Für Ana und Margrith
12. Juni 2016
Eine Entzugserscheinung konnte es nicht sein, er hatte genug getrunken.
Schoch versuchte, das Ding zu fokussieren, das tief hinten in der Unterspülung des Uferwegs stand, dort, wo die Höhlendecke auf den sandigen Boden traf.
Ein Kinderspielzeug. Ein Elefäntchen, rosarot, wie ein Marzipanschweinchen, aber intensiver. Und es leuchtete wie ein rosarotes Glühwürmchen.
Es kam vor, dass jemand seine Höhle entdeckte. Manchmal fand er Fixerbesteck oder Kondome oder Junkfood-Verpackungen. Aber Spuren von Kinderbesuchen hatte er bisher noch nie entdeckt.
Er schloss die Augen und versuchte, so etwas wie Schlaf zu finden.
Schoch hatte einen Drehrausch. So nannte er die Räusche, bei denen sich alles drehte, sobald er im Schlafsack lag. Er hatte in all den Jahren nicht herausgefunden, wann die Räusche zu Drehräuschen wurden. Manchmal war er sich sicher, dass es an der Menge lag, dann wieder neigte er dazu, die Ursache in der Mischung zu vermuten. Aber dann gab es Fälle wie diesen, wo er – soweit er sich erinnern konnte – weder mehr noch anders als am Vortag getrunken hatte und sich dennoch alles drehte.
Vielleicht spielte das Wetter eine Rolle. Auf dem Heimweg hatte der Föhn die dicken Wolken über den Fluss gejagt, und manchmal waren sie aufgerissen und hatten für einen Augenblick einen weißen vollen Mond enthüllt. Vollmond und Föhn, vielleicht war das die Erklärung für die Drehräusche. Wenigstens für ein paar davon.
Auch was mehr half, Augen auf oder zu, hatte er nie herausgefunden.
Er öffnete sie. Das Elefantenspielzeug war noch immer da. Aber es kam ihm vor, als stünde es etwas weiter rechts.
Er schloss die Augen wieder. Einen Moment lang drehte sich das Elefäntlein unter seinen Augenlidern und hinterließ einen rosa Schweif.
Sofort schlug er die Augen wieder auf.
Dort stand es, schlug mit den Ohren und hob den Rüssel zu einem S.
Schoch legte sich auf die andere Seite und versuchte, das Drehen zu stoppen.
Dabei schlief er ein.
13. Juni 2016
Schoch trank schon zu lange, um noch einen nennenswerten Kater zu haben. Aber auch zu lange, um sich noch an alle Einzelheiten des Vorabends zu erinnern. Er erwachte später als sonst, mit trockenem Mund, verklebten Augen und erhöhtem Puls, aber ohne Kopfschmerzen.
Die Zweige der Büsche vor dem Höhleneingang hüpften unter schweren Regentropfen, und dahinter konnte Schoch in der Morgendämmerung den grauen Regenvorhang ausmachen, dessen gleichmäßiges Rauschen hereindrang. Der Föhn hatte sich gelegt, und es war ungewöhnlich kalt für Juni.
Schoch schälte sich aus dem Schlafsack, richtete sich auf, so weit es die niedrige Schlafstelle zuließ, und packte sein Bett zu einer harten Rolle zusammen. Er stopfte das Hemd in die Hose und griff nach seinen Schuhen.
Aber an der Stelle, wo er sie immer ablegte – beim Höhleneingang weit genug im Innern, so dass ein plötzlicher Regen sie nicht erreichen konnte –, fand er nur einen. Den anderen entdeckte er nach einer Weile vor der Höhle. Er lag neben einem der triefenden Büsche in einer Pfütze. Schoch konnte sich nicht erinnern, dass ihm das schon einmal passiert war, so besoffen er auch war. Vielleicht sollte er sich ein wenig bremsen.
Er angelte sich fluchend den blau-weiß gestreiften Sportschuh, nahm ein zerschlissenes Frottiertuch mit dem »Nivea«-Schriftzug aus seiner Sporttasche und versuchte, den Schuh damit trockenzutupfen.
Es war aussichtslos. Schoch zog den feuchten kalten Sneaker an.
Etwas geisterte vage in seinem Kopf herum. Etwas von der letzten Nacht. Etwas Seltsames. Aber was? Ein Gegenstand? Ein Erlebnis? Wie ein gesuchtes Wort oder ein vergessener Name, die einem auf der Zunge liegen.
Er konnte es nicht festmachen, und die Kälte des Schuhs kroch sein Bein herauf und ließ ihn frösteln. Er brauchte Bewegung und etwas warmen Kaffee im Magen.
Schoch zog eine gelbe Pelerine über, die er einmal von einer Baustelle hatte mitgehen lassen. Sie war voller Teerflecken und trug das Signet eines großen Bauunternehmens, das er ebenfalls mit Teer unleserlich gemacht hatte. Nur die Wörter »Hoch- und« waren sichtbar geblieben. Er stopfte seinen Schlafsack in die fleckige Sporttasche, in der sich auch ein paar seiner anderen Habseligkeiten befanden. Ersatzunterwäsche, Socken, T-Shirt, ein Hemd, Waschbeutel und eine Brieftasche mit seinen Papieren. Den Rest der Dinge, die ihm gehörten, hatte er im Heilsarmee-Wohnheim, mit dessen Verwalter er auf gutem Fuß stand, eingelagert.
Er stülpte eine Schildmütze über sein verfilztes Haar und trat ins Freie. In der Höhle ließ er nichts zurück.
Der Regen fiel so dicht, dass das gegenüberliegende Flussufer nur schwach zu erkennen war. Er kämpfte sich die glitschige Böschung hinauf. Zweimal rutschte er aus, die Hosenbeine waren auf Höhe der Knie lehmverschmiert, als er den Uferweg erreichte.
Schoch hatte den Schlafplatz von Sumi geerbt, dem Mann, der ihn auf der Gasse eingeführt hatte. Damals, als unter den Obdachlosen noch Regeln galten. Zum Beispiel die, dass man die Schlafplätze der andern respektierte. Heute war das nicht mehr so. Heute konnte es passieren, dass man nach Hause kam, und da lag schon einer. Meistens ein Arbeitsmigrant. Einer, der ins Land gekommen war, um Arbeit zu suchen.
Sumi hatte den Platz kurz nach dem Hochwasser 2005 entdeckt. So hoch war der Fluss gewesen, dass er den Uferweg an mehreren Stellen unterspült und einen großen Teil vom Wildwuchs weggeschwemmt hatte.
Zufällig hatte Sumi vom anderen Ufer aus die klaffende Stelle entdeckt. Das einzige Problem war gewesen, dass die Höhle so gut einsehbar war. Aber da kam es ihm zugute, dass er vor seiner Zeit auf der Gasse unter anderem als Hilfsgärtner gearbeitet hatte. Er grub von weiter flussabwärts, wo das Becken breiter war und das Wasser den Böschungsrand nicht erreichte, einige Stauden aus und pflanzte sie vor den Höhleneingang.
»Fluss-Bett« hatte er seine Schlafstelle getauft und fast acht Jahre dort gepennt. Schoch war der Einzige gewesen, der die Stelle kannte. »Wenn ich einmal abkratze«, pflegte Sumi zu sagen, »kannst du mein Fluss-Bett haben.«
»Du säufst uns alle unter den Boden«, antwortete Schoch dann jeweils.
Aber dann war Sumi plötzlich gestorben. Auf Entzug. Delirium tremens.
Das hatte Schoch in seinem Entschluss bestärkt, nie mit dem Trinken aufzuhören.
Der Uferweg war menschenleer. Die frühen Jogger, denen er sonst um diese Zeit begegnete, hatte der Regen in den Häusern festgehalten. Es dauerte nicht lange, bis Schochs trockener Schuh ebenso durchweicht war wie der nasse. Das Regenwasser lief ihm den Bart hinunter in den Halsausschnitt seiner Pelerine. Schoch reckte sein Kinn und wischte den Bart mit dem Handrücken heraus. Er brauchte jetzt dringend seinen zweiten Kaffee, den ersten hatte er verpennt.
Weiter oben kam er an einer Flussschwelle vorbei. Dort befand sich eine kleine Plattform. Zwei Betonpfähle waren in die Böschung eingelassen, die eine Rettungsstange aus Aluminium trugen. Die Stelle war berüchtigt, weil sich nach der Schwelle, besonders bei hohem Wasserstand, eine Wasserwalze bildete. Von dort drangen jetzt Rufe herauf.
Schoch ging weiter, bis ihm die Uferbewachsung die Sicht nicht mehr versperrte. Zwei Männer, ein kleiner und ein großer, standen auf der Betonplattform am Ufer und stocherten mit der Rettungsstange in dem braunen Wasser unterhalb der Schwelle herum.
»Brauchen Sie Hilfe?«, wollte Schoch rufen, aber seine Stimme war so belegt, dass er nichts Hörbares herausbrachte.
Er räusperte sich. »He! Hallo!«
Der Große sah jetzt herauf. Ein Japaner oder ein Chinese.
»Ist jemand hineingefallen?«
Jetzt sah auch der Mann mit der Rettungsstange herauf. Ein kurzgeschorener Rothaariger.
»Mein Hund!«, rief er.
Schoch hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Todeswalze«, rief er, »da kommt keiner lebend raus. Die hat schon manchen geschluckt. Vergessen Sie es. Passen Sie lieber auf, dass Sie nicht auch noch reinfallen!«
Der Mann mit der Rettungsstange stocherte weiter. Der andere winkte ihm zu. »Thanks!«, rief er, dann wandte auch er ihm wieder den Rücken zu.
Schoch ging weiter. »Ich habe sie gewarnt«, murmelte er. »Ich habe sie gewarnt.«
25. April 2013
Die Raben lauerten auf der Brüstung der Restaurantterrasse auf eine kleine Unaufmerksamkeit des Kellners, der das warme Büfett bewachte. Die Brandung des Indischen Ozeans war bis hierherauf zu hören.
Jack Harris saß am zweithintersten Tisch. Von dort hatte er den besten Blick auf die Mischung aus Rucksacktouristen, Geschäftsleuten und den letzten Expats, die noch immer an ihrem Jour fixe im Galle Face Hotel festhielten.
Seit bald drei Wochen hing er nun schon hier herum und wartete und trank zu viel Lion Lager. Manchmal kam er mit einem Touristen ins Gespräch, und einmal gelang es ihm, eine allein reisende Amerikanerin mit seinem Beruf so zu beeindrucken, dass sie mit auf sein Zimmer kam. Harris war Veterinär, Spezialgebiet Elefanten.
Aber meistens verbrachte er die Nacht alleine im Zimmer. Es war immerhin gut gelegen. Nicht direkt aufs Meer hinaus, sondern auf den großen Platz, wo früher die Kolonialherren Golf spielten und wo sich jetzt viele Souvenirstände und Garküchen befanden. In den einsamen Nächten öffnete er manchmal eines der beiden Fenster, steckte sich eine Zigarette an und sah hinunter auf die Lichter des belebten Platzes und auf die fluoreszierende Brandung des Ozeans.
Stimmen und Gelächter vermischten sich mit Musikfetzen, von den Garküchen stiegen Rauchschwaden ins Licht der Glühbirnen, und manchmal trug der Wind den Duft von Holzkohle und heißem Kokosöl herüber.
Harris stand auf und bediente sich am Büfett. Bereits zum zweiten Mal. Er schaufelte sich ein unkulinarisches Durcheinander aus Currys und Stews und Gratins auf den Teller und ging an seinen Tisch zurück, auf den das Personal inzwischen unaufgefordert ein »Reserved«-Schild stellte.
Er aß auch zu viel.
Jack Harris war vierzig, stammte aus Neuseeland und sah aus wie ein etwas massig geratener Crocodile Dundee. Fand er. Seine Frau, die ihn vor inzwischen acht Jahren – wie die Zeit verging! – verlassen hatte, fand, er sehe eher aus wie ein Schafscherer.
Die Scheidung hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er lebte mit seiner Frau Terry und den Zwillingen Katie und Jerome in einem großen Bungalow in Fendalton, dem schicksten Vorort von Christchurch, führte mit einem Partner eine Tierklinik und verdiente gut.
Klar: Er hatte sich ein paar Affären erlaubt, aber gerade, als er sich Besserung gelobt hatte, erwischte er Terry mit seinem Freund und Partner. Ein fürchterlicher Schock. Er war bereit gewesen, den beiden zu verzeihen und einen Neubeginn zu wagen. Doch Terry wollte zwar schon einen Neubeginn, aber nicht mit ihm. Nach der Scheidung heiratete sie seinen Partner.
Er, Jack, verdingte sich als Tierarzt bei verschiedenen Wildreservaten Asiens. In Neuseeland war er seither nur dreimal gewesen, um seine Kinder zu sehen. Inzwischen waren sie Teenager geworden und hatten ihm bei ihrer letzten Begegnung zu verstehen gegeben, dass sie nicht mehr allzu großen Wert auf seine seltenen Besuche legten. Seither beschränkten sich seine Kontakte mit ihnen auf kleine Überweisungen zum Geburtstag und zu Weihnachten und gelegentliche verlegene Skype-Sitzungen. Alimente musste er keine bezahlen, seine eigenen Seitensprünge waren bei der Scheidung nicht aufgeflogen.
Ein paar Tische weiter vorne fütterten zwei Touristinnen die Raben. Sie waren ihm schon beim ersten Mal, als er zum Büfett ging, aufgefallen. Um die dreißig, deutschsprachig, keine Schönheiten, aber fest entschlossen, in diesen Ferien mehr zu erleben als fremde Kultur und Natur, dafür hatte er einen Blick.
Sie amüsierten sich darüber, dass die Vögel auf den Tisch flogen und aus ihren Tellern naschten. Jack hatte schon damit punkten können, dass er Touristinnen, die das taten, darauf aufmerksam machte, dass auf diese Art Kryptokokkose und Ornithose übertragen würden. Was nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig war. Er war drauf und dran, ans Dessertbüfett zu gehen und auf dem Rückweg am Tisch der beiden eine entsprechende Bemerkung fallenzulassen, als sein Handy klingelte.
Auf dem Display stand »Roux«.
Jack Harris meldete sich, hörte zu, sagte: »Hold on«, klaubte einen Stift aus der Jacke und notierte eine Reihe Zahlen auf die Rückseite des Blattes mit den Tagesspezialitäten. »I thought it would never happen«, bemerkte er noch, beendete das Gespräch und wählte eine Nummer.
»Kasun?«, rief er ins Telefon, so laut, dass ein paar Gäste zu ihm herübersahen. »Race to Ratmalana. Now!« Er machte dem Kellner das internationale Zeichen für »die Rechnung, bitte«, und als dieser sie nicht gleich brachte, ging er ihm entgegen und signierte. Noch auf dem Weg zum Zimmer rief er seinen Kontakt am Heliport an.
Harris bestellte ein Taxi und zog hastig seine Arbeitskleidung an – khakifarbene Hose, verwaschenes kurzärmeliges Jeanshemd. Er holte seinen Instrumentenkoffer aus dem Schrank, er hatte ihn für diesen lange erwarteten Fall bereits gepackt und immer wieder kontrolliert.
Keine fünf Minuten nach dem Anruf saß er im Taxi zum Flughafen Ratmalana fünfzehn Kilometer südlich von Colombo.
Eine knappe Viertelstunde später war er dort. Kasun, der junge Mann, den ihm das Department of Wildlife Conservation zur Seite gestellt hatte, erwartete ihn vor einer Robinson R44, einem leichten, dreiplätzigen Helikopter, dessen Rotoren zu drehen begonnen hatten, als Jacks Taxi in Sicht gekommen war.
Als Harris die Maschine erreichte, saß Kasun bereits angeschnallt auf dem Rücksitz und hatte die Kopfhörer auf. Jack nickte ihm zu, begrüßte den Piloten und überreichte ihm die Notiz mit den Koordinaten. Er schnallte sich an und setzte den Kopfhörer auf.
Der Pilot erhöhte die Drehzahl, die kleine Maschine hob langsam ab, stieg und schwebte einen Moment über der Piste. Dann senkte der Pilot ihre Nase, und sie nahmen Fahrt auf Richtung Südosten.
Am selben Tag
Sie waren die letzten Kilometer auf geringer Höhe über der Bahnlinie geflogen und sahen den stehenden Zug von weitem. Ein paar Meter hinter der Lok war eine Gruppe von Menschen um den verletzten Elefanten versammelt.
Der Pilot zog die Maschine höher, um sich einen Überblick zu verschaffen. Unweit der Unglücksstelle lag eine Lichtung, an deren Rand ein paar Hütten standen. Genug Platz, um zu landen.
Bis auf ein paar alte Frauen und kleine Kinder war das Dorf wie ausgestorben. Wer nicht bei der Feldarbeit war, hatte sich zur Unfallstelle begeben.
Beladen mit Instrumentenkoffer, Hartschalenkühlbox und Materialcontainer eilten der untersetzte Harris und sein großgewachsener, zartgliedriger Assistent auf dem schmalen Pfad, der von der Lichtung in den Wald mündete, zur Bahnstrecke.
Es war, wie meistens in Sri Lanka, über dreißig Grad heiß bei einer Luftfeuchtigkeit von über neunzig Prozent. Als sie die Trasse erreichten, klebte Harris’ Hemd an seinem massigen Oberkörper. Sie kämpften sich den Schotter hinauf und begannen, zwischen den Schienen nordwärts zu gehen. Die Unfallstelle musste gleich hinter der Kurve liegen.
Kein bisschen Schatten fiel auf die Bahntrasse, sie waren der glühenden Sonne ausgeliefert. Es stank nach dem erhitzten Teer, mit dem die Holzschwellen getränkt waren. Und nach den Klos der Passagierwaggons.
Jetzt war die Lok zu sehen und gleich darauf die Menschenansammlung neben der Trasse.
Kurz bevor sie die Gruppe erreichten, überließ Harris seinem einheimischen Helfer den Vortritt, damit er ihnen Platz schaffte. Kasun gab barsche singalesische Anweisungen, von denen Harris nur die englischen Worte »National Wildlife Department« verstand. Sofort gingen die schaulustigen Dorfbewohner und die Zugpassagiere zur Seite.
Vor ihnen lag der kleine Elefant, neben ihm kniete eine junge Frau und strich ihm über die Stirn.
»It’s okay, it’s okay«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
Das Tier hatte die Augen weit aufgerissen, es biss auf seinen Rüssel, und die Hinterbeine waren unnatürlich abgewinkelt. Harris stellte seinen Koffer ab und öffnete ihn.
»Are you a doctor?«, fragte die Touristin in amerikanischem Englisch.
Harris nickte. Er nahm eine Spritze und eine Ampulle aus dem Koffer und zog sie auf.
»Will it be okay?«, fragte die Amerikanerin besorgt.
Harris nickte. Er hob das rechte Ohr des schwerverletzten Tiers an. Das Venennetz auf der Rückseite zeichnete sich überdeutlich ab. Harris wählte eine fingerdick angeschwollene Vene, setzte die Nadel und injizierte den Inhalt der Spritze.
»Painkiller?«, fragte sie.
Harris nickte wieder. »Painkiller«, murmelte er und sah auf die Uhr.
Das Elefäntchen schien sich zu entspannen. Der Rüssel glitt aus dem Maul und legte sich auf das zertretene Gras wie eine müde Schlange. Die Touristin strich weiter über die Stirn des Elefantenbabys, die dünn mit langen Haaren bewachsen war. »Bschsch«, machte sie, wie zu einem Kind, das am Einschlafen war.
Harris sah auf die Uhr und machte Kasun ein Zeichen. Der verstand und berührte die Touristin an der Schulter. Sie schrak zusammen und blickte zu ihm auf.
Harris sah jetzt, wie jung das tränennasse Gesicht war.
»Let’s go, Miss«, sagte Kasun.
Die Amerikanerin sah Harris hilfesuchend an.
Er nickte. »Everybody leaves now. We have to do some surgery.«
Langsam rappelte sie sich auf, blickte auf das Elefantenbaby hinunter, wischte sich mit den Handballen die Tränen weg und sah Harris an. »You’ve put it to sleep, haven’t you?«
Harris gab keine Antwort.
Sie wandte sich um und ließ sich vom Zugführer zur Gruppe von Passagieren führen, die ein paar Waggons weiter im Schatten des Waldrandes warteten.
Harris entledigte sich seines schweißnassen Hemds und zog einen grünen Chirurgenkasack über. Kasun knöpfte ihn am Rücken zu und reichte ihm das Desinfektionsmittel. Das Glyzerin, das es enthielt, ließ die Hände leichter in die Chirurgenhandschuhe gleiten.
Harris horchte den kleinen Elefanten mit dem Stethoskop ab. Nach drei Minuten nickte er Kasun zu, der jetzt ebenfalls sterile Einweghandschuhe trug. Der griff in den Instrumentenkoffer und reichte ihm das große Skalpell.
Neben der achtzehnten Rippe unterhalb der Wirbelsäule setzte Harris die Klinge an und öffnete die Lumbalregion des toten Elefanten.
Am selben Tag
Sitz 11A besaß zwei Vorteile: Es gab keinen Nachbarsitz, und er war der hinterste in der Business Class dieser Boeing 787–9. Dahinter befand sich etwas Platz für die Kühlbox mit den Ovarien des Elefantenbabys.
Harris hatte gerade noch die Etihad 265 erreicht, die ihn um einundzwanzig Uhr in etwas über vierzehn Stunden von Colombo über Abu Dhabi nach Zürich brachte. Er trank sich durch die Champagner, Bordeaux und Liköre der Speisekarte und war jetzt bei den Gutenachtbierchen angelangt. Vielleicht würde er noch etwas Schlaf finden in den restlichen vier Stunden des Fluges.
Die Business Class war nur etwa zur Hälfte besetzt. Die meisten Passagiere schliefen, aber da und dort flackerte noch bleich ein Bildschirm.
Über einem der Sitze ging plötzlich ein Licht an. Ein paar Augenblicke später bewegte sich der Vorhang der Bordküche, und eine Flugbegleiterin kam heraus, ging auf das Licht zu, beugte sich hinunter, wechselte ein paar Worte und ging wieder. Kurz darauf kehrte sie mit einem Tablett zurück. Ein Glas stand darauf und eine Dose Bier.
Noch jemand, der nicht einschlafen konnte.
Harris war froh, dass diese Mission zu Ende ging. Er hatte für eine Weile die Nase voll von den Tropen und freute sich auf Europa, auf kühle Nächte und Fachgespräche mit Kollegen. Und auf die Anerkennung, die man ihm, wenigstens für kurze Zeit, für das Gelingen des Vorhabens entgegenbringen würde.
Harris setzte den Kopfhörer auf und wählte den Country-Kanal. Lucille von Kenny Rogers lief. Der Song, der ihn während der schlimmsten Zeit seiner Trennung begleitet hatte.
You picked a fine time to leave me, Lucille
With four hungry children
And a crop in the field
I’ve had some bad times
Lived through some sad times
But this time your hurtin’ won’t heal
You picked a fine time to leave me, Lucille
Die gelassene Stimme des Captains weckte ihn. Sie durchquerten eine Zone mit Turbulenzen, erklärte sie, und die Passagiere seien gebeten, sich anzuschnallen.
Harris ärgerte sich. Er war angeschnallt. Die Turbulenzen hätten ihn kaum geweckt. Im Gegenteil: Harris liebte Turbulenzen.
Dabei hatte er früher unter Flugangst gelitten. Und zwar krankhafter. Er war bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr nur ein einziges Mal in ein Flugzeug gestiegen. Damals war er sechzehn und hatte beim Wettbewerb einer Zigarettenmarke einen Rundflug gewonnen. Von Queenstown nach Milford Sound in einer Gippsland GA-8, einem einmotorigen australischen Flugzeug mit Platz für sieben Passagiere.
Die Maschine geriet in einen Sturm, hoch über dem zerklüfteten Fjord, und Harris schwor sich, nie mehr ein Flugzeug zu betreten, falls er den Horror überleben würde.
Diesen Vorsatz führte er gleich nach der angsteinflößenden Landung auf dem winzigen Milford Sound Airstrip aus. Er weigerte sich, wieder an Bord zu gehen, und fuhr die fünf Stunden nach Queenstown auf der Ladefläche eines Holztransporters zurück.
Den nächsten Flieger hatte er erst mit zweiunddreißig, kurz nach der Trennung von Terry, bestiegen: Mit der Air New Zealand von Christchurch über Auckland nach Perth und von dort aus mit der South African Airways nach Johannesburg und Kapstadt. Fast dreißig Stunden war er unterwegs gewesen, und keine Sekunde hatte er um sein Leben gebangt. Er hing nicht mehr so daran.
Seit diesem zweiten Flug seines Lebens genoss er es sogar zu fliegen. Er vertraute sich bedingungslos der Maschine und ihrem Piloten an, wie ein Kängurubaby dem Beutel seiner Mutter.
Und jetzt brachte ihn dieser Pilot wegen ein paar Turbulenzen um das bisschen Schlaf, das ihm noch bis zur Landung blieb.
26. April 2013
Der Regen hatte nachgelassen, und der Himmel war klarer geworden. Roux konnte die Etihad im Anflug sehen. Aber der Stau hatte sich nicht aufgelöst. Noch zwei Kilometer weit würde er stoppen und anfahren, stoppen und anfahren, bis er die Ausfahrt zum Flughafen erreichte.
Er ärgerte sich. Über die Wetterprognose, die nur stimmte, wenn man nicht darauf angewiesen war. Über den Flughafen Zürich, der nie aufhörte, Baustelle zu sein. Und über sich selbst, der nicht einmal für diesen Termin, auf den er so lange gewartet hatte, pünktlich sein konnte.
Natürlich würde Harris anrufen und am Zoll warten, bis er mit den nötigen Papieren eintraf. Aber Roux war ungeduldig. Er wollte die Lieferung endlich in Besitz nehmen. Er hatte lange genug darauf gewartet.
Die Flughafenausfahrt kam in Sicht, noch ein paar hundert Meter, bis er aus dem Stau ausscheren und Gas geben konnte. Adele sang Skyfall. Roux’ behaarte Finger trommelten im falschen Takt auf das Lenkrad.
Eine Verkehrsmeldung unterbrach den Song und warnte vor dem Stau auf der A51, in dem er steckte. »Ach ja?«, murmelte er. »Ein Stau?«
Roux war Mitte vierzig. Obwohl er drahtig war und nicht besonders klein, besaß er etwas Untersetztes, was er einem großen Kopf und einem kurzen Hals zu verdanken hatte. Er trug sein spärliches rötliches Haar kurzgeschoren und seine dichten Brauen sorgfältig getrimmt, was die Wülste über den Augen betonte und seiner Untersetztheit auch noch etwas Bulliges verlieh.
Endlich hatte er die Stelle erreicht, wo der linke Sicherheitsstreifen sich zur Ausfahrt hin öffnete. Aber die Kolonne stand schon wieder, und die Lücke zwischen dem Straßenpfosten und dem Heck des Volvos vor ihm war zu schmal für seinen BMW. Wenn die Arschlöcher vor ihm besser aufschließen würden, wäre er längst am Flughafen.
Er hupte.
Nichts geschah.
Er hupte wieder, diesmal länger.
Der vorderste Wagen, den er sehen konnte, setzte sich ein Stück weit in Bewegung. Der dahinter schloss zu ihm auf, der nächste auch und der nächste. Nur der Volvo vor ihm blieb stehen.
Roux drückte wütend auf die Hupe und blieb darauf. Der Mann hinter dem Steuer des Volvos strafte ihn mit einem langsamen und nachdrücklichen Kopfschütteln. Dann startete er den Motor und rückte mit aufreizender Langsamkeit ein Stück vor.
Sobald die Lücke groß genug war, trat Roux aufs Gas und fuhr hupend und mit quietschenden Reifen in die Ausfahrt hinein.
Am selben Tag
Die Zollabfertigung bestand aus einem großen Raum mit Schaltern aus Edelstahl. An den offenen Eingängen strömten die Passagiere vorbei, die den grünbeschilderten Ausgang gewählt hatten, nichts zu verzollen. Ganz selten folgte jemand dem roten Schild und betrat die Abfertigung.
Dort wartete Harris nun schon seit zwanzig Minuten neben seinem Rollkoffer. Die Kühlbox hatte er auf eine der metallenen Ablagen gestellt.
Er war sich nicht sicher, ob er Roux wiedererkennen würde, er besaß kein gutes Gedächtnis für Gesichter und hatte ihn nur einmal am Rande eines Kongresses in London gesehen, ein Kongress für Fortpflanzungsspezialisten zur Bekämpfung von Unfruchtbarkeiten. Sie saßen beide in einem Vortrag über das Heranreifenlassen von Elefanteneizellen im Körper von Ratten. Harris trieb sich dort herum, weil er sich Kontakte zu Forschern erhoffte, die Spezialisten für die Feldarbeit suchten. Roux brauchte jemanden, der ihm die Eierstöcke eines Elefanten beschaffen konnte.
Sie begegneten sich nach dem Vortrag – Harris hatte später das Gefühl, nicht zufällig – im ›Ye Olde Rose & Crown‹, einem Pub neben dem Kongresshotel. Harris saß allein an der Bar, und Roux gesellte sich zu ihm mit zwei randvollen Half Pints of Bitter. »Nichts Traurigeres als ein Mann alleine im Pub«, sagte er in schweizerdeutsch gefärbtem Englisch. Bei der zweiten Runde – für Harris war es bereits die dritte – wusste Roux bereits, dass er Veterinär mit Spezialgebiet Elefanten war, und bei der nächsten fragte er unverblümt, ob er wisse, wie man am besten an den Eierstock eines asiatischen Elefanten rankomme.
Harris wusste es.
»Jack! Sorry, traffic jam!«, sagte der Mann, der mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam. Harris hätte ihn tatsächlich nicht wiedererkannt. Er hatte ihn kleiner und dicker in Erinnerung.
Er ergriff die Hand und drückte sie. Sie war feucht. Richtig, das war ihm schon beim letzten Mal aufgefallen. Handschweiß.
Roux hatte schon beim Händedruck an Harris vorbei zur Kühlbox geschaut. Jetzt entzog er ihm die Hand und legte sie auf den Deckel des Behälters. »At last«, sagte er, »endlich.«
Ein Zollbeamter schlenderte auf sie zu. Harris hatte ihn schon informiert, dass es sich hier um einen Organtransport handle und er auf den Empfänger warte, der über die nötigen Unterlagen für die Einfuhrformalitäten verfüge.
Roux wies sich aus und überreichte ihm ein dünnes Dossier. Die Umschlagseite trug den rotgelben Schriftzug Gentecsa und den Slogan: Forschung für übermorgen.
Der Beamte glitt mit dem Zeigefinger über die Rubriken und wählte die Informationen aus, die er in sein Formular übertragen musste. Als er damit fertig war, deutete er mit dem Kinn auf die Kühlbox.
»Ist das wirklich nötig?«, fragte Roux. »Es ist wichtig, dass das Organ auf null bis vier Grad gekühlt bleibt.«
»Ich kann Sie ohne Augenschein nicht durchlassen.«
Roux seufzte und gab Harris ein Zeichen, die Box zu öffnen. »Just a second«, fügte er hinzu.
So viel Englisch verstand der Beamte auch. »As long as it takes«, korrigierte er.
Harris ließ die Spannverschlüsse aufschnappen und klappte den Deckel auf. Zwischen blauen Gefrierelementen lag eine sterile Box aus milchigem Kunststoff. Harris machte keine Anstalten, sie zu öffnen, bis der Zöllner ihn dazu aufforderte.
»Sie gefährden ein wissenschaftliches Projekt zur Arterhaltung«, maulte Roux.
»Sie sind es, der die Sache in die Länge zieht«, erwiderte der Beamte.
Roux nickte Harris zu, und der löste widerwillig den grünen Deckelrand vom Behälter.
Was sie sahen, war klein wie eine Kinderfaust und besaß eine Struktur wie ein Gehirn. Es war gräulich und glänzte feucht.
»Nicht anfassen!«, befahl Roux.
Der Beamte nahm ein Handy aus einem Futteral, das er am Gürtel trug, und machte ein Foto. Dann gab er das Zollgut frei.
So kam Sabu in die Schweiz.
28. April 2013
Auf dem nassen Parkplatz spiegelten sich ein paar wenige Autos und einige erleuchtete Fenster der ehemaligen Drahtfabrik, die nun zu einem Bürogebäude umgebaut worden war. Es waren die Räume der Gentecsa auf der zweiten Etage, in denen noch Licht brannte.
Roux und zwei Assistentinnen standen um einen Tisch aus Edelstahl, über Miss Playmate gebeugt, wie die Assistentinnen die Laborratte getauft hatten.
Miss Playmate hieß so, weil sie nackt war. Sie war eine kastrierte, exogen auf die Belange des Elefantengewebes eingestimmte Nude-Ratte, eine Laborratte, der der Thymus fehlte, damit sie keine T-Lymphozyten ausbildete. Denn die waren für die Abstoßung von Implantaten verantwortlich. So konnte Roux ihr das mit Tausenden von Eizellen besetzte kleine Stück Rinde vom Eierstock einpflanzen, ohne dass sie das fremde Gewebe abstieß.
Miss Playmate war anästhesiert und lag unter der gleißenden OP-Leuchte, alle viere gespreizt und mit Gummibändern fixiert. Ihre Bauchdecke war aufgeschnitten, und Roux arbeitete mit Skalpell und Pinzette in ihrem Innern. Eine der Assistentinnen hielt mit kleinen Retraktoren die Wunde offen, die andere reichte ihm die Instrumente, die er barsch verlangte, und tupfte ihm in immer kürzeren Abständen den Schweiß ab, der zwischen Haubenrand und Mundschutz von den getrimmten Brauen tropfte.
Es ging darum, Miss Playmate ein Stück Ovarrinde von dem Elefantenbaby aus Sri Lanka mit Tausenden noch nicht befruchtungsfähigen Eizellen einzusetzen. Dort konnten sie ausreifen. Nach etwa einem halben Jahr würde Roux sie genetisch modifizieren können.
Er hatte die Operation schon oft gemacht, davon zeugten die Spitzhörnchen, Rhesusaffen und Kaninchen, die in den abgedunkelten Räumen entlang des Korridors grünlich, bläulich und rötlich leuchteten. Aber dies war seine erste Elefanteneizelle. Und der Elefant, den er mit ihr erschuf, würde – wenn alles gutging – nicht nur im Dunkeln leuchten, seine Haut wäre auch bei Tageslicht von kompaktem Rosa.
Das war nämlich seine große Entdeckung, von der nur seine Mitarbeiterinnen und seit einiger Zeit leider auch ein stiller Teilhaber wussten. Es war ihm gelungen, in die Eizellen eine Kombination aus Luziferin und dem Pigment von Mandrillaffen zu integrieren!
Luziferine sind Stoffe, die zum Beispiel Glühwürmchen zum Leuchten bringen. Und Mandrillaffenpigment ist der Stoff, der die Farben in Gesicht und Hintern der Mandrillaffen erzeugt. Roux hatte das Rot der Nase verwendet.
Das schönste Resultat dieser Experimente war Rosie, ein Skinny Pig, ein haarloses Meerschweinchen. Roux hatte die beiden Gene in die Eizelle injiziert, diese befruchtet und in die Gebärmutter eines normalen Meerschweinchens eingepflanzt.
Nach zwei Monaten gebar die Leihmutter zwei pinkfarbene Meerschweinchen. Eines davon war tot. Aber das zweite, Rosie, lebte, sah aus wie aus Marzipan und leuchtete im Dunkeln wie eine wandelnde Leuchtreklame.
Und zwar ohne dass sie von Licht in einer bestimmten Wellenlänge angeleuchtet werden musste, liebes Nobelpreis-Komitee! Rosie leuchtete! Sie reflektierte nicht nur einfach, wie die Versuchstiere von Professor Dr. Richard Gebstein!
Gebstein war Roux’ Arbeitgeber gewesen. Er war der Leiter und Besitzer eines gentechnischen Labors, das unter anderem an der Markierung von Genen forschte, eine Arbeit, bei der oft fluoreszente Proteine oder Enzyme eingesetzt wurden. Roux kam direkt nach seiner Promotion zu Gebstein und arbeitete bei ihm fast zehn Jahre lang als unterbezahlter Forscher.
In dieser Zeit gelang es ihm – halb zufällig, halb absichtlich –, eine leicht grünlich fluoreszierende Ratte zu generieren. Und da machte er den großen Fehler, sie seinem Chef zu zeigen. Gebstein war hocherfreut, gab ihm eine nicht eben großzügige Gehaltserhöhung und stellte ihn frei für die Forschung an dieser Entdeckung. Unter der Auflage, niemanden in diese einzuweihen.
Roux arbeitete Tag und Nacht an seinem Geheimprojekt, und in weniger als einem Jahr gelang ihm die Wiederholung des Experiments. Sein Chef feierte ihn gebührend, doch nur ein paar Wochen nach diesem Erfolg war plötzlich Sand im Getriebe. Es begann mit einem Streit über eine Lappalie. Roux hatte sein Mittagessen, das wie immer aus einem Sandwich bestand, im Labor verzehrt, und Gebstein hatte ihn dabei erwischt. Essen in einem gentechnischen Labor dieser Sicherheitsstufe war zwar eine Verletzung des Reglements, aber noch nie hatte sein Chef eine Bemerkung darüber gemacht, die über »guten Appetit« hinausging. Diesmal hatte er ihn angeschnauzt. Und Roux hatte zurückgeschnauzt.
Das war der Anfang eines Zerwürfnisses, das in kurzer Zeit zu Roux’ Entlassung geführt hatte. Und von dem er spätestens dann wusste, dass Gebstein es absichtlich herbeigeführt hatte, als er dessen Publikation zu den Zwischenergebnissen von Roux’ Experimenten las. Roux selbst war mit keinem Satz erwähnt.
Die Publikation erregte viel Aufsehen in der Welt der Wissenschaft und auch in der des Journalismus und wurde sogar in der Forschung von Roger Tsien, Martin Chalfie und Osamu Shimomura zitiert, die für die Entdeckung von grün fluoreszierenden Proteinen und deren Anwendung mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet worden waren. Zu Roux’ großer Schadenfreude wurde Gebstein in der Begründung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften mit keiner Silbe erwähnt.
Seither war Roux auf Rache aus. Er hatte ein eigenes gentechnisches Labor gegründet, das nur einem einzigen Firmenzweck diente: das von Gebstein zu konkurrenzieren und zu überflügeln. Der Gedanke daran verlieh ihm seit Jahren die Kraft und Energie, Nächte durchzuarbeiten, vor Bankangestellten Bücklinge zu machen und immer wieder Wege zu finden, den Konkurs abzuwenden.
Der wissenschaftliche Erfolg des Unternehmens war immer nebensächlicher geworden und der kommerzielle immer nötiger.
Sein Projekt besaß das Potential, den doppelten Durchbruch zu schaffen: den finanziellen und den wissenschaftlichen. Wenn es ihm gelang, patentierbare Tiere zu generieren, die nicht nur im Dunkeln leuchteten, sondern auch bei Tageslicht eine spektakuläre Farbe besaßen, war er in jeder Beziehung ein gemachter Mann.
Wenn er in seinen kurzen Nächten keinen Schlaf fand, stellte er sich das Gesicht von Gebstein vor – den gepflegten weißen Bart, die gefönten weißen Haare, die fiedrigen weißen Brauen, die goldene randlose Brille, die ganze auf gelehrt getrimmte Visage –, wenn er ihm das Übernahmeangebot machte, das so gewaltig sein würde, dass er es nicht ablehnen konnte.
Roux nähte Miss Playmate wieder zu und gab sie in die Obhut von Vera, die nicht nur seine Assistentin, sondern auch seine Tierpflegerin war.