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Impressum

Autor:

André Manz

Als Printmedium erschienen

im Printsystem Medienverlag, D-71296 Heimsheim

info@printsystem-medienverlag.de

www.printsystem-medienverlag.de

E-Book-Verlag:

Joy Edition, E-BOOKS and more

Gottlob-Armbrust-Straße 7

D-71296 Heimsheim

Mail: info@joyedition.de

Copyright:

E-Book © 2015 by Joy Edition, E-BOOKS and more, Heimsheim

Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form vervielfältigt, übersetzt, abgelichtet oder mit elektronischen Systemen verbreitet werden.

© Fotos: siehe Bildnachweis

ISBN 978-3-944815-57-2

Dank

Danken möchte ich zunächst allen, die sich entschieden haben, dieses – mein erstes Buch – zu kaufen. Ich hoffe sehr, dass sie es nicht bereuen und Freude daran haben, es zu lesen.

Aber auch: Dass sie sich auf den zweiten Band meiner Memoiren freuen!

Mein spezieller Dank geht an Irène, meine liebe Frau, die in so vielen Fällen meinem Gedächtnis nachgeholfen hat.

Ebenso danke ich meinen Gegenleserinnen und -lesern, die mich zur Korrektur vieler wichtiger Details angeregt haben: Angela, Enza, Evi, Jacqueline, Hansueli, Jörg, Wolfgang und Silvia.

Last, but not least auch allen jenen Menschen, die in diesem Buch erwähnt werden, und die teilgehabt haben an meinen Erlebnissen. Ohne sie wäre das Buch nicht zustande gekommen.

Dringender Aufruf

Dieses Buch ist ein Bestseller.

Das heißt, es muss einer werden.

Das heißt, es könnte einer werden, wenn …

Ja, wenn Du, liebe Leserin, lieber Leser, mir ein ganz klein wenig mithilfst.

Es ist ganz einfach. Du wirst von meinen Geschichten natürlich begeistert sein. (Sonst hätte ich sie ja nicht geschrieben!) Und da Du so begeistert bist, liegt es auf der Hand, ein oder besser mehrere Exemplare davon zu verschenken. Denk doch nur an all die Geburts- und Festtage, zu denen Du Deinen Lieben etwas schenken möchtest oder musst! Immer stehst Du vor der Frage, was um Himmels Willen Du am besten schenken könntest. Es sollte ja etwas sein, das der oder die Beschenkte mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht hat (sehr schwierig heutzutage, wo ja alle schon fast alles haben!). Und es sollte etwas Originelles sein. Und es sollte nicht zu teuer sein (man will ja schließlich nicht protzen!). Und …

Was aber erfüllt alle diese Forderungen am besten? Ganz klar: dieses Buch mit meinen Geschichten.

Also, auf geht‘s zum nächsten Buchladen! Oder noch besser: Schreib mir eine Postkarte (aber bitte kein E-Mail, wir sind nämlich ständig überlastet damit – das kennst Du ja vielleicht auch …). Dann bekommst Du nämlich ein signiertes Exemplar. Oder auch mehrere.

Bei zehn Bestellungen gibt's sogar ein elftes Buch gratis dazu! Das nenn' ich ein Angebot!

Vorwort

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Nein, ich bin kein Schriftsteller. Wäre ich einer, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben, denn Schriftsteller, Dichter, Romanciers, Krimiautoren und wer auch immer sind Erfinder. Genau wie die Komponisten. In meinen Geschichten aber habe ich nichts, rein gar nichts erfunden. Ich habe nur beschrieben, was war. Und das möglichst genau und ungeschminkt; also in der Art, wie es ein Reporter tut (oder tun sollte!)

Es ist also nichts erfunden, nur wiedergegeben – so wie es ein Musik-Interpret tut: die persönlich gefärbte, subjektiv empfundene Wiedergabe eines objektiven Notentextes.

Mein Notentext sind die Geschichten, die ich aus meinem Gedächtnis gekramt habe. Viele davon sind spontan aufgetaucht. Und da tat sich höchst Erstaunliches: Bei jeder Geschichte, egal wie weit sie zurück liegt, öffnete sich im Gehirn sozusagen eine Schublade, worin alle Details wie in einem Film wieder auflebten.

Unglaublich: Im Gedächtnis ist viel weniger verloren, als man gemeinhin denkt; mit einiger Konzentration kann vieles wieder aufgefunden werden. Oft genügt ein einziges Stichwort oder Bild, und ganze Szenen aus der Vergangenheit rollen wie in einem Film vor dem inneren Auge ab.

Wie recht hatte doch Jean Anouilh: „Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, und wer sie aufzuheben weiß, hat ein Vermögen.“

Das Aufschreiben meiner Erlebnisse erwies sich als eine spannende Angelegenheit, denn erstens konnte ich alle diese Geschichten in der Erinnerung ein zweites Mal erleben, und zweitens kam die Herausforderung hinzu, dies alles in Worte zu fassen.

Wie aber kam ich überhaupt dazu, diese Geschichten aus meinem Leben aufzuschreiben?

Der Funke entsprang vor Jahren bei der Lektüre der Memoiren des großen Sängers Leo Slezak: „Meine sämtlichen Werke“ und „Der Wortbruch“ (beide im ro ro ro Taschenbuchverlag, Nr. 429 und 330 aus dem Jahre 1959).

Beim Lesen dieser köstlichen, humorvollen Geschichten fiel mir nach und nach auf, dass ich in meinem Leben ja ähnlich Witziges und Skurriles erlebt hatte. Also gab‘s bald nur noch eins: Kugelschreiber zur Hand, und schon startete mein Vorhaben.

Sehr schnell fand ich auch zu meinem Schreibstil: Ich wollte offen, ehrlich und ungeschminkt die Tatsachen schildern, und zwar so, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Kurzum, ich suchte keinen Stil:

Ich bin mein Stil.

Intro

Das Licht dieser Welt erblickte ich 1942 in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, und dieses Jahr war eines der schrecklichsten der Weltgeschichte. Der Krieg tobte an allen Fronten. Die Nationalsozialisten beschlossen die Endlösung der Judenfrage, was die Vernichtung von über 6 Millionen Juden in Konzentrationslagern bedeutete. Die Japaner überfielen Singapur, eroberten die Philippinen und wüteten in China und Korea. Am 30. Mai machten die Engländer mit über 1000 Bombern die Stadt Köln dem Erdboden gleich. Dieser verheerendste Krieg der Menschheitsgeschichte hatte jetzt wirklich die „ganze Welt“ erfasst. Und am 2. Dezember gelang den Amerikanern noch etwas, das dem Krieg in Asien die entscheidende Wende bringen sollte: die erste nukleare Kettenreaktion, der letzte entscheidende Schritt zur Atombombe, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstören sollte.

Aber vorerst platzte am 15. Dezember 1942 um 11.20 Uhr im Marien-Spital in Chur, Kanton Graubünden, eine sanfte Bombe: Ich wurde geboren, ich, Andrea-Otto Manz, Sohn der Edith Manz von Salis und des Architekten Walter Manz. Ich wählte eine wahrlich gute Zeit: kurz vor dem Mittagessen – der gute Appetit ist mir bis heute geblieben!

Nun denn, den ersten Tag meines Lebens verschlief ich größtenteils. Am zweiten Tag – naja, Sie wissen ja selbst, wie sich das nach der Geburt dann so weiter entwickelte …

Also wie gesagt: Ich erblickte das Licht dieser, damals scheußlichen Welt mitten im Krieg.

Von den Kriegswirren wurde mir glücklicherweise nur wenig bewusst, außer, dass mein Vater als Hauptmann eines Sappeur-Bataillons während meiner ersten zweieinhalb Lebensjahre nur sehr selten zu Hause war. Die zentrale Bezugsperson war deshalb meine Mutter.

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Schon als Dreijähriger liebte ich das Wasser

Wie nun ist mein Buch aufgebaut?

Die ersten Geschichten erzählen von Erlebnissen meiner Jugendjahre, und die weiteren Kapitel sind – einigermaßen chronologisch – der Studienzeit, den Konzerten in der Schweiz und jenen im Ausland gewidmet. Das XV. Kapitel bringt verschiedene Erlebnisse, die nicht in die vorangehenden Kapitel eingeordnet werden konnten, und das XVI. Kapitel beinhaltet Begegnungen mit großen, unvergesslichen Musikern.

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Schon als Kleinkind war ich gerne in der freien Natur

Im letzten Kapitel „Wie wir zu unseren Katzen kamen“ übernehmen die schnurrenden Vierbeiner das Regiment; auch sie werden beweisen, wie sie „mit allen Registern“ zu ihren Zielen kommen.

Der Anhang schließlich bringt detaillierte Berichte über unsere beiden Kanadareisen 1984 und 1988.

Für das ganze Buch aber gilt: Einzelne Geschichten stehen in thematischem oder chronologischem Zusammenhang zueinander, andere stehen ganz für sich selbst.

Die geneigte Leserschaft kann das Buch sowohl von vorne bis hinten lesen oder je nach Lust und Laune einzelne Stories herauspicken.

In einigen Fällen wird auf Namensnennungen aus verschiedenen, meist leicht verständlichen Gründen verzichtet. Dort, wo Initialen verwendet werden, entsprechen sie den wahren Namensträgern.

Im Glossar werden musikalische, vor allem organistische Fachworte erklärt, die Nicht-Musikern zum Verständnis dienen mögen. Entsprechende Hochzahlen sind im Buch zu finden.

Und nun, liebe Leserinnen, liebe Leser, wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre.

Spaß, je nachdem mit oder ohne Anführungszeichen.

Wie auch immer, nehmen Sie sich die Maxime Sébastien Chamforts zu Herzen: „Der verlorenste aller Tage ist der, an dem man nicht gelacht hat.“

I. Jugend in Chur

Wie alles anfing

„XY stammt aus einer Musikerfamilie. Die Mutter ist Pianistin, der Vater Geiger im örtlichen Orchester. Schon mit drei Jahren erhält XY Klavierunterricht bei der Mutter“ usw.

So und ähnlich beginnen seit eh und je die meisten Kurzbiografien von Musikerinnen und Musikern. Klar, dass dann Töchterchen oder Söhnchen schon mit acht Jahren ihren ersten Auftritt mit einem Mozart-Konzert o. Ä. hatte, und es mit der Karriere fortan plus/minus steil aufwärts ging, inklusive gewonnener Wettbewerbe.

Diesem Muster begegnet man in jeder Biografie, jedem Konzertführer oder CD-Inlay.

Ablöschend, langweilig.

Nein, meine Eltern waren keine Musiker, nein, meine Mutter gab mir keine Klavierstunden, nein, ich hatte meinen ersten öffentlichen Auftritt nicht als Achtjähriger mit einem Mozart-Konzertchen.

Bei mir begann fast alles ganz anders, ungewöhnlich, ja geradezu mysteriös.

Doch der Reihe nach.

Das Muster Mutter-Klavier, Vater-Geige traf zwar auch auf meine Eltern zu, allerdings in sehr abgeschwächter Form. Meine Mutter spielte ein bisschen Klavier (was damals in ihrer Jugend – sie wurde 1905 geboren – sich für jede Tochter aus besserem Hause gehörte), und mein Vater eignete sich etwas Geigenspiel ebenfalls irgendwann in seinen Jugendjahren an. Beide müssen nach der Heirat ab und an zu Hause zusammen gespielt haben, denn meine erste Erinnerung an Musik geht etwa auf mein drittes Lebensjahr zurück. Und sie war – entsetzlich!

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Seit Schulbeginn verbrachte ich die meiste Freizeit am Klavier

Wie ein Foto habe ich es noch vor mir: Ich lag unter dem Stubentisch, als sie zusammen zu spielen begannen. Und ich heulte aus Leibeskräften. Nein, nicht weil es etwa falsch tönte, sondern aus purer emotionaler Ergriffenheit. Ich habe zwar keine Ahnung mehr, was sie spielten, aber diese Musik wühlte mich im Innersten auf. Die moderne Kinderpsychologie weiß ja, was für tiefe, prägende Emotionen schon Kleinkinder haben können. So war‘s dann bald aus mit meinem elterlichen Duo-Spiel an jenem Abend. Ich gab keine Ruhe mehr, konnte diese Töne einfach nicht ertragen.

Da wurden durch Mutters Klavier- und Vaters Violinsaiten eindeutig Seelensaiten in mir übermäßig stark in Schwingung gebracht.

Ein, zwei Jahre später geschah ein zweites Kardinalereignis.

Wir hatten ein großes, schwarzes Koffergrammophon, das mein Interesse eines Tages reizte.

Ich öffnete es, zog den mechanischen Motor mit der Kurbel auf, griff nach zwei x-beliebigen Schallplatten im Regal, setzte sie auf den Plattenteller und die Nadel an den Beginn der schwarzen Scheibe (das waren die damaligen 78-Touren-Schelllackplatten). Was dann da aus dem scheppernden Lautsprecher kam, haute mich total um: Chopins erste Ballade in g-Moll, gespielt von Alfred Cortot. Kaum waren die letzten Akkorde verklungen, kam die zweite Platte auf den Teller: Liszts zweite Ungarische Rhapsodie, gespielt von Josef Hofmann. Dass Cortot und Hoffmann zu den bedeutendsten Pianisten ihrer Generation gehörten, erfuhr ich erst viel später. Dass ihre Interpretation dieser Werke mich aber zutiefst beeindruckte, dessen bin ich mir noch heute sicher, denn daraus wurde mir ein für alle Mal klar: Das ist meine Musik, meine Welt, die meine Zukunft prägen wird!

Mit fünf dann die ersten Klavierstunden, die ich allerdings bald wieder aufgab, da ich lieber draußen mit meinen Gschpähnli tschuttete (mit Freunden Fußball spielte). Mit sechs aber ging‘s ernsthaft los; das Klavier ließ mir doch keine Ruhe. Jetzt war ich reif für die Musik geworden.

Unser bester Familienfreund, Attilio Giovanoli, war unter anderem Klavierlehrer, und so gab‘s von nun an wöchentlich eine Klavierstunde. Ich übte fleißig und machte entsprechend schnelle Fortschritte. Bald wurde ich Pianist an der Churer Ballettschule, wo ich zusammen mit meinem Lehrer vierhändig Klaviermusik für die Exercicen der jungen Balletteusen spielte und an einem Ballettabend auch meinen ersten öffentlichen Solo-Auftritt mit Christian Sindings ehemaligem Klavierhit „Frühlingsrauschen“ hatte.

An meinem ersten Klavierabend in privatem Rahmen spielte ich am 1. Januar 1956 ein für mein Alter – ich hatte gerade meinen 13. Geburtstag hinter mir – ziemlich kühnes Programm: Beethoven: Sonate D-Dur op. 10 Nr.3, Brahms: Intermezzo und Capriccio op. 116 Nr. 3 und 7, Liszt: vier Consolations, „Au lac de Walenstadt“ und die fünfte Ungarische Rhapsodie, Grieg: vier lyrische Stücke aus op. 54, Debussys „Childrens Corner“ und die Rumänischen Tänze von Bartok. Das Erstaunen darüber war beim Publikum nicht gering (und das meinige rückblickend auch nicht!). Es wurde von Wunderkind gesprochen, was mir gar nichts sagte, da ich damals nicht einmal wusste, was das genau bedeutete. Nein, als Wunderkind fühlte ich mich nie, weil ich meine musikalische Entwicklung als völlig normal empfand. Auch die als Komponierender, worauf ich gleich zu sprechen komme.

(Überhaupt halte ich das Wunderkind-Gerede für sehr fragwürdig, wenn nicht gar sinnlos. Schon allein der Definition wegen: In welchem Alter muss denn ein Kind was können, um als Wunderkind definiert zu werden? Nie wird man diese Frage exakt beantworten können!)

Aber dem ersten öffentlichen Auftritt als Pianist vor großem Publikum bei der erwähnten Ballettaufführung ging einer in kleinem Kreise voran: in einem Churer Restaurant, jenem des Hotels Splügen, einer Stammkneipe meines Vaters. Das nun betrifft mein Komponieren. Und dieses hatte eine etwas sonderbare Vorgeschichte.

Eines Tages – ich mochte etwa acht Jahre alt gewesen sein – beschloss ich, eine Beethoven-Sonate abzuschreiben, einfach so aus Freude am Notenschreiben. Doch bald ahnte ich die Sinnlosigkeit dieses Tuns, ging zu meiner Mami und fragte sie, ob sie es besser fände, dass ich selbst etwas komponiere oder etwas Gedrucktes abschreibe. Sie lachte und riet mir natürlich, dass ich besser etwas Eigenes komponieren solle. Und genau dieser Satz war der Startschuss für mein eigenes Komponieren. Davon war ich in kurzer Zeit geradezu besessen: Stundenlang saß ich am Klavier, pröbelte, improvisierte und schrieb auf, was ich für gut hielt – zunehmend auch ohne Mithilfe des Klaviers.

Meine Kompositionsversuche, wie auch meine gesamte musikalische Entwicklung, erfreuten meinen Vater und vor allem meine Mutter. Beide waren sehr kunstliebend. Insbesondere meine Mutter besuchte stets Konzerte und Theateraufführungen und hörte regelmäßig klassische Musik im Radio; am liebsten abends ganz allein, denn mein Vater verbrachte die Abende oft lieber im Wirtshaus mit Jassen, und ich war anderweitig beschäftigt.

Eine meiner gelungensten Kompositionen war eine musikalische Impression mit dem Titel „Das Meer“, eine gar wilde Sache. Ich spielte sie meinem Vater vor, und er war so begeistert, dass er mich aufforderte, das Stück seinen Stammtischgenossen im Restaurant Splügen vorzuspielen.

Das tat ich dann eines Mittags auch – auf einem, wie üblich grässlich verstimmten Kneipen-Klavier.

Dies war in der Tat mein erster öffentlicher Auftritt. Ermuntert von diesem Erfolg, komponierte ich fleißig weiter. Mein Husarenstück waren „32 Variationen über ein eigenes Thema“. Dieses großangelegte Œuvre schrieb ich zur Gänze ohne Klavier in den Sommerferien in Montreux, die ich zusammen mit meiner Mutter verbrachte. Ich war damals etwa zwölf. Von diesen Ferien ist mir nur das Bild in Erinnerung, wie ich, kaum waren wir von unseren Ausflügen zurück, stets an einem Tisch beim Fenster sitze und wie verrückt Noten schreibe. Vorbilder waren mir die Händel- und Paganini-Variationen vom Brahms, deren Variationstechnik ich mal mehr, mal weniger imitierte, insgesamt aber war es eine recht eigenständige Sache, zwar teilweise derart virtuos, dass ich es selbst gar nicht spielen konnte.

Wie dann meine musikalische Entwicklung, vor allem die organistische, vonstatten ging, davon erzählen nun die folgenden Geschichten. Wobei ich betonen möchte, dass nur Besonderes, Heiteres, Skurriles, Peinliches und Ähnliches zur Sprache kommen wird. Alles übliche, wie es jeder Musiker in seinem Lebenslauf aufweist, ist weggelassen, da es normal und deshalb wenig interessant ist.

Meiner geneigten Leserschaft wünsche ich bei der nun folgenden Lektüre viel Vergnügen.

Sonntagmorgen auf dem Lande

Mein erster Klavierlehrer in Chur war Attilio Giovanoli. Er war auch Organist in der „First Church of Christian Scientist“. In dieser Kirche stand keine normale Kirchenorgel, sondern eine elektronische Hammondorgel.

Da ich zum einen für mein Alter – ich war damals elf – schon weit fortgeschritten war im Klavierspiel und zum anderen in diese Kirche in die Sonntagsschule ging, führte mich Giovanoli auch bald ins Orgelspiel ein. Das war eine neue, faszinierende Welt für mich. In kurzer Zeit war ich schon so vertraut mit der Hammond, dass ich mit dem Orgelspiel in der Sonntagsschule betreut wurde.

Das sprach sich bald herum, und schon nach zwei Jahren erhielt ich vom Schullehrer und Organisten der Evangelischen Kirche von Malix, oberhalb von Chur, die Anfrage, ob ich bereit wäre, ihn beim Orgeldienst zu entlasten. Obwohl ich noch nie auf einer normalen Orgel gespielt hatte, fand ich das Angebot äußerst verlockend und spannend, sodass ich zusagte und mit ihm die Stelle teilte, das heißt alle 14 Tage den sonntäglichen Gottesdienst übernahm.

Die Orgel mit mechanischer Spiel- und Registertraktur (1) stand hinten auf der Empore und verfügte über eine beachtliche Klangstärke. An diesem einmanualigen (2) Instrument berauschte ich mich regelrecht und war bald kühn genug, so große und (viel zu) lange Eingangsspiele wie Bachs große G-dur Fantasie, BWV 572 (3), hinunterdröhnen zu lassen. Das muss den armen Bauern, die den Großteil des Dorfes ausmachten, wie ein Vorspiel zum Jüngsten Gericht vorgekommen sein, denn sie waren von meinem Kollegen nur an eher kurze und einfache Stücke gewöhnt.

Ich liebte diese Sonntage in Malix, und das Dorf wie seine Einwohner wuchsen mir bald ans Herz, da ich sehr geschätzt, ja bewundert wurde und zunehmend Komplimente für mein Spiel erhielt.

Auch die etwa 50 Franken Lohn pro Dienst waren für mich schon fast ein astronomisch hoher Betrag und entlastete meine Eltern fortan von jeglichem Taschengeldzuschuss.

Doch eines Sonntags brach für mich diese heile Welt schlagartig zusammen.

Wie üblich kam ich per Postauto von Chur herauf und nahm den etwa zehnminütigen Weg durchs Dorf zur Kirche hinauf unter die Füße.

Eben kam ich an einem Bauernhaus vorbei, als eine alte Frau aus der Tür kam. Sie hatte vier ganz junge, süß piepsende Kätzchen in den Armen. Was sich dann aber abspielte, drehte mir fast den Magen um und ließ mich bis ins Mark meiner noch so jungen Seele erschaudern.

Sie ging mit den Tierchen zum Brunnen vor dem Haus und ersäufte kurzerhand eins nach dem anderen im kalten Wasser. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich der Szene wie gelähmt zu. Sie hingegen verzog keine Miene, nahm die Leichen und verschwand hinterm Haus. Ich aber setzte meinen Weg fort wie in Trance, unfähig, das Erlebte zu begreifen.

Von diesem Tag an waren meine Sympathien für Malix stark geschrumpft. Jedes Mal, wenn ich bei diesem Haus vorbeikam, beschleunigte ich meine Schritte aus Angst davor, die alte Hexe, für die ich sie hielt, würde wieder mit Kätzchen aus der Tür kommen.

Erst viel später begriff ich, dass es für viele Bauern damals gar keine andere, humanere Möglichkeit gab, sich vom jährlichen Katzensegen zu befreien, denn Kastrationen waren vielerorts noch gar nicht bekannt oder man konnte oder wollte sie sich nicht leisten. Und jenen Kätzchen, wie auch unzähligen anderen, ging es sicher besser, denn als hungernder Streuner sich durchs Leben kämpfen zu müssen.

Wie ich zu Schostakowitsch kam

In der Churer Obergasse gab es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren eine bekannte Bäckerei, geführt vom Ehepaar Kunz. Er, der Bäckermeister, war selten zu sehen – außer in der Backstube und im nahe gelegenen Wirtshaus. Sah man ihn mal im Laden oder auf der Straße, schmunzelte man im Stillen über ihn, war er doch ausschließlich in seiner traditionell weißen Bäckerstracht zu sehen; da und dort klebte stets noch Mehl am Stoff. Ein Original eben, ein Inbegriff eines Bäckers mit Leib und Seele.

Und seine Frau, eine gute Bekannte meiner Mutter, war eine ebenso einfache wie herzensgute Seele, stets guter Laune. Sie hütete von morgens bis abends den Laden, und wann immer ich bei ihr ein Brot kaufte, gab sie mir noch eine kleine Süßigkeit mit auf den Heimweg.

Das alles hätte ich vielleicht längst vergessen, wenn sie mir zu meiner Konfirmation nicht ein folgenschweres Geschenk gemacht hätte. Es war eine Schallplatte.

Nun könnte man denken, dass eine musikalisch eher unbedarfte Frau, die Frau Kunz war, einem Konfirmanden etwas in der Art eines schönen klassischen Musikwerks von Bach, Mozart oder Beethoven geschenkt hätte.

Doch weit gefehlt! Als ich die Verpackung geöffnet hatte und die Platte sah, staunte ich erst einmal tüchtig über das, was da auf dem Cover stand: Dmitri Shostakovitch: Symphony No.10 e-minor op. 93 – Leningrad Philharmonic Orchestra, Eugene Mravinsky, conductor. Ich weiß das buchstäblich so genau, weil ich in diesem Moment die Platte vor mir habe, die Nummer CHS-1313 des damals meistverkauften, heute längst legendären Labels „Concert Hall Society“.

Obwohl ich mich schon sehr früh für zeitgenössische Musik interessierte, war mir Schostakowitsch, neben Sergej Prokofjew der bedeutendste russische Komponist des 20. Jahrhunderts, nur dem Namen nach bekannt. In Chur wurde noch nie ein Werk von ihm aufgeführt, und auch am Radio tauchte der Name nur selten auf. Ich hörte mir diese Sinfonie baldmöglichst an und war sehr gespannt, was da aus dem Lautsprecher auf mich zukommen würde.

Wir hatten damals nur ein kleines Koffer-Grammophon mit mickrigem Lautsprecher. Doch was da aus dieser schäbigen Kiste auf mich hereinwuchtete, und vor allem in dem erschlagenden zweiten Satz auf mich niederprasselte, haute mich komplett um. So etwas hatte ich noch nie gehört.

Eine völlig neue Musikwelt tat sich da für mich auf: neuartige, faszinierende Harmonien und Melodien, wilde Rhythmen, und dann diese orchestrale Wucht sondergleichen! Aber wie soll man Musik beschreiben? Hören muss man sie!

Mit Sicherheit hatte die liebe Frau Kunz keine Ahnung, was für eine Bombe sie mir da ins Nest gelegt hatte. Hätte sie sich die Platte vorher angehört, hätte sie wohl der Schlag getroffen und die Scheibe sofort umgetauscht, denn für an Bach, Mozart und andere Klassiker gewöhnte Ohren muss die Musik Schostakowitschs damals ein kakophonisches Chaos gewesen sein.

Für mich aber war es ein seelisch-musikalisches Erdbeben erster Güte. Von Stund an war ich ein Fan von Schostakowitsch. Und bin es heute noch, nachdem ich längst alle 15 Sinfonien gehört habe nebst vielen anderer seiner Meisterwerke.

Hängengeblieben

Nach gut zwei Jahren Orgeldienst in Malix (siehe „Sonntagmorgen auf dem Lande“) erhielt ich ein Angebot der evangelischen Kirchengemeinde Malans, dem schmucken Dorf am Eingang zum Prättigau.

Zur Diskussion stand die Übernahme der Sonntagsgottesdienste. Die Beerdigungen besorgte eine ortsansässige Organistin.

Aus zwei Gründen sagte ich zu: Es gab in der Malanser Kirche eine stattliche zweimanualige (2) Orgel, dazu war die Stelle lukrativer als Malix. Für meine 15 Jahre würde ich bereits zum Großverdiener, denn 300 Franken Taschengeld pro Monat waren damals für einen Jungen schon ziemlich ungewöhnlich. Darüber hinaus hatte ich damit auch eine tolle Orgel zum Üben, und ich verbrachte dort in den folgenden Jahren manchen freien Nachmittag mit dem Einstudieren neuer Stücke für meinen Orgelunterricht.

Ich war jetzt nämlich Schüler am Gymnasium der Bündner Kantonsschule in Chur, wo ich zunächst einige Jahre Orgelstunden bei Professor Armon Cantieni nahm (zu seinem Leidwesen kam ich immer zu spät in den Unterricht; die verlorene Zeit holte ich dann allerdings spielend wieder auf, indem ich die Stücke einfach schneller spielte!). Mit 18 wechselte ich zu Professor Duri Sialm und wurde dadurch Urenkelschüler von Franz Liszt! Sialm seinerseits war nämlich Student der beiden Liszt-Schüler Vianna da Motta und Bernhard Stavenhagen.

Nun aber zurück zu Malans.

Da sind mir drei Ereignisse in Erinnerung, die unter den gemeinsamen Nenner „Hängengeblieben“ passen.

Zum ersten war da jener Sonntagmorgen, als beim Schlusschoral „Nun danket alle Gott“ in F-Dur im Pedal (4) das tiefe F hängen blieb. So ein Mist! Ich musste ja unmittelbar nach dem Lied das Ausgangsstück spielen. Doch noch während des Spiels der letzten Strophe kam mir ein Geistesblitz: Gab es da nicht von Bach ein großes Orgelwerk, das mit einem Orgelpunkt auf dem tiefen F im Pedal beginnt? (Unter einem Orgelpunkt versteht man einen mehr oder weniger lang ausgehaltenen Ton im Bass, über dem sich das musikalische Geschehen der Hände abspielt.)

Und genau diesen dritten Band der Bach-Ausgabe der Edition Peters (5) hatte ich – Zufälle gibt‘s! – neben mir auf der Orgelbank liegen, da ich für die Orgelstunde ein anderes Stück aus diesem Band, die Toccata, Adagio und Fuge in C-Dur (BWV 564) für den Unterricht zu üben hatte. Schnurstracks, während das F im Pedal noch weiter röhrte, öffnete ich das Heft, fand die F-Dur Toccata (BWV 540) sofort und legte los. Ich hatte sie zwar noch nie gespielt, aber da ich eine ungewöhnliche Begabung im Vom-Blatt-Spiel besaß, bereitete mir diese erste Seite mit ihren 54 Takten, in denen jede Hand nur eine Stimme zu spielen hatte, kaum Probleme; ebenso wenig das folgende, große Pedalsolo, das ich mir früher schon gelegentlich als Übung vorgenommen hatte. Als diese beiden Seiten vorüber waren, wiederholte ich sie einfach nochmals und war just in dem Moment fertig, als auch der letzte Kirchgänger draußen war. Glück im Unglück nennt man so was!

Die zweite Geschichte aus Malans aber verlief oberpeinlich.

Die Hochzeit des Jahres oder gar des Jahrzehnts stand bevor. Ein Angehöriger der alten Adelsfamilie der „von Sprecher“ wollte die Hochzeit in der Malanser Kirche abhalten.

So war an jenem Samstagnachmittag die Kirche erwartungsgemäß gerammelt voll; das ganze Dorf wollte schließlich an diesem Ereignis Teil haben. Auf besonderen Wunsch der Familie sollte ich die Orgel spielen, was mir jungem Schnaufer eine große Ehre war.

Nach dem festlichen Eingangsspiel begann der altehrwürdige Pfarrer Bonorand die Zeremonie.

Zu Beginn ließ er es sich nicht nehmen, erst einmal auf die große historische Bedeutung der „von Sprecher“-Sippe für die Bündner Herrschaft (6) hinzuweisen. Doch kaum hatte er begonnen, erstarrte ich, und mit Sicherheit die ganze Kirche, beinahe zur Salzsäule: Statt des Namens „von Sprecher“ sagte er stets „von Salis“.

Nun muss man wissen, dass auch die „von Salis“ ein uraltes Bündner Adelsgeschlecht waren, und ein Zweig die Bündner Herrschaft bevölkerte, wovon das Schloss Bothmar in Malans ein stolzes Zeugnis ist, wie auch der seinerzeit berühmte Dichter Johann Gaudenz von Salis-Seewis.

Und ich, ja, ich war und bin auch ein halber „von Salis“, denn meine Mutter hieß vor der Ehe Edith von Salis-Soglio.

Zurück zu Pfarrer Bonorand. Er sprach und sprach, und immer fiel der Name „von Salis“. Unruhe breitete sich aus. Bis etwa nach endlosen fünf Minuten sich ein Mann aus der Gesellschaft ein Herz fasste, aufstand, zum Pfarrer nach vorn kam und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Nun folgte erst mal ein langes Schweigen des armen Pfarrers, denn er musste sich offensichtlich vom Schrecken erholen. Wie er sich endlich wieder gefasst hatte, entschuldigte er sich auf alle Art und beteuerte, es sei ihm ein Rätsel, warum er die Namen verwechselt hätte.

Ich aber wusste es.

Abends zuvor nämlich, als er mir den Ablauf der Hochzeitsfeier am Telefon durchgab, kamen wir auf die Familien „von Sprecher“ und „von Salis“ zu reden. Da er ein geschichtlich interessierter Mensch war, wollte er auch Dinge über die „von Salis“ wissen, über die ich ihn nicht belehren konnte.

Wohl aber meine Mutter als geborene „von Salis“, der ich den Telefonhörer übergab, und die lange mit ihm fachsimpelte. So war er anderentags im Unterbewusstsein wohl noch derart mit den „von Salis“ beschäftigt, dass er noch an der Hochzeit an diesem Namen hängen blieb.

Es war und blieb das Peinlichste, das ich je an einer Hochzeit erlebte.

 

Aber das für mich persönlich schlimmste Erlebnis meiner Malanser Zeit geschah an einem Pfingstsonntag.

Ausgerechnet Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes – für mich sollte es zum Fest des unheiligen Geistes mutieren.

Wie es bei den großen kirchlichen Feiertagen Tradition ist, war es ein Abendmahlsgottesdienst.

Und wie es dabei meistens der Fall ist, blieben noch Brot und Wein übrig.

Kaum hatte sich die Kirche geleert, kam der Messmer, begleitet von zwei meiner Kantonsschulkollegen, die in Malans wohnten, und bot uns an, sich am übrig gebliebenen Brot und Wein gütlich zu tun. Das brauchte er nicht zweimal zu sagen, denn nach dem langen Gottesdienst und mit kleinem oder gar keinem Frühstück im Bauch waren wir ebenso hungrig wie durstig. So griffen wir hemmungslos zu, und der Wein ging uns sehr schnell ins Blut und in den Kopf, denn das wenige Weißbrot vermochte den Alkohol kaum zu neutralisieren. Schon ziemlich heiter und beschwingt, verließen wir die Kirche und beschlossen, zum Mittagessen in die nahe gelegene Krone zu gehen. Das war ein renommiertes Restaurant, bekannt für feines Essen und auserlesene Herrschäftler Weine, jene weit herum bekannten Malanser und Jeninser Tropfen.

Wir bestellten ein Menü und eine Flasche Rotwein, die auch sofort serviert wurde, während das Essen auf sich warten ließ. In dieser Wartezeit blieben wir am Wein hängen, frönten dem roten Saft großzügig, und bald stand schon eine zweite Flasche auf dem Tisch.

Da nun war‘s um uns geschehen: Die Stimmung geriet außer Rand und Band. Wir lachten, johlten und tanzten herum, dass der Wirtin und den zum Glück erst wenigen Gästen Sehen und Hören verging.

Mich hatte es am meisten erwischt, ich verlor jede Kontrolle, rastete völlig aus, stieg gar auf den Tisch und legte einen wackligen Twist hin, jenen damaligen Modetanz, der meine Spezialität war.

Ob und wie viel wir danach noch vom Menü verzehrten, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich später stockbesoffen zum Bahnhof runter schwankte und die Rückreise nach Chur auf der Toilette verbrachte. Totenbleich kam ich zu Hause an.

Vor Schreck war auch meine Mutter bleich geworden, da sie ja keine Ahnung hatte, was der Grund für meinen erbärmlichen Zustand war. Nach kurzer, gestammelter Erklärung steckte sie mich ins Bett, das ich bis zum Abend des Pfingstmontags nicht mehr verließ.

Diese üble Erfahrung hatte mir jegliche Lust auf Wein für Jahre hinaus vergällt, und Pfingsten ist für mich seither wieder zum Fest des alkoholfreien Heiligen Geistes geworden.

Wie heißt es doch? Durch Erfahrung wird man klug.

Dem möchte ich beifügen: Je härter die Erfahrung, desto klüger wird man. Jedenfalls ist für mich seit jener Malanser Pfingsten der Wein kein Mittel gegen den Durst mehr, sondern, mit Maß und Vernunft kredenzt, ein echter Genuss.

Nasse Füße

Ich war an der Kantonsschule zuerst Orgelschüler von Professor Armon Cantieni und machte schon in kurzer Zeit große Fortschritte. Cantieni war ein gütiger und großzügiger Lehrer, sodass ich mehr und mehr selbst bestimmen konnte, was ich spielen wollte. Gelegentlich fiel meine Wahl auf Stücke, die er selbst nicht kannte – zum Beispiel die zweite Orgelsonate des zeitgenössischen deutschen Komponisten Harald Genzmer aus München. Diese Sonate hörte ich eines Tages im Radio. Das war kein Zufall, denn ich studierte jeden Tag die Programmzeitschrift ganz genau und kreuzte an, was ich hören wollte. (Das pflege ich notabene bis zum heutigen Tag!) Genzmers Sonate machte mir einen ungeheuren Eindruck, denn sie war für die damaligen Verhältnisse ein recht modernes Werk. Auf solche zeitgenössische Musik war ich geradezu versessen. Ich studierte zum Beispiel in jener Zeit – als 16-Jähriger! – sogar die so komplizierte Zwölftontechnik des Wiener Kreises um Schönberg, Berg und Webern anhand des zweibändigen Lehrbuches des Wieners Hanns Jelinek und erarbeitete mir mit Eifer und Begeisterung einige seiner Klavierwerke wie auch Diverses von Schönberg.

Zurück zu Genzmer. Sofort besorgte ich mir die Noten und übte das recht anspruchsvolle Werk wie besessen. Nach ein paar Wochen hatte ich es drauf, und mein Lehrer staunte nicht schlecht. Kurzerhand beschloss er, mit mir ein Orgelkonzert für die Schüler der Gymnasialklassen zu veranstalten.

Nebst Genzmers Sonate waren auch Bachs großes c-Moll Präludium und Fuge (BWV 546) sowie weitere zünftige Brocken auf dem Programm.

Gut vorbereitet, kam dann der große Tag meines ersten öffentlichen Vorspiels als Organist.

Die große Aula der Kantonsschule war vollbesetzt. Ich war mit zwei Kollegen noch draußen im Gang und wollte meine Orgelschuhe anziehen. Doch wo waren sie? Ich hatte sie eingepackt, das wusste ich genau. Aufgeregt fingen wir an, sie zu suchen. Es dauerte nicht lange, als einer meiner Kollegen sie in der Toilette fand – bis zum Rand gefüllt mit kaltem Wasser!

Diese verdammten Schlitzohren! Ich wusste genau, dass sie selbst es waren, die mir den üblen Streich gespielt hatten. Zwar heuchelten sie zuerst noch die Unschuldigen, aber ihr Grinsen verriet sie bald. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel, gab mich unbeeindruckt, ja lachte sogar mit ihnen. Wenn sie dachten, mich mit ihrem Streich aus der Fassung bringen zu können, hatten sie sich gewaltig getäuscht.

Kaltblütig leerte ich das Wasser aus, trocknete die Schuhe, so gut es ging, und zog sie an, als wäre nichts dabei. Aber die Restnässe drang bald durch die Socken. Ich betrat dann nolens volens eben mit nasskalten Füßen die Aula, ging unter brausendem Applaus zur Orgel und zog mein Programm eisern durch. Bald war ich so sehr in der Musik drin, dass der ungewohnte Zustand meiner Füße gar nicht mehr in mein Bewusstsein drang.

So war mein erstes Orgelkonzert bereits eine Art Feuer-, das heißt in diesem Fall eher Wassertaufe.

Und die Moral von der Geschichte: Lass dich im Leben nie unterkriegen, auch wenn sich deine Schuhe vor Nässe biegen!

Komplett gestörtes Complet

Wie erwähnt (siehe „Hängengeblieben“), war mein zweiter Orgellehrer an der Kantonsschule Duri Sialm. Er war dort Musikprofessor sowie Organist an der Churer Kathedrale. Unsere Orgelstunden fanden aber nicht dort, sondern in der Erlöserkirche im unteren Stadtteil statt. Hart traf es mich, als er schon nach einem dreiviertel Jahr Unterricht ganz unerwartet verstarb. Eben hatten wir noch vereinbart, Franz Liszts tiefschürfende Variationen über „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen …“ in Angriff zu nehmen. Dieses Werk faszinierte mich gewaltig, sodass ich mir vornahm, es nach Sialms Tod allein zu studieren.

Noch zu seinen Lebzeiten hatte ich ungehinderten Zugang zur großen, dreimanualigen (2) Gattringer-Orgel in der Kathedrale. Dieses Instrument stammte aus dem Jahr 1940 und verfügte über einen gewaltigen Spieltisch mit über 60 Registern, drei freien Kombinationen (7) und war geradezu prädestiniert für die vielen, feinst abgestuften Klangfarben des großen Liszt-Werkes.

Ich spielte es aus der Ausgabe des berühmten Karl Straube in der Peters Edition (5). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine Unmenge Angaben zur Registrierung (8) enthält, also zur klanglichen Verwirklichung an einer großen, deutsch-romantischen, sinfonisch ausgerichteten Orgel.

Diese genialen Angaben wollte und konnte ich fast wörtlich an der Kathedralorgel umsetzen.

Was für Welten sich mir da auftaten! Noch nie hatte ich Gelegenheit, mich derart intensiv mit den klanglichen Möglichkeiten einer so großen Orgel auseinanderzusetzen. Ich kam mir vor wie ein Alchimist, mit den feinsten Klangfarbenabstufungen experimentierend. Oft ging ich nachmittags nach Schulende die paar Schritte runter in die Kathedrale und versenkte mich in meine Arbeit.

Dann kam der Tag, an dem alles fertig war, alle Registrierungen mit Nummern in die Noten eingetragen, das Werk auch einigermaßen manuell beherrscht. Und nun wollte ich das ja auch endlich jemandem zeigen und vorspielen.

Da erbot sich Edgar a Marca an, ein Freund und ehemaliger Klavierschüler Sialms, durch dessen Tod wir ohnehin eng verbunden waren. So traf Edgar dann eines Abends nach 17.00 Uhr auf der Empore der Kathedrale ein, und ich erklärte ihm zuerst die Orgel und Liszts Werk. Dann legte ich los, spielte und spielte und bemerkte nicht, dass vorn im Chor Licht gemacht wurde und etwa ein Dutzend Priester Platz nahmen. Erst als sie anfingen zu singen, wurde mir klar, dass es schon 19.00 Uhr war, und sie zum letzten Gesang des Tages, dem Complet, angetreten waren. Doch das kümmerte mich nicht im Geringsten, ich war derart im Feuer, dass ich ungehemmt weiter spielte. Ich wollte Edgar das Stück um jeden Preis bis zum Ende vorspielen.

Das Ende kam dann auch: der sich mächtig bis zum Tutti (9) steigernde Choral „Was Gott tut, das ist wohl getan“. Gewaltig dröhnte es von der Empore und erschütterte den ganzen Kirchenraum.

Aber auch immer lauter dröhnte es von unten herauf: der monotone Gesang der Priester.

Sie mussten immer lauter singen, um sich überhaupt selbst noch zu hören. Doch ich ließ mich nicht klein kriegen, denn gegen die Wucht der Orgel kamen sie ohnehin nie an. Bald uferte es zu einem gigantischen Klangchaos aus, wie es in dieser Art in diesem heiligen Raum wohl noch nie ertönt war. Nach dem letzten, extra lang ausgehaltenen F-Dur Akkord, mit dem das Werk schließt, wurde es uns dann doch etwas mulmig zumute, da wir jederzeit erwartet hatten, dass durch die Emporentür ein zorniger Priester mit hochrotem Kopf hereinschießen könnte, um uns gehörig die Leviten zu lesen.

Aber nichts geschah. Der Priesterchor sang seine Liturgie fertig – nun wieder merklich leiser.

Wir aber packten unsere Sachen zusammen und verließen fluchtartig die Kirche.

Sol, Cziffra und der verpasste Zug

Der Konrektor unserer Kantonsschule in Chur, Herr Soliva – wir nannten ihn alle nur Sol – war offiziell die Nummer zwei in der Hierarchie der Schule. Doch in Wahrheit war er unbestritten die Nummer eins, von den Schülern gefürchtet wie der Teufel. Er war ein Romonsch aus dem Bündner Oberland, Choleriker durch und durch, bei allen berüchtigt für seine An- beziehungsweise Ausfälle.

Nicht nur, dass er ständig einen langen Holzstock zur Hand nahm und großzügig austeilte, bei besonders schweren Zornausbrüchen konnte es passieren, dass er ein Tintenfässchen ins Schulzimmer warf, wo es irgendwo platzte und verspritzte. Wehe den Schülern, die sich nicht schnell genug duckten! Auch passierte es einmal, dass er vor Wut mit einem Fuß in den Papierkorb stampfte und ihn nicht mehr heraus bekam. Und auch hier: Wehe dem Schüler, der in diesem Moment gelacht hätte! Der Sol hätte ihn wahrscheinlich zur Tür hinausgeworfen, Papierkorb am Fuß hin oder her.

Selbst hatte ich Gott sei Dank nie Unterricht beim Sol. Seine gnadenlose Härte sollte ich trotzdem erfahren.

Es war 1958, als der ungarische Pianist György Cziffra sein erstes Konzert in der Tonhalle Zürich geben sollte. Er war in dieser Zeit der aufsteigende Komet am Pianisten-Himmel. Sein Ruf als das zurzeit größte pianistische Phänomen eilte ihm überall voraus, sodass die Konzertsäle ausverkauft waren, wo auch immer er auftrat.

Ich kannte sein Klavierspiel erst aus dem Radio. Das damalige Deutschschweizer Radio Beromünster strahlte die Aufnahme seiner Interpretation aller 15 Ungarischen Rhapsodien von Franz Liszt an vier, wöchentlich aufeinanderfolgenden Mittagssendungen aus. Ich hörte sie mir alle an und war von Anfang an schlicht erschlagen. Ein solches Klavierspiel hatte ich noch nie gehört. Ich kannte ja längst alle damals berühmten Pianisten wie Kempff, Backhaus, Gieseking, Arrau, Anda, François, Gulda, Gould und wie die Kometen en vogue alle hießen. Aber Cziffra war etwas anderes, eine vollkommen neue Dimension, ein anderer Planet. Diese Symbiose von unbeschränkter Klavierspieltechnik, vulkanischem Temperament, tiefster musikalischer Empfindsamkeit und kongenialer, kreativer Interpretationsart erschütterten meine Kenntnisse und Erfahrungen in der pianistischen Kunst.

Auch in den Zeitungen erschienen viele Reportagen und Interviews über und mit ihm.

Als dann sein erstes Konzert in Zürich angekündigt wurde, gab es für mich kein Halten mehr.

Da musste ich dabei sein, koste es, was es wolle. Auch meine Mutter wollte sich das nicht entgehen lassen und reservierte telefonisch zwei Plätze. So fuhren wir dann nach Zürich und wollten nach dem Konzert mit dem letzten Zug wieder zurück nach Chur.

Das Konzert kann ich nicht en détail beschreiben. Ein derart fundamentales Erlebnis kann man ohnehin niemals in Worte fassen, denn die Musik fängt bekanntlich da an, wo die Worte aufhören. Nur so viel: Es war für mich das erste große Konzerterlebnis in der Zürcher Tonhalle und für Cziffra ein einziger Triumph. Als er zum Schluss die hochvirtuose, sechste Ungarische Rhapsodie von Franz Liszt hingepfeffert hatte, war der Saal außer Rand und Band. Das angeblich eher reservierte Zürcher Publikum tobte, ja stampfte und schrie nach einer Zugabe. Diese gab er auch und zwar Rimskji-Korsakows „Hummelflug“ in seiner, Cziffras, eigener Bearbeitung, einem Höllenritt aus Schallmauer durchbrechenden Oktavenwirbeln, die einen schier um den Verstand brachten. Das war kein normales Klavierspiel mehr, das war schiere Hexerei!

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György Cziffra nach seinem ersten Konzert in Zürich 1958 – verschwitzt im Künstlerzimmer

Nun denn, meine Mutter und ich waren schlicht erschlagen und verließen den Konzertsaal wie betäubt in Richtung Bahnhof. Und da mussten wir feststellen, dass der letzte Zug nach Chur soeben abgefahren war. Wo wir übernachteten, weiß ich nicht mehr und ist auch nicht von Bedeutung.

Von Bedeutung aber sollte werden, dass ich am nächsten Morgen in der Schule fehlte, da wir erst gegen Mittag in Chur eintrafen. Dadurch hatte ich vier Schulstunden verpasst.

Getreu der Wahrheit schrieb meine Mutter dann ins Versäumnisbüchlein: „Infolge Konzertbesuchs in Zürich den letzten Zug verpasst.“ Damit ging ich zu Sol, bei dem man das Versäumnis stets abstempeln lassen musste. Er las die Erklärung, schaute mich grimmig und verständnislos an und sagte kurz, dass er dies nicht akzeptiere. Resultat: Vier Stunden Arrest!

Vier Stunden! – So viel Arrest hatte ich noch nie erhalten und wohl auch selten je ein anderer Kantonsschüler. Ich war zutiefst niedergeschlagen. Da war also ein an Kultur interessierter junger Mensch, besuchte ein Konzert in Zürich, hatte das Pech, den letzten Zug zu verpassen und wurde dafür noch bestraft! Ich verstand die Welt nicht mehr.

Nun denn, ich hockte meinen Arrest an einem freien Nachmittag von 14.00 bis 18.00 Uhr ab. Es erschien mir als eine endlose Zeit.

Von dem Tag an war Sol für mich erledigt.

So sehr ich vorher noch über seine bekannten cholerischen Ausbrüche lachte, da ich nie davon betroffen war, so sehr hatte mich seine Verständnislosigkeit im Innersten getroffen.

Aber, so tröstete ich mich, was waren denn schon vier Stunden Arrest im Vergleich zum Erlebnis des Cziffra-Konzertes!

Und Cziffra, den ich später persönlich kennenlernte, sollte in meinem künftigen Leben noch eine Rolle spielen, über die ich ein ganzes Buch schreiben könnte (und es vielleicht auch noch werde!).

Auf ihn werde ich auch im Kapitel XVI. unter „Unendlicher Reichtum“ zu sprechen kommen.