Thomas A. Keck
Roman
Impressum
© 2016, Thomas A. Keck
Kirchgasse 22, 55239 Gau-Odernheim
tredition GmbH, Hamburg
ISBN
978-3-7345-4936-6 (Taschenbuch)
978-3-7345-4937-3 (Harcover)
978-3-7345-4938-0 (E-Book)
Auf der Tagesordnung standen die üblichen Themen, Frühjahrskollektionen, Sonderkollektionen, kurzfristige Trends und Marktanalysen, Nähte, Maschen, Zwickel und all das. Friedlich aber lag nicht viel am Zwickel. Für ihn war der Damenstrumpf an sich etwas Fremdes, Unheimliches. Er empfand es als künstlich, drei Tage lang über diese Sache zu debattieren und wäre der Veranstaltung am liebsten fern geblieben. Aber gerade das war auf keinen Fall möglich.
Wie hätte er in seinem Beruf je bestehen können, wenn er nicht über all die Jahre hinweg an den Sitzungen teilgenommen hätte? War Anwesenheit nicht das Mindeste, was man von ihm fordern konnte?
Indem er sich zu diesen öden Sitzungen begebe, bestätige er seine grundsätzliche Bereitschaft, sich mit den Erfordernissen seines Berufes zu beschäftigen, sich fortzubilden und stets auf den wenn auch unwahrscheinlichen Fall vorbereitet zu sein, dass irgendwann einmal völlig neue Entwicklungen den Markt veränderten. Dies war einer der anstrengendsten Gedanken, die Friedlich je gehabt hatte. Was hätte man denn von seiner professionellen Ernsthaftigkeit halten sollen, wenn eines Tages ein neues Material oder eine neue Form alles bisher Dagewesene mit einem Schlag verdrängt hätte und er der einzige wäre, der noch die alten Nylons und nichts als die im Koffer gehabt hätte?
Er war jedes Jahr zur Stelle gewesen, hatte keinen Vortrag verpasst, wäre jederzeit ansprechbar gewesen und hätte vielleicht sogar manche Idee entwickelt, wenn sich dazu nur eine Gelegenheit ergeben hätte. Und wenn es um andere Dinge gegangen wäre als eben um Strumpfmoden und Damenunterwäsche. Vor vielen Jahren hätte er sich wirklich fast einmal zu Wort gemeldet. Ein älterer Kollege hatte ein Referat zum Thema „Damenstrumpf und Männerherz“ gehalten und dabei vor allem über sich geredet. Da verspürte Friedlich Lust, auch etwas aus seinem Leben zu erzählen. Von seinen Verhältnissen zu Frauen und vom Scheitern dieser Beziehungen. Leider war das Referat vorbei, bevor er für seine Wortmeldung mental ausreichend gerüstet war. Es kam ihm vor wie Absicht. Seine Betrachtungen hätten die Diskussion womöglich sehr befruchtet. Und sein eigenes Leben hätte endlich jene Wendung genommen, deren Herannahen er seit vierzig Jahren spürte.
Im Berufsalltag war er nicht besser oder schlechter als jeder andere. Seine Verkaufszahlen waren normal. Er gab sich sogar Mühe, Rekordverkäufe oder ähnliches zu vermeiden, so wie er in der Schulzeit die ungezügelten Wachstumsschübe des Pubertierenden vermieden hatte. Er war nicht zu groß, nicht zu klein, hatte weder zu viele noch zu wenig Pickel und keine allzu ausgeprägten Gesichtszüge. Seine Noten lagen im Mittelfeld, und genau dort spielte er manchmal, fast unbemerkt von seinen Mannschaftskameraden, Fußball im Verein seines Heimatstadtteils. Er hatte sich keine besonderen Unarten angewöhnt, sich aber auch nicht durch deren völliges Fehlen hervorgetan. Wenn er eine Gruppe von Rauchern sah, stellte er sich gerne dazu und paffte, so gut es ihm eben gelang - ohne sich deswegen gleich als Raucher zu begreifen. Das Ziel seiner Strategie war es, sich für den großen Moment in seinem Leben alle Möglichkeiten offen zu halten. So war er sich noch unsicher, ob er als Damenunterwäsche- oder Strumpfmodenvertreter auftreten sollte – ein Umstand, der ihn bislang daran gehindert hatte, eine eigene Visitenkarte zu führen.
Auch im privaten Umgang sah er die Voraussetzung für den Erfolg darin, sich nicht vorzeitig festzulegen. Boshafte Zungen mochten dies als mangelndes Interesse an anderen Menschen, an der Gesellschaft an und für sich ausdeuten können. Vermutlich zerriss man sich hintenherum das Maul. Doch das war ihm gleichgültig...
Gut, es war ihm nicht gleichgültig, aber was hätte er dagegen denn tun können? Er hatte seinen Platz im Großen und Ganzen, und den füllte er sozusagen maßstabsgetreu aus.
Während des Abschluss-Buffets setzte er seinen Ehrgeiz daran, von jeder dargebotenen Speise ein Kostpröbchen auf seinen Teller zu stapeln. Während sich die Kollegen gegenseitig durch unnütze Gespräche ablenkten, hatte er genügend Zeit, sich ganz auf sein inventarisch-kulinarisches Vorhaben zu konzentrieren. Er vertiefte sich gerade in den Bereich der Mehlspeisen, als ihm ganz unverhofft ein Gebiss auf den Teller geriet.
Dieser bizarre Fund kam ihm sehr ungelegen. Was macht man mit derartigen Dingen? Sollte er die Prothese an der Garderobe abgeben? Oder sich auf einen Tisch stellen und das Fundstück laut ausrufen? Das war nicht seine Art. Und so schob er das herrenlose Gebiss mit der Gabel vorsichtig wieder von seinem Teller herunter und ließ es in eine große Nudelschüssel gleiten. Dann versuchte er, einen recht gründlich kauenden Eindruck zu erwecken. Und bald hatte er die ganze Angelegenheit darüber vergessen. Doch kurze Zeit später tippte ihn jemand von hinten an.
Er möge entschuldigen, ob dies sein Gebiss sei. Ein steinalter Kollege, der sich als Amadeus Müller vorstellte, hielt ihm die fast verdrängten Zähne unter die Nase. Er habe das eben gefunden und sich gedacht, Mensch, das müsse wohl jemand im Eifer des Gefechtes verloren haben. Aufgrund seiner Beobachtungen sei es nicht unwahrscheinlich, dass dieser Jemand Friedlich sei.
Friedlich fühlte sich der überraschenden Gesprächssituation nicht gewachsen. Spontan fiel ihm nur ein, „nein, danke“ zu sagen und sich schnell umzudrehen. Doch davon ließ sich Müller nicht abschrecken. Er redete weiter auf Friedlich ein. Die Sache sei merkwürdig. Schließlich gehe es hier um ein menschliches Gebiss. Vielleicht stecke ein Verbrechen dahinter. Ob man wohl die Polizei rufen solle?
Nun wurde es also kriminalistisch! Friedlich spürte, dass dieser Müller gefährlich werden konnte. Falls er seinen Versuch beobachtet hatte, das Corpus Delicti verschwinden zu lassen, musste er ihn über kurz oder lang als Übeltäter entlarven. Bestimmt wollte er ihm einen Mord anhängen, in Tateinheit mit unsachgemäßer Entsorgung von Leichenzubehör. Was Friedlich nun brauchte, war ein vertrauenswürdiger Kongressteilnehmer, den er kannte, der ihn kannte und der ihm zuliebe bereit gewesen wäre, sich offen zu dem Gebiss zu bekennen. Klar, dass ihm da keiner einfiel.
Oh, da seien ja Zähne... also... seine Zähne. Er nahm das Gebiss an sich und stammelte irgendeinen Blödsinn, er habe es nicht gleich wiedererkannt, und er trage aus Vorsorge immer einen Satz Zweitzähne in der Sakkotasche. Das sei sehr umsichtig, befand Müller. Aber, um jeden Irrtum auszuschließen, solle er das Gebiss gleich einmal anprobieren. Ein widerlicher Vorschlag, zumal an den fremden Zähnen nicht nur Speisereste klebten, sondern auch Fussel. Aber vom Ekel abgesehen, hätte Friedlich seine aktuellen Zähne nicht so schnell herausnehmen können. Die meisten davon waren fest verwurzelt. Er erklärte, sein Haftkleber verhinderte einen schnellen Gebisswechsel, und verwies auf die charakteristische Form der Backenzähne, die jeden Zweifel ausschließe.
Ihm einen derart verklitterten Hirnmost vorzusetzen sei eine bodenlose Unverschämtheit. In Wahrheit nämlich sei er, Amadeus Müller, höchstselbst der wahre Besitzer des Gebisses. Er habe nur einmal sehen wollen, wie weit die Perfidie eines moralisch verkommenen Zwickelverächters eigentlich reiche. Die Gebisse seiner Mitmenschen einfach in den Nudelsalat zu werfen, heiße auch, die Verantwortung unter den Teppich zu kehren. Was sei er, Friedlich, nur für ein Mensch, dass er glaube, sich so billig davonstehlen zu können? Und wie sei es nur möglich, dass ihm die ganze Zeit über die Zahnlosigkeit seines Gesprächspartners nicht aufgefallen sei?!
In seinem Zorn verlor Müller alle Würde des Alters und begann, ein wenig asozial zu wirken. Inzwischen nahmen bereits alle anwesenden Damenstrumpfmodenvertreter Anteil an der Auseinandersetzung. Friedlich versuchte, sich der Peinlichkeit zu entziehen, indem er das fragliche Fundgut seinem Ankläger vorsichtig hinhielt. Doch Müller achtete gar nicht mehr auf seine Zähne und rief heftig spuckend, eine solche Abwesenheit von Charakter sei ihm noch nicht untergekommen. Wer einem armen Kollegen die eigenen Zähne vorenthalte, der sei noch zu ganz anderem fähig. Letztlich sei die ganze Strumpf-Branche in Gefahr, wenn sich eine solche Einstellung durchsetze. Nun war klar, dass Müller den Bogen der Angemessenheit weit überspannen würde. Schon trat ihm Schaum vor den Mund, und er fiel, konvulsivisch zuckend, in die Rindfleischpastete.
Wenige Minuten später hauchte er seinen letzten Atem aus. Die Meinungen zu diesem ungewöhnlichen Todesfall kristallisierten sich um die Warnung vor übermäßiger Aufregung und vor Rindfleischpastete. Ein rasch herbeigerufener Arzt konstatierte jedoch, der Mann sei keineswegs an der Pastete gestorben. Vielmehr scheine es, als habe seine Zahnlosigkeit ihn jäh verhungern lassen. Friedlich aber beschäftigte ein anderes Problem: Woher hatte dieser Müller von seiner Einstellung zum Zwickel gewusst?
Im ersten Park blieb er stehen. Da er wusste, dass sie wie üblich drei Meter hinter ihm herlief, wandte er sich zu ihr um. Sogleich drehte auch sie sich um und lief in die andere Richtung. Er verfolgte sie, bis er sie am Ärmel packen und anhalten konnte. Er stellte sie zur Rede. Weshalb sie einfach davonlaufe. Sie habe gedacht, er wolle nach Hause gehen. Sie solle aber nicht denken. Sie solle warten und zuhören. Und wenn sie schon unbedingt denken müsse, dann solle sie gefälligst nicht so einfach drauflos denken, sondern lieber mal ein bisschen mitdenken. Es sei doch offensichtlich gewesen, dass er sich nicht umgedreht habe, um nach Hause zu laufen. Sie habe doch sehen müssen, dass er mit ihr habe reden wollen. Nein, das sei an seinem Umdrehen überhaupt nicht zu erkennen gewesen. Wenn sie nicht immer fünf Meter hinter ihm her liefe wie eine Araberin, dann hätte er es gar nicht nötig gehabt, sich umzudrehen. Nun aber wollte sie wissen, was er ihr denn so Dringendes mitzuteilen habe. Er hatte es vergessen. Daran sei sie schuld. Sie gingen weiter.
Nach wenigen Minuten blieb er abermals stehen und wandte sich zu ihr um. Wieder kehrte auch sie sofort um und lief in die entgegengesetzte Richtung. Sie solle sofort anhalten. Sie blieb stehen. Er aber wollte, dass sie augenblicklich zu ihm zurückkomme. Ganz nah! Ob er nun spazieren wolle oder nicht. Falls er sich nicht entscheiden könne, zöge sie es vor, nach Hause zu gehen. Sie habe schließlich noch Wäsche in der Maschine. Sie solle weder hinter ihm her- noch einfach davonlaufen. Er habe sich nun wieder erinnert, was er vorhin habe sagen wollen. Ob dies nicht Zeit habe, bis man zuhause sei. Nein! Es war ihm anzumerken, dass er gerne einen starken Fluch gebraucht hätte. Sie gab nach. Also gut, dann solle er endlich frisch von der Leber weg erzählen, was er auf dem Herzen habe. Er zierte sich. Es sei jedes Mal dasselbe mit ihr. Sie werfe in ihren unbedachten Redensarten alle Organe durcheinander. Schließlich aber rückte er doch mit der Sprache heraus. Er wäre glücklich, wenn sie sich ihm so hingebungsvoll widme wie ihren unzähligen Krankheiten und ihrer ewigen Husterei. Er sei es leid, ständig von einem hustenden Etwas verfolgt zu werden.
In diesem Moment bekam sie einen Hustenanfall. Na bitte, er habe es ja gesagt. Das sei doch kein normales Gespräch. Ihr Anfall dauerte länger als gewöhnlich. Ein Polizist kam vorbei. Sie habe ja gerade vorgehabt, nach Hause zu gehen. Dann könne er seinen Spaziergang ungestört fortsetzen und die nackten Mädchen auf der Wiese anschauen. Daran wolle sie ihn keinesfalls hindern. All dies habe mit nackten Mädchen nicht das Geringste zu tun. Es sei außerdem Herbst. Zu dieser Jahreszeit trügen alle Mädchen im Park warme Kleidung. Er habe dafür großes Verständnis, selbst wenn er, wie er gerne zugebe, die Schönheiten junger Mädchenblüte mit Wohlgefallen betrachte. Er sei ja schließlich ein Mann. Aber das scheine sie in ihrer chronischen Verschleimung schon lange nicht mehr zu bemerken. Es sei an der Zeit, dass sie ihre täglichen Besuche bei allen Ärzten der Stadt einstelle und sich wieder mehr der Ehe widme. Es sei ja nicht so, dass ihr die körperlichen Mittel dazu fehlten. Beispielsweise könne sie genauso schnell laufen wie er. Er habe durch sorgfältige Beobachtung herausgefunden, dass sie imstande sei, ihn unter günstigen Umständen sogar zu überholen. Es hindere sie also nichts daran, wie eine normale Frau neben ihm zu gehen. Doch sie überlasse sich ganz hemmungslos ihrer Krankheit, ihrem Selbstmitleid und ihrer negativen Weltsicht, mit der sie allen und hauptsächlich ihm das Leben vergälle.
Er hatte sie damit beleidigt. Sie wolle, er hätte all ihre Krankheiten, ihren Husten und ihre dünnen Nerven, dann würde er nicht mehr so dummklug daherreden. Es entstand eine dramatische Pause. Ein Paar mit einem Kinderwagen ging vorbei. Er blickte sie nur kopfschüttelnd an. Dann ging er weiter und grübelte. Sie blieb drei Meter hinter ihm.
Unauffällig steckte Friedlich das fremde Gebiss ein, um weitere Zwischenfälle zu vermeiden. Den Veranstaltungsraum hatte man verlassen. Er stand nun am Rande eines allmählich zerbröckelnden Haufens von Vertretern auf dem Vorplatz und paffte. Mit Worten wie, die Zukunft sei textilfrei, oder zumindest vertreterfrei, und weder Straps noch Mieder seien eine Reise wert, verabschiedeten sich irgendwelche Kollegen von irgendwelchen anderen Kollegen, die Friedlich weder namentlich noch sonst irgendwie kannte. Was wohl daran lag, dass er sie nicht wirklich voneinander unterscheiden konnte. Gerne hätte auch er einen ähnlichen Spruch zum Anlass seines Verschwindens genommen. Aber selbst wenn ihm einer eingefallen wäre, er hatte einfach keinen direkten Ansprechpartner. So stand er noch ein gutes Stündchen herum, versuchte dabei auch die eine oder andere kommunikative Geste, die freilich stets ignoriert wurde, und verließ den Platz erst, als die beiden letzten Kollegen sich verabschiedet hatten. Einer von ihnen hatte ihm zu guter Letzt sogar noch einen erstaunten Blick zugeworfen, der ihm jenen schalen Nachgeschmack bereitete, dem er durch sein unbeirrtes Ausharren eigentlich hatte entgehen wollen. Na ja, dachte er sich, man kann es eben nicht jedem recht machen.
Nachdem nun alles vorüber war, beschloss er, gewissermaßen zur Belohnung für die stoisch erduldeten seelischen Strapazen einen außerplanmäßigen Spaziergang zu unternehmen. Das war die beste Methode, den angebrochenen Sonntag zu nutzen. Er fuhr noch ein paar Kilometer mit dem Vertreterauto aus der Stadt hinaus. Eine kleine Zusatzinvestition, die sich lohnte, weil er so weniger Gefahr lief, vielen anderen Spaziergängern zu begegnen. Es ist nichts unangenehmer als die Begegnung mit Menschen, von denen man nicht weiß, ob man sie grüßen muss. Tut man es nicht, entpuppen sie sich als die besten Kunden, die einen mit ihren aus reiner Gefälligkeit getätigten Hamsterkäufen manchen Monat über Wasser gehalten hatten und nun zurecht unwirsch reagierten, weil sie sich undankbar behandelt fühlten. So etwas ist peinlich. Peinlicher ist es noch, wenn man die Leute vorsorglich grüßt und dann mit Bestürzung erkennen muss, dass man sie nie zuvor im Leben gesehen hat. Nichts ist erniedrigender als der tödlich herablassende Blick eines Menschen, der sich zu Unrecht gegrüßt fühlt. In Bruchteilen einer Sekunde kann einen ein solcher Blick von der Straße des gesellschaftlichen Einvernehmens reißen und an den Pranger schlagen. Wer einmal einen solchen Blick ertragen musste, kann die Sorgfalt begreifen, mit der Friedlich ihm aus dem Wege ging.
Vor anderen Menschen bereitete ihm schon sein Name eine gewisse Schwellenangst. Was hatten sich seine Eltern nur dabei gedacht, ihn Friedrich zu nennen und so den eigentlich recht hübschen Nachnamen Friedlich zum schier unüberwindlichen Hindernis zu machen? Wie schwer wurde es ihm in seiner Jugend, wenn ihn jemand nach seiner Identität befragte! Namentlich an die Einschulung hatte er üble Erinnerungen. Schon als die Lehrerin begann, ihre neuen Schüler nach den Namen zu fragen, hatte Friedlich Schweißausbrüche bekommen. Er war bis dahin nur von seiner Mutter und deren Herrenbekanntschaften mit dieser Frage gehänselt worden. Im privaten Kreise kannte man sein Problem und erwartete nichts anderes, als sich auf seine Kosten lustig zu machen. Diese ernsthafte Frau aber wollte ohne alle Hintergedanken eine klare und verständliche Antwort auf ihre Frage. Die anderen Kinder hatten schöne Namen wie Müller, Gabi, Ilsemann, Kevin, Blume, Manuela oder Schmidt, Thomas (Schmidt mit de te? - Hä?!). Schließlich kam die Lehrerin zu ihm: Na, und wie er denn heiße?! Frieri ... Frieri ... Er solle langsam sprechen, sonst verstehe sie ihn nicht. - Frieli ... Frieri ... Die anderen Kinder lachten schon und zeigten mit Fingern auf ihn. Er sei ein Armer, und sie sollten doch nicht gemein zu ihm sein. Wenn jemand nicht richtig sprechen könne, dürfe man ihn deswegen nicht auslachen! Jedenfalls nicht sofort. So, und jetzt solle er es noch einmal richtig versuchen. Frie ... Fried-Rlich ... F-f-ried-rl-rl-nich! – Nun solle er doch bitte einmal aufhören zu stottern, das sei in der Tat unerträglich. Nochmal! A-aber so heiße er doch! Und da musste Friedlich heulen, und natürlich lachten jetzt erst recht alle. Die Lehrerin erzählte etwas von Sprechunterricht und Sonderschule, und weil sie am selben Tag noch mit seiner Mutter sprach, bekam er eine Woche lang nichts zu trinken und nur ganz wenig zu essen. In der Klasse aber war er von Anfang an der Doofkopf.
Während er einen schönen Platz für den Anfang seines Spaziergangs suchte, wunderte er sich, diese Gegend noch nie systematisch erkundet zu haben. Tatsächlich fuhr er solange durch verschiedene Dörfer, an Feldern und Wäldern vorbei, weil ihm kein Ort der wirklich passende schien, dass er schließlich über die Art seines Unternehmens in Zweifel geriet. Ruckzuck gedeihe sich so etwas zu einer regelrechten Rundfahrt aus, und wenn er jetzt nicht loslaufe, sei die Gelegenheit vertagt, und die Nacht breche aus. Er bekam Torschlusspanik. In der nächstbesten Kurve hielt er an und stieg aus.
Es war an einer recht sympathischen Rastbank, die unter einem großen Baum wie für ihn bereitstand. Dahinter versteckte sich eine kleine Kapelle, aus der das steinerne Abbild eines Heiligen herausspähte. Er nahm jedenfalls an, dass die Figur einen Heiligen darstellte, denn wer sonst sollte hier in schlafhemdartiger Gewandung verewigt worden sein? Wohl kaum ein Showmeister aus dem Fernsehen! Hinter der Kapelle führte ein Weg steil in einen Abgrund. Es gab nirgends eine dauerhaft und eindeutig gekennzeichnete Parkfläche. Unter normalen Umständen hätte er diesen Platz nicht einmal zur Notdurftbefriedigung gewählt. Doch jetzt galt es, rasch zu handeln. Außerdem musste er wirklich sehr dringend Wasser lassen.
Er packte seinen Vertreterkoffer in den Kofferraum und suchte nach einer geeigneten Stelle, um sich zu erleichtern. Bei dem freundlichen Heiligen in der kleinen Kapelle fand er sie. Ein wenig fühlte er sich zwar beobachtet, aber was konnte der fromme Herr schon dagegen haben? Im Zweifelsfall hatte Gott selbst dem Menschen die Nieren gegeben. Um ganz sicher zu gehen, grüßte Friedlich höflich, bat formell um Einlass und fragte, ob er kurz die Toilette benutzen dürfe. Vor der Figur stand eine Blumenvase mit einigen frischen Rosen. Friedlich fühlte sich in seiner Treffsicherheit herausgefordert. Ohne Schwierigkeiten füllte er die Vase randvoll an. Dabei nutzte er die Möglichkeit zur geselligen Konversation.
Er erzählte ein wenig über sich, über seine Ansichten zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes und zu einigen moralisch-religiösen Fragen. Es kam zwar, wie gewohnt, keine Antwort, aber wenigstens schaute ihn die Statue auch nicht missbilligend an. Friedlich schätzte die würdevolle Neutralität, welche die Physiognomie von Heiligenbildern selbst ihm gegenüber stets ausstrahlte. Er unterhielt sich gerne mit Heiligen, eigentlich am allerliebsten.
Der Weg hinter der Kapelle führte zu einem Dorf, das gleich am Fuße des steilen Abhangs anfing, oder besser gesagt endete, denn eine Landstraße mag für eine dörfliche Bebauung wohl das Ende, niemals aber den Anfang darstellen: Wer sich dahinter ansiedelt, grenzt sich ab. Auf der anderen Seite der Landstraße, der Kapelle gegenüber, fand Friedlich in stiller Bestätigung dieser Theorie kein einziges Haus.