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Fußnoten

1

Heygrodt hatte 1921 (Freiburg i. Br.) seine Arbeit Die Lyrik Rainer Maria Rilkes. Versuch einer Entwicklungsgeschichte veröffentlicht.

2

Erschienen 1911 (Berlin) in ihrem Buch Seelen und Werke, Teilabdruck in MatMLB 148–151.

3

Das gilt insbesondere, wenn man die Autobiographie – wie in der Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte – als »Gattung nichtfiktionalen Erzählens lebensgeschichtlicher Fakten des Autors […] im Umfang eines Buches« versteht (Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin / New York 1997, S. 169).

4

Seitenangaben ohne nähere Kennzeichnung beziehen sich auf den Textabdruck in der vorliegenden Ausgabe der Autobiographischen Schriften.

5

Vgl. dazu die Tagebucheintragung, die der Niederschrift der ersten Fassung der Turnstunde vorangeht, S. 244 f.

6

SW IV,452–459.

7

In einem undatierten Brief an Bodo Wildberg (geschrieben März/Anfang April 1896), zit. nach: SW IV,1009.

8

RMR in einem Brief an Marie Taxis vom 17. Dezember  1912 (TT I,245).

9

Abgedruckt in: Rilke, Gesammelte Werke, hrsg. von Annemarie Post-Martens und Gunter Martens, Stuttgart 2015, S. 829–842, sowie in der Textsammlung Kurze Prosa (KP), ebenfalls hrsg. von A. P.-M und G. M., Stuttgart 2012, S. 126–138. Die Gesammelten Werke werden im Folgenden abgekürzt zitiert: GsW mit Angabe der Seitenzahl.

10

Im Gegensatz zu dem Dokument eines tatsächlichen ›Letzten Willens‹, das als Anlage eines Briefes an Nanny Wunderly-Volkart überliefert ist (NWV II,1192).

11

Vgl. S. 225.

12

In Einzelfällen hat der Setzer – wohl versehentlich – die originale Schreibung der Handschriften in den Druck übernommen (so z. B. im Stunden-Buch und in den Neuen Gedichten); vgl. Gunter Martens, »Rilkes Dichtungen in authentischer Gestalt? Probleme beim kritischen Edieren von Texten Rainer Maria Rilkes«, in: Schiller-Jahrbuch LIX (2015) S. 285–307, hier S. 295 ff.

13

Eine entsprechende Einheitlichkeit konnte für andere Eigenheiten der Rechtschreibung, die sich in Handschriften des Dichters wiederholt zeigen, von den Verlagen jedoch normalisiert wurden, nicht nachgewiesen werden.

14

Wenn dennoch in Erstdrucken in wenigen Einzelfällen Kursivierungen zur Hervorhebung benutzt wurden, so dürfte hier ein Eingriff des Druckers vorliegen.

15

Für weitergehende Informationen für den Bereich der hier aufgenommenen dichterischen Texte sei auf die Kommentierte Ausgabe der Werke Rilkes (KA) verwiesen, für den Bereich der Briefe auf die vorzügliche Ausgabe des Briefwechsels Rainer Maria Rilke / Lou Andreas-Salomé (LAS) und auf die von Horst Nalewski herausgegebene Ausgabe der Briefe Rilkes (BN). – Den genannten Ausgaben – wie auch den Arbeiten des Rilke-Herausgebers Ernst Zinn – verdanken die Herausgeber in vielen Fällen Anregung und Hilfestellung.

16

Siehe die Briefe Rilkes an Ellen Key vom 3. April 1903 (Nr. 17, S. 104–109) und an Lou Andreas-Salomé vom 15. April 1904 (Nr. 18 d, S. 125 f.). Eine negative Zeichnung der Gestalt der Mutter findet sich auch in Ewald Tragy (Nr. 12, S. 36–86).

17

So redet Rilke seine »heißgeliebte« Freundin in Briefen des Jahres 1893 mehrfach an. (Vgl. VDR 52, 56, 73, 92, 99 u. a.)

18

In der hier nicht abgedruckten Fortsetzung des Briefes vom 4. Dezember 1894 spricht Rilke von der künftigen Gründung des »ersehnten Hausstandes« und von der »officiellen Vermählung […] in 6 Jahren« (VDR 167 f.).

19

VDR 211.

20

Vgl. RoMo 17 f.

21

www.heilkraeuter.de/lexikon/wegwarte.htm

22

RMR, Briefe aus den Jahren 1892 bis 1904, hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1939, S. 12 f.

23

Zur Beziehung Lou Andreas-Salomés zu Rilke vgl. die Erl. zu den Texten Nr. 16 und 18.

24

RMR an Lou Andreas-Salomé am 13. Mai 1897, LAS 7.

25

Vgl. den Abdruck des Textes in GsW 829–842 und in KP 126–138.

26

RMR, Tagebuch Westerwede, Paris 1902. Taschenbuch Nr. 1, aus dem Nachlaß hrsg. von Hella Sieber-Rilke, 2 Bde., Frankfurt a. M. / Leipzig 2000 (Bd. 1: Faksimile der Handschrift, Bd. 2: Transkription).

27

Im Original ohne Titel; als Titel wurde – wie schon im Erstdruck 1929 – der Name der Hauptperson gesetzt.

28

Marianne Weininger schildert Rilke am 2. Dezember 1920 die in Ewald Tragy gestaltete biographische Situation seiner Kindheit mit folgenden Worten: »Was ist doch das Kind für ein argloses Geschöpf –, wächst hinaus aus den ängstlichen und krankhaften Verhältnissen seiner Familie –, bildet sich, erwachsend und erwachsen, draußen, auf neuem Boden, seine eigene freiere und gefühltere Welt, – und wird doch, wird in den thätigsten Jahren, von allen Verhängnissen wieder eingeholt […]« (RCh 713).

29

Vgl. dazu die Text Nr. 18c, S. 122 f.

30

Im Unterschied zur ersten Russland-Reise (vgl. Text Nr. 14, S. 95–97, sowie die Erl., S. 243 f., dazu) unternahm Rilke seine zweite Reise nach Russland (Mai bis August 1900) allein mit Lou Andreas--Salomé; ihr Ehemann hatte auf eine Teilnahme verzichtet.

31

Die Ehepartner gingen freilich schon kurze Zeit nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Ruth (12. Dezember 1901) weitgehend getrennte Wege; 1912 beantragte Clara die Scheidung, die jedoch wegen »hoher Kosten und bürokratischer Schwierigkeiten« nicht vollzogen wurde. Eine geistig-künstlerische Verbundenheit der beiden blieb freilich bis zum Tode des Dichters bestehen (vgl. Helga Fuhrmann, »Rilke-Westhoff, Clara […]«, in: www.bremer-frauenmuseum.de/frauenhandbuch).

32

Der Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salomé wird heute größtenteils im DLA Marbach verwahrt. Die kritische Ausgabe wurde durch Ernst Pfeiffer besorgt.

33

RMR an Lou Andreas-Salomé am 1. August 1903, LAS 84 f.

34

RMR an Gräfin Carola Schenk von Stauffenberg, 23. Januar 1919, BA II, 572.

35

RMR an Adelheid von der Marwitz, 14. Januar 1919, BN I, 702.

36

Rilke war im Winter 1906/07 und im Frühjahr 1908 Gast von Alice Faehndrich in der Villa Discopoli auf Capri.

37

RMR an Adelheid von der Marwitz, 14. Januar 1919, BN I, 702 f.

38

Marie Fürstin von Thurn und Taxis (1855–1934) förderte den Dichter in vielfacher Hinsicht: Neben wiederholten finanziellen Zuwendungen stellte sie ihm großzügig ihre Wohnsitze – die Schlösser in Duino (Norditalien) und Lautschin (Böhmen) sowie das ›Mezzanin‹ in Venedig – zur Verfügung. Doch sie war nicht nur Rilkes große Mäzenin, sie war seine Vertraute und Freundin; der ab 1910 einsetzende intensiv geführte Briefwechsel zwischen Marie Taxis und ihrem »Dottor Serafico« (TT) gehört zu den aufschlussreichsten Lebenszeugnissen des Dichters.

39

Zu Clara Rilke vgl. die Erl. zu Text Nr. 13, S. 241.

40

C. v. Sedlakowitz an RMR am 5. Oktober 1920, RCh 702 f.

41

RMR an Anton Kippenberg am 1. November 1920, BAK II, 175 f.

42

Baladine Klossowska (1886–1969), eigentlich Elisabeth Dorothea, Tochter des Kantors einer Synagoge in Breslau und Schwester des Berliner Porträtisten Eugen Spiro, war Malerin und lebte seit 1917 – getrennt von ihrem Ehemann, dem Maler und Kunstschriftsteller Erich Klossowski – in der Schweiz. Für den bei ihr lebenden Sohn Balthus (Balthazar -Klossowski, 1908–2001) verfasste Rilke im November 1920 das französisch geschriebene Vorwort (Préface) zu Mitsou, einer Folge von 40 Zeichnungen, in denen der damals Elfjährige die Geschichte einer ihm zugelaufenen und später wieder verschwundenen Katze gestaltet. Das Buch erschien im Dezember 1921. Für Balthus wie auch für seinen Bruder Pierre (1905–2001), der sich später als avantgardistischer Schriftsteller einen Namen machte, hatte sich Rilke in den Folgejahren stets fürsorglich eingesetzt.

43

Marie Taxis berichtet er am 17. Februar 1921 von seinem erneuten »Anlauf«, seine »Elegieen« zu vollenden: »[…] es ist, als wär eine heimliche Feindschaft aufgeregt, wider diese mir so unerlässliche große Arbeit – –; schließlich ists immer dieser eine, in meiner Erfahrung unversöhnliche Konflikt, zwischen Leben und Arbeit, den ich in neuen unerhörten Abwandlungen durchmache und fast nicht überstehe.« (TT II, 639)

44

Der (hier nicht wiedergegebene) Fragebogen mit den Antworten Rilkes wird im DLA verwahrt. Ein kurzer Abschnitt aus dem Fragebogen wird zitiert in MA 29.

45

Vgl. Horst Nalewski in BN II, 406 und die dort abgedruckten Briefzeugnisse Nr. 8 und 13.

46

Der Briefwechsel ist dokumentiert und erläutert in RR 379–425 und 594–608.

47

GsW 854 ff.

48

Übers.: »zu verkaufen oder zu vermieten. Liebste, das ist vielleicht mein Schloss in der Schweiz, vielleicht.«

Endnoten

Aus: Rilke an Ellen Key, Viareggio, 3. April 1903

*

(In der kathol. Taufe erhielt ich die Namen: René Maria)

*

Capri

Autobiograpische Schriften

[7]1 Aus: Rilke an seinen Vater Josef Rilke, Sommer 1885

Übe mich fleißig im Dichten, ich muss, wenn es so fortgeht, gekrönt mit dem Lorbeerkranze nach Prag kommen.

2 PIERRE DUMONT

Die Lokomotive schmetterte einen schier endlosen Pfiff in die blaue Luft des schwülen, lichtflimmernden Augustmittags. – Pierre saß mit seiner Mutter in einem Abteil zweiter Klasse. Die Mutter eine kleine, bewegliche Frau in schlichtem, schwarzem Tuchkleide, mit einem blassen, guten Gesicht und erloschenen trüben Augen, – Offizierswitwe. Ihr Sohn ein kaum elfjähriger Knirps in der Uniform der Militär-Erziehungsanstalten.

»Da sind wir«, sagte Pierre laut und freudig und hob sein schlichtes graues Kofferchen aus dem Garnnetz. In großen, steifen, ärarischen Lettern stand darauf zu lesen: Pierre Dumont. I. Jahrgang. Nº 20. Die Mutter sah schweigend vor sich hin. Jetzt kamen ihr die großen, eigensinnigen Buchstaben vor Augen, als der Kleine das Gepäcksstück auf den Sitz gegenüber stellte. Sie hatte sie schon hundertmal wohl auf der mehrstündigen Reise gelesen. Und sie seufzte. – Sie war nicht gerade empfindsam und hatte an der Seite des verstorbenen Kapitäns das Wesen des Soldatenlebens kennen gelernt und sich daran gewöhnt. Aber das tat ihrem Mutterstolze doch weh, dass ihr Pierre, dessen kleine Person eine gar bedeutende Persönlichkeit in ihrem Herzen darstellte, so zur Nummer herabgedrückt worden war. – Nº 20. Wie das klang!

[8]Pierre stand indessen am Fenster und schaute in die Gegend hinaus. Sie waren hart vor der Station. Der Zug fuhr langsamer und polterte über die Wechsel. Draußen glitten grüne Grasdämme, weite Flächen und winzige Häuschen vorüber, an deren Türen riesige Sonnenblumen mit ihren gelben Heiligenscheinen als Wächter standen. Die Türen aber waren so klein, dass Pierre dachte, er müsste sich wohl gar auch bücken, um eintreten zu können. – Da verloren sich schon die Häuschen. – Schwarze, rauchige Magazine kamen mit vielfach geteilten, blinden Scheiben, die Bahn wurde immer breiter, ein Geleise wuchs neben dem andern hervor, und endlich fuhren sie mit lautem Brausen und Zischen in die Bahnhofhalle des kleinen Städtchens ein. –

»Wir wollen heute noch recht, recht lustig sein, Mama«, flüsterte der Kleine und umfasste die erschrockene Frau mit stürmischem Ungestüm. – Dann hob er den Koffer heraus und war seinem Mütterchen beim Aussteigen behilflich. Mit stolzer Miene reichte er ihr dann den Arm, den Frau Dumont, obwohl sie nicht groß war, nur insoweit annehmen konnte, dass sie ihrem Kavalier die linke Hand unter die Achsel schob. – Ein Diener hatte sich des Koffers bemächtigt. – So wanderten sie denn durch den glutheißen Mittag die staubige Straße dem Gasthofe zu. –

»Was wollen wir speisen, Mutter?«

»Was du willst, Liebling!«

Und jetzt erörterte Pierre alle seine Lieblingsspeisen, mit denen man ihn zuhause während der zweimonatigen Ferien gefüttert hatte. Ob das und jenes hier auch zu haben wäre. Und man sprach von der Suppe bis zum Apfelkuchen mit der Crêmehaube alles mit lukullischer Genauigkeit durch. – Der kleine Soldat war voll des Scherzes; diese [9]Lieblingsgerichte schienen die Wirbelsäule seines Lebens zu bilden, an deren Grundstock sich erst alle anderen Ereignisse anfügten. Denn immer wieder begann er: Weißt du, als wir das und das zum letztenmale aßen, da war dies und jenes geschehen. Freilich kam ihm dabei auch in den Sinn, dass er ja heute für vier Monate zum letzten Mal solcher Genüsse sich erfreuen würde, – und dann ward er ein wenig still und seufzte ganz leise. – Aber der sonnige, fröhliche Sommertag verfehlte seine Wirkung auf das Kindergemüt nicht, und er schwatzte bald wieder in übermütiger Weise fort und durchdachte die schönen Tage des schwindenden Urlaubs. Jetzt war es zwei Uhr mittags. Um sieben Uhr musste er in der Kaserne sein – also noch fünf Stunden. – Fünfmal also musste der große Zeiger noch rund ums Zifferblatt laufen – – das ist ja noch sehr, sehr lange. –

Das Essen war vorüber. Pierre hatte tüchtig zugesprochen. Nur als die Mutter ihm den roten Wein einschenkte, mit nassen Augen ein wenig das Glas hob und ihn bedeutungsvoll anschaute, da blieb ihm der Bissen in der Kehle stecken. – Sein Blick wanderte durchs Zimmer. Auf dem Zifferblatt blieb er haften: es war drei Uhr. Viermal muss der Zeiger … dachte er. Das gab ihm Mut. Er hob seinen Kelch und stieß etwas heftig an. »Auf recht frohes Wiedersehen, Mütterchen!« Seine Stimme klang hart und verändert. Und rasch küsste er, als fürchtete er wieder weich zu werden, die kleine Frau auf die bleiche Stirne.

Nach dem Essen ging sie selbander am Flussufer auf und nieder. Wenig Leute begegneten ihnen. Sie konnten ganz ungestört miteinander sprechen. Aber das Gespräch stockte oft. Pierre trug den Kopf hoch, hielt beide Hände in den Hosentaschen und schaute mit großen, blauen Augen [10]geistesabwesend hinüber über den glastenden Fluss auf die violetten Hänge des jenseitigen Ufers. Frau Dumont aber bemerkte, wie in der Allee, welche sie durchschritten, die Blätter schon gelb und matt wurden. Hie und da lagen sogar schon welche auf dem Wege; als eines unter ihrem Fuße knirschte, erschrak sie.

»Es wird Herbst«, sagte sie leise.

»Ja«, murmelte Pierre zwischen den Zähnen.

»Aber wir haben einen schönen Sommer gehabt –« fuhr Frau Dumont fast verlegen fort.

Ihr Sohn antwortete nicht.

»Mutter,« er wandte ihr das Gesicht nicht zu, während er so sprach, »Mutter, der lieben Julie sagst du meine Grüße – nichtwahr.« – Er verstummte und ward rot.

Die Mutter lächelte: »Du kannst dich darauf verlassen, mein Pierre.« Julie war ein Cousinchen, für das der kleine Kavalier schwärmte. Er hatte ihr oft Fensterpromenaden gemacht, hatte mit ihr Ball gespielt, ihr Blumen geschenkt und trug – das wusste nicht einmal Frau Dumont – Cousinchens Bild in der linken Brusttasche des Waffenrockes.

»Julie kommt ja gewiss auch außer Haus«, meinte die Mutter, froh, den Kleinen auf dieses Thema gebracht zu haben. »Sie kommt zu den Englischen Fräuleins oder Sacre-cœur …..« Die Witwe kannte ihren Pierre. Der Umstand, dass die Angebetete ein ähnliches Los ertragen sollte, tröstete ihn, und er machte sich im Stillen Vorwürfe über seine Kleinmütigkeit. Mit kindischer Phantasie übersprang er die bevorstehenden Schulmonate:

»Aber wenn ich zu Weihnachten nach Hause komme, wird Julie doch auch da sein!?«

»Gewiss. –«

[11]»Und du wirst sie einladen, bestes Mamachen, am Weihnachtsabend, ja?«

»Sie hat mir schon im vorhinein zugesagt und mir versprechen müssen, dass sie sich recht lange bei ihrer Mutter ausbittet.«

»Herrlich!« jubelte der Knabe, und seine Augen glänzten.

»Dir werd ich einen schönen Christbaum vorrichten, und wenn du sehr brav bist  .....«

»Am Ende  .... die neue Uniform!«

»Wer weiß, wer weiß –« lächelte die kleine Frau.

»Herzensmütterchen!« rief der junge Held und scheute sich nicht, mitten auf dem Promenadenweg Frau Dumont stürmisch zu küssen, – »du bist so gut! ....«

»Sei nur fein brav, Pierre!« sagte die Mutter ernst.

»Und wie! Lernen will ich  ....«

»Mathematik, weißt du, das geht dir schwer!«

»Es wird Alles ganz trefflich werden, du wirst sehen.«

»Und dass du dich nicht verkühlst, jetzt kommt die kältere Jahreszeit, – zieh dich nur immer warm an. – Nachts steck dir die Decke wohl ein, damit du dich nicht abdeckst!«

»Ohne Sorge, ohne Sorge!« Und Pierre begann wieder von den Begebnissen des Urlaubs zu reden. Da gabs so viel des Drolligen und Spaßhaften, dass beide, Mutter und Sohn, herzhaft lachten  .... Plötzlich fuhr er zusammen. Vom Kirchturm wogten volle Glockentöne.

»Sie läuten sechs«, sagte er und versuchte zu lächeln.

»Komm zum Zuckerbäcker.«

»Ja, dort gibt es die guten Crêmerollen. Zum letzten Mal aß ich sie, als wir den Ausflug machten mit Julie …«

[12]Pierre saß auf dem dünnbeinigen Rohrstühlchen im Gewölbe des Bäckers und kaute mit runden Backen. – Er hatte eigentlich schon genug, und nach manchem Bissen musste er tief Atem holen; – aber es war ja zum letzten Mal – und er aß fort.

»Es freut mich, dass es dir schmeckt, Kind«, sagte Frau Dumont, die an einer Tasse Kaffee nippte.

Pierre aber aß fort. –

Einmal schlugs vom Turm. »Halb sieben«, murmelte der Urlauber und seufzte. Der Magen war ihm furchtbar schwer. – Nun, sie würden ja jetzt noch gehen …

Und sie gingen. – Der Augustabend war lau, und ein wohltuendes Lüftchen strich in den Bäumen der Allee.

»Ist dir nicht kühl, Mutter?« fragte der Kleine gedankenlos.

»Mach dir keine Sorgen, Liebling.«

»Was wird denn Belly machen?« Belly war ein kleiner Rattler.

»Ich hab ihn der Magd anbefohlen, sie gibt ihm sein gewöhnliches Fressen und führt ihn spazieren …«

»Sag dem Belly, ich lass ihn grüßen, – er soll schön brav sein …« Er versuchte zu scherzen, aber er brach jäh ab. –

»Hast du Alles beisammen, Pierre?« Fern tauchte schon die eintönige graue Front der Kaserne auf. »Dein Certificat?«

»Alles, Mutter!«

»Musst du dich noch melden heute?«

»Ja, gleich.«

»Und morgen hast du wieder Schule?«

»Ja!«

»Und du schreibst mir?«

[13]»Du auch, Mamachen – bitte! – Gleich wie du ankommst.«

»Natürlich, liebes Kind.«

»Ich glaube, der Brief dauert doch immer zwei Tage.«

Die Mutter konnte nicht reden; es schnürte ihr die Kehle.

Jetzt waren sie dicht am Portal!

»Dank dir, Mama, für den schönen Tag.« Dem armen Kleinen war elend zu Mute; offenbar hatte er zu viel gegessen. Er hatte heftige Magenschmerzen, und die Füße zitterten ihm. –

»Du bist blass –« sagte Frau Dumont.

»Nicht doch.« Das war eine arge Lüge, er wusste es. […]

3 Aus: Rilke an Valerie von David-Rhonfeld,
Prag, 4. Dezember 1894

[…]

In dieser Nacht gegen ½ 12 sind es gerade neunzehn Jahre, dass ich bin. Du kennst die lichtarme Geschichte meiner verfehlten Kindheit und Du kennst diejenigen Personen, welche die Schuld daran tragen, dass ich nichts oder wenig Freudiges aus jenen Werdetagen zu merken vermag. Du weißt, dass ich einen großen Theil des Tages einer gewissensarmen und sittenlosen Dienstmagd überlassen war, und dass diejenige Frau deren erste und nächstliegende Sorge ich hätte sein sollen, mich nur liebte, wo es galt mich in einem neuen Kleidchen vor ein paar staunenden Bekannten, aufzuführen. Du weißt wie ich mit wechselndem Erfolge die Volksschule der Piaristen absolvierte – und ein [14]dummer Knabe, – in der Hauptallee des Baumgartens über mein eigenes Schicksal mit einem kindischen Worte entschied. Wenn mir im Vaterhause die Liebe nur vonseiten meines Papas zugleich mit Sorgfalt und Fürsorge genug entgegengebracht, ich im allgemeinen ganz auf mich selbst angewiesen war und meine kleinen Leiden und kurzen Wonnen meist niemandem zutheil werden lassen konnte, so ward mir in der neuen Phase meines jungen Lebens jene feige, unverhüllte Herzlosigkeit sehr wohl bekannt, welche selbst vor Misshandlungen aus reinem bestialischem Mordtriebe :/der Ausdruck ist nicht zu stark/: nicht zurückschreckt. Mein Herz durch die Einsamkeit meiner frühesten Tage ohnehin zu stiller Duldung und muthiger Entsagung geneigt, bebte beim Anblicke dieser Ungerechtigkeiten, und ertrug mit einer diesem Alter uneigenen Ergebung die Qualen jener Behandlung. Ja, ertrug sie. – Du nennst mich oft idealistisch. – Liebste Vally, wenn ich das jetzt noch bin, gedenke welches reine Fühlen in der kleinen Seele geleuchtet haben muss, die immer in sich selbst verloren, schon den einfachen, heiteren, schuldlosen Spielen toller Buben in der Volksschule abhold gewesen; und erwäge weiter, mein Lieb, wie schrecklich der Ansturm so wilder, unverdienter Rohheiten in dem unenthweihten Heiligthum des kindlichen Gemüthes widerhallt haben muss. Was ich damals erlitt es lässt [sich] mit dem ärgsten Weh der Welt vergleichen, obwohl ich ein Kind war, oder vielmehr weil ich es war. Weil mir nicht die Kraft war des Widerstandes und nicht die Fülle geklärter Vernunft um darin gemeine Büberei und nichts mehr zu erkennen. Ich duldete Schläge ohne je einen Schlag erwidert oder wenigstens mit einem bösen Worte vergolten zu haben, ich litt und trug. [15]Ich glaubte der Wille eines unendlichen, unwandelbaren Schicksals verlange von mir diese heroische Duldsamkeit, – hätte ich gewusst, erkannt, dass es statt dieses unabwendbaren Geschickes nur die Laune eines vergnügungssüchtigen, erbärmlichen Wesens war …… Wo ahnte ich das! –

Mit derselben Nothwendigkeit mit der ich den Tag der Nacht die Welt reichen. sah, glaubte ich meine Qualen vorhanden und setzte einen Stolz hinein sie zu tragen. In meinem kindlichen Sinn glaubte ich durch meine Geduld nahe dem Verdienste Jesu Christi zu sein, und als ich einst einen heftigen Schlag ins Gesicht erhielt so dass mir die Knie zitterten, sagte ich dem ungerechten Angreifer – ich hör’ es heut noch – mit ruhiger Stimme: »Ich leide es weil Christus es gelitten hat still und ohne Klage, und während Du mich schlugst betete ich zu meinem guten Gott, dass er Dir vergebe.« Eine Weile stand der erbärmliche Feigling stumm und starr, dann brach er in das Hohngelächter aus, in welches alle, denen er den Ausruf meiner Verzweiflung mit-theilte heulend einstimmten. Und ich floh dann immer zurück bis in die äußerste letzte Fensternische, verbiss meine Thränen, die dann erst in der Nacht, wenn durch den weiten Schlafsaal das regelmäßige Athmen der Knaben hallte sich ungestüm und heiß Bahn brachen. Und eben in der Nacht in der meine Geburt sich zum ich weiß nicht wievieltenmal jährte, war es, dass ich im Bette aufkniete und mit gefalteten Händen und vielem, vielem Weinen um den Tod bat. – Es wäre mir damals eine Krankheit als sicherstes Zeichen baldiger Erhörung erschienen; allein die kam nicht. Dafür entwickelte sich zu jener Zeit der Trieb zu Dichten, der mir schon in seinen kindischen Anfängen, [16]Trost verschaffte. […] Dass jene Periode vor Allem geistliche Lieder die, dank der Vorsehung, alle verloren gegangen sind ausfüllen, bedarf bei der oben erwähnten Seelenstimmung keiner Versicherung. Nichtwahr? – Du weißt ja, wie mir ferner immer mehr klar wurde, dass an ein Verbleiben in der verhassten Militärschule nicht möglich ist und ich habe Dir nur zu oft schon, das jahrelange Zögern und die endliche Entwickelung des Entschlusses erzählt. – In dieser Zeit, die ich ja meistens im Krankenzimmer mehr geistig vergrämt, als körperlich krank verbrachte, bildeten meine poetischen Versuche sich zu größerer Klarheit und Selbstständigkeit heraus […]. So keimten in diesen trüben Tagen zum erstenmale die oft erstickten Trosttriebe frei auf; zugleich aber empfand der älter werdende Sinn, das lichter werdende Herz die fröstelnde Leere der Vereinsamung. Hatte es doch nie, nie noch freundliches Entgegenkommen – geschweige denn Liebe gefunden, und schien dennoch so dazu angethan diese zu fordern. Einmal noch schloss ich mich innig an einen Kameraden »Fried« mit Namen (seinen Vornamen kann ich augenblicklich nicht nennen) an. Diesmal sollte mein Herz nicht leer ausgehen. Es entwickelte sich eine auf gegenseitiger Übereinstimmung beruhende wahrhaft brüderliche Neigung, und wir schlossen mit Kuss und Handschlag einen Bund – fürs Leben. Wie Kinder sind! Wir verstanden uns gut, und ich lebte förmlich auf in dem Bewusstsein, dass die abwechslungsarmen Ereignisse meiner Seele in der gleichgestimmten Saite im Freunde forttönen und hinklingen. Ich war eifersüchtig, wie er es auf mich war, er bewunderte meine poetischen Gedanken und ich bat ihn sich auch zu versuchen und freute mich herzlich an seiner Geschichtchen zaghaftem Gelingen. – [17]Frieds Großmutter, die er ungeheuer verehrte starb eines jähen Todes, er fuhr zu ihrem Begräbnis und ich verbrachte zwei thränenvolle, sorggequälte Nächte, den geliebten Freund ferne wissend. Er kehrte endlich zurück, sehnlich von mir erwartet und – war ein Anderer. Später erfuhr ich, dass Mitzöglinge unseren reinen Bund in den Schmutz gezogen und Fried überdies von höheren Orts Weisung erhalten hatte nicht so viel mit dem Narren zu verkehren. Nachher schloss sich nimmer mein Herz an Jemand. Aber auch den so leicht abgefallenen Freund scheute ich nicht und sprach dienstlich mit ihm, ohne ihm je einen Vorwurf zu machen; wohl aber wies ich den Antrag den er mir noch einmal ob Versöhnung stellte ohne Stolz aber mit ernster Entschiedenheit zurück; und das Herz war wieder verwaist. Es scheint vielleicht das Bekenntnis eines Schwächlings zu sein. Indessen werde ich mich nie dessen schämen dass mein Herz leer war, eh ich Dich fand, Vally, und überlasse die Scham denjenigen die es verschmäht hatten sich ihren Platz darin zu erwerben. […]

4 Vorwort zu Heft 1 der Zeitschrift »Wegwarten«

 

Prag, im Weihnachtsmond 1895.

Ein Wort nur.

. . . . . Ihr gebt eure Werke in billigen Ausgaben. – Ihr erleichtert dadurch den Reichen das Kaufen; den Armen helft ihr nicht. Den Armen ist alles zu theuer. Und wenn es zwei Kreuzer sind, und die Frage heißt: Buch oder Brot? Brot werden sie wählen; wollt ihr’s verargen? Wollt ihr also geben, – so gebt! –

 

[18]Paracelsus erzählt, die Wegwarte werde alle Jahrhunderte zum lebendigen Wesen; und leicht erfüllt die Sage sich an diesen Liedern; vielleicht wachsen sie zu höherem Leben auf in der Seele des Volkes.

 

Ich bin selbst arm; aber diese Hoffnung macht mich reich. – Die »Wegwarten« werden ein- bis zweimal jährlich erscheinen. Pflückt sie, und mögen sie euch zur Freude sein!

 

René Maria Rilke.

5 Beilage eines Briefes an Franz Brümmer

Ich entstamme, wenn ich alten Traditionen glaube, einem uradeligen, Kärntner Adelsgeschlecht. Gelehrte oder Dich-ter gab es unter meinen Vorfahren nicht. – Das Fabulieren hat mich weder Vater noch Mutter, wiewohl letztere poetische Anlagen besitzt, sondern früher Schmerz und herbe Erfahrung gelehrt. Mit zehen Jahren verließ ich das von Zwietracht zerspaltene Elternhaus. Mehr denn fünf Jahre härmte ich mich durch eine mir verhasste Militärerziehung, um endlich in Hast die 8 Gymnasialklassen in drei Jahren voll unbeschreiblicher Mühsal zu überwinden – mit Auszeichnung, freilich wenig Lohn für die zerrütterte Gesundheit. An den Folgen leide ich immer noch.

Rilke, René Maria Caesar, geboren zu Prag am 4. December 1875, gegenwärtig Schriftleiter von ›Jung-Deutschland und Jung-Oesterreich‹. Mein Motto: patior ut potiar. Für die Gegenwart hege ich heißes Streben nach Licht, für die Zukunft eine Hoffnung und eine Furcht. Hoffnung: [19]Inneren Frieden und Schaffensfreude. Furcht (als erblich nervös belastet): Wahnsinn!

Ich bin tätig auf dem Gebiete des Dramas (›Gleich und frei‹, ›Im Frühfrost‹ [unveröffentl.]), Novelle und Skizze (viele Arbeiten zerstreut in mehr denn 20 Zeitschriften. Demnächst gesammelt), Lyrik, Psychodrama, Kritik etc. In Freistunden führe ich den Pinsel. Auch bin ich Improvisator. […]

6 EINE ALTE GESCHICHTE

War einmal ein Jüngling, der konnte sich

dem Schaffen mit Recht und mit Lust weihn.

Wie Künstler es dürfen: Er sonnte sich

auch gern an des Könnens Bewusstsein.

So kams, dass er träumend sich Brücken gebaut5

aus Gedanken, zur Sonne zu klettern;

sie haben entsetzt ihm zugeschaut

die Tanten, die Basen, die Vettern ....

Und kam er, die Brust voll Begeisterung

und das Auge, das Auge voll Funken,10

da raunten sie nicht: Er ist stolz und jung ....

Da sagten sie: Er ist betrunken!

So saßen beisammen die achtbaren Herrn

und Jungfern und rieten vergebens.

Sie hätten dem Jungen gegeben so gern15

vom frostigen ›Ernste des Lebens‹.

[20]Es lachte ihrer das ewige Kind,

sie konnten es nimmer verschmerzen,

dass er für Sagen und Schönheit nicht blind .....

und es betete jeder im Herzen:20

»Weiß Gott! .. ich bin schuldlos. Wollt fürderhin

ihm wahren – mein Mühen war eitel –

engkrämpigen Hut und engherzigen Sinn

Und glänzend geglättete Scheitel.«

7 Aus: [CHRISTUS-VISIONEN]

7a JAHRMARKT

Das war in München beim Oktoberfeste,

da die Theresienwiese voll vom Schrein

und Schwall der Schauer ist. Da bunte Gäste

aus der Provinz der Kunst der Rindermäste

verständnisvoll ein Mundvoll Worte leihn.5

Die kleinen Mädchen, flüchtig ihrem Neste,

durchschwirren keck den lauten Tag zu zwein,

und Bursche mit der bunten Lodenweste

und ziere Stadtherrn bengeln hinterdrein.

Dazwischen drängen Wagen und betresste10

urdumme Kutscher, blinzelnde Lakein,

Fuhrleute dann, die ihre längstgenässte

gepichte Kehle tüchtig spülen. Kein

Verdrossner stört, und allen schiens das Beste,

dass man sich prall und gar so prächtig presste15

durch diese bauernbunten Budenreihn.

Bier gabs und Wein in Strömen allerorten,

[21]und viel Verständge prüften dran; es ließ

die Blume gelten der und der die Borten.

Marktschreier prahlten an den Bretterpforten20

und priesen ihre Wunder weit mit Worten,

als wären sie mit Noah und Konsorten

zurückgekehrt ins echte Paradies. –

An kleinern Ständen bot man Trauben, Torten

und Würste aus; geduldige Hühner schmorten25

sich einen goldnen Panzer an am Spieß.

Und drüben stand bewehrt ein schwarzer Tell,

ein Wilder, und vergaß das Schreienmüssen

vor lauter Gieren nach den Kokosnüssen.

Da schob ein Zwerg, ein drolliger Gesell,30

mit Grinsemiene sich vorüber, schnell

war dort die ganze Menge hingerissen

zur Wellenschaukel und zum Karussell.

Und wo sie eine rote Fahne hissen,

dort reißt auf grellverhangenem Gestell35

dummdreiste Witze der Polichinell.

Die große Trommel hat er durchgeschlissen

und trommelt jetzt trotz tausend Hindernissen

mit seinem unverschämten wilden Wissen

dem lieben Publikum das Trommelfell.40

Laut lachend ließ gefallen sichs ein jeder.

Auch ich ging ziellos durch das Weggeäder

und blinzte müßig in das volle Licht,

und manchmal fuhr ich wie so mancher Wicht

der Schönen, die just kam, ins Angesicht45

mit meiner kühnen, kecken Pfauenfeder.

[22]Und hinterher konnt’ noch ein Silberkichern

von blütenfrischen Lippen mir versichern:

die liebe Kleine grollte nicht. –

Dann gabs ein Ängsten, wenn wo Fässerfuhren50

mit plumpen Pferden furchten wegentlang:

Die Menge drängte in die Räderspuren,

da schrie ein Kind, ein Bursche sang, da sprang

ein Mädel, dem entfernter Walzertouren

ersehnter Zauber in die Beine drang.55

Und was nur immer klingen konnte, klang,

vom Waldhornsolo bis zum Bumerang

dort vor den Buden mit den Wachsfiguren.

Wie ich mich so durch das Getümmel wand,

da stand ich plötzlich an der Wiese Rand60

vor einer Bude. Überm Eingang stand

in kargen Lettern zaghaft und bescheiden:

›Das Leben Jesu Christi und sein Leiden.‹

Und – ich weiß nicht warum, ich trat hinein.

Schon hielt ich in der Hand den blauen Schein,65

der für zehn Pfennig Einlass mir gewährte.

Ich fragte mich, was den Besitzer nährte;

denn in der Bude war ich ganz allein.

Wer mochte dem auch hier sein Denken weihn,

dem Mann, von dem der Katechet ihm lehrte,70

dass Buße er gepredigt und Kastein

und dass ein großes Leiden ihn verzehrte.

Da sah ich nun des heilgen Kinds Geburt

und dann die Flucht, da Josef durch die Furt

des Flusses lenkt das Maultier mit Marien,

[23]den Tempel dann, drin ob der Theorien

des Knaben mancher Pharisäer murrt,

und dann den Einzug in Jerusalem,

wo er, – zu fragen meidet er, bei wem –

bei schlichten Leuten unter Sünden wohnt80

und jeden Willen reich mit Wundern lohnt.

Dann jener Tag, da er sein deo natus

dem Volk entgegenschleudert, und Pilatus

sogar den Richtern Milde rät,

bis, weil das Volk zu sänftigen zu spät,85

des Bleichen dornbekränzte Majestät

schmerzedel auf der Balustrade steht,

dass Mitleid selbst des Römers Herz durchweht

und er verwirrt sein »Ecce homo« fleht ….

Umsonst. Es brüllt der Pöbel ungestüm:90

Ans Kreuz mit ihm!

Dann kamen alle Greuel jenes Tags,

da er, verurteilt von des Reichs Verwesern,

ans Holz geheftet wurde wilden Schlags:

Nacht brach herein, und in den Wolken lags95

wie Racherufe von Posaunenbläsern,

und fremde Vögel gierten nach den Äsern,

und statt des Taus war Blut an allen Gräsern. –

Jetzt starrten beide Schächer hier so gläsern

mich an; es glänzte ihrer Stirnen Wachs. –100

Doch Christi Auge, klufttief, todesdunkel,

erlohte in so täuschendem Gefunkel,

dass alles Blut mir heiß zum Herzen schoss:

Der gelbe Wachsgott öffnete und schloss

[24]das Lid, das, bläulich dünn, den Blick verhängte;105

der enge, wunde Brustkorb hob und senkte

sich leise, leise, und die schwammgetränkte,

todblasse Lippe schien ein Wort zu fassen,

das sehnend sich durch starre Zähne drängte:

»Mein Gott, mein Gott – was hast du mich verlassen?«110

Und wie ich zu entsetzt, dass ich des Sinns

des dunkeltiefen Dulderworts verstände,

nur steh und steh und nicht das Auge wende, –

da lösen leise seine weißen Hände

sich von dem Kreuze, und er stöhnt: »Ich bins.«115

Lang lausch ich nach, und es verklingt sein Spruch, –

ich schau die Wände rings von grellem Tuch

bedeckt und fühle diesen Jahrmarktstrug

mit seinem Lampenöl- und Wachsgeruch.

Da haucht es wieder her: Das ist mein Fluch.120

Seit mich von ihrem eitlen Glaubensprahlen

betört, die Jünger aus dem Grabe stahlen,

giebts keine Grube mehr, die mich behält.

Solang aus Bächen Sterne widerstrahlen,

solang die Sonne zu erlösten Talen125

den Frühling ruft mit seinen Bacchanalen,

so lange muss ich weiter durch die Welt.

Von Kreuz zu Kreuze muss ich Buße zahlen:

wo sie ein Querholz in [den] Boden pfahlen,

dort muss ich hin auf blutigen Sandalen130

und bin der Sklave meiner alten Qualen,

mir wachsen Nägel aus den Wundenmalen,

und die Minuten pressen mich ans Kreuz.

[25]So leb ich, ewig sterbend, meines Heuts

maßlose Reue. Krank und lang entkräftet,135

da in der Kirche Kälte festgeheftet,

dort in dem Prunk profaner Jahrmarktsbuden;

ohnmächtig heut und doch gebetumschmachtet,

ohnmächtig morgen und dabei verachtet,

ohnmächtig ewig in der Sonnenhelle140

des Kreuzwegs wie im Frieren der Kapelle.

So treib ich wie ein welkes Blatt umher.

Kennst du die Sage von dem Ewigen Juden?

Ich selbst bin jener alte Ahasver,

der täglich stirbt um täglich neu zu leben;145

mein Sehnen ist ein nächtig-weites Meer,

ich kann ihm Marken nicht noch Morgen geben.

Das ist die Rache derer, die verdarben

an meinem Wort. Die opfernd für mich starben,

sie drängen hinter mir in weiten Reihn.150

Horch! Ihre Schritte! – Horch! Ihr kreischend Schrein ....

Doch eine große Rache nenn ich mein:

Ich weiß, bei jedem neuen Herbste warben

die Menschen um den Saft, den feuerfarben

die roten Reben ihrer Freude leihn.155

Mein Blut fließt ewig aus den Nagelnarben,

und alle glauben es: mein Blut ist Wein,

und trinken Gift und Glut in sich hinein …

Mich hielt das fürchterliche Prophezein

in bangem Bann. Aus hilfloser Hypnose160

riss mich die Menge, die vorüberschwamm.

[26]Ein Schwarm trat ein und fand sich mit Getose

bei jener ersten Gruppe just zusamm,

und vor mir hing der gelbe regungslose

Gekreuzigte in wächsner Jahrmarktspose165

an seinem Stamm.

7b [JUDENFRIEDHOF]

Ein Maienabend. – Und der Himmel flittert

vor lauter Lichte. Seine Marken glühn.

Die grauen Gräbersteine, moosverwittert,

deckt jetzt der Frühling mit dem besten Blühn;

so legt die Waise – und ihr Händchen zittert –5

auf Mutters totes Antlitz junges Grün.

Hier dringt kein Laut her von der Straße Mühn,

fernab verlieren sich die Tramwaygleise,

und auf den weißen Wegen wandelt leise

ins rote Sterben träumerisch der Tag.10

Der alte Judenfriedhof ists in Prag.

Und Dämmer sinkt ins winklige Gehöf,

drin Spiro schläft, der Held im Schlachtenschlagen,

und mancher weise Mann, von dem sie sagen,

dass zu der Sonne ihn sein Flug getragen,15

voran der greise hohe Rabbi Löw,

um den noch heut verwaiste Jünger klagen. –

Jetzt wird ein Licht wach in des Torwarts Bude,

aus deren schlichtem Eisenschlote raucht

ein karges Mahl. – Bei Liwas Grabe taucht20

jetzt langsam Jesus auf. Der arme Jude,

[27]nicht der Erlöser, lächelnd und erlaucht.

Sein Aug ist voll von tausend Schmerzensnächten,

und seine schmale blasse Lippe haucht:

»Jehovah – weh, wie hast du mich missbraucht,25

hier wo der treuste ruht von deinen Knechten,

hier will ich, greiser Gott, jetzt mit dir rechten! –

Denn um mit dir zu kämpfen kam ich her.

Wer hat dir Alles denn gegeben, wer? –

Der Alten Lehre hatte mancher Speer30

aus Feindeshand ein blutend Mal geschlagen, –

da brachte ich mein Glauben und mein Wagen,

da ließ ich neu dein stolzes Gottbild ragen

und gab ihm neue Züge, rein und hehr.

Und in der Menschen irres Wahngewimmel35

warf deinen Namen ich – das große »Er«.

Und dann von tausend Erdensorgen schwer

stieg meine Seele in den hohen Himmel

und meine Seele fror; denn er war leer.

So warst du niemals – oder warst nicht mehr,40

als ich Unsel’ger auf die Erde kam.

Was kümmerte mich auch der Menschheit Gram,

wenn du, der Gott, die Menschen nicht mehr scharst

um deinen Thron. – Wenn gläubiges Gefleh

nur Irrsinn ist, du nie dich offenbarst,45

weil du nicht bist. – Einst wähnt’ ich, ich gesteh,

ich sei [die] Stimme deiner Weltidee  . . . . . .

Mein Alles war mir, Vater, deine Näh …

Du Grausamer, und wenn du niemals warst,

so hätte meine Liebe und mein Weh50

dich schaffen müssen bei Gethsemane.«

............................................ . .

[28]Im Wärterhäuschen ist das Licht verlöscht.

Und in dem Bett von Gräbern breit umböscht

fließt schon des blauen Mondquells Wunderwelle.55

Und Sterne schaun mit Kinderaugenhelle

verstohlen über schwarzen Giebelrand, –

Und Christus, zu des Rabbi Gruft gewandt:

»Dir auch gefiel es, Alter, manchen Spruch

zur Ehre jenes Gotts zusammzuschweißen.60

Wer hat dich, morscher Tor, auch blättern heißen

in alten Psalmen und im Bibelbuch?

Du hast so viel gewusst, stehst im Geruch,

dich gar geheimer Weisheit zu befleißen.

Heraus damit jetzt! Weißt du keinen Fluch,65

dass ich des Himmels blaues Lügentuch

mit seiner Schneide kann in Stücke reißen.

Hast du kein Feuer in den Dämmerungen

des Alchymistenherdes je entdeckt,

das fürchterlich und ewig unbezwungen70

mit gierem Lecken seine Rachezungen

bis zu des Weltalls fernen Angel[n] streckt?

Kennst du kein Gift, das süß ist wie der Kuss

der Mutter, das nach seligem Genuss

den Ahnungslosen sicher töten muss.75

O Glück, die ganze Welt so zu vergiften.

Weißt du kein Mittel, herben Hass zu stiften,

der jeden Mann zum wilden Raubtier macht?

Kannst du nicht ziehn in diese stillen Triften

die Schauerschrecken einer Völkerschlacht.80

Kannst du nicht eine neue Lehre stiften,

die Wahnsinnswut in jeder Brust entfacht.

[29]Ins Unbegrenzte steigre ihre Triebe

und sende Pest und sende Seuchenschwärme,

dass in des Lotterbettes feiler Wärme85

die ganze Welt zugrund geht an der Liebe

Jach lacht er Hohn. Und in den stummen Steinen

gellts wie des wunden Wildes Sterbeschrei.

Es legt ein Reif sich auf den nächtgen Mai.

Ein schwarze Falter zieht im Flug vorbei90

und er sieht Christum einsam knien und weinen.

8 Aus: Rilke an Nora Goudstikker, Meran, 4. April 1897

[…] Dürfte ich Sie, verständige Freundin, einmal durch meine Heimatstadt leiten! Ich wüsste Ihnen manches Märchen zu erzählen, in den kalten, engen Gassen, in den einsamen, vergessenen Katakomben, in den kühlen, finstern Kirchen […] Sie wissen, dass ich die Leute in dieser Heimat nicht liebe; denn sie haben wenig gethan mich an ihre Interessen zu fesseln und zu gewöhnen und ihre Wege sind nicht meine. Aber wo das Land, wo das tote, steinerne Prag seine uralte Sprache spricht, da fühl’ ich ein kindliches Lauschen in mir und ein Verstehen und den Wunsch Sie, Gute, Einzige in die dunklen Gassen zu führen, in deren Schauern meine einsame Kindheit wie eine blasse, fröstelnde Blüte nach Sonne sich sehnte! […]

[30]9 Aus: Rilke an Ludwig Ganghofer,
München, 16. April 1897

[…] wenn man eine sehr dunkle Kindheit hinter sich hat, bei der der Alltag dem Gehen in dumpfkalten Gassen gleicht und der Feiertag wie ein Rasten im grauen, engen Lichthof ist, wird man bescheiden. Und noch bescheidener wenn man aus diesen trüben und doch verweichlichten Tagen, zehn Jahre alt, in das rauhe Treiben einer Militäranstalt gesteckt wird, wo über das kaum bewusstgewordene Sehnen nach Liebe eine eisige, wilde Pflicht wie ein Wintersturm hinwüthet, und wo das einsame, hilflose Herz nach ungesunder Verzärtelung unvernünftige Brutalität erfährt. Dann kommt die Entscheidung: entweder das Kind wird gleichgültig oder unglücklich. Ich ward das Letztere. Eine große Anlage zu übermäßiger Frömmigkeit wuchs unter dem Einflusse des Seeleneinsamseins und dem Zwange einer verhassten, kismetschweren Pflicht zu einer Art Wahn. Ich empfand die Schläge, die ich oft von muthwilligen Kameraden oder groben Vorgesetzten ertrug, als Glück und lebte mich in den Gedanken eines falschen Martyrthums ein. Die stete Aufregung dieser fast ekstatischen Qualfreude, das Zubringen der Erholungsstunden in der Anstaltskapelle, die marternde Schlaflosigkeit traumtoller Nächte – all das zusammen musste endlich auf meinen widerstandlosen Werdeorganismus nachtheiligen Einfluss ausüben. Nach einer hinzugetretenen Lungenentzündung wurde ich als »stark nervös«(!) für sechs Wochen zur Soolecur nach Salzburg geschickt. Hätte ich damals austreten dürfen! aber man hielt es allgemein für einfach natürlich, dass ich nachdem ichs vier Jahre ertragen, noch die bevorstehenden [31]sechs, die ja besser würden, blieb, um Lieutenant zu werden und – mich zu versorgen […]

10 Aus: Rilke an Wilhelm von Scholz,
Konstanz, 19. April 1897

Mein lieber Wilhelm,

Dein Bodensee ist sehr schön; Dein Konstanz noch köstlicher. Weißt Du, da webt in diesen greisen Giebelgassen, in diesen Thoren und Höfen noch Hussens Ketzerhohn. Und ich verehre die Gestalt des čechischen Reformators und gehe mit tiefem Schauen seinen Leidensweg. – Das herrlich große Münster, so seltsam alle Perioden von Konstanz widerspiegelnd, die alten Thürme und der etwas zu niedliche Hof des Kanzleigebäudes sind große Eindrücke. Dann die vielen Häuser aller Art da und dort. Alle wie die Ufersteine am Rand wilder Ströme: ausgewühlt und rundgewälzt von dem Wogensturm gigantischer Zeit. Denk Dir die Menge von Edlen und Pfaffen während des Conzils; und 3 Päbste und ein vierter[ser]