Über die deutschen und europäischen Krisen der Gegenwart
Kommentare und Essays 2015 – 2016
Impressum
© 2016 Tichys Einblick GmbH
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: kb agentur, Lohmar
ISBN 978-3-9818398-0-7
Zur Einführung
I. |
Etwas geht zu Ende |
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Ausgewählte Kommentare aus dem Jahr 2015 |
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Etwas geht zu Ende |
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Frau Doktor Merkels Glückstherapie |
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Politik als Verhaltenssteuerung |
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Jenseits von Recht und Gesetz (Griechenland I) |
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Europas Angst und Hochmut (Griechenland II) |
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Trennen, was nicht zusammengehört (Griechenland III) |
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Die Wahl, die wir haben |
II. |
Der Migrationsmythos |
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Eine Artikelserie aus dem Jahr 2015 |
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Die Diktatur des Rettens |
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Der Inbegriff des Bösen: die Abschiebung |
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Die Grenzlüge |
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Wer Grenzen stürmt, wird nirgendwo heimisch werden |
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Die falsche regulative Idee: „Integration“ |
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„Sie haben es nicht geschafft“ |
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Die Geschichte vom tausendundersten Menschen |
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Die Theologie der Migration |
III. |
Die Selbstherrlichen |
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Ausgewählte Kommentare aus dem Jahr 2016 |
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Der Landfrieden ist gebrochen |
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Merkels Protektorat |
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Die Selbstherrlichen |
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Eine Art Ablasshandel |
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Idomeni und die neuen „Weltbürger“ |
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Die Lernkrise |
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Eine Tür ins Freie (Brexit I) |
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Europa hat die Farbe gewechselt (Brexit II) |
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To be or not to be a State (Brexit III) |
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Der zweite Dammbruch |
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Die alltägliche Erpressung |
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Wo ist die Verteidigungslinie der Bundesrepublik? |
IV. |
Perspektiven |
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Zwei Essays |
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Der große Kurzschluss |
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Über die Souveränität |
Endnoten
Biographische Angaben
Zeitungsartikel haben ihre eigene Logik. Sie sind sehr eng am Ablauf der Ereignisse gebaut. Das ist keine willkürliche Entscheidung der Journalisten, sondern dem Aktualitäts-Zwang, dem sowohl Printmedien als auch Online-Medien unterliegen, geschuldet. Diese Abhängigkeit von der fremden Macht des Geschehens hat Nachteile und Vorzüge. Auf der einen Seite fügen sich die Ereignisse nicht willig in eine Gesamtordnung. Das Geschehen ist oft sprunghaft und auch irrlichternd. Das Auffällige, das sich zunächst in den Vordergrund schiebt, ist nicht immer das Wichtigste. Und doch hat es auch Vorzüge, dass ein Zeitungsartikel den Dingen so folgen muss, wie sie sich ereignen. Der Journalist ist gezwungen, sich dem wirklichen Geschehen zu unterwerfen. Er kann das Geschehen nicht einfach aus einer Idee „ableiten“. Der Aktualitätszwang ist ein Realitätszwang. Ohne die Fähigkeit zur Beobachtung funktionieren weder Zeitung noch Blog. Natürlich gibt es die Aufgabe der Einschätzung und der Beurteilung des Geschehens. Aber sie ist der Aufgabe der Beobachtung nachgeordnet. So hat sich im Zeitungswesen die Regel herausgebildet, Bericht und Kommentar zu trennen. Mit dieser Regel steht und fällt die Transparenz der Medien. Sie ist ein Grundpfeiler der modernen Medienkultur. Erst auf diesem Niveau von „Sachlichkeit“ können die Medien beanspruchen, die Rolle einer „vierten Gewalt“ in der Republik zu spielen.
Diese Rolle ist gefährdet, wenn in den Redaktionsstuben der Glaube um sich greift, die Wirklichkeit sei nur ein „Konstrukt“. Und wenn entsprechend „konstruiert“ wird. Genau da haben wir gegenwärtig ein Problem. Es gibt eine unübersehbare Tendenz, die Berichterstattung selektiver zu gestalten, sie stärker „aufzubereiten“. Allzu häufig fühlen sich Medienleute berufen, das Geschehen sogleich „einzuordnen“. Der Leser oder Hörer wird bei der Hand genommen und in seiner Meinungsbildung aufs Engste betreut. Das geschieht hierzulande häufig mit der Begründung, das deutsche Publikum sei besonders anfällig für übertriebene Ängste oder für gefährliche „rechtspopulistische“ Vorurteile. Ein solcher Generalverdacht gegen das Publikum ist in der Geschichte der Bundesrepublik ein Novum und eigentlich eine kuriose These: Warum sollte nach Jahrzehnten demokratischer Stabilität nun auf einmal im Volk eine rechtsradikale Neigung auftreten? Ist es nicht viel plausibler, dass sich in Deutschland und Europa Probleme entwickelt haben, die mit den in den vergangenen Jahrzehnten „modernisierten“ politischen Mitteln nicht zu lösen sind? Und dass es schwerfällt, diese neuartige Problemlage zu erfassen? Und dass viele Medien, weil sie nicht an ihrer Beobachtungsfähigkeit arbeiten, kurzerhand das Publikum zum Problemfall erklären?
Fakt ist, dass der nüchterne Blick auf „die Sache selbst“ gelitten hat. In Artikeln, die als „Berichte“ auftreten, werden zunehmend subjektive Einschätzungen und Werturteile eingeflochten. Ohne Rücksicht auf den berichteten Sachverhalt werden suggestive Oberbegriffe eingesetzt – wie zum Beispiel die Bezeichnung „Flüchtling“ für die Gesamtheit der Migranten. Das geschieht selten auf ausdrückliche Anweisung von oben. Eher hat sich im Milieu der Medien eine Neigung entwickelt, das eigene Weltbild und die eigene Schreibkunst über die Beobachtung des Geschehens zu stellen und sich als Konstrukteur oder sogar als „Künstler“ der Wirklichkeit zu verstehen. So tut sich eine wachsende Kluft zum Leser auf. Oder mit einem mit einem Goethe-Wort gesagt: „Man merkt die Absicht und ist verstimmt“.
Für diesen Vorgang gibt es ein Schlüsselwort: die „Erzählung“. In der Politik hört man vielfach die Forderung, Europa müsse wieder eine überzeugende „große“ Erzählung finden, um die Menschen positiv einzunehmen. Generell soll für den Erfolg oder Misserfolg von Regierungen, Parteien, Unternehmen, Forschungseinrichtungen et cetera entscheidend sein, über welches „Narrativ“ sie verfügen. Das hat erhebliche Folgen für die Medienkultur. In der Erzählung verschwimmt das System von Bericht und Kommentar. Die Autorität der Sache, über die berichtet wird, wird herabgesetzt. Zugleich ist eine Erzählung auch kein deutlich zuzuordnender Kommentar. Sie ist nicht nur ein Betrag zur Meinungsbildung, sondern tritt als integraler Teil einer ganzen Geschichte auf. Die Erzählung ist den Ereignissen wertend übergeordnet. Das Geschehen ist darauf reduziert, nur noch als Illustration für die schon vorgefertigte Geschichte zu dienen. Das ist monoton und eng. Es fehlt die freie, frische Luft eines äußeren Geschehens, eines äußeren Weltganges, der die Menschen immer wieder überrascht und zu Anpassungen zwingt. Die Medien werden langweilig, ihre Artikel und Kommentare werden berechenbar. Und diese Monotonie wird allumfassend, wenn das Leitwort der „Globalisierung“ heißt – was eigentlich ein Nullwort ist, das alle sperrigen Konturen, alle Höhen und Tiefen, alles krumme Holz dieser Welt zusammenschrumpft.
Demgegenüber will das vorliegende Buch nicht einfach eine Gegenthese liefern. Es will überhaupt keine große Erzählung sein. Es versucht nicht, unsere Gegenwart in einem einzigen, geschlossenen Text zu fassen. Es will in Inhalt und Form ein journalistisches Buch im klassisch-modernen Sinne sein. Es versteht sich als Beitrag zu einer kritischen Öffentlichkeit, die viel breiter angelegt sein muss, als die Vorstellung „große Erzählung“ es fassen kann. Das vorliegende Buch versammelt ausgewählte Kommentare und Essays aus den Jahren 2015 und 2016. Es besteht also aus Einzeltexten, von denen jeder für sich einen Teilbeitrag in einer spezifischen Situation darstellt. Die Texte arbeiten kein vorgefasstes Programm ab, sondern reagieren auf spezifische Ereignisse. Sie versuchen, an den Ereignissen prinzipielle Merkmale und Probleme herauszuarbeiten. Gewiss gibt es keinen Text, bei dem nicht Vorerfahrungen und Überzeugungen, die der Autor schon mitbrachte, eine Rolle spielen und seine Blick gelenkt haben. Und dennoch bedeutet das nicht, dass damit die Texte in ihrer wesentlichen Aussage schon feststanden.
Gewiss habe ich einzelne Entwicklungen in der Bundesrepublik und in Europa seit den 90er Jahren mit Skepsis verfolgt. Die Essays, die ich zwischen 2001 und 2006 für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ geschrieben habe, und die Kommentare, Leitartikel und Essays, die ich zwischen 2007 und 2015 für die „Welt“ und die „Welt am Sonntag“ verfasst habe, zeigen einen bestimmten „Anfangsverdacht“: Den Verdacht, dass zwei Korrektive, auf die die liberale und zivilgesellschaftliche Tradition in der Bundesrepublik setzt, nur begrenzt funktionieren – der „Markt“ als Korrektiv einer wuchernden Sozialpolitik und das europäische „Immer-Enger-Vereint“ als Korrektiv gegenüber blockierenden Besitzständen. Trotz dieses Verdachts war ich davon überzeugt, dass sich doch relativ leicht eine politische Mehrheit formieren könnte, die zu stärkeren Korrekturen in der Lage wäre – weil die Institutionen der Bundesrepublik und auch das Führungspersonal intakt schienen. Diese Überzeugung habe ich heute nicht mehr. Die Kommentare und Essays, die in diesem Buch versammelt sind, legen davon Zeugnis ab. Sie sind insofern Zeitzeugnisse, als sie nicht mit dem Gestus geschrieben wurden, dass ich es eh’ schon immer gewusst und gesagt habe. Es gab und gibt bei mir ein Erstaunen und ein Erschrecken darüber, was gegenwärtig mit Deutschland und Europa geschieht. Darüber, wie es möglich sein kann, dass in nur wenigen Monaten und Jahren Eckpfeiler unserer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ordnung zur Disposition gestellt wurden. Dies Erstaunen und Erschrecken teile ich sicher mit vielen Menschen in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern.
Der Titel des Buches lautet „Etwas geht zu Ende“. Das ist natürlich ein etwas vager Titel. Irgendwas geht immer zu Ende. Deshalb will ich in dieser Einführung, kurz das Bild skizzieren, das sich für mich aus der Zusammenschau der hier versammelten Texte ergibt. Es gibt fünf Merkmale:
Erstens: Es gibt einfach harte Tatsachen, die dem Bild des eifrigen Bemüht-Seins widersprechen, und die demjenigen, der an der richtigen Stelle hinschaut, nicht verborgen bleiben. Auf den Großbaustellen der Politik (Energiewende, Überschuldung, unkontrollierte Immigration) ist die Bilanz negativ. Die Lösungen fassen nicht die Grundprobleme. Deshalb vergrößern sich Tag für Tag die Kosten und Belastungen des Lebensalltags der Bürger.
Zweitens: Auf lange Sicht noch gravierender sind die Verluste, die es bei den Institutionen gibt. Die Transparenz und Verlässlichkeit der Gesetze und die Ahndung von Gesetzesbrüchen hat dramatisch abgenommen. Das „Steuern auf Sicht“ und der Appell an das „miteinander reden“ bestimmt nun das Regieren. Die Nichteinhaltung von Verträgen und die Nichtausübung von Hoheitsrechten sind zur Normalität in Deutschland und Europa geworden.
Drittens: Diese Verluste sind nicht das Ergebnis eines großen Unglücks oder einer fremden Macht, die über Deutschland und Europa hereingebrochen ist, sondern das Ergebnis einer eigenen Wahl: Es wurde auf die physischen Mühen und die institutionellen Härten, die zu den klassisch-modernen Formen von Wirtschaft und Staat gehören, verzichtet. Dies war kein notwendiger, sondern ein mutwilliger Verzicht.
Viertens: Die deutsche und europäische Krise, deren Zeitzeugen wir sind, ist eine Krise dieses Verzichts. Nicht die Moderne versagt, sondern jene gemütlicheren, milderen Ersatzformen, die man an die Stelle von Mühen und Härten gesetzt hat. Dies Krisen-Muster zeigt sich beim Abschalten der Kernenergie, bei der Verschleppung der Schuldenkrise, beim fehlenden europäischen Grenzschutz und – schon länger – in der Leistungskrise im Bildungswesen. Die Ersatzformen versagen, die Hoffnung auf ihre motivierende Kraft hat getäuscht. Ernüchterung und Erschöpfung machen sich breit.
Fünftens: Zum Bild der Gegenwart gehört aber auch das blinde und inzwischen abenteuerliche Weiter-So auf diesem Kurs. Er wird mit immer wieder neuen, erweiterten Mitteln fortgesetzt, die sich dann wieder als unzureichend erweisen – wie bei der Politik des billigen Geldes. Das deutet darauf hin, dass hier nicht nur politische Irrtümer vorliegen, sondern massive Interessen eines „globalisierenden“ Milieus im Spiel sind, die sich in der Revision der Moderne bestens eingerichtet haben.
Das „Etwas geht zu Ende“ soll in diesem Sinn verstanden werden. Es ist nicht die Moderne, die zu Ende geht, sondern der vor etlichen Jahrzehnten begonnene Versuch ihrer Revision. Hier wird also nicht der kulturpessimistischen These einer Dekadenz des Westens das Wort geredet. Eher im Gegenteil: Der Kurs des Abbaus moderner Institutionen hat sich in gravierende Widersprüche verheddert und zeigt nun seine Schattenseiten und eine verheerende Bilanz. Das Zu-Ende-Gehen soll aber nicht heißen, dass die Sache sich von selber erledigt. Es wird Anstrengungen kosten, physische Anstrengungen und institutionelle Anstrengungen, um aus dieser Krise Deutschlands und Europas herauszukommen. Von den zahlreichen Leserzuschriften, die ich in den vergangenen Monaten bekommen habe, berühren viele diesen Punkt: Wie soll man das alles ändern? Diese Frage trifft ein tatsächliches Problem. Die Kräfte der Veränderung müssen über eine schwierige „Schwelle“ hinwegkommen, um wirklich zum Zuge zu kommen. Dabei ist es mit Demonstrationen und Plebisziten nicht getan. Institutionen müssen wiederhergestellt werden, und mehr noch: In einer Zeit, in der alles angeblich vom „richtigen Kommunizieren“ abhängt, muss der Sinn für die physischen Mühen der Zivilisation und für die praktische Wehrhaftigkeit von Institutionen wiedergefunden werden.
Die vorliegende Text-Sammlung kann auf diese Frage nur auf ihre Weise – das heißt mit journalistischen Mitteln – antworten. Ich kann allenfalls die Richtung herausarbeiten, wie sie sich im Gang der Ereignisse zeigt. So bilden die Kommentare und Essays dieses Buchs eine Art Chronik, die insgesamt ein Zeitzeugnis ist – mit allen Unschärfen und Unklarheiten der Gegenwart. Der Bogen spannt sich vom ersten Text, dem Kommentar „Etwas geht zu Ende“ (vom Januar 2015) bis zum Essay „Über die Souveränität“ (August 2016). Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt umfasst Texte zu verschiedenen Themen aus dem Jahr 2015, danach folgt eine Serie von acht Texten, die 2015 unter dem Titel „Der Migrationsmythos“ publiziert wurde. Im dritten Abschnitt finden sich zwölf Texte zu verschiedenen Themen aus dem Jahr 2016 und den Schluss bilden zwei längere Essays, die das Geschehen in weiteren Perspektiven darstellen.
Die Texte wurden redaktionell überarbeitet, aber es wurden keine späteren Erkenntnisse des Autors rückwirkend eingearbeitet. So kann der Leser die Spuren der Situation, in der ein Kommentar oder Essay geschrieben wurde, erkennen. Es handelt sich in erster Linie um Texte, die auf der Webseite „Tichys Einblick“ veröffentlicht wurden, aber auch um Texte, die auf der Webseite „Die Achse des Guten“ und den Webseiten der Zeitschrift „Novo Argumente“ und des Deutschen Arbeitgeberverbandes (DAV) erschienen sind. Einige Texte sind, manchmal in leicht veränderter Form, mehrfach erschienen.
Das Zeitzeugnis, das dies Buch bieten kann (und das ich überhaupt zu geben vermag), ist natürlich sehr beschränkt. Das Panorama ist unvollständig, es fehlen wesentliche Seiten – zum Beispiel eine nähere Betrachtung des wirtschaftlichen Geschehens und der Arbeitswelt. Es muss auch klargestellt werden, dass es sich nicht um ein wissenschaftliches Buch handelt. Angesichts der Tatsache, dass ich auch als Privatdozent an einer Universität in Forschung und Lehre tätig bin, könnte die falsche Erwartung entstehen, dass hier eine wissenschaftliche Analyse vorgelegt wird. Doch gibt es allenfalls einige Berührungspunkte zwischen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit (im Bereich Stadtplanung und Raumordnung) und den Themen dieses Buchs, etwa bei der Bedeutung territorialer Grenzen oder beim „rationalen Staat“, der in verschiedenen Texten anklingt. Daher gilt insgesamt: Dies Buch ist ein journalistischer Beitrag.
Wir wissen nicht, welche Formen die Krise in den kommenden Jahren annehmen wird und welche Wege sich eventuell eröffnen werden. Für den Moment ist es sicher ein wichtiges Anliegen, überhaupt den Raum sicherzustellen, in dem die weitere Entwicklung der deutschen und europäischen Krisen beobachtet und vernünftig erörtert werden kann. Angesichts massiver Tendenzen, die öffentliche Meinung zu steuern und ihr Spektrum einzuengen, fällt den liberal-konservativen Kräften die Aufgabe zu, für alle Bürger eine unabhängige Öffentlichkeit – im eingangs angesprochenen Sinn – zu verteidigen und ihr dauerhafte Strukturen zu geben.
Gerd Held, 31. August 2016
Während die ständigen Modernisierungen immer weniger halten, was sie versprechen, rückt die Verteidigung der Grundordnung der Moderne wieder in den Vordergrund.
31. Januar 2015
Den Pegida-Demonstrationen scheint vorerst die Spitze abgebrochen zu sein, und in Berlin-Neukölln tritt der SPD-Realo Buschkowski zurück. Die Wohlgesinnten und Schönsprecher im Lande jubeln. Sie denken, dass man nun alles, was in den letzten Wochen an neuen Tönen in der Republik hörbar war, begraben kann. Und doch hat hier ein Lehrstück stattgefunden: Die Dresdener Demonstrationen haben gezeigt, dass es jenseits der etablierten Politik nicht nur eine stumme und stumpfe Masse von orientierungslosen „Nichtwählern“ gibt. Nein, es ist deutlich geworden, dass es hier ein Anliegen gibt. Es ist allerdings ein Anliegen, das ungewohnt ist. Es ist konservativ. Es will verlässliche Regeln und die Wahrung der Errungenschaften dieses Landes. Größere konservative Demonstrationen, die außerparlamentarisch aus der Bevölkerung heraus entstanden, hat man in der Bundesrepublik bisher selten gesehen. Im Grunde sind sie etwas Neues in ihrer Geschichte. Nun zeigt sich, dass konservative Anliegen eine bedeutende Zahl von Menschen mobilisieren können. Das zu wissen, ist gut. Die Menschen werden darauf zurückkommen.
Ein noch größeres Lehrstück wurde allerdings auf der Gegenseite aufgeführt. Man hätte ja erwarten können, dass die Öffentlichkeit und ihre prominenten Akteure den Neuankömmlingen mit einem Mindestmaß an Interesse begegnen. Das gehört eigentlich zur Meinungskultur einer offenen Gesellschaft. Doch stattdessen ist etwas geschehen, was für die Bundesrepublik mindestens so ungewohnt ist wie die Dresdener Demonstrationen selber: Die Reaktionen waren fast durchweg negativ, sogar schroff abweisend – warnend, zensierend, verdrehend, blockierend, verdunkelnd, verdächtigend, bevormundend. Man wollte einfach nicht zuhören. Man wollte sich nicht in seinen Ansichten irritieren lassen und versuchte, die Demonstranten mit diffamierenden Begriffen („Rassismus“, „Neonazis“) ins Abseits zu stellen oder mit psychologischen Diagnosen („Angstbürger“) zum Arzt zu schicken. Selten hat man so plumpe Versuche gesehen, öffentlich (und friedlich) geäußerte Meinungen abzufertigen. Und noch nie hat man einen solchen Schulterschluss gesehen, mit der diese plumpen Mittel eingesetzt werden. Es bildete sich eine Art heilige Allianz: Die Regierungskoalition, die Parteien der parlamentarischen Opposition, die Gewerkschaften, die Unternehmensverbände, die Kirchen – niemand wollte bei diesem Ritual der Selbstbestätigung fehlen. Und die wichtigsten Medien sahen ganz unverkennbar ihre Aufgabe darin, die Negativreaktionen zu verstärken und zu ermutigen. Dass dies durch die öffentlich-rechtlichen Medien geschah, die schon durch ihre Besetzung den Mainstream abbilden, war nicht erstaunlich. Aber auch eine so maßgebende, unabhängige Instanz wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung machte mit.
Damit wurden Zeichen gesetzt, die ihren Platz in der Geschichte der Bundesrepublik finden werden: Der Bundesjustizminister lässt sich in Berlin vor einem Transparent „Stoppt Neonazis“ fotografieren, und dies Bild, das jeder Betrachter als Beleg für eine neue NS-Gefahr in Deutschland ansehen muss, geht um die Welt. Gleichzeitig lassen Stadtverwaltungen, öffentliche Einrichtungen und Kirchen während der missliebigen Demonstrationen die Beleuchtung von Gebäuden und Straßen abschalten. Während sonst jede demokratische Öffentlichkeit auf die heilsame Wirkung von „mehr Licht!“ setzt, wird auf einmal auf das Dunkel gesetzt, das schon immer das Mittel der Gegenaufklärung war. Und dann ist da die Neujahrsansprache der deutschen Bundeskanzlerin. Sie wird in die Geschichte der Bundesrepublik als die erste Ansprache eingehen, die Bürger von der Teilnahme an einer Demonstration abzuhalten versuchte.
Bei diesem Augen-Zu-Und-Weiter-So liegt der Verdacht nahe, dass etwas mit der Realentwicklung des Landes schief läuft, und die Akteure, die es bisher geführt haben, nicht die Kraft aufbringen, dem offen ins Auge zu sehen. Dabei sollte man nicht gleich an eine große Krise denken oder gar an einen dramatischen Zusammenbruch. Eher wäre zu prüfen, ob es nicht ein allmähliches Erlahmen der Kräfte gibt; eine wachsende Abhängigkeit von Förder- und Dopingmitteln; eine zunehmende Zähigkeit der Verhältnisse; einen stetig wachsenden Mitteleinsatz, um immer kleinere Fortschritte zu erzielen.
Gewiss kann darauf verwiesen werden, dass die Bilanzen des Landes noch stimmen – wenn man nur auf das schaut, was dort unterm Strich steht (Beschäftigtenzahl, Außenhandel, „schwarze Null“ beim Bundeshaushalt). Doch verschlechtert sich das Bild, wenn man auf das schaut, was über dem Strich steht. Wenn man auf den wachsenden Aufwand schaut, der nötig ist, um die Resultate zu erreichen: Auf die Arbeit in den Betrieben und auf die wachsenden Anforderungen, um ein Unternehmen am Laufen zu halten; auf das zähe Vorankommen auf vielen kleinen und großen Baustellen; auf die Erschwernisse bei der Energieversorgung oder den Engpässen im Verkehr; auf die nachlassende Fähigkeit von Schulen und Hochschulen, berufsbereite Absolventen zu bilden; auf die Ausfälle im Pflegealltag der Altenheime und der ambulanten Versorgung; auf die Tatsache, dass Unternehmensgründungen vor allem auf geförderten Märkten stattfinden; auf die ernüchternde Erfahrung, dass zwei große „Zukunftsprojekte“ – Energiewende und Mindestlohn – sich nicht als Befreiungsschläge erweisen, sondern teure und zerstörerische Dauerbaustellen.
Noch etwas ist unübersehbar. Die guten Zahlen ändern nichts daran, dass elementare Dinge des Lebens immer schwerer gelingen: Die Stabilität der Familien und ihre Bereitschaft, Kinder zu bekommen und aufzuziehen, ist nicht sehr groß – trotz eines immer größeren Förder- und Beratungsaufwands. Offenbar können die sich immer höher auftürmenden Förderkulissen des Sozialstaats kein hinreichendes Motiv bilden, damit die Menschen mit Freude ihren Alltag angehen und Nachkommen in die Welt setzen.
Wenn die elementaren Dinge des Lebens als belastend empfunden werden, ist das ein Indiz, dass etwas zu Ende geht. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass die großen „Aufbrüche“ immer kürzere Halbwertszeiten des Verfalls haben. Und nun kommt die griechische Krise zurück und zeigt, dass diese Erschöpfungskrise im europäischen Maßstab stattfindet. Die Strategie „Rettungskredite gegen Reformzusagen“ hat sich festgefahren. Auf einmal sind wir Geisel der Kredite, die wir als Vorleistung erbracht haben. Und ist es nicht ganz ähnlich im eigenen Land, wo zum Beispiel in der Bildungspolitik alle möglichen Lockerungen eingeführt wurden, aber die versprochene Leistungssteigerung ausbleibt? Auch hier hat sich etwas festgefahren, was als großer Aufbruch begann. So geht gegenwärtig an vielen Fronten etwas zu Ende, das die Geschäftsgrundlage der letzten Jahre und Jahrzehnte war.
Vor diesem Hintergrund ist die wachsende Forciertheit des „Zeichen-Setzens“, mit der die Politik gegenwärtig die Öffentlichkeit zu besetzen versucht, im Grunde ein Zeichen der Schwäche. Die Appelle an den „Mut“ und andere moralische Antriebsmittel klingen nach Pfeifen im Walde. Und die „Geschlossenheit“ der etablierten Kräfte, die auf den ersten Blick so einschüchternd wirkt, zeigt nur, wie weit sich diese Kräfte von den Realentwicklungen im Lande abgeschlossen haben.
Wenn in diesen Tagen das Gefühl wächst, dass etwas nicht weitergehen kann, ergibt sich die Frage, was da eigentlich erschöpft ist. Bisher war es der „progressive“ Mainstream, der alles Mögliche für beendet erklären wollte. Etwas für „überholt“ zu erklären und „Modernisierungen“ zu fordern, war schon zu einem Ritual geworden. Und es waren immer Bestände, die zur Grundordnung von Wirtschaftssystem, Staatsautorität und Familie gehörten, die für überholt erklärt wurden – weil sie zu starr und zu „kalt“ seien. So wurde die Schuldenkrise als „Versagen des Kapitalismus“ gedeutet; in den Schwierigkeiten bei Großprojekten wie Stuttgart 21 wurde ein „Versagen der parlamentarischen Demokratie“ gesehen; die Probleme mit Kinderzahl und Demographie wurden zum „Versagen der Familie“ gemacht. Damit wurden durchaus nicht vorsintflutliche Relikte in Frage gestellt, sondern Eckpunkte der Moderne: Die Schlüsselrolle der Unternehmen im Wirtschaftsleben (Privateigentum, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit), die Hoheitsrechte des Gesetzgebers (Schlüsselrolle der frei gewählten Parlamente), die Familie als Grundelement der gesellschaftlichen Eigenverantwortung (im Grundgesetz ausdrücklich geschützt). Der progressive Mainstream stand also im Grunde mit der in Deutschland gar nicht so alten freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf Kriegsfuß. Zu diesem Mainstream, der uns erklärt, dass wir eine ganz neue Modernisierung brauchen, die für das 21. Jahrhundert oder gar „das dritte Jahrtausend“ erforderlich sein soll, gehört inzwischen auch die wichtigste Gründungspartei der Bundesrepublik, die CDU/CSU.
Schaut man allerdings genauer auf die aktuellen Probleme und Krisen, ist dieser Abschied von der klassischen Grundordnung der Moderne überhaupt nicht logisch. Denn die Probleme machen sich heute gerade dort bemerkbar, wo die Grundelemente der Moderne außer Kraft gesetzt wurden. Die Schuldenkrise war nur durch eine neue Macht der Finanzdienstleister möglich, die die Rechte der Kapitaleigner aushebelte. Die zunehmende Unfähigkeit der öffentlichen Hand, eindeutige Richtungsentscheidungen zu treffen und durchzusetzen, liegt daran, dass die Hoheitsrechte des Parlaments durch andere Mächte durchkreuzt werden: durch Lobby- und Bürgergruppen, durch eine Justiz, die zunehmend eine eigene Politik verfolgt, durch europäische Instanzen, die sich als übergeordnete Legislative gebärden. Die Familien sehen ihre Rolle durch andere Lebensmodelle untergraben – insbesondere durch eine Individualisierung, die die familiären Einheiten auflöst und ihre Selbstverantwortung durch öffentliche und private Dienstleistungen und Berater ersetzt.
Diese Schwächung der klassischen Moderne läuft seit mehreren Jahrzehnten. Sie ist seit längerer Zeit die Signatur der Epoche, in der wir leben. Wir leben in einer Zeit, in der ständig an der Moderne herumgebastelt wird. In der sie eingeschränkt und revidiert wird. Diese Revidierung der Moderne erfolgt oft im Namen humaner oder ökologischer Anliegen. Fast immer sind es „freundliche“ und „mildernde“ Korrekturversuche, die sich damit legitimieren, dass sie Härten vermeiden sollen. Das können die Härten der Kapitalbildung und der Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit sein. Das können die Härten staatlicher Normen sein, wenn man etwa an die Schulzensuren denkt. Oder an die Härten, die große Baumaßnahmen für einzelne Bürger mit sich bringen können. Fast immer sind die Revisionen von Grundelementen der Moderne mit dem Versprechen einer leichteren Lösung von Problemen und eines schnelleren Glücks verbunden. Auch der politische Wettbewerb dreht sich inzwischen um diesen Glücks-Service.
Man sollte es offen zugeben: Diese Revision der Moderne ist verführerisch. Sie verspricht einen leichteren Weg zum Glück, der die „Umwege“ über Kapitalbildung, staatliche Hoheitsmacht und familiären Treuepflichten überflüssig macht. Man sollte auch nüchtern konstatieren, dass diese Revision zunächst einmal gewonnen hat. Wir leben nicht mehr in jener freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die der Gründergeneration der Bundesrepublik vorschwebte. Wir leben auch nicht mehr in jener Wirtschaftsordnung, mit der die Sozialdemokratie im Godesberger Programm ihren Frieden geschlossen hat. Und es gibt noch ein drittes Stück Wahrheit, das jetzt zunehmend sichtbar wird: Die Revision der Moderne war mit dem Versprechen verbunden, dass durch die Lockerung der Grundordnung ganz neue Kräfte geweckt würden. Dass die Geförderten stärker motiviert sein würden und zu größeren Schritten fähig sein würden. Dies Versprechen erweist sich nun als trügerisch. Die Verhältnisse sind zäher geworden. Wir haben ein Motivationsproblem im Land, teilweise sogar eine Rückkehr von Verwahrlosung und Gewalt. Die Rechnung derer, die die Moderne überholen wollten, ist nicht aufgegangen – und das zeigt sich in vielen westlichen Ländern.
Es gibt große und kleine Ereignisse, die gerade in den vergangenen Wochen gezeigt haben, dass die großen Versprechungen nicht gehalten werden können. Mit den Terrorattentaten in Paris hat unser Nachbarland entdeckt, wie weit sich in seiner Mitte eine regelrechte Gegengesellschaft gebildet hat, die in Schulen und Stadtteilen ihr eigenes Gesetz durchsetzen will. Die Rechnung, Integration durch ein multikulturelles „Entgegenkommen“ zu bewirken, ist geplatzt. Nur ein paar Tage danach kam, durch die griechischen Neuwahlen, die Schuldenkrise zurück. Es zeigte sich, dass der Deal „Rettung gegen Reform“ jederzeit kündbar ist und mit der Europäischen Zentralbank inzwischen ein Akteur geschaffen ist, der jenseits aller europäischen Verträge das Schuldenwachstum finanziert. Und noch eine andere, eher schleichende Entwicklung wurde zur alarmierenden Meldung: Industrie und Handwerk in Deutschland teilten mit, dass viele Betriebe in ihrer Existenz gefährdet sind, weil das Bildungssystem immer weniger berufsbereite Absolventen hervorbringt. Damit ist auch auf dem Feld, wo der Abbau grundlegender Standards der Moderne in Deutschland begann, die Stunde der Wahrheit gekommen.
So gibt es heute an vielen Fronten eine gewisse Ernüchterung und das Gefühl, dass wir auf diesem Weg am Ende der Fahnenstange angekommen sind. Doch ist es nicht die Moderne, die da zu Ende geht. Es sind die Versuche einer Revision der Moderne.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das Motiv, mit dem sich heute eine neue Opposition formiert, ein konservatives Motiv ist. „Konservativ“ bedeutet allerdings nicht die Suche nach einem längst vergangenen klerikal-feudalen Abendland. Die Menschen, die sich heute dem Mainstream der letzten Jahrzehnte entgegenstellen, verteidigen – bewusst oder unbewusst – moderne Maßstäbe. Maßstäbe, die einmal mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gesetzt worden sind. Europäische Schuldenkrise? Man muss auf den Verfassungsgrenzen der deutschen Haftung bestehen. Die Energiewende? Sie widerspricht der technischen Vernunft und dem für Deutschland typischen Mix der Energieträger. Der Mindestlohn? Die Gewerbe- und Berufsfreiheit in Bereichen mit niedrigen Erträgen muss verteidigt werden. Die Frauenquote? Sie verletzt die Vertragsfreiheit. Die doppelte Staatsbürgerschaft? Die Eindeutigkeit der Loyalität ist eine Grundbedingung jeder Republik. Die Einebnung des gegliederten Schulsystems? Ohne Leistungsgerechtigkeit gibt es kein modernes Bildungswesen. Einwanderung? Ja, aber mit gesetzlichen Einschränkungen und Auflagen bis zur Vollbürgerschaft. Auf allen diesen Feldern sind die konservativen Anliegen moderne Anliegen. Sie können unter Bezugnahme auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung formuliert werden, die sich die Bundesrepublik an ihrem Anfang gegeben hat.
Es ist also keine arglistige Täuschung, wenn Pegida-Demonstranten die schwarz-rot-goldene Flagge gezeigt haben. Sie stehen in mancher Hinsicht dem Gründungsgeist der Bundesrepublik näher als ihre Kritiker. Ist es wirklich so schwer zu verstehen, dass es in Dresden viele Menschen gibt, die mit der Hoffnung in die Wiedervereinigung gegangen sind, dass sie nun endlich in einem modernen Staatswesen und Wirtschaftssystem angekommen sind? Und die nun verwundert und enttäuscht über die real existierende Bundesrepublik sind?
Den Pegida-Demonstrationen ist vielleicht die Spitze abgebrochen, aber den Menschen ist nichts abgebrochen. Ihr Anliegen verweist auf fundamentale Schwächen der gegenwärtigen Bundesrepublik. Es ist nicht zu erwarten, dass die Entwicklung der nächsten Zeit diese Opposition widerlegen wird. Nicht sie ist am Ende, aber in der heiligen Allianz auf der Gegenseite wird es ungemütlicher werden.
Wenn die Regierenden das Glück der Menschen beschwören, sollte man auf der Hut sein.
22. April 2015
Vor gut einer Woche hat die Bundeskanzlerin – gemeinsam mit ihrem Vizekanzler – in der deutschen Hauptstadt einen sogenannten „Regierungsdialog“ gestartet. „Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist“ lautet die Überschrift des Vorhabens. Mit „uns“ sind die Bürger gemeint. Die Regierenden bekunden, dass sie nun endlich wissen möchten, was den Bürgern wichtig ist. Das ist nett, aber auch ein bisschen überraschend. Eigentlich sollte man in einer parlamentarischen Demokratie mit Marktwirtschaft und unabhängiger Öffentlichkeit davon ausgehen, dass die Regierenden genügend Gelegenheit haben, den Bürgerwillen zu erfahren. Wie hat die Kanzlerin, die ja schon ein paar Jahre im Amt ist, eigentlich bisher regiert? „Wir sind neugierig“, sagt sie. Das klingt auf jeden Fall gut – echt offen und so. Allerdings enthält der Titel des geplanten Dialogs bereits eine Vorfestlegung für das, was dem Bürger wichtig zu sein hat: Es soll um das „gute Leben“ gehen.
Nun handeln gegenwärtig die politisch brennenden Themen nicht gerade davon, was für ein „gutes Leben“ wünschenswert wäre. Eher geht es um den Umgang mit Kosten, Anstrengungen und Risiken. Die Energiewende zeigt die geheimen Kosten „naturnaher“ Lösungen. Bei der Wohnungsversorgung in Großstädten geht es um das Dilemma zwischen der Belastung durch mehr Dichte und der Belastung durch höhere Mieten. Beim Internet um Datenzugang versus Datenschutz. In der Außenpolitik steht man im Zwiespalt zwischen wachsenden Ansprüchen von außen und der Furcht, bei einem „Nein“ international als böser Mann dazustehen. Wohin man blickt – das einfache gute Leben ist nirgends in Sicht. Es steht gar nicht zur Wahl. Politik in dieser Zeit heißt, irgendwie einen mittleren Weg zwischen Gut und Schlecht, zwischen Gewinn und Opfer zu bestimmen und den dann ohne endloses Hin und Her zu gehen. Wenn man die Bürger stattdessen auffordert, sich mit der „guten Lebensqualität“ zu befassen, entfernt man sie von den politischen Entscheidungsaufgaben. Man versetzt sie in eine künstliche Naivität. Sie sollen sich mit dem Wünschen beschäftigen.
Aber dies Wünschen soll mit wissenschaftlich-bürokratischer Akribie betrieben werden. Über 150 Veranstaltungen soll es geben; bei einigen sollen auch Minister, Kanzlerin und Vizekanzler anwesend sein. Die organisierten Interessen – Kirchen, Gewerkschaften, Vereine, Sozial- und Wirtschaftsverbände – sind dabei. Über mehrere Stufen soll der Prozess ablaufen. Nach dem Austausch mit den Bürgern kommt eine wissenschaftliche Auswertung, die den Wünschen die Weihen des Objektiven und Systematischen geben soll. Und dann soll – natürlich – ein „Aktionsplan“ der Bundesregierung erarbeitet werden. Dann hätten wir ihn geschafft, den historischen Schritt der Demokratie zur Wissenschaft und ihrer planvoll-verwaltungstechnischen Umsetzung.
Ganz neu ist der Versuch der Glückspolitik allerdings nicht. Schon in der vergangenen Legislaturperiode hatte Frau Merkel den sogenannten „Zukunftsdialog“ gestartet. Damals sollten die Bürger auch Lebensfragen beantworten, zum Beispiel „Wie wollen wir zusammenleben?“ oder „Wovon wollen wir leben?“ Im Anschluss war berichtet worden, dass 11.600 Vorschläge auf der Internetseite gemacht und 74.000 Kommentare geschrieben wurden. Darunter so sonnige Ideen wie die Freigabe von Cannabis, mehr Hilfe für die Eltern bei der Kindererziehung, Lärmschutz, saubere Energie und schnelles Internet für alle. Und da man schon beim Dialogisieren war, wurde gleich ein weiterer Dialog vorgeschlagen: ein „Dialog mit dem Islam“, und zwar in diesem Fall sogar ein „offener“ Dialog. Das reine Wünschen kann also ganz schön ins Kraut schießen. Es gab dann drei Bürgergespräche mit je 100 Interessierten, eine Konferenz mit sage und schreibe 50 Schülern und eine Debatte mit Studenten „unter Hinzuziehung von ausländischen Regierungschefs“. Eine verführerische Unmittelbarkeit ist hier im Spiel: Man simuliert eine direkte Einflussnahme. Die Fallhöhe vom Rendezvous mit der Macht zurück in die Wirklichkeit ist dann freilich beträchtlich.