihren Mann und die elf Gesellen des Malerbetriebes kochte und – ohne Waschmaschine – wusch, hatte keine Zeit, mich jeweils eine halbe Stunde zum Kindergarten auf die andere Seite des Dorfes zu begleiten und dort wieder abzuholen. Vielleicht war es ihr bei all der Arbeit von früh bis spät ganz recht, dass ich kein gesteigertes Interesse am Kindergarten zeigte. Mein Vater war ab 7 Uhr im Betrieb, sodass meine Weigerung auch bei ihm auf fruchtbaren Boden fiel.

In dieser Zeit muss es auch gewesen sein, dass mir unser Arzt, Doktor Santeler, der Hausarzt der ganzen Einwohnerschaft von St. Anton, einen Milchzahn reißen musste. Dass mir das als kleinen Buben keine große Freude bereitete, kann ich mir in Anbetracht meiner noch heute vorhandenen Aversion gegen Zahnarztbesuche gut vorstellen. Ich soll mich schon damals nicht nur mit Händen und Füßen gewehrt haben, aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass ich den Doktor bei dieser Gelegenheit in den Finger gebissen haben soll. So schmerzhaft kann es aber nicht gewesen sein, denn ich blieb sein Patient.

Konnte ich den Kindergarten noch vermeiden, gab es bei der Schule keine Ausreden mehr. Ich hatte aber auch da Glück. Aufgrund meines Geburtstages am 21. Dezember hätte ich schon als Fünfjähriger, im Herbst 1952, eingeschult werden müssen. Wegen meiner schmächtigen Körpergröße – die St. Antoner sagen dazu „Greggaler“ – wurde ich aber wieder nach Hause geschickt. Ein Jahr später gab es aber kein Entrinnen mehr.

Dass meine Eltern mich am ersten Schultag nicht in die Volksschule begleiteten, machte mir nichts aus. Selbstbewusst betrat ich nach dem Gottesdienst eines der Klassenzimmer, und fast alle Eltern und Erstklässler folgten mir. Dass es leider die falsche Klasse war, stellte sich erst hinterher heraus. Das fing schon einmal gut an.

An die Schule und den Unterricht in den ersten Klassen habe ich wenige Erinnerungen, viele aber an den Schulweg mit meinem Nachbarn und Mitschüler Walter Strolz. Nur selten kam es vor, dass wir über die wenig befahrene, langweilige Hauptstraße ins Dorf gingen. Es gab viel mehr Spannendes auf der Sunnawiesa, im Gassli oder in der Au zu entdecken. Eines Tages im Winter nach einem starken Schneefall – wir hatten auch am Nachmittag Schule – gingen wir über das abgelegene, bei Schneelage nicht begangene Gassli nach Hause. Hinter dem Gasthaus Krone hüpften wir von einem niederen Schuppen in den tiefen, nassen und kompakten Neuschnee. Plötzlich blieb ich stecken. Alle Bemühungen, meine kleinen Füße freizubekommen, nützten nichts. Auch Walter konnte mir nicht helfen. Mit dem Versprechen, meinen Bruder Sigi mit einer Schaufel zu mir zu schicken, ging er weiter. Ganz offensichtlich hatte Walter auf dem weiteren Nachhauseweg zu meinem Leidwesen aber wieder etwas Interessantes entdeckt und mich vergessen. Als es dunkel wurde und meine Mutter mich vermisste, ging sie hinüber zu den „Nazalers“, so lautete der Hausname der Familie Strolz, um sich nach mir zu erkundigen. Da erinnerte sich auch Walter wieder an mich. Mein Bruder Sigi kam mir zu Hilfe und fand mich durchgefroren mit vielen Tränen auf den Wangen vor. Weil auf Walter aber bis auf diese Ausnahme Verlass war und bis zum heutigen Tag ist, war ich ihm nicht böse. Und noch immer lachen wir viel, wenn er diese Geschichte in einer gemütlichen Runde zum Besten gibt.

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Beim Indianerspielen unterhalb meines Elternhauses. V. I.: Karl Wolfram, Karl Gabl, ein heute nicht mehr erinnerlicher Spielkamerad, Robert Alber

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Aus Mangel an Trikots trugen die Nassereiner mit T-Shirts, die Dörfler mit nacktem Oberkörper ihre Fußballspiele aus: Mit Schiedsrichter Karl Cordin in der Mitte. V. I.: Gebhard Strolz, Karl Wolfram, Elmar Schulter, Karl Cordin, Walter Strolz, Karl Gabl, Reinhold Falch, Benno Mussak, hinten versteckt Harald Rofner, Walter Wasle, Martin Hauser, Gerd Doff-Sotta

Walter wusste um meine Blauäugigkeit. Einmal riet er mir bei tiefen Minusgraden, meine Zunge an das Rohr des Schulbrunnens zu halten. Ich tat, wie mir der gute Freund geraten. Daraufhin klebte ich aber für längere Zeit am gefrorenen Rohr fest, bis es, erwärmt von der Zunge, mich wieder freigab. Auch dieser Vorfall schweißte Walter und mich noch mehr zusammen. Ich habe in ihm einen wunderbaren Freund gefunden, mit dem ich später dann auch viel beim Klettern und auf Skitouren unterwegs war. Noch heute schätze ich seinen intelligenten und trockenen Humor.

Nicht weit weg in der Nachbarschaft wohnte die Familie Schmidt-Chiari in einem großen Haus mit riesigem Garten. Constantin, den wir Tino nannten, der jüngste der Kinder, ging mit meinem Bruder Sigi in die Volksschule. Oft spielten wir mit Tino im Haus der Familie. Mit seinen älteren Geschwistern Monika, die später Architektur studierte, und mit Guido, von uns – wegen seines zweiten Vornamens – Niko gerufen, dem späteren Generaldirektor der Creditanstalt in Wien, hatten wir weniger Kontakt. Tinos Großmutter war die Gräfin und Freifrau Chiari, von der wir unseren ersten Hund, den Nilo, bekamen. Nilo war ein Mischling, dessen Wurzeln wir nicht genau nachvollziehen konnten.

Wir hatten gehört, dass Tinos Vater in Wien ein „hohes Tier“ – so bezeichnete man ranghohe Persönlichkeiten – gewesen sei. Als Fünfjähriger interessierte mich das aber nicht weiter. Erst später realisierte ich, dass er vor dem Einmarsch Hitlers im Jahr 1938 Außenminister in der Regierung von Kanzler Kurt Schuschnigg war. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Tinos Vater über viele Jahre Semperit, dem renommierten österreichischen Reifenerzeuger, als Generaldirektor vor. Mit ihm bin ich zum ersten Mal in einem Auto mitgefahren. Geplant war ein Ausflug zum Tramser Weiher, einem idyllischen Badesee oberhalb von Landeck. Bis Wiesberg kamen wir auf der kurvenreichen Strecke gut voran. Vielleicht war es der Anblick der die Trisanna in einem hohen Bogen überspannenden Eisenbahnbrücke, der mich blass werden ließ. Ich musste mich jedenfalls übergeben. Anstatt eines erwarteten Donnerwetters wurde ich aber liebevoll betreut und die Rückstände wurden rasch beseitigt. Dann setzten wir unsere Fahrt nach Landeck fort. Bis heute wird mir im Fond eines Autos, aber auch in den hinteren Sitzreihen eines Busses übel.

Der zwei Jahre ältere Tino war aber nicht nur unser Spielkamerad, er war auch Sponsor. Das kam so: Neben verschiedenen damals üblichen Spielen im Freien erinnere ich mich an das Spiel „Pfui Zeit erleas“, ein Versteckspiel, bei dem man sich unbemerkt vom Suchenden abklatschen, also erlösen, musste. Neben den Spielen organisierte ich Laufrennen, die vom Reselehof über St. Jakob, Rafalt und das Pitzi wieder zum Reselehof zurückführten; es war eine Strecke von über zwei Kilometern. Gerne rannten alle um die Wette, weil es Preise zu gewinnen gab. Eine kleine Schokolade, Bonbons, uraltes Skiwachs, das ich auf dem Dachboden gefunden hatte, und manchmal eben auch ein paar Schillinge von Tino als Hauptpreis. Karle Cordin, der spätere Skirennläufer, ein Abfahrer von Weltklasse, machte mit, genauso wie der dritte Karl in Nasserein, Karl Wolfram, der so wie Karle etwa ein Jahr jünger war als ich. Jedes Rennen habe ich gewonnen. Und die von Tino gestifteten Preise waren neben meinem Ersparten Grundlage für den Kauf meines ersten Eispickels.

Wir waren aber nicht immer lieb mit Tino. Beim Indianerspiel kam uns der Gedanke, Tino an einen Marterpfahl zu fesseln. Als Pfahl verwendeten wir den Holzpfosten einer Wäscheaufhängung, dazu ein dünnes Seil, das wir in Kreisen unter ausgerissenen Grashalmen versteckten. Indianertänze aufführend, baten wir Tino in den Kreis vor unserem Marterpfahl, und ehe Tino es bemerkte, griff Walter die Schnur unter dem Gras und stülpte sie über die Schienbeine von Tino. Sofort begannen wir nun, die Schnur in Händen, so oft um den Pfahl zu laufen, bis Tino bis zur Brust gefesselt war. Es war aber keine martialische Aktion, Tino lachte, wir lachten, und alles war wieder gut.

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Mein Elternhaus in Nasserein. Das Kellergewölbe stammt aus der Zeit um 1480, die Stube aus dem Jahr 1680.

Auf unserem Haus in St. Anton haben wir ein Bezugsrecht für Holz, üblicherweise wenige Kubikmeter Brennholz, bei Umbauarbeiten am Haus sind es einige Kubikmeter Bauholz. Oft durften Sigi, mein um zwei Jahre älterer Bruder, und ich unseren Vater zu Arbeiten „ins Holz“ begleiten. Eines Tages wurden wir zu einem Holzschlag über dem Rifaplan mitgenommen. In den Hängen waren aber die kleinen Bäche und die feucht-moosigen Stellen vereist. Die vom Vater ins Tal zu transportierenden Baumstämme kamen auf den vereisten Stellen in Fahrt. Sie rutschten nicht nur, sondern sausten, sich überschlagend und in Stücke zerbrechend, ins Tal. Sigi und ich konnten uns vor Lachen kaum halten, da kaum ein Baum unversehrt seine Drift beendete. Aber Vaters Gesicht verfinsterte sich von Baumstamm zu Baumstamm. Er hatte gerade wertvolles Bauholz in Brennholz umgewandelt.

Meine Schwester Erika versuchte manchmal, etwas strenger zu mir zu sein. Zu recht, denn meine Eltern ließen mir, dem damals Jüngsten, so ziemlich alles durchgehen. Meine Schwester Eva kam erst zehn Jahre später zur Welt. Mit Sigi verbrachte ich in der Kindheit die meiste Zeit. Wir spielten stundenlang miteinander, und wir holten schon als kleine Buben alleine die Weihnachtsbäume aus dem Wald, wobei wir es mit den Grundstücksgrenzen nicht so genau nahmen. Sigi gab mir, dem Volksschüler, sein Wissen und den Lehrstoff aus der ersten und zweiten Klasse Hauptschule in Landeck weiter. Er hatte einen Schulatlas, in dem man die gesamte Erde mit ihren Kontinenten und Ländern bewundern konnte. Oft nahmen wir abends – schon im Bett liegend – den Atlas zur Hand und veranstalteten ein geografisches Ratespiel. Dabei musste der jeweils andere eine Stadt in einem fremden Land oder auf einem fernen Kontinent suchen, die ihm vom anderen genannt worden war. Manchmal ärgerte sich Sigi, wenn ich scheinbar ganz interessiert eine bestimmte Stelle im Atlas fixierte und aus dem Augenwinkel gleichzeitig einen davon weit entfernten Ort las, nach dem ich ihn dann befragte.

In unserer Nachbarschaft lebte auch Oberst Adelbert Homa, der Schwiegervater von Skischulleiter Rudi Matt. Wir grüßten Adelbert Homa immer recht freundlich. Was wir nicht wussten, war, dass er an der Dolomitenfront ein hoch dekorierter Soldat gewesen war. Er war Abschnittskommandant beim 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger am Col di Lana, dessen Gipfelkuppe von den Italienern im April 1916 mit 5 Tonnen Dynamit in die Luft gesprengt wurde. Hunderte Soldaten starben. Oberst Homa wurde einen Tag vor der Sprengung von Oberleutnant Anton von Tschurtschenthaler als Kommandant abgelöst. Aus heutiger Perspektive bedauere ich es sehr, dass ich erst viele Jahre nach seinem Tod erfahren habe, was dieser Mann erlebt hat und ertragen musste. Viele Schauplätze der Dolomitenfront habe ich bei meinen Klettereien und Wanderungen bewusst besucht und mir dabei auch die Stollen und Schützengräben angeschaut. Mit den Kindern wanderten meine Frau Edith und ich sogar einmal zum Col di Lana. Und in mahnender Erinnerung an diesen Wahnsinn habe ich zu Hause ein Kreuz hängen, das ich aus dem bei Stellungen gefundenen Holz und rostigem Stacheldraht gefertigt habe.

IN DER STELLA MATUTINA

Den Haushalt im Haus Schmidt-Chiari führte Anna, eine resolute und ebenso liebevolle Frau aus Böhmen, die mit ihrem böhmischen Akzent alle beeindruckte und herrliche Kuchen buk. Sie war es, die meiner Mutter wegen meiner guten schulischen Leistungen den Hinweis gab, mich nach Feldkirch in die Stella Matutina, das Privatgymnasium der Jesuiten, zu schicken.

Die Stella Matutina („Morgenstern“) war eine internationale Schule mit hohem Ansehen. Sie wurde von Jesuiten aus der Schweiz gegründet, die für das Anzetteln des Sonderbundskriegs verantwortlich gemacht und deshalb 1847 des Landes verwiesen worden waren. 1848 wurde das Jesuitenverbot sogar in der Schweizer Verfassung verankert und erst 1973 durch eine Volksabstimmung wieder außer Kraft gesetzt. Weil die Jesuiten ihr Gymnasium in Fribourg schließen mussten, eröffneten sie 1856 die Stella in Feldkirch: als Pensionat für Zöglinge und als offizielles Gymnasium der Stadt. Im Jahr 1868 verlor die Stella das Öffentlichkeitsrecht und wurde bis 1892 als Privatschule mit dem deutschen Unterrichtsplan weitergeführt. Damals besuchten viele Schüler des katholischen Adels aus Deutschland diese Schule. Wieder staatlich anerkannt, wurde sie bis 1934 von Schweizern und Deutschen, großteils aber von Österreichern besucht. Aufgrund der im Jahr 1933 von Nazideutschland gegenüber Österreich verhängten 1000-Mark-Sperre wechselten die Schüler aus Deutschland mit der Hälfte des Inventars in das ehemalige Benediktinerkloster St. Blasien im Schwarzwald. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich 1938 wurde die Stella Matutina geschlossen, die Jesuiten wurden von den Nationalsozialisten verfolgt, die Patres Alois Grimm und Alfred Delp nach dem Schuldspruch durch Richter Freisler am Volksgerichthof in Berlin sogar hingerichtet. Im Jahr 1946 öffnete die Schule aber wieder ihre Pforten und bald besuchten über 300 Schüler aus verschiedenen Ländern dieses Privatgymnasium. Der Nachwuchsmangel, finanzielle Gründe und wahrscheinlich auch das aufgehobene Berufsverbot für die Jesuiten in der Schweiz führten 1979 zur Schließung dieser besonderen Schule mit einer nahezu 125-jährigen Tradition.

Auch ich sollte Teil dieser Geschichte werden. So hatten das meine Eltern für mich vorgesehen. Sie investierten viel Geld in meine Bildung. Ich war schon einige Jahre in der Stella, da sagte mein Vater einmal zu mir: „Ich hätte Dir mit dem ganzen Geld auch einen Grundstock für eine Pension hier in St. Anton legen können. Ich habe mir aber gedacht, dass es besser angelegt ist, wenn Du eine gute Ausbildung bekommst und selbst über Deine Zukunft entscheidest.“ Das war sehr weise.

Im Herbst 1958 trennten sich so die schulischen Wege von Walter Strolz und mir, denn während ich nach Feldkirch kam, kam Walter nach Schwaz ins Paulinum. Ich freute mich auf das Gymnasium – bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich in Feldkirch von meinen Eltern verabschiedete. Plötzlich war ich auf mich alleine gestellt. Ich musste als Elfjähriger mein Leben selbst in die Hand nehmen. Welche Hose, welche Socken, welche Schuhe ziehe ich heute an? Wie verbringe ich meine Freizeit? Fußball, Handball, Volleyball spielen, Leichtathletik, Eishockey, Skilauf oder Burgen bauen im ausgedehnten Wald der Stella am Fuße des Stadtschrofens? Fragen über Fragen, auf die ich, ich ganz allein, die Antworten finden musste. Ich vermisste meine Freunde, St. Anton, den Schnee und die Berge. Umso größer war das Heimweh, als wir je drei lange Monate, von Anfang September bis Weihnachten, von Dreikönig bis Ostern und von Ostern bis zu den Sommerferien Anfang Juli, nie nach Hause fahren durften.

Äußerst gewöhnungsbedürftig war der Schlafsaal in der ersten Klasse des Internats. In vier Bereichen mit je 20 Betten, die nur durch etwa 1,50 Meter hohe Holzwände voneinander getrennt waren, schliefen insgesamt 80 Schüler unter dem nicht besonders wärmegedämmten Dach. Aber wir hatten eine gute Heizung und scheuten auch das ausschließlich kalte Waschwasser nicht. Geduscht wurde einmal wöchentlich.

Für mein Selbstvertrauen und gegen mein Heimweh gut war, dass ich die ersten beiden Klassen des Gymnasiums mit Vorzug abschloss. Trotzdem plagte mich, wie auch Walter im Paulinum, das Heimweh. Walter aber durfte nach der ersten Klasse von Schwaz ins Gymnasium nach Landeck wechseln. Irgendwie war es ihm gelungen, seine Eltern davon zu überzeugen. Dasselbe wollte ich auch tun. In diesem Punkt gab mein Vater, der mir, wie meine Mutter auch, fast jeden Wunsch erfüllte, nicht nach. Er überzeugte mich, zumindest die ersten vier Klassen in der Stella zu bleiben. Ich blieb also in Feldkirch und ich bin meinem Vater dankbar für seine Konsequenz.

In der Stella wurde ich vielseitig gefördert. Ich lernte Trompete spielen, obwohl unsere Familie keineswegs musikalisch war. Meine Eltern spielten kein Instrument. Immerhin konnte meine Mutter gut singen, während mein Vater bei seinen wenigen Versuchen nie die Töne traf. An meinem ersten Weihnachten, das ich als Stellaner zu Hause verbrachte, bekam ich eine Konzerttrompete geschenkt. Mein Lehrer war Professor Mähr, der Stadtkapellmeister von Feldkirch, der viele verschiedene Blas- und Streichinstrumente spielte und großes didaktisches Gefühl hatte. Bald schon marschierte ich mit dem „Stellablech“ – so nannte man unsere Musikkapelle – in der ersten Reihe, allerdings waren meine Mitschüler viel größer, was bei der Fronleichnamsprozession in Feldkirch zu einem Murmeln bei den Zuschauern führte. Zu den vielen Bläsern gehörten auch Hansjörg Schweinester, später Rechtsanwalt in Kitzbühel, und Bruno Decristoforo, der lange Jahre in St. Anton als Pfarrer wirkte. Mit Freude übte ich mit anderen Musikern in winzigen Zimmern. Wir „schrenzten“ laut um die Wette, trompeteten, was die Instrumente hergaben. Das Trompetespielen war aber nicht nur Freude, es war auch Trost in vielen Stunden.

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Blick vom Stadtschrofen in Feldkirch auf das Jesuitenkolleg Stella Matutina – auf beiden Ufern der Ill: im Vordergrund das Schulgebäude und der Theatersaal, auf der anderen Ill-Seite das Internatsgebäude

Hingerissen war ich von den Aufführungen in der Kirche der Stella. Eine klangvolle Orgel, der große Chor mit Streichorchester und mitten hinein die hellen Klänge meiner Trompete. Meinen musikalischen Höhepunkt erlebte ich im Fasching des Jahres 1965. Vor dem alljährlichen Theaterstück spielte ich mit dem Stellaorchester, unterstützt durch Musiker des Stadtorchesters Feldkirch, das Trompetenkonzert in Es-Dur von Joseph Haydn. Die „Vorarlberger Nachrichten“ lobten das „ganz ausgezeichnete Trompetensolo eines offenbar hochbegabten Stellaners“ sehr. Und in einer anderen Zeitung war zu lesen: „Den anspruchsvollen Solopart spielte der blutjunge Karl Gabl mit durchwegs sauberer Intonation, tragendem Ton und einem guten Stück Technik.“ Erst kürzlich fielen mir die Artikel, die ich damals feinsäuberlich ausgeschnitten und archiviert hatte, wieder in die Hände. Meine Cousine Monika erzählte mir, sie sei auch bei dem Konzert gewesen, mit meinem – laut ihren Schilderungen – sehr stolzen Vater.

So kam es auch, dass ich einmal sogar vor dem Schah von Persien spielte. Es war mit der Blasmusik der Stella. Der Schah verbrachte seinen Skiurlaub alljährlich in Zürs am Arlberg. An der Grenze von Liechtenstein zu Österreich wurde er von einer Delegation des Landes Vorarlberg empfangen. Es war kalt und es schneite. Daher trafen wir die Töne auf unseren Blasinstrumenten nicht immer genau, aber wir waren uns sicher, dass diese atonalen Klänge sich in persischen Ohren sehr gut anhörten. Nie hätte ich damals gedacht, dass ich nicht einmal zehn Jahre später, auf meiner Reise nach Afghanistan, quer durch das Land dieses Mannes fahren würde.

Neben der Musik war Fußball meine große Leidenschaft. Während ich aber die Trompete über Jahrzehnte zur Seite legte und ich mir erst kürzlich wieder ein neues Instrument kaufte, auf dem ich auch fleißig übe und wieder halbwegs anhörbare Töne herausbringe, waren mir die Veränderungen in den europäischen Fußball-Ligen immer geläufig.

Im Team der Schüler- und Jugendmannschaft der Stella war ich meist im Mittelfeld aufgestellt. Wir waren recht gut unterwegs. An ein niederschmetterndes Ergebnis kann ich mich aber noch erinnern. Gegen die „Profis“ der Rätia Bludenz gingen wir mit unserer Schülermannschaft 1:12 kläglich unter. Aber nicht nur beim Fußball kam ich zum Einsatz. Brachte das Handballteam zu wenige Spieler auf das Feld, half ich einige Male aus. Und in Ermangelung von Spielern musste ich, ohne große Eislaufkenntnisse – zum Beispiel konnte ich wirklich nicht gut rückwärts laufen – als Notnagel einmal sogar ins Eishockeytor. Wie gut ich mich geschlagen habe, weiß ich nicht mehr. Aber aus der Tatsache, dass ich nur einmal gefragt wurde – zumindest ist mir nur dieses eine Mal in Erinnerung geblieben –, leite ich ab, dass aus mir kein namhafter Eishockeytorwart geworden wäre.

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Auf Fotos leicht zu erkennen – ich war meist der Kleinste. Wie hier mit der Kapelle der Stella Matutina bei der Fronleichnamsprozession in Feldkirch

Jahr um Jahr in der Stella ging vorbei, die schulischen Anforderungen wurden größer. Nicht gerade sprachbegabt, mühte ich mich mit Latein über acht und Altgriechisch über sechs lange Jahre. Erst kürzlich fielen mir wieder die rotbraunen Griechisch-Vokabelhefte der achten Klasse in die Hände. Dass es einen aoristus gnomicus gibt, wurde mir da wieder in Erinnerung gerufen. Und dass wir Platons „Staat“ gelesen haben, zumindest in Teilen – wie zum Beispiel das Höhlengleichnis. Auch Protagoras stand demnach auf unserem Lehrplan. Irgendwie passierte es dann auch, dass ich mich wieder an die ersten Sätze der „Ilias“ erinnern konnte: Mῆνιν ἅειδε, θεά, Πηληϊάδεω Άχιλῆος οὐλομένην, ἣμυρί‘ Άχαιοῖς ἂλγε‘ ἔθηκε … Tief drin ist also doch etwas hängen geblieben.

Im Alltag halfen mir meine Altgriechisch-Kenntnisse damals aber reichlich wenig. Einmal versuchte ich im Zug von London zur Fähre in Dover einer griechischen Studentin mit meinen Kenntnissen in Altgriechisch zu imponieren. Eifrig las ich ihr aus einer griechischen Illustrierten vor. Anstatt mich zu bewundern, lachte sie über meine antiquierte Ausdrucksweise aus vollem Hals. Mein Altgriechisch habe ich dann nicht mehr zum Besten gegeben. Recht schnell unterhielten wir uns wieder auf Englisch.

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Beim eifrigen Studium am Nachmittag im Internat (vorne links). Mein Banknachbar ist Alois Melmer, der jetzige Wirt vom Alpengasthof Praxmar im Sellrain.

Ansonsten bereitete uns die Stella auch auf das Leben in einem weiteren Sinne vor. So gab es zumindest Versuche, uns das richtige Verhalten Frauen gegenüber beizubringen. In der siebten Klasse des Gymnasiums besuchten wir einen Tanzkurs. Um aber möglichen „Techtelmechteln“ vorzubeugen, die es hätte geben können, wenn wir mit Schülerinnen aus Feldkirch oder der näheren Umgebung den Kurs absolviert hätten, mussten wir wöchentlich einmal am Nachmittag nach Bregenz reisen, in der Hand einen Nylonsack mit den schwarzen Lederschuhen und den weißen Handschuhen; Handschuhe deshalb, um jeglichen Hautkontakt zu vermeiden. Ziel war die Riedenburg, ein Mädchengymnasium. Im Kloster Sacré Coeur des Frauenordens der Gesellschaft vom Heiligen Herzen Jesu gab es einen größeren Saal, in dem die von den Ordensfrauen und den Patres behüteten Schülerinnen und Schüler unter kundiger Führung eines Tanzlehrers aufeinander losgelassen wurden.

Wir mühten uns mit Tanzschritten für Foxtrott, Tango, Cha-Cha-Cha, Walzer und unter anderen auch für den Modetanz Twist. Mit Ausnahme des Twists, bei dem sich die beiden Partner ohnehin nicht berührten, gab es natürlich den üblichen Körperkontakt. Damit sich die Partner nicht zu eng aneinanderschmiegen oder sogar Zärtlichkeiten austauschen konnten, waren in den zwei Fensternischen des Saales Ordensschwestern als Aufpasserinnen postiert. Das System zur Abwehr weiblicher Liebreize bewährte sich bei uns Stellanern. Dennoch hatten wir großen Spaß, und beim Abschlussball in der Riedenburg zeigten wir unser ganzes Können. Ich weiß nicht, ob sie sich noch daran erinnert, mir jedenfalls ist der Abend noch gut im Gedächtnis geblieben: Meine Partnerin beim Abschlussball war Christine Sattler aus St. Anton.

Die Stella prägte. Geblieben ist mir das konstruktiv kritische Hinterfragen der Dinge und die positive Einstellung, der Wille, für etwas und nicht gegen etwas zu kämpfen. Ich bin überzeugt, dass die Stella wesentlich dazu beigetragen hat, dass aus mir ein Mensch mit humanistischen Werten geworden ist. Milde und Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Wohlwollen anderen gegenüber gereichten mir in meinem Leben aber nicht immer nur zum Vorteil. Thomas Hobbes, der mir an der Stella auch unterkam, schrieb ja einmal, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Und bei Ödön von Horváth, der mir, seit ich mich öfter im bayerischen Murnau aufhalte, regelmäßig „begegnet“, heißt es an einer Stelle in „Glaube Liebe Hoffnung“: „Lauter blutige Enttäuschungen.“ Es war nicht jedes Mal blutig, aber tief enttäuscht wurde ich einige Male.

An der Stella scheiterten manche nicht aus schulischen, sondern aus menschlichen Gründen. Die damals allgemein als Norm angesehenen strengen Erziehungsmethoden, das Fehlen der eigenen Familie, die bis zur sechsten Klasse ausgeklammerte Außenwelt, das enge Korsett durch Schule und Internat war nicht jedermanns Sache. Nur die Harten kamen durch. Und die Weichen wurden hart gemacht.

Mein Blick zurück ist dennoch ein dankbarer. Gute Erinnerungen habe ich an die Professoren Roman Jungbluth und Elmar Sturn in Mathematik, Pater Paul Erbrich mit seiner Geosynklinale, den Geografen Helmut Eisterer sowie den Historiker Pater Strobel. An unsere Deutschlehrer kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber aus dem blaugrauen Heft, auf das ich in großen Buchstaben „Literatur“ geschrieben habe, geht hervor, dass wir viel bearbeitet haben. „Don Quixote – gelesen“, „Shakespeare: Romeo und Julia, König Lear gelesen“. Bei Shakespeares Hamlet habe ich sogar vermerkt, dass ich ihn im englischen Original gelesen habe. Lessings „Nathan“, Molières „Die Schule der Frauen“, von Goethe den „Werther“, die „Iphigenie“, natürlich „Faust I“ und viele andere, von Schiller den „Wilhelm Tell“, „Die Räuber“, den „Wallenstein“, Hölderlin, Kleist, Eichendorff, Mörike, Grillparzer – alles gelesen. Nur das Nibelungenlied und Werke von Hartmann von Aue stehen als ungelesen auf meiner Liste.

Mitleid habe ich im Nachhinein mit Pater Josef Nemeth und dem Direktor Justin Leibenguth, die sich mit meinen Übersetzungen aus dem Lateinischen und dem Altgriechischen plagen mussten. Großen Lernspaß bereitete mir dagegen der Englischunterricht von Professor Amann von der fünften bis zur achten Klasse. Zwei mehrwöchige Aufenthalte in Bournemouth und London erweiterten meine Englischkenntnisse beträchtlich. Und in besonders einprägsamer, lehrreicher Erinnerung geblieben ist mir der teils auch selbstkritische Religionsunterricht von Pater Josef Bachmann. Sein kritisches Denken machte gerade vor den Medien nicht halt. Mit Akribie analysierte er einmal einen Artikel aus dem Magazin „Der Spiegel“, der ein religiöses Thema zum Inhalt hatte. Mit wissenschaftlichen Argumenten konnte Pater Bachmann uns jungen Gymnasiasten die tendenziöse Berichterstattung und die oberflächlichen und nicht objektiven Recherchen des Verfassers aufzeigen. Dieses kritische Hinterfragen der Medien habe ich bis heute beibehalten. Manchmal auch zum Leidwesen meiner Mitmenschen. Lautstark ärgere ich mich oft über Meldungen im Radio oder Fernsehen und über Zeitungsartikel, wenn tendenziös berichtet wird oder nur eine Meinung zur Geltung kommt. Als eine Journalistin vor einigen Jahren in einem Porträt über mich schrieb, wir seien an der Stella geschlagen worden, protestierte ich heftig dagegen. Diese falsche Behauptung wollte ich nicht in einem Porträt über mich lesen. Misshandlung oder Missbrauch habe ich an der Stella weder selbst erlebt noch von anderen mitbekommen.

Pater Alois Baiker und Pater Max Zürni, die beide schon gestorben sind, waren neben vielen anderen in frühen Jahren meine Ersatzeltern. Die abendlichen Gespräche mit Zürni, bei denen er und ich Zigarren rauchten und manchmal auch Messwein tranken, haben mir in der späten Pubertät sehr geholfen. Die lebensbejahende Einstellung sowie das sportliche und kulturelle Umfeld der Stella begleiten mich bis heute. Die klassische Musik, die wir am Samstagabend in den Schlafsälen hörten, die preisgekrönten Filme, die uns gezeigt wurden, und die Diskussionen darüber erweiterten meinen Horizont. Persönlich begegnen konnten wir vor allem Theologen und Vertretern aus der Wirtschaft, aber auch einzelnen Künstlern. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Vortrag des Zeichners und Karikaturisten Paul Flora, dessen Sohn Thomas damals ebenfalls die Stella besuchte. Flora war ein humorvoller und trotz seines Erfolges bescheidener Mann mit besonderem analytischem Spürsinn. Mich inspirierte diese Begegnung mit Flora sehr.

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Hier bin ich (2. v. l.) mit drei Mitschülern in angeregter Unterhaltung mit Jesuitenpater Alois Baiker, der in der ersten Klasse mein Präfekt war.

Weil die Mitschüler aus der Schweiz nach der sechsten Klasse meist an die Schule nach Einsiedeln wechselten, waren wir in der Maturaklasse nur noch 14. Einige von ihnen leben schon nicht mehr. Als erster starb Rechtsanwalt Marco von Formentini in Kitzbühel, der nicht einmal fünfzig Jahre alt wurde und mit dem ich sehr verbunden war. Der umtriebige Gerald Sauer aus Göppingen, der in zweiter Ehe einen Adelstitel führte, lebt auch nicht mehr; Franz Rüdisser aus Luzern, mein Partner beim Fußballspiel, und Volker Voerste aus Erlangen, unser bester Lateiner, sind ebenfalls nicht mehr unter uns. Von den noch Lebenden möchte ich Balthasar Lohmeyer, Neurologe in Zürich, erwähnen, der sich bei meiner Mutter in St. Anton wie zu Hause fühlte. Erst kürzlich stand er nach vielen Jahren wieder einmal bei mir vor der Tür. Es war eine große Freude, ihn wiederzusehen.

Am engsten befreundet war ich mit Marcel Spielmann aus Genf, der eine Klasse nach mir in die Stella ging und mit dem ich viele gemeinsame Ferienwochen verbrachte. Marcel, nicht bergerfahren oder sportlich, musste mit mir die Nordwand der Kuchenspitze durchsteigen, eine kombinierte Fels- und Eistour im vierten Schwierigkeitsgrad. Bei der Anstrengung fingen plötzlich seine Beine regelmäßig zu zucken an. In der Bergsteigersprache nennt man dieses Phänomen „Nähmaschine“. Nach viel Gelächter und einer Pause konnte ich Marcel von diesem Spuk befreien. Am Gipfel der Kuchenspitze waren die muskulären Probleme vergessen.

Über all diese Jahre hegte ich eine Faszination für das Wetter. So kam es, dass ich im Herbst 1967 gemeinsam mit zwei weiteren Mutigen – Wolfgang Gattermayr aus Linz, dem späteren Leiter des Hydrographischen Dienstes beim Land Tirol, und Reinhold Steinacker aus Landeck, später Professor für Meteorologie an der Universität Wien –, das Studium der Meteorologie begann. Am Institut in der Innsbrucker Schöpfstraße 41 stellte man bei unserem Erscheinen fest, dass es so einen starken Jahrgang noch nie gegeben hat: Auf einen Schlag erhöhte sich die Zahl der Hauptfach-Studierenden von vier auf sieben; ein Plus von 75 Prozent. Einer der vier, die bereits am Institut studierten, war Wolfi Nairz. Und auch Gerhard Markl, mit dem ich viel in den Bergen unterwegs war, lernte ich dort kennen.

Leiter des Instituts war Professor Herfried Hoinkes, über den ich schon so viel gelesen hatte. Voller Stolz durfte ich im höheren Semester bei seinen Vorlesungen das Epidiaskop bedienen. Der „Chef“, wie wir ihn nannten, war nicht nur ein anerkannter Glaziologe, sondern auch ein begnadeter Redner und Pädagoge. Zu seinen Assistenten gehörten Michael Kuhn, der gerade in der Antarktis forschte, als ich mit meinem Studium begann, und der Osttiroler Ignaz Vergeiner, ein genialer Theoretiker, der damals in Boulder, Colorado, arbeitete. Eckehard Dreiseitl, ein Student im höheren Semester, nahm mich zum ersten Mal zur Forschungsstation am Hintereisferner am Fuß der Weißkugel im Ötztal mit. Neben meiner eigenen Dissertation, bei der ich die inneralpine Klimaregion Hochserfaus untersuchte, sollte ich Monate am Hintereisferner verbringen, um die Massenbilanz des Gletschers zu erheben.

Die damalige Studienordnung sah vor, dass alle Kandidaten zur Erlangung des akademischen Grades „Dr. phil.“ ein Philosophicum ablegen mussten. Das bedeutete, dass auch ich Vorlesungen in Philosophie besuchen und ein Nebenrigorosum in diesem Fach absolvieren musste. Ich war bei der Suche nach einem Thema recht kreativ: In meiner Prüfung ging es um die Bedeutung der Meteorologie in der griechischen Antike.

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