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Freddy Derwahl

Gottsucher

Was Menschen im Kloster suchen und finden.

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Inhalt

Gottsucher

1. Aschermittwoch in Sénanque

2. Der lächelnde Christus von Lérins

3. Ein Lächeln in Jouques

4. Sturm über Le Barroux

5. Ein Meister aus Solesmes

6. Die Schwester im Baumgarten

7. Für immer in Igny

8. Die Unbefleckte von Vézelay

9. In den Wäldern von La Pierre-qui-Vire

10. Wüstentage in La Verne

11. Allerseelen in La Trappe

12. Advent in Cîteaux

Das Endgültige hinter dem Vorläufigen

Die Klöster

Die Orden

Glossar

Gottsucher

Zu Beginn eine persönliche Betrachtung.

W arum faszinieren uns die Menschen, die sich dazu entschließen, ihr Leben im Kloster zu verbringen, in ganz besonderer Weise? Was unterscheidet sie von uns, die wir – manchmal ohne es aussprechen zu können – unser ganzes Leben lang auf der Suche nach Gott sind? Wo liegen die Gemeinsamkeiten? Was können wir voneinander lernen?

Wo ist Gott zu finden?

Gibt es Orte, an denen wir ihm besonders nahe kommen,

ihn erleben können?

Ich bin mir sicher, dass Gott überall und zu jeder Zeit präsent ist. Und doch glaube ich, dass es oft die richtige Stunde, den richtigen Ort und vor allem ein offenes Ohr und ein wachsames Herz braucht, um ihn wirklich hören zu können. Unser Leben, unser Alltag, unser eigenes Sein steht uns selbst oft laut lärmend im Weg.

Dieses Buch nimmt Sie mit auf die Reise zu zwölf französischen Klöstern, besonderen Orten, an denen seit Jahrhunderten Gottsucher zusammenkommen. Orte voller Licht und Schatten. Heimat faszinierender Menschen, deren Geschichten ich für diesen Band zusammengetragen habe.

Ohne es zu wissen, hat mich dieses Buch ein Leben lang begleitet. Immer wieder kam die Inspiration. Krame ich in alten Kisten, finden sich Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die darüber berichten. Da ist eine heimliche, doch unverkennbare Lebensspur. Auch ein Lebensschmerz, so, wie man an eine erste, leidenschaftliche und unglückliche Liebe denkt. Dann nistet sich dieser Schmerz tief im Herzen ein, nimmt mit der Zeit ab, kommt wieder und bleibt.

Als Kinder fuhren wir sonntags mit Vaters neuem VW in die Eifel und kamen so nach Mariawald, dem einzigen deutschen Trappistenkloster. Beim Auszug der Mönche nach der Vesper sah ich sie von ganz nahe. Hinter dem hohen Eisengitter glichen sie einer kampfbereiten Armee. Männer mit kahlen Schädeln und mit langen Bärten. Robuste Entschlossenheit, ein Hauch Fremdenlegion. Eine schweigende Gemeinschaft, verborgen hinter hohen Mauern.

Ich hatte in jenen Jahren in der Familie einige erschütternde Todesfälle erlebt, die auf die Lebenszuversicht eines Kindes dunkle Schatten warfen. Bei den Trappisten von Mariawald zu erfahren, dass sie nichts anderes wollten als „Gott allein“, gab meinem Leben eine andere Perspektive. Das wollte ich auch – mich bei Gott geborgen wissen. Als meine Eltern spürten, dass mein Wunsch, sonntags die Abtei zu besuchen, einem ernsthaften Interesse entsprang, haben sie mir derartige Fantasien auszureden versucht und schließlich verboten. Es war die erste schwere Verletzung meines Lebens. Mir den Herzenswunsch aus der Seele reißen zu müssen, brannte wie eine Feuerprobe. Der Wunsch, in das Kloster der schweigenden Mönche einzutreten, geriet in eine Art Untergrund. Er unterlag einem strengen Verbot und wurde zugleich stärker. So tobte ein Kampf zwischen Hoffen und Bangen, der für einen Jugendlichen nur sehr schwer zu ertragen ist.

Auf der einen Seite das radikale Leben der Gottsucher, auf der anderen die Verlockungen der Welt mit all ihren Glücksverheißungen. Das sind existenzielle Konfrontationen. Sie mögen abnehmen und in Vergessenheit geraten, doch wird man sie nicht mehr los. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht. Das muss man erst lernen.

Meine Erfahrung war, dass die Gnade einer Berufung ihre Zeit hat, dass man sie verspielen, verpassen oder vergeuden kann. War sie echt, hat sie gebrannt, kann man sie jedoch nicht mehr vergessen. Ich hatte mir nicht zugetraut, meinen Eltern einen Trennungsschmerz zuzumuten. Nun musste ich ihn allein tragen. Selbst mitten im Leben als Journalist und mit Frauen ernsthaft liiert, blieb die unterdrückte Sehnsucht nach dem geistlichen Leben im Kloster. Hin und wieder ein Stich.

Ich hatte gute Freunde, die als Mönche oder Einsiedler lebten. Ich pilgerte zum Heiligen Berg Athos und in die koptischen Wüstenklöster Ägyptens. Bei den Trappisten in Aiguebelle, Genesee und Tibhirine klopfte ich an. In Umbrien zog ich zu den Kamaldulensern. In der Kartause von Sélignac litt ich wie ein Hund. Doch die Chance war dahin, es war zu spät. Es sollte nicht mein Leben sein.

Meine spätere Frau hat mir vollkommen selbstlos geholfen, diesen Zwiespalt zu überwinden. In ihren Briefen nach Algerien und in die USA entdeckte ich eine Freiheit, die alle Zwänge der Vergangenheit ablegte und sich für neue Wege öffnete. Das Kloster, das mich bis in die Träume verfolgte, war nicht mein Bestimmungsort. Doch sollte ich in diesem Spannungsfeld eine besondere Kraft finden, über diese Sehnsucht zu schreiben. Die Suche nach „Gott allein“ blieb, doch fand sie in einer siebenköpfigen Familie und in hektischen Medien statt und nicht im Kreuzgang eines kontemplativen Klosters. Frère Roger Schutz hat mich in Taizé in dieser Orientierung bestärkt: Es gibt eine Form des verinnerlichten Mönchtums mitten in der Welt. Ohne die Jugendliebe zu verraten, weiter Gott suchen.

Frankreich spielte dabei eine wichtige Rolle. Die literarische Bewegung des „Renouveau catholique“, der katholischen Erneuerung in dem ehemals christlichen Land, übte einen starken Einfluss aus. Ich übersetzte Gedichte von Francis Jammes, steckte für die Lektüre von Léon Bloy Ohrfeigen ein, verschlang die Bücher von Paul Claudel, François Mauriac und Georges Bernanos. Der Existenzialist Albert Camus schrieb über das Mönchtum wie ein Prophet. Überall das Christentum als dunkle Flamme. Ergreifende Kartage in Taizé. Staunen vor den Chagall-Fenstern in der Kathedrale von Reims. Heinrich Böll ermutigte mich, weiterzuschreiben.

So entstand schon sehr früh der Wunsch einer französischen Klosterreise. Einer Suche nach den verborgenen Quellen einer spirituellen Landschaft. Die Einöde von Cîteaux, das Bergkloster La Verne, Solesmes, wo die Pariser Dichter im beginnenden 20. Jahrhundert neue Inspirationen fanden. Das alte Lérins vor der Mittelmeerküste. Suche nach Gottsuchern und Gottsucherinnen in der Einsamkeit. Worte finden für ein radikales Leben. In die Gesichter derer sehen, die ein solches Wagnis auf sich nehmen. Auf die Stille hören. Entdecken, dass Gottsuche nicht das Reservat von Erwählten ist, sondern eine tagtägliche Chance für uns alle. Nähe des Mysteriums und des Heiligen in einer tobenden Welt der Gottvergessenheit.

Älter werdend hielt ich diesen Plan zunehmend für verrückt, doch waren die Verantwortlichen im adeo Verlag anderer Meinung. So wurde ein wunderbares Projekt ermöglicht. Die kontaktierten Mönche und Schwestern staunten und lächelten. Sie waren überall sensible Gastgeber, Männer und Frauen guten Rates. Neben all dem Schönen und Außergewöhnlichen war das vielleicht die stärkste Erfahrung: der Tiefgang dieser Menschen, von der Welt getrennt und doch allen nahe. Gottsucher voller Leidenschaft und Demut.

Freddy Derwahl

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Kapitel 1

Aschermittwoch in Sénanque

H inter L yon endlich die Sonne. Nach langen Nebelstunden auf nördlichen Autobahnen bricht sie hervor wie eine nicht mehr für möglich gehaltene Erscheinung. Strahlend über die Ausläufer des Zentralmassivs, auf denen die Ruinen mächtiger Burgen stehen. Es ist wie eine Reise in eine märchenhafte Vergangenheit. Vielleicht ist es aber auch Sehnsucht nach Licht, die heftig lockt, weiter und tiefer zu dringen in jenes Land, wo Wein und Öl fließen und unter dem Sternenhimmel einst die Troubadoure sangen.

Das Licht. Zwischen Valence und Orange beginnt es zu spielen, zu zittern, zu betören. Eine leichte Vibration unter dem etwas dunkleren Blau der Pinien. Zedern und Zypressen stehen einsam in der Landschaft. Lust, einfach anzuhalten, den leichten lauen Wind zu spüren, der durch die Zweige geht. Die Gewissheit, jetzt für drei Wochen in diesen Zauber einzutreten, ihn Tag und Nacht ein- und auszuatmen. Meine Bestimmung ist kein Traum mehr, den ich seit meiner Jugend durch die Jahrzehnte bewahrt habe: eine Klosterreise durch Frankreich. Insel- und Schneeklöster, Abteien am Kap der ersten Herbststürme oder versteckt in tiefen Wäldern. Schweigende Mönche und verschleierte Nonnen. Novizen und steinalte Väter hinter Mauern und Klausuren. Jenseits vermeintlicher Romantik asketische Regelstrenge, nur die Namen bergen eine Spur Poesie: La Verne, La Pierre-qui-vire, La Grande Trappe. Die Reise wird mich weit über Landstraßen führen, in alle Himmelsrichtungen durch das alte Frankreich. Vorbei an Küsten und über Berge. La douce France. Das Abenteuer hat schon begonnen.

Monsieur Aymar spricht im Akzent des Midi, der den „vent“ als „vang“ betont, es klingt sehr autonom und munter. Die Sonne hat hier der Phonetik die Sprache vertont. Die Grundmelodie nichts als Lebensfreude. Der Alte ist Weinbauer und serviert auf seinem Hof den Arbeitern für acht Euro ein Tagesmenü. Heute provenzalischer Eintopf, Würste und Speck mit Bohnen, Tomaten und Knoblauch, dazu frisches Stangenbrot. Ungefragt stellt mir der Chef ein Viertel Landwein auf den Tisch und grinst – es sei gut für die Gesundheit. Wie recht er hat!

Das Licht. Wenn man sich Avignon nähert, verklärt es das Exil der Päpste und flirrt unter den Platanen, deren Knospen die ersten Sprünge wagen. Der Palast hat Festungscharakter, die Front eine Mischung aus Macht und Defensive, hinter ihren kühnen Mauern zählten die Prälaten die Goldmünzen. Das Schlafzimmer Seiner Heiligkeit ist ein mächtiger Kubus, in dem zugleich drei dienstbereite Mönche übernachteten. Streicht die Abendsonne über die Steinquader, kehrt die alte Zeit zurück. Schwere Glockenschläge, wie Warnungen vor den Versuchungen der Welt. Hinter den verschlossenen Toren huschen Wachen über die Gänge. Auf den ausgebeulten Treppen sitzt noch ein Liebespaar. Er spielt mit ihren blonden Strähnen, sie streichelt seine Jeans. Die unheiligen Päpste drehen sich im Grab herum.

Kleine Ereignisse kehren manchmal zurück. Ein Espresso im „Café de l’Opéra“, draußen auf dem Platz lässige Jugend, die Leichtigkeit des Seins. Gegenüber am Tisch nimmt ein junger Mann Platz, er hat soeben das zweibändige Werk Petrarcas gekauft. Er bestellt einen grünen Tee und blättert in den Büchern. Dabei fällt der Titel eines Sonetts auf: „Ich sehe ohne Augen und ohne Mund schreie ich“. Die Kellner eilen in langen weißen Schürzen zwischen den Tischen, Gläser klimpern, Aznavour singt seiner Verehrten ein Chanson. Die lapidare Szene steckt voller Poesie.

Einige Tage später findet in der Zisterzienserabtei Sénanque der Eröffnungsvortrag zur ersten Fastenwoche statt. Bruder Jean am Rednerpult gleicht einem Wüstenvater. Groß und spindeldürr, mit breiten Händen ordnet er seine Notizen. Randlose Brille, langer grauer Bart, die bloßen Füße in Sandalen. Sein Thema: „Gefährten Christi“. Es klingt spannend und kann alles bedeuten. Doch bald zitiert er einen Satz des hl. Augustinus, der an jenen Titel des Petrarca-Gedichtes erinnert: „Das, was du bist, schreit lauter als das, was du mir sagst“. Der Poet hat seine Geliebte gemeint, der Kirchenlehrer aus Hippo seinen Herrn Jesus Christus.

Wir befinden uns endlich in der Provence, in deren Magie die Sinnlichkeit ihre Last verliert und seit Jahrtausenden das schlichte Schöne alles in den Schatten stellt. Der Maler Paul Cézanne schrieb über diese Landschaft: „Wer hier geboren wird, ist verloren. Nichts anderes gefällt einem mehr.“

Wer nach Sénanque kommt, kann der Faszination nicht widerstehen. Zunächst Gordes, eines der bestklassierten Dörfer Frankreichs. Wie Nester kleben die Häuser an den Felsen. Rund um das Schloss sind holprige Gässchen. Noch hält sich der Touristenstrom in züchtigen Grenzen. Die Brasserie empfiehlt als Tagesmenü Perlhuhn in Weinsauce, im Café der Republikaner trinken die Männer Pastis. Wenn es Abend wird leuchten am Horizont glühendrot die Berge des Lubéron.

Die im Jahr 1148 gegründete Abtei Sénanque liegt nur wenige Kilometer entfernt, doch versteckt in einem engen Tal. Die Bergwand ragt so hoch auf, dass man fürchtet, sie könnte das Juwel unten zerschlagen. Das Foto des Klosters hinter dem berauschenden Lila der Lavendelfelder ist um die Welt gegangen. Kein Provence-Bildband, keine Ansichtskarte ohne diese Szene unverfälschter Schönheit. Sie bleibt immun gegen allen Kitsch. Hier ist ein Urbild des Zisterzienserklosters, reinste Baukunst, jeder Blick ein Erlebnis. Man hält inne und kann sich nicht sattsehen. Die Abtei ist Nest und Festung, sie wendet den Ankommenden den Rücken zu, doch selten war Nichtbeachtung so grandios. Die Apsis schiebt sich diskret vor, hinter ihren Mauern geschieht das Wichtigste. Dann die Wellen grauer Steindächer, Harmonie von Höhen und Tiefen. Darüber blauer Himmel, Wald und karger Fels. Alles ist in die Einsamkeit hineinkomponiert. Wenn nicht Mönche, ließe sich in dieser Bergnische wohl keiner nieder.

Touristen werden durch Wege und Wälle erst einmal beruhigt. Es wird leiser, das Erstaunen größer. Es fällt besonders auf, wenn sich furiose junge Frauen plötzlich das Haar aus der Stirn streichen, aufblicken und besser als andere zu ahnen scheinen, was hier entstanden ist: Liebes-Architektur, die durch die Zeiten hält. Sie spricht zu denen, die es hören können: „Du oder keiner.“

Die Kunst der Zisterzienser ist ein Abbild ihrer Reform aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Während ringsum in den Klöstern die Strenge der Observanzen nachließ und sich im Mönchtum Trägheit ausbreitete, entstand in der Einöde von Cîteaux, rund 20 Kilometer südlich von Dijon, ein sogenanntes „Neues Kloster“. Ihre Gründer Robert von Molesme, Alberich und Stephan Harding werden heute noch im Kirchenjahr als „die heiligen Äbte von Cîteaux“ gefeiert. Der junge Bernhard aus dem benachbarten Fontaine-lès-Dijon, der zusammen mit Brüdern, Vettern und Freunden hier eintrat, ließ sich von diesem Stil strikter Einhaltung der Regel des hl. Benedikt begeistern: Fasten und Buße, harte körperliche Arbeit in Dornen und Disteln, lange Nachtwachen und Stundengebete.

Doch dieses asketische Leben zog die Jugend der damaligen Zeit an. Bald erfolgten erste Neugründungen, der geniale Bernhard wurde Abt von Clairvaux in der Champagne. Unter seinem Einfluss bildete sich fortan ein typisches Bild der Zisterzienserklöster. Die Wahl des Ortes fiel auf abgelegenes, wasserreiches Land. Bisweilen gehörten Weinberge und Erzvorkommen dazu, die den Bestand der ständig größer werdenden Gemeinschaften sicherten.

Die Klosterbauten der Zisterzienser, deren Gebäude sich an den Vorgaben der Regula Benedicti orientierten, strahlten radikale Strenge aus. Zugleich waren sie von einer Schönheit, der es gelang, eine Harmonie zwischen der Welt unten und der Welt oben herzustellen. Doch geschah dies nicht im Überschwang der Ausgestaltung, sondern in einer Kunstform, wie sie etwa während der Reformation oder im 20. Jahrhundert neu entdeckt wurde: „Raum ist Sehnsucht“, wie es der Baumeister Dominikus Böhm gesagt hat. Leer- und reingefegt von jedem überflüssigen und ablenkenden Ornament verwiesen Mauern und Säulen einzig auf das Wesentliche: die geheimnisvolle Präsenz Gottes. Die geballte Kraft des Kreuzes und, als einzige Konzession, das Bild Mariens. Nichts anderes als Konzentration auf das, was der Philosoph Martin Heidegger später als „das Eigentliche“ gerühmt hat. Reinheit, die auf jeden Zusatz von Rührung oder Pathos verzichtet, und das Herz und den Geist frei macht. Eine frühe Form der „Arte povera“. Stein und Wüste als Gotteszeichen. Vom hl. Bernhard wird berichtet, dass er nicht einmal zu sagen wusste, ob die Decke seiner Abteikirche flach oder gewölbt war …

Ein naheliegender Vergleich: Oben in Gordes blieb die kleine Pfarrkirche vom Bildersturm unberührt. Neben Jeanne d’Arc, der hl. Therese vom Kinde Jesu und dem wundertätigen Pfarrer von Ars hängen in den Seitenkapellen Gemälde des sterbenden hl. Josef und einer noch immer verlockenden Maria Magdalena. Langes blondes Haar, betonte Brüste. In der Totenkapelle schütten Engel Wasser auf die armen Seelen im Fegefeuer. Mauern und Gänge in Sénanque sind völlig anders, ein extremes Kontrastprogramm: Gott allein.

Erstmals im Kreuzgang von Sénanque. Herz des Klosters, Atrium, Innenhof. „Das wiedergefundene Paradies“ der Genesis, „der verschlossene Garten“ des Hohelieds, „das himmlische Jerusalem“ der Geheimen Offenbarung. Zwischen den Beeten liegen noch Schneereste. Die holprigen Gänge im Halbdunkel, konkreter als in jeder ästhetischen Fotografie. Jeden Tag darf ich jetzt auf dem Weg zur Kapelle über diese Steine schreiten.

Das Quadrat als Symbol der Harmonie und des Ausgleichs. Nur eine Öffnung steigt himmelwärts. Zwölf große Bögen, 48 Arkadenbögen mit schlanken Säulen und Kapitellen mit schlichten Pflanzensymbolen. Zwölf, ob Stämme Israels, ob Stadttore oder Apostel: eine heilige Zahl. Das himmlische Jerusalem ist nahe.

Tausende Schritte sind hier zum Gebet geeilt. Aus der Nacht vergangener Zeiten schallen noch immer die Gesänge der Verstorbenen. Hier ist der selten schöne Versuch, die Schwerkraft der Steine zum Schwingen zu bringen.

Der Aschermittwoch ist ein guter Zeitpunkt, eine Klosterreise zu beginnen. Ähnlich wie draußen die Architektur, stellt die Liturgie die Vergänglich- und Vergeblichkeiten des Lebens klar. Die Messe findet in der Kapelle statt, die letzten Winternächte sind noch frostig. Nahezu übermütig ruft Pater Prior: „Jetzt beginnen die Tage des Heils, die Zeit der Gnade bricht an.“ Der Prophet Joel fordert kämpferisch: „Zerreißt euer Herz!“ und Paulus mahnt die Korinther: „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ Das Johannes-Evangelium berichtet vom „Vater, der im Geheimen sieht“. Weihrauch steigt auf. Der Mönch drückt uns ein Aschenkreuz auf die Stirn. Wir sind gezeichnet vom Tod, der keinen Stachel mehr hat. Für vierzig Tage kein „Alleluja“ mehr. Weder Kerzen noch Blumen. Wir beten für alle, die in dieser Fastenzeit sterben werden.

Meine Zelle im ersten Stock am Ende des Ganges. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Unter dem Kreuz der Jeremia-Vers: „Rufe zu mir, so will ich dir antworten …“ Daneben eine Marienikone, die Hand des Kindes am Hals der Mutter. Vom Fenster aus die Front der Abteikirche. Legt sich die Sonne um 10.20 Uhr auf die Mauern, leuchten die Steine in Rosa, Weiß und Grau. Kein Portal, sondern die „enge Pforte“ ins dunkle Mysterium. Der kleine Turm, der in Harmonie mit den Dächern nicht hochmütig nach oben strebt. Glocken, die Tag und Nacht die Stille unterbrechen. Für den Gast haben sie etwas Überfallartiges, vor allem, wenn sie in der Dunkelheit um Viertel nach drei zur Vigil, dem Nachtgebet, rufen. Benedikt schreibt, ihrem Appell sei, selbst in der Tiefe der Nacht, nichts vorzuziehen.

Am Eingang dieser Kirche liegt ein Faltblatt aus, das den Kern der mönchischen Berufung trifft: „Das Klosterleben ist eine Antwort auf einen Ruf. Ruf Gottes zur Heiligkeit, wie für jeden Getauften, jedoch in einer besonderen Eile und Radikalität. Weg der Verklärung.“

Parterre drei Sprechzimmer und das Refektorium. Es wird schweigend gegessen, manchmal legt der Gastpater Benedetto eine Bach-CD auf. Abends ertönt die Tischlektüre aus dem Speisesaal der Mönche. Eine erstaunliche Erfahrung: Im Klicken der Bestecke und Teller dringen Musik und Vortrag tiefer ins Ohr. Man lauscht. In der Fastenzeit wird auf Tischwein verzichtet. Beim gemeinsamen Spülen drängen sich in der Küche die Frauen vor – sie glauben das besser zu können.

Benedetto ist ein junger Italiener mit einem Gesicht, das Sandro Botticello, den frühen Renaissance-Maler, begeistert hätte. Da ist ein Wechsel von Lächeln, Ernsthaftigkeit, Staunen und Strahlen, dem man sich nicht entziehen kann. Eine Mischung aus männlicher Demut und Güte, von der er behauptet, sie sei ihm „von oben“ geschenkt. Unter seiner Obhut Gast zu sein, macht die Dinge angenehm. Wie schafft er das nur? Es sieht so leicht und rein und ehrlich aus. Wenn er betet, versprüht er einen Hauch Seligkeit.

Im Gang, der zur Kapelle führt, stehen sechs Grabkreuze, denen noch Erde anhaftet, als hätten hier kürzlich Exhumierungen stattgefunden. Doch hat man sie in nicht klösterlicher Zeit entnommen und nunmehr zurückgegeben. Es herrscht Friedhofsruhe, es ist noch viel Platz und vom Sterben, an das die Zisterzienser gerne erinnert haben, nicht viel die Rede. Sénanque wurde nach einer langen Auf- und Ab-Geschichte erst 1988 wieder besiedelt. Fünfzehn Mönche, darunter einige aus Vietnam, leben in den alten Mauern, neue werden bald folgen.

Sénanque am Mittag. Unter einer Steineiche ein Platz in der Sonne. Die gute Erde ist schon warm, alles bereit für den Frühling, er kann jeden Tag kommen. Noch eilt der Wind aus dem Norden, wo sich der Mont Ventoux erhebt, der Meister aller Stürme. Drüben die Abtei. Aus der Distanz wird deutlicher: Hier hat sich der geschliffene Stein den Felsen angeschmiegt. Das Kloster ist nicht erbaut worden, sondern wie aus dem Boden gewachsen. Seine Lage verführerisch, Ordnung ohne Ordnung. Höhen und Tiefen wie abgemessen. Hege und Pflege, als hätte hier der Gartenbaumeister André Le Nôtre das Kloster von Sénanque geschaffen und nicht die armen Brüder.

Bruder Jean hat heute Morgen erwähnt, dass Papst Benedikt XVI. immer mehr über die Stille spricht. Was hat es zu bedeuten? Geheimnisvolles? Er liebt den Heiligen Vater und trägt ein Foto von ihm in seiner verschlissenen Bibel. Manchmal, wenn er gestikuliert, rutscht es heraus, dann verbirgt er es schnell wie einen Schatz. Er hat auch an das Wort von Dostojewski erinnert: „Die Schönheit wird uns befreien.“ In der Schönheit von Sénanque ist es leicht, daran zu glauben. Es waltet Demut, von der ebenfalls Dostojewski sagte, sie sei „eine furchtbare Kraft“.

Glockenschläge … ich habe das Essen verpasst und begnüge mich mit einem Apfel.

Über die Heiligsprechungen von Maria Goretti und Maximilian Kolbe: „Ihr Mörder und der vor dem Hungerbunker gerettete Familienvater waren während der Zeremonie auf dem Petersplatz.“

Dunkler die Geschichten, die er über die innere Bedrängnis der Heiligen erzählt: „Viele Mystiker waren psychiatrisch belastet, sie hielten den Druck nicht aus. Die gelungenen Leben sind gescheiterte Leben.“ Über die Dämonen sagt er: „Sie zeugen von der Heiligkeit Gottes, sie haben einen Glauben, der jedoch nicht von der Liebe verklärt wird.“ Über das Taufsakrament: „Es ist wie ein Embryo im Mutterleib, wir werden zu einem neuen Leben geboren.“

Alle hören gebannt zu. Jeder für sich, außer den Ehepaaren. Meist ältere Semester. Mir fehlt meine Frau. Ansonsten Stille, keine neuen Freundschaften.

14.15 Uhr: Glockenschlag zur None, der neunten Stunde. Hinaus aus der Mittagsruhe, der Tag ist schwer. Golgatha-Zeit, Last des Daseins, es geht hinab.

Der 62-jährige Prior, Pater Jean-Marie, ist ein „Meta-Optimist“. Bei ihm war der Weg zu einer Berufung als Mönch seit einer Pilgerfahrt als 17-Jähriger nach San Damiano immer klar vorgezeichnet. Er hofft auf klösterlichen Nachwuchs, doch glaubt er: „Der Herr wird sich darum kümmern, er hat uns keine Erfolge versprochen, sondern Prüfungen und das ewige Leben.“ Über die Vigil der Osternacht sagt er die kühnen Worte: „Die Erlösung ist noch größer als die Schöpfung. Durch Jesus sind Zeit und Raum aufgehoben worden. Es herrscht die Glaubensrealität dynamischer Mystik.“ Es komme darauf an, gegen Regen und Sturm vorwärtszugehen: „Christliches Leben ist strahlend, aber im Kampf.“ Höre gut zu, lieber Freund, sagt er zu mir: „Die Beziehung zwischen Mensch und Gott ist beschädigt, doch durch die Sünde nicht unterbrochen.“

Jetzt reden wir über unsere persönlichen Dinge. Seine Zeit ist längst überschritten, bald werden die Glocken zur Vesper läuten. Dann habe ich erstmals seit Jahren spontan um die Beichte gebeten. Es hat mich überrascht, ihn offenbar nicht. Ich sage: „Meine Untreue war nie subversiv.“ Nichts als ein Lächeln, Lossprechung, große Freiheit. Zur Buße ein Vaterunser, „aber ganz langsam“.