Inhaltsverzeichnis
Innentitel
Kapitel 1: 1937
Kapitel 2: 1925
Kapitel 3: 1926
Kapitel 4: 1927
Kapitel 5: 1928
Kapitel 6: 1929
Kapitel 7: 1930
Kapitel 8: 1931
Kapitel 9: 1932
Kapitel 10: 1933
Kapitel 11: 1934
Kapitel 12: 1935
Kapitel 13: 1936
Kapitel 14: 1937
Nachwort
Danksagung
Impressum
1937
»Abenteurer bringen es im Leben weiter«, sagte Julian.
»Aber Schriftsteller leben länger«, sagte ich.
Julian lachte. »Wetten, nicht?«
»Wetten, doch?« Und damit war die Wette beschlossene Sache.
»Wenn du vor mir stirbst«, sagte ich, »schreibe ich ein Buch über dich.«
»Wenn du vor mir stirbst, habe ich keinen Bruder mehr.« Julian warf mir einen ernsten Blick zu. »Ich muss diese Wette nicht gewinnen, Quentin. Ich will, dass wir beide uralt werden, du und ich.«
»Dann geh nicht nach Spanien. Wieso willst du in einem Krieg kämpfen, mit dem wir nichts zu tun haben?«
»Ich muss einfach!«, sagte Julian.
»Wer sagt das?«
»Ich.«
Ich sah ein, dass er fest entschlossen und jeder Versuch, ihn umzustimmen, sinnlos war. »Hast du es ihnen schon gesagt?«, fragte ich.
»Wem?«
»Mama. Duncan. Papa. Sie werden dich nicht gehen lassen.«
»Ich sage es ihnen morgen, wenn Papa kommt. Es wird ihnen bestimmt nicht gefallen, aber sie werden nicht versuchen, mich umzustimmen, weil ich nämlich genau das tue, was sie uns beigebracht haben. Ich werde für das kämpfen, woran ich glaube.«
»Du weißt doch, dass sie jeden Krieg ablehnen. Mit kämpfen meinen sie etwas anderes, als mit einem Gewehr herumzulaufen.«
Julian seufzte. »Aber was haben sie uns unser Leben lang eingeschärft? ›Denkt immer erst einmal nach. Macht das, woran ihr glaubt. Rennt nicht einfach irgendwelchen Parolen hinterher.‹ Und genau das mache ich jetzt. Ich habe nachgedacht, wirklich lange nachgedacht und ich weiß, ich muss es einfach tun. Ich renne keinen Parolen hinterher, nur meiner eigenen.«
Ich sah meinen Bruder an. In meinen 18 Lebensjahren war ich fast immer mit ihm zusammen gewesen. Ich konnte, nein, ich wollte mir nicht vorstellen, dass er in ein paar Tagen weg sein würde.
Julian stieß mich an. »Schau nicht so traurig«, sagte er. »Komm mit in den Garten.«
»Warum?«
»Nun komm schon.«
Ich folgte ihm. Im Gemüsegarten pflückten Angelica und David Bohnen. Bert, der Beagle, lag auf einem Stein und schlief. Ein Hahn krähte.
Vorbei an den Rosenrabatten und dem Fingerhutfeld liefen Julian und ich auf die beiden uralten Apfelbäume an der Mauer zu. Wir kletterten in unser Baumhaus, wie wir es in den vergangenen zwölf Jahren hunderte Male getan hatten. Das Baumhaus war unser Lieblingsplatz. Von hier oben konnten wir die ganze Umgebung überblicken: Charleston, den Bauernhof weiter hinten, die Pappelallee, die vom Hof zur Straße führte, das Schwein des Bauern, das jedes Jahr ein anderes Schwein war, und dem wir beim Wachsen zusahen, bis eines Tages der Metzger auftauchte. Wir fanden es großartig, die Menschen zu beobachten, ohne dass sie etwas davon bemerkten. Na ja, vielleicht bemerkten sie es doch, aber es kümmerte sie nicht. Das Baumhaus war auch der Ort, an dem wir uns unsere Geheimnisse anvertraut hatten, weil uns hier niemand hören konnte. Hier hatte ich ihm gestanden, Angelicas Puppe in einem Eifersuchtsanfall zerbrochen zu haben, und Julian hatte mir hier erklärt, dass ein Penis nicht nur zum Pinkeln da war. Wie oft hatten wir uns hier verschanzt!
Diesmal saßen wir schweigend nebeneinander. Ich sah meine Mutter und Duncan, die im Atelier arbeiteten. Grace, die Köchin, war nicht zu sehen, aber ich hörte sie aus voller Kehle singen. Das Dienstmädchen schüttelte aus einem Dachfenster Decken aus. Allerlei Gedanken gingen mir durch den Kopf. Was wird meine Mutter sagen, wenn sie von Julians Plänen erfährt? Wird sie ihn wirklich gehen lassen? Wie würde es hier sein, ohne meinen großen Bruder? Wann würden wir beide wieder zusammen im Baumhaus sitzen?
»Nimm’s nicht so schwer«, sagte Julian. »Ich weiß, was ich tue. Versprich mir, dass du dir keine Sorgen machst.«
Ich versprach ihm nichts. Ich hätte lügen müssen.
1925
Der Autobus, der uns vom Bahnhof zum Bauernhof brachte, hielt direkt vor einer buckligen und löchrigen Auffahrt. Pappeln säumten die Allee.
Meine Mutter und Duncan hatten beschlossen, aus London fortzuziehen. Sie fanden die Stadt zu voll, die Häuser zu finster, die Ateliers zu klein.
»Ich brauche Licht um mich herum«, hatte meine Mutter gesagt, »und Raum.«
»Ich will unter freiem Himmel malen«, hatte Duncan gesagt.
»Ich will barfuß durchs Gras laufen.«
»Einen Garten, in dem sich die Kinder verirren können.«
Deshalb waren wir jetzt hier. Tante Virginia hatte ein Haus gefunden, das, wie sie meinte, genau das war, was wir suchten.
Mein Vater war auch dabei, um das Haus zu besichtigen, auch wenn er selbst nach wie vor in London leben wollte. Er hatte dort eine eigene Wohnung und seine Arbeit bei der Zeitung, aber er hatte versprochen, uns so oft er konnte zu besuchen.
Seine Freundin, die Julian und ich »Tante Margaret« nannten und von der wir ab und zu Geschenke bekamen, wohnte auch in London. Schon allein wegen dieser Geschenke fanden Julian und ich es schade, dass wir aus der Stadt wegziehen mussten.
Puck, der braune Spaniel, rannte vor uns her. Julian und ich sprangen über Pfützen und taten so, als wären es tiefe Schluchten, in die wir stürzen könnten.
Am Ende der Allee lag ein Bauernhof mit Kühen und Schafen und einem Heuhaufen. Ein Schwein steckte den Rüssel durch ein Gatter. Das Haus, das wir besichtigen wollten, war ganz in der Nähe und gehörte dem Bauern. Es war riesig, hatte gelbe Mauern, an denen Kletter-Hortensien wuchsen, zahllose Fenster und einen ummauerten Garten mit Teich. Weil der Bauer keine Verwendung mehr für das Gebäude hatte, wollte er es vermieten. Die Mieter hatten bei allem freie Hand, solange sie pünktlich die Miete zahlten und es nicht abrissen. »Es steht schon zwei Jahre leer, Mr Grant«, sagte er. »Ein paar Dinge müssen Sie wohl ausbessern. Sehen Sie sich in Ruhe um.«
»Ein paar Dinge ausbessern.« Das war wohl witzig gemeint, denn es gab wirklich nichts an dem Haus, das nicht auszubessern wäre. Der Garten war eine einzige Schlammlache, in dem nur ein paar sterbende Obstbäume standen. Und das Haus war kalt und feucht. Es gab keinen Strom. Wasser musste man auf dem Bauernhof pumpen. Die Toilette war ein Holzverschlag im Garten, mit einem Eimer in einem Erdloch. Das Haus war seit Jahren weder innen noch außen gestrichen worden.
Während die Erwachsenen kopfschüttelnd von Zimmer zu Zimmer gingen, erkundeten Julian und ich zusammen mit Puck den Garten. Im Teich quakten Frösche. Puck bellte und die Frösche tauchten ab.
»Dort werden wir ein Baumhaus bauen«, rief Julian. Er deutete auf die beiden Bäume mit dicken Stämmen und Ästen, die ineinanderwuchsen. Die längsten Äste hingen über die Gartenmauer. »Dann werfen wir dem Schwein Äpfel zu und zähmen es. Und Mama erlaubt uns vielleicht, es zu behalten.«
Julian war neun, drei Jahre älter als ich, und immer voller Ideen. Ich bewunderte ihn bedingungslos. »Und dann bringen wir ihm Kunststücke bei«, sagte ich.
Der Himmel zog sich zu, nasskalter Herbstregen fiel. Wir gingen ins Haus und stritten uns, wer welches Zimmer bekommen sollte, wo das Baby schlafen würde (möglichst weit von uns entfernt) und wo das Schwein leben könnte. Schreiend stürmten wir die Treppe hoch, und noch eine, hinauf zum Dachboden, wo mein Vater vor dem Fenster stand und meine Mutter und Duncan auf wackligen Stühlen saßen. Ich zitterte. Hier war es noch kälter als draußen.
Duncan seufzte. »Ich habe noch nie ein so verwahrlostes Haus gesehen. Noch nie.«
»Die Wände sind voller Schimmel«, sagte meine Mutter. »Und der Wind pfeift durch die Ritzen.«
»Eine ziemlich weite Reise von London hierher«, sagte mein Vater.
Ängstlich sah ich zu ihnen hoch. Wollten sie das Haus etwa nicht? Würden wir etwa nach London zurückgehen? Weg vom Schwein? Ich hatte gerade beschlossen, es Pigling zu nennen, wie das Ferkel in der Geschichte von Beatrix Potter, und dass es mich lieber haben würde als meinen Bruder. Auch Julian hatte einen Schreck gekriegt, das sah ich ihm an.
Dann sagte meine Mutter: »Ich denke, wir werden hier sehr glücklich sein.«
Duncan nickte. »Das denke ich auch, Vanessa. Ja, absolut.«
Mein Vater lächelte.
~
Charleston, so hieß unser Haus, stand in den Hügeln von Sussex im Südwesten Englands. Von London waren es knapp zwei Stunden mit dem Zug nach Lewes, der nächstgelegenen Stadt, und dann waren es noch eineinhalb Stunden mit dem Autobus, der vor unserer Auffahrt hielt.
In den ersten Tagen waren meine Mutter und Duncan damit beschäftigt, unsere Sachen auszupacken und die Zimmer einzurichten. Julian und ich beschlossen, die Umgebung zu erkunden.
Bevor wir losliefen, fütterten wir das Schwein mit altem Brot aus der Küche und mit faulen Äpfeln, die wir im Garten gefunden hatten. Zufrieden schmatzend blickte es uns nach, als wir uns auf den Weg machten.
Hinter dem Bauernhof und der Weide mit den Schafen befanden sich ein paar kleine Häuser.
»Komm, wir schauen, ob dort Kinder wohnen«, sagte Julian. Er kroch unter dem Stacheldraht durch und lief auf die Weide.
Ich zögerte. Die Schafe waren groß und sahen mich böse an. Nie zuvor war ich Schafen so nahe gekommen. Ehrlich gesagt: Ich hatte noch nie ein echtes Schaf gesehen, nur gezeichnete in einem Kinderbuch.
»Sie beißen«, sagte ich.
»Aber nein«, sagte Julian. »Sie sind genauso lieb wie das Schwein. Na, komm schon.«
Ich wollte nach London zurück, wo es keine lebensgefährlichen Tiere gab. »Ich traue mich nicht.«
Jeder andere Bruder hätte einen Angsthasen wie mich in diesem Moment ausgelacht oder später zu Hause erzählt, was für ein Feigling ich doch wäre, aber nicht Julian. Er sah mich ernst an, kroch wieder unter dem Stacheldraht durch und nahm mich an die Hand.
»Wir gehen um die Weide herum.«
Erleichtert hüpfte ich mit ihm mit.
Es war Herbst. An den Rändern der Wassergräben saßen kleine Frösche, an den Bäumen verfärbte sich das Laub. Ein langes, braunes Tier schoss an uns vorbei und verschwand im Gebüsch. Ich war in einer neuen Welt angekommen.
Vor einem der kleinen Häuser hinter der Weide hängte eine Frau im Garten frisch gewaschene Laken auf. Wir liefen zu ihr hinüber. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und sah uns freundlich an. »Wenn ich mich nicht irre, sind Sie Master Julian Bell«, sagte sie, »und Sie müssen Master Quentin sein.«
Wir mussten lachen. Die Frau nannte uns ›Master‹! Wir wussten damals noch nicht, dass dies Grace Higgins war, die bei uns als Köchin und Haushälterin arbeiten würde.
Es war übrigens das einzige Mal, dass Grace ›Master‹ zu uns sagte. Sie hat es nie wieder getan, weil meine Mutter es ihr verboten hat. »Ihr seid keine Master, ihr seid Lausejungs«, sagte sie zu uns, »und das ist etwas ganz anderes.«
Ich nickte. Lausejungs klang viel besser als Master.
»Wohnen hier Kinder?«, fragte Julian.
Grace schüttelte den Kopf. »Aber im Nachbardorf. Das ist zu weit für euch, um hinzulaufen.«
»Gut«, sagte Julian, »dann suchen wir eben Holz für unser Baumhaus.«
Wenn ich an Grace denke und an unsere ersten Monate in dem damals noch kalten und unbehaglichen Charleston, dann erinnere ich mich am liebsten an die Samstage, an denen wir nachmittags ins Bad gesteckt wurden.
Grace setzte auf dem Kohlenherd in der Küche Wasser auf und schüttete es dann in eine Zinkwanne, die dafür im Esszimmer vor den Kamin aufgestellt wurde. Weil Julian der ältere war, durfte er zuerst in die Wanne. Wenn ich an der Reihe war, goss Grace ein paar Kessel nach, damit das Wasser schön heiß blieb. Genussvoll erschauerte ich, wenn sich das heiße Wasser mit dem kälteren vermischte. Angelica war erst ein Jahr alt und noch zu klein für die Wanne. Sie wurde in der Küche gewaschen.
Nach dem Bad saßen wir in Handtücher gewickelt vor dem Kaminfeuer und Mutter las uns Märchen vor. Später, als wir älter waren, wurden Alice im Wunderland und Der Wind in den Weiden unsere Lieblingsbücher. Sie erzählte uns auch Bibelgeschichten. Nicht, weil wir an Gott glauben sollten, sondern weil wir diese Geschichten noch in zahllosen Büchern und auf Gemälden antreffen würden. Wer die Bibel kannte, könne andere Bücher und Gemälde besser verstehen, meinte sie. Ich mochte vor allem Alice im Wunderland, denn durch dieses Buch entdeckte ich, wie großartig es war, mit Worten zu spielen. Ein Wort an der falschen Stelle konnte ein Missverständnis auslösen und sofort stand die ganze Welt Kopf. Dass Worte so etwas bewirken konnten! Dieses Buch war der Grund dafür, dass ich ein paar Jahre später beschloss, Schriftsteller zu werden. Nicht Tante Virginia. Nicht Lytton, sondern Alice im Wunderland.
Ob Grace uns anfangs seltsam gefunden hatte? Wenn es so war, dann hat sie es uns zumindest nicht spüren lassen. Ihr Nachbar hingegen fand uns ziemlich seltsam. Er war Postbote und wohnte in einem kleinen Haus mit einem Garten voller Brombeersträucher. Der Garten ähnelte einem Kopf mit strubbeligen Haaren, die lange nicht mehr gekämmt worden waren. Wir mussten den Postboten Colonel Kipling nennen, denn er hatte im Weltkrieg gekämpft. Wenn man in der Armee gewesen ist, war man kein ›Mister‹ mehr, sondern Colonel oder Major oder Captain. Eines Morgens, als Colonel Kipling die Post brachte, deutete er auf Duncan, der gerade mit einem Strohhut auf dem Kopf im Garten malte. »Ist das dein Vater?«, fragte er mich.
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist Duncan. Er ist unser Freund.«
»Und der Freund unserer Mutter«, sagte Julian. »Unser Vater wohnt in London.«
»Soso«, sagte Colonel Kipling. »Und wo wohnt dieser Duncan?«
»Bei uns«, sagte ich.
Der Colonel runzelte die Stirn und sah mich an. »Seltsam«, sagte er, stieg auf sein Fahrrad und fuhr davon. Seltsam war das Wort, das ich am häufigsten von Leuten gehört habe, die unseren Lebensstil nicht verstanden.
Aber ich schweife ab. Man darf ruhig abschweifen, wenn man eine Geschichte schreibt, hat Tante Virginia mir beigebracht, solange man dabei nicht aus den Augen verliert, wie man später wieder auf das zurückkommt, worum es eigentlich geht. Und so ein kleiner Ausflug muss natürlich wichtig für das sein, was man dem Leser erzählen will, sonst kann man es gleich weglassen.
Ja, Virginia, ich komme gleich wieder auf das zurück, was ich eigentlich erzählen möchte. Aber erst noch kurz zu Duncan. Er wohnte also bei uns und mein Vater nicht.
In London hatten meine Mutter und Duncan ein gemeinsames Atelier gehabt. Duncan hatte damals noch ein eigenes Haus, auch wenn er dort fast nie war. Ich weiß nicht, wie sie auf die Idee gekommen waren, gemeinsam nach Charleston zu ziehen, es war einfach so – wie es auch einfach so gewesen war, dass mein Vater in seiner Wohnung in London geblieben ist.
Ich fand es herrlich, Duncan jetzt für immer bei uns zu haben. Er war in meinen Augen zwar schon alt, über zwanzig, aber wenn er mit uns spielte, gab es keinen Altersunterschied. Duncan rannte am schnellsten, schrie am lautesten, lachte am schrillsten. Und wenn wir etwas spielten, das mit einem Sieger und einem Verlierer endete, konnte er wie ein Kind schmollen, wenn er nicht der Erste war. Julian und ich waren verrückt nach ihm.
Ernste Gespräche führten wir mit unserem Vater, mit Duncan hingegen spielten wir – so war es immer gewesen und so würde es auch bleiben.
Es war kurz vor Weihnachten. Julian und ich waren in Lewes, um uns die Schaufenster der Geschäfte anzusehen. Gierig betrachteten wir die ausgelegten Esswaren, den geschmückten Tannenbaum, die Weihnachtskrippe beim Bäcker. Autos und Pferdekarren fuhren vorbei. Hier gab es lange nicht so viele Autos wie in London. Automobile waren damals noch recht ungewöhnlich auf dem Land.
Im Schaufenster des Spielzeugladens stand ein Weihnachtsmann aus Gips. Er sah, ehrlich gesagt, ziemlich hässlich aus mit den viel zu prallen Wangen und einem schmutzig weißen Bart, von dem die Farbe bereits abblätterte. Aber als wir in der Kälte vor dem Schaufenster standen, fanden wir ihn wunderbar.
Voller Sehnsucht drückten wir die Nasen gegen die Glasscheibe.
»Wie gern ich den hätte«, sagte Julian.
»Ich auch!«, rief ich.
Aber wir konnten ihn nicht kaufen, wir hatten kein Geld.
Julian hatte eine Idee. »Wir malen ihn und verkaufen die Bilder zu Hause. Dann haben wir Geld.«
Ich fand die Idee brilliant. Meine Mutter und Duncan verlangten für ihre Gemälde schließlich auch Geld, und wenn die beiden Erfolg damit hatten, warum nicht auch wir? Na ja, großen Erfolg hatten sie eigentlich nicht. Nur selten verkauften sie ein Bild, der größte Teil ihrer Arbeiten stand in einer Ecke des Ateliers. Das lag, wie meine Mutter sagte, an den Farben, die sie verwendeten: hellblau und rosa und zartgelb – Farben, die sie sich von französischen Malern und italienischen Fresken abgeschaut hatten. Auf all ihren Gemälden schien es so, als könne nie etwas Schlimmes passieren. Wenn ich sie betrachtete, wurde ich fröhlich. Aber die meisten anderen Menschen in England wollten meiner Mutter zufolge keine zarten, sonnigen Farben an den Wänden, sondern finstere Porträts von finsteren Verwandten, um sie in ihren finsteren Häusern aufzuhängen.
»Eure Zeit kommt noch«, sagte mein Vater immer. »England befindet sich im Wandel.«
»Es ist mir egal, wie viel wir verkaufen«, sagte Duncan. »Ich male, wie ich will, sonst werde ich unglücklich.«
Vielleicht war das der wichtigste Grund, warum sie keinen Erfolg hatten: Sie gaben sich nicht die geringste Mühe, auf ihre Arbeiten aufmerksam zu machen.
Julian und mir aber war es äußerst wichtig, dass unsere Bilder sich verkaufen würden, und so beschlossen wir, die Farben zu benutzen, die man bei uns zu Hause am meisten mochte. Wir fuhren mit unseren Fahrrädern nach Charleston zurück, packten Papier, Farben und Pinsel ein und fuhren wieder nach Lewes.
»Wem verkaufen wir die Bilder eigentlich?«, fragte ich. »Mama?«
»Demjenigen, der am meisten dafür bezahlt«, sagte Julian. »Wir veranstalten eine Auktion.«
Eine Auktion! Ich wusste, was das war, denn ich hatte die Erwachsenen über eine Auktion von alten Stühlen reden hören, zu der sie gehen wollten. Wer am meisten bietet, bekommt den Zuschlag. Stolz auf meinen gescheiten Bruder sah ich schon eine Schatzkiste voller Münzen vor mir.
Binnen einer Viertelstunde waren unsere Gemälde fertig. Wir waren in Eile, denn wir wollten nicht, dass ein anderer den Weihnachtsmann kaufte. Wir sausten nach Hause, warfen unsere Räder hin und beschlossen, dass das Esszimmer für unsere Auktion am besten geeignet wäre, denn dort standen die meisten Stühle.
»Alle mal herkommen! Ins Esszimmer!«, brüllte Julian durchs Haus.
Grace steckte den Kopf aus der Küchentür. »Was ist denn los? Ihr schreit ja, als würde das Haus in Flammen stehen!«
»Ihr dürft unsere Gemälde kaufen«, sagte Julian. »Komm mit ins Esszimmer, Grace.« Danach lief er in den Garten, wo Walter, der Mann von Grace und zugleich unser Gärtner, bei der Arbeit war. Ich holte meine Mutter, die im Atelier an einem Porträt von Angelica saß. Duncan konnte ich nirgends entdecken. Ich hatte keine Zeit, ihn lange zu suchen, denn ich wollte unbedingt dabei sein, wenn es losging.
Als alle im Esszimmer waren, erklärten wir, was wir vorhatten. Mit spürbarem Widerwillen setzten sie sich auf die Stühle, die wir bereitgestellt hatten.
»Dauert das lange?«, fragte Grace. »Ich habe Töpfe auf dem Feuer stehen und ich lasse meinen Herd nur ungern aus den Augen.»
»Wofür braucht ihr denn Geld?«, fragte meine Mutter, die Angelica auf dem Schoß hatte.
»Wir wollen Kunst kaufen«, sagte Julian. Ich nickte. Was für eine gute Antwort.
Julian hielt das erste Bild hoch. »Wer bietet auf dieses Meisterwerk?«
Ich schaute mich zufrieden um. Das Meisterwerk hatte ich gemalt. Die Farbe war ein bisschen verlaufen, trotzdem konnte man sehr gut erkennen, dass es einen Weihnachtsmann darstellte.
Grace schüttelte den Kopf. »Als ob ich in meinem kleinen Haus Platz für eine Zeichnung an der Wand hätte.«
»Kann ich auch Geld geben, ohne etwas zu kaufen?«, fragte Walter.
»Zeigt erst mal die anderen Bilder«, sagte meine Mutter.
Julian und ich sahen uns verzweifelt an. Sollte diese Auktion etwa nicht zu dem erhofften Erfolg führen?
In diesem Moment kam Duncan herein. Er wuschelte sich durch das ungekämmte braune Haar und zog die abgewetzte Hose hoch, die von einer alten Krawatte zusammengehalten wurde. Ich habe nie jemanden gekannt, der so nachlässig herumlief wie Duncan. Mit braunen, glitzernden Augen blickte er uns an. »Was höre ich da?«, sagte er. »Läuft hier etwa eine Kunstauktion? Wieso hat mich niemand gerufen? Ich liebe Auktionen.«
Er nahm sich einen Stuhl. »Zeigt mal eure Gemälde!«
Wir legten unsere Kunstwerke auf den Boden. Duncan hockte sich davor und klatschte begeistert in die Hände.
»Fantastisch!«, sagte er. »Ihr habt Vanessas Talent.«
Das fanden wir auch.
»Witzbold«, murmelte meine Mutter.
»Ich kaufe sie alle!«, rief er. »Schaut nicht so betreten«, sagte er zu den anderen. »Wie viel Geld ihr auch bieten wollt, ich biete mehr. Die Bilder gehören mir.«
Walter lachte. Grace stand auf und ging in die Küche.
Das Geld, das wir von Duncan bekamen, war zu unserem Erstaunen genau die Summe, die wir brauchten, um den Weihnachtsmann zu kaufen. Irgendwie war er wohl dahintergekommen, was wir vorhatten. Ich weiß noch immer nicht, wie. Er hat es mir nie erzählt.
Der Weihnachtsmann aus Gips verschwand nach Silvester auf dem Dachboden und ich denke, dort steht er immer noch. Wir haben ihn einfach vergessen.
1926
»Charleston ist ein herrliches Haus«, sagte Duncan. Er stand hinter seiner Staffelei im Gartenzimmer, das jetzt als Atelier diente.
»Aber es fühlt sich noch immer nicht so an, als wäre es unser Haus«, sagte meine Mutter. Sie sahen mich beide an, denn sie malten ein Porträt von mir. Ich saß auf einem Stuhl und durfte mich so lange nicht bewegen, bis sie damit fertig waren. Neidisch schielte ich zum Fenster hinaus, wo Julian mit Angelica im Garten spielte.
»Das werden wir ändern müssen«, sagte Duncan. »Wir werden Charleston verzaubern.«
Auch ich fand es ein herrliches Haus, nur die Toilette im Garten war gruselig. Dort gab es Spinnen und es roch eklig. Abends, wenn es dunkel war, hielt ich so lange ein, bis Julian auch musste. Gemeinsam pinkeln gehen, das traute ich mich.
Nach unserem abendlichen Toilettengang wurden wir ins Bett geschickt. Die Erwachsenen blieben dann noch stundenlang im Esszimmer. Sie rauchten und redeten. Oft hatten sie Gäste, die bis zum späten Abend blieben. Meist waren es Schriftsteller oder Maler, die sie noch aus der Stadt kannten. Und wenn mein Vater hier übernachtete, brachte er manchmal seine Freundin Margaret mit.
Da wir keinen Strom hatten, also nicht einfach wie in unserem alten Haus in London an einem Schalter drehen konnten, um Licht zu machen, nahmen wir brennende Kerzen mit, wenn wir in unser Dachzimmer gingen. Angelica schlief bei meiner Mutter. Immer hatte ich eine Gänsehaut, wenn wir auf der knarrenden Treppe nach oben gingen. Mit einer finsteren Stimme hatte mir Julian weisgemacht, dass in einem alten Haus wie unserem abends überall Gespenster lauerten, um kleine Jungen wie mich zu Tode zu erschrecken.
Kein Kind möchte abends gern ins Bett, ich aber schon. Julians Geschichte hatte mir keine Angst eingejagt, sondern mich rasend neugierig gemacht. An Tagen, an denen der Regen gegen die Fenster peitschte, erzählte uns Duncan manchmal Spukgeschichten und das machte er so gut, dass ich beim Zuhören fühlen konnte, wie eisige Finger über mein Gesicht strichen. Wie sehnte ich mich nach einem echten Gespenst! Lieber ein Gespenst auf dem Dachboden als ein böses Schaf auf der Weide!
An einem trüben Samstag im März sagte ich nach dem Essen, ich hätte Bauchweh, und ging nach oben. Zum Glück wollte Julian noch nicht mit, denn er redete immer zu viel und zu laut. Wahrscheinlich hatten sich die Gespenster deswegen noch nicht blicken lassen. Ich kroch ins Bett, zog die Decke bis zum Kinn und wartete.
Erst passierte nichts. Die Kerzenflamme neben meinem Bett brannte nahezu bewegungslos, der geschlossene Vorhang hing friedlich vor dem Fenster.
»Gespenster, kommt«, flüsterte ich. »Ich warte auf euch. Kommt doch!«
Noch immer nichts. Ich hörte Getrippel hinter einem Brett an der Wand, aber das war nur das Geräusch der Mäuse, wie ich wusste. Meine Mutter hatte eigenlich eine Katze anschaffen wollen, um die Mäuse zu verjagen, was ich schade gefunden hätte. Deshalb hatte ich sie angefleht, es nicht zu tun. »Wir werden sehen«, hatte sie gesagt und die Mäuse waren vorläufig gerettet.
Ich hörte den Mäusen zu und dem Ruf einer Eule, die in einem Baum vor dem Fenster saß, und wurde allmählich schläfrig. Meine Augenlider wurden schwer.
Und dann, plötzlich, ein Windstoß. Der Vorhang bewegte sich, die Kerzenflamme flackerte. Um mich herum wurde es kalt.
Ich kroch tiefer unter die Decke und blickte zur Tür. War Julian vielleicht ins Zimmer gekommen? Kam der Windstoß von der geöffneten Tür?
Dort war niemand. Die Tür war zu. Wieder ein Windstoß. Etwas strich meinen Arm entlang. Ich zitterte. Sofort war es mit der Müdigkeit vorbei.
»Gespenst«, flüsterte ich, »bist du das?«
Leises Ticken am Fenster, wie von einem Fingernagel. Meine Kopfhaut kribbelte. Der Holzfußboden knarrte. Die Eule schwieg.
»Gespenst … bist du mein Freund?« Mir schien das eine gute Frage zu sein, aber ich fand es schon gruselig, so alleine in der Dachkammer. »Also, ich würde gerne dein Freund sein«, sagte ich.
Das Gespenst seufzte tief, ein Seufzer, in dem ein Wimmern mitschwang. War das ein gutes Zeichen?
»Ich möchte deine Ruhe nicht stören, Gespenst«, flüsterte ich. Diesen Satz hatte ich mir aus einer von Duncans Geschichten gemerkt. »Wenn du die Ruhe eines Gespensts störst, wird es manchmal ziemlich wütend und dann macht es dir das Leben schwer«, hatte er mir versichert.
Wieder erklang ein Seufzer, aber nun kam das Geräusch von etwas weiter weg. Und dann war es vorbei. Die Flamme flackerte nicht mehr, der Vorhang hing wieder reglos vor dem Fenster, die Eule rief: »Uhu«. Sonst war es still. Das Gespenst war verschwunden.
Begeistert legte ich die Hände unter meinen Kopf. Mein erstes Gespenst. Das erste echte Gespenst meines Lebens!
Doch als ich Julian am nächsten Morgen erzählte, was passiert war, lachte er mich aus. »Du glaubst aber auch alles!«, sagte er herablassend.
Nichts anderes als Julians Gelächter war schuld daran, dass das Gespenst nach diesem Abend, wie oft ich auch im Bett lag und gewartet habe, nie wieder erschienen ist. Auch ein Gespenst möchte ernst genommen werden!
~
Mutter und Duncan begannen mit der Verzauberung von Charleston. Zuerst nahmen sie sich das Esszimmer vor.
Die Wände wurden nicht tapeziert, sondern bestempelt. Auf schwarzem Hintergrund wurde in langen Bahnen von der Decke bis zum Fußboden ein Muster aus goldenen Karos und gelben Dreiecken angebracht. Ein alter runder Tisch, den sie in Lewes aufgetrieben hatten, wurde abgeschliffen und mit blauen Kreisen und Kringeln bemalt. Vor den Kamin wurde ein mit gelben und weißen Blumen verzierter Schutzschirm gestellt. Die cremefarbenen Vorhänge wurden mit den seltsamsten Motiven bedruckt. Das Esszimmer war am Ende ein Fest aus Farben und Formen, und im Laufe unseres ersten Jahres in Charleston sollten alle anderen Zimmer die gleiche Verzauberung erfahren, Küche und die Toilette im Garten eingeschlossen. Keine Ecke, kein Stuhl, kein Schrank oder Hocker entging der Kreativität der beiden Künstler. Das Haus wurde ein Meisterwerk, das in meinen Augen nie mehr von ihnen übertroffen wurde, so schön ich ihre »normalen« Gemälde auch finde.
Walter nahm sich unterdessen den Garten vor. Er fällte alte Obstbäume (die beiden Apfelbäume, in denen wir unser Baumhaus bauen wollten, durften stehen bleiben), kaufte Erde, vermischte sie mit Jauche und schüttete damit den Garten auf, damit keine Matschpfützen mehr enstehen konnten, wenn es regnete. An der Mauer pflanzte er Glyzinien, Geißblatt und Kletterrosen.
Meine Mutter gab Anweisungen: »Dort möchte ich einen Gemüsegarten, hier will ich Digitalis, da Gartenwicke …« So wie sie dem Haus mit Pinseln zu Leibe rückte, so malte sie mit dem Finger den Garten, den sie sich ausgedacht hatte.
»Und ich möchte dort gerne meine Kräuter aussähen«, sagte Grace. Sie deutete auf einen Streifen Erde unter dem Küchenfenster und rang meiner Mutter das Versprechen ab, dass niemand außer Grace selbst sich um den Kräutergarten kümmern durfte.
Julian und ich sammelten Bretter und Äste für unser Baumhaus, denn wir wollten die beiden Bäume verzaubern. Wir zogen das Holz mit Seilen hoch und hämmerten es mit Nägeln zusammen.
John, ein großer, dünner junger Mann mit glattem blonden Haar und hellgrünen Augen, half uns dabei. Er war Duncans neuer Freund. Sie waren sich in London begegnet, als Duncan dort war, um Farben und Pinsel zu kaufen. Schon wenige Tage später war John bei uns eingezogen. Wenn Duncan arbeitete, konnte er niemand anderen als meine Mutter in seiner Nähe ertragen. Dann hatte John Zeit genug, um Julian und mir zu helfen. Er wusste, wie man eine Hütte baute, denn er war Zimmermann. Er zimmerte eine Tür, ein Fenster, ein Dach und stellte sicher, dass der Fußboden für zwei Jungen, die keinen Moment still sitzen konnten, auch stabil genug war.
Nachdem wir uns bei John höflich für seine Hilfe bedankt hatten, schickten wir ihn hinaus, denn das Baumhaus war nun unser geheimer Ort. Im Haus suchten wir Sachen zusammen, mit denen wir unser neues Domizil einrichten wollten. Wir schleppten einen alten Teppich hinüber, holten unsere Lieblingsbücher vom Dachboden und bettelten Grace um Saft, Marmelade und Sandwiches an.
Feierlich gelobten wir, nur dann einen anderen in unser Baumhaus zu lassen, wenn wir beide damit einverstanden wären. Wir aßen und tranken, warfen einer Amsel, die auf der Gartenmauer saß, Brotkrümel zu und blickten gespannt aus dem Fenster, ob unten vielleicht jemand stehen und uns anflehen würde, sich unseren geheimen Ort ansehen zu dürfen. Natürlich würden wir das kategorisch ablehnen. »Du kommst hier nicht rein! Verschwinde!«, würden wir rufen. Doch es kam niemand und das enttäuschte uns zutiefst. Schnell begann uns diese Warterei zu langweilen. Wir sahen uns an.
»Wollen wir Krieg spielen?«, schlug Julian vor.
»Ja!«, rief ich. »Toll!«
»Bleib fünf Minuten hier sitzen. Mit geschlossenen Augen. Und dann kommst du mich suchen«, sagte er.
Ich blieb eine Minute sitzen, mit fast geschlossenen Augen, und sprang dann vom Baum. Julian hatte sich in den Rosensträuchern verschanzt. Das hatte ich schon von oben gesehen. Ich wusste sofort, dass es ein Hinterhalt war und blieb in sicherer Entfernung stehen. Mit meinem Gewehr, einer Astgabel, schlich ich durch ein Margeritenfeld. Puck wollte mitspielen und kläffte aufgeregt. Ich hielt ihm das Maul zu. »Spione machen keinen Lärm«, flüsterte ich. Der Hund verstand mich und blieb ruhig.
»Folgen Sie mir, Colonel Puck«, sagte ich.
Puck pinkelte und trippelte davon. Jetzt stand ich allein da.
Ich hörte Geraschel und mit einem Mal war Julian verschwunden. Um ganz sicherzugehen, schoss ich ein paarmal auf die Rosen, aber niemand schrie. Wo war Julian? Beklommen schaute ich mich um. Er war schlau, schlau genug, um mir immer einen Schritt voraus zu sein. Meistens gewann er, wenn wir Krieg spielten. Aber dieses Mal würde ich ihn überlisten. Ich beschloss, in unsere Baumhütte zu klettern, von der ich den ganzen Garten überblicken konnte. Wo er auch stecken mochte, ich würde ihn entdecken und siegen.
»Keine Bewegung oder ich schieße!«
Ich spürte etwas in meinem Nacken. Einen Gewehrlauf.
»Ha!«, rief Julian. »Verdammter Deutscher, hab ich dich.«
Ich war wütend. »Das nächste Mal bist du der Deutsche«, sagte ich. »Warte nur, was dann passiert.«
Julian lachte mich aus. Ich versetze einer Pflanze einen Tritt.
»Hast du wieder verloren, Junge?«, fragte mein Vater, der uns von der Tür aus beobachtet hatte. Er war am Tag zuvor angekommen und wollte eine ganze Woche bleiben, bevor er wieder nach London zurückfahren würde. Margaret war nicht mitgekommen. »Sie wollte nicht«, hatte mein Vater gesagt. »Und ich weiß auch nicht, ob sie je wiederkommt.« Er sah traurig aus. »So laufen die Dinge eben manchmal.«
»Ich spiele nie mehr Krieg mit Julian«, sagte ich noch immer wütend.
Mein Vater setzte sich zu uns auf die Bank. Er zündete seine Pfeife an und sagte: »Ich werde euch jetzt eine Geschichte über den Weltkrieg erzählen. Bei uns im Viertel hat es einen deutschen Bäcker gegeben, der das beste Brot von ganz London verkaufte. Zumindest dachten alle, dass er ein Deutscher wäre, denn er sprach Englisch mit starkem Akzent – aber gerade das fanden wir charmant. Von früh bis spät drängten sich die Kunden in seinen Laden. Bis der Krieg ausbrach. Plötzlich blieben die Kunden weg. Irgendjemand hatte gesagt: ›Wir kaufen nicht bei einem Deutschen‹, und das ganze Viertel beschloss, den Laden zu boykottieren. Als wäre der Bäcker höchstpersönlich für den Krieg verantwortlich. Eines Nachts wurden die Fenster eingeworfen und der Laden in Brand gesteckt. Der Bäcker war nun mittellos. Er hat England verlassen und ist nie mehr zurückgekommen. Und das alles nur, weil irgendjemand gerufen hatte: ›Wir kaufen nicht bei einem Deutschen.‹
Aber das Schlimmste von der Geschichte ist: Der Bäcker war gar kein Deutscher, er war Schweizer. Er hasste die Deutschen genauso wie die meisten Londoner. Seine Nachbarin, wohl die einzige, die ihm treu geblieben war, hat es mir erzählt.«
»Und dann?«, fragte ich.
»Ende der Geschichte«, sagte mein Vater.
»Weshalb erzählst du uns das?«, fragte Julian.
»Lauft nicht einfach irgendwelchen Schreihälsen hinterher«, sagte mein Vater. »Glaubt nicht einfach das, was irgendjemand euch erzählt. Denkt immer erst selbst nach. Deshalb habe ich euch diese Geschichte erzählt.«
So war mein Vater. Er spielte nicht mit uns wie Duncan. Er setzte sich nicht einfach zum Plaudern zu uns, sondern er sagte immer Dinge, die mich nachts wachhielten, weil ich mich fragte, was er wohl damit gemeint hatte. Denn eines war mir klar, es musste wichtig sein.
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Nach einem halben Jahr war die Verzauberung unseres Hauses geschafft. Das Meisterwerk war vollbracht. Meine Mutter und Duncan schlossen sich zufrieden im Atelier ein.
»Sind sie endlich fertig?«, rief der Bauer zu unserem Baumhaus hoch.
»Ja, sie sind endlich fertig!«, rief Julian zu ihm hinunter.
Alles war bemalt, nur die Fußböden nicht: In jedem Zimmer lagen alte Perserteppiche, die mein Vater aus London hatte liefern lassen.
Meine Mutter erschien am Fenster des Ateliers und lud den Bauern zu einer Besichtigung ein. Er tippte sich an seine Kappe und ging hinein. Julian und ich verfolgten die Führung vom Baumhaus aus. Wir sahen ihn im Esszimmer, in Vaters Arbeitszimmer, im Atelier. Er nahm die Kappe ab, kratzte sich am Kopf und verschwand aus unserem Sichtfeld. Nach einer Viertelstunde kam er wieder heraus und setzte sich auf die Bank unter der Glyzinie.
»Und?«, fragte meine Mutter.
»Tja«, sagte der Bauer nach kurzem Zögern, »es ist anders, als es gewesen ist, oder? Ganz schön anders.« Anders klang wie seltsam. Dann deutete er auf unser Baumhaus und lächelte. »Hatte ich auch, als ich ein Junge war«, sagte er. »Ihr habt ein wunderbares Baumhaus. Passt bloß auf, dass sie das nicht auch noch verzaubern.«
Aus vollem Hals über seinen eigenen Witz lachend ging er hinüber zum Schafstall.
»Banause«, sagte meine Mutter.
Duncan lachte noch lauter als der Bauer.
Ich lachte auch laut und hoffte, der Bauer würde mich hören. Vielleicht würde er ja denken: ›Was für ein netter Junge, dieser Quentin! Vielleicht sollte ich ihm das Ferkel schenken.‹
Das Ferkel war übrigens nicht das von damals, als wir hierher gezogen waren. Kurz vor Weihnachten war Pigling mit einem Mal verschwunden. Niemand hatte mir erzählen wollen, wo es hingekommen war, aber nach ein paar Wochen war Pigling der Zweite gekommen, ein rosa Ferkel, das rasch größer wurde, weil Julian und ich ihn jeden Tag mit Äpfeln fütterten. Ich fragte meine Mutter, ob wir ein eigenes Ferkel in unserem Garten haben dürften, aber sie sagte: »Wir haben schon einen Hund und Mäuse. Findest du nicht, dass das reicht?«
»Nein«, sagte ich.
»Aber ich.« Und damit war das Thema für sie erledigt.
Sie rieb sich die Augen. Ich bemerkte, dass sie Augenringe hatte. Das war mir früher nie aufgefallen. »Wir arbeiten hart«, sagte sie. »Ich bin müde. Kommt, wir fahren zu Virginia und spielen Theater. Das wird uns bestimmt guttun.«
»Ausgezeichnete Idee«, sagte Duncan. »Lasst uns bei Virginia Theater spielen.«
Julian und ich sprangen auf. Tante Virginia! Onkel Leonard!
»Wartet mal«, sagte Duncan. »Was wird sie denken, wenn wir einfach so vor ihrer Tür stehen? Vielleicht arbeitet sie gerade. Ihr wisst doch, dass sie bei der Arbeit nicht gestört werden will.«
»Das werden wir dann sehen«, sagte meine Mutter.
»Hätten wir nur ein Telefon«, sagte Duncan. »Das wäre praktisch.«
»Mir kommt kein Telefon ins Haus«, sagte meine Mutter. »Ich weigere mich, mit Menschen zu sprechen, die ich nicht sehen kann. Ich schreibe lieber Briefe.«
»Immer mehr Leute haben heute ein Telefon«, sagte Duncan.
Meine Mutter schwieg trotzig. Wenn meine Mutter etwas nicht wollte, gelang es nicht einmal Duncan, sie umzustimmen. Er gab sich geschlagen. »Gut. Also los, gehen wir.«
John durfte mit, denn John hatte ein Auto.
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Virginia Woolf war die Schwester meiner Mutter. Sie und ihr Mann Leonard wohnten in Rodmell, einem Dorf, das ein paar Kilometer von uns entfernt lag. Virginia war Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, die Leonard und sie selbst druckten und an Buchhandlungen in ganz England verkauften. Leonard gab auch die Bücher von anderen Schriftstellern heraus, aber Virginias Romane seien die wichtigsten, meinte er.
In Monk’s House roch es immer nach Tinte und Papier. Julian und ich waren gerne dort, denn Onkel Leonard hatte das sonderbarste Haustier, das ich je gesehen hatte: Ein Krallenäffchen, das Cäsar hieß und spitze Zähne hatte und scharfe Krallen, mit denen es fest zukneifen konnte. Es war ein griesgrämiges Tier, das nur Onkel Leonard mochte und alle anderen Menschen hasste. Am liebsten saß es auf Leonards Schulter und betrachtete von dort aus die Welt. Und wenn sein Herrchen einmal keine Zeit für ihn hatte, kletterte es schmollend aufs Bücherregal. Julian und ich versuchten immer, Cäsar zu füttern und zu streicheln, aber das Äffchen aß keinen Bissen von dem, was wir ihm hinhielten, und wenn wir näherkamen, versuchte es, uns zu beißen. Seine Bösartigkeit machte es für uns nur noch interessanter.
Wir liefen um das Haus herum. Niemand ging jemals durch die Eingangstür hinein. Die Rückseite von Monk’s House lag niedriger als der Garten. Pflanzen klopften gegen die Fensterscheiben, als wollten sie hinein. Im Sommer gelang ihnen das sogar, denn dann standen die Fenster des Wintergartens einen Spaltbreit offen. Pflanzen zurückzuschneiden, das empfand Onkel Leonard als Sünde.
Das Haus selbst war voll. Grün und voll. Die Wände waren grün, der Fußboden war mit grünen Fliesen bedeckt, die Möbel waren mit grünen Stoffen bezogen. Grün war Tante Virginias Lieblingsfarbe. Und in all dem Grün lagen stapelweise Bücher, die auf einen Käufer warteten. Ab und an machte sich Onkel Leonard auf den Weg, um mit Zug und Bus Buchhändler in ganz England zu besuchen. Das Äffchen wurde dann in einen Käfig gesperrt, in dem es traurig auf die Rückkehr seines Herrchens wartete.
»Wir wollen Theater spielen!«, sagte Duncan.
Julian und ich suchten erst einmal Cäsar.
Gebückt, damit sie sich den Kopf nicht an dem niedrigen Türrahmen stieß, kam Tante Virginia nach draußen. Sie war eine dünne Frau mit einem schmalen, spitzen Gesicht und Augen, die immer ernst blickten, selbst wenn sie lachte. Und sie lachte oft, vor allem, wenn wir gemeinsam Theater spielten. Onkel Leonard hatte buschige, schwarze Augenbrauen, die sich mit seinem Mund mitbewegten, wenn er redete. Er ging immer etwas krumm, als würden seine Schultern höher sitzen als bei anderen Menschen.
»Was haltet ihr von einem Lustspiel?«, fragte Virginia. »Die Passage, an der ich gerade arbeite, bereitet mir Kopfschmerzen. Es ist das Romanende, ihr wisst ja, wie ich immer mit dem Ende eines Buchs ringe.«