»Wenn Du willst, dass ein Buch gut wird,
dann lass es liegen«
Ernest Hemingway
Der falsche Fürst
ein historischer Roman
von Meddi Müller
Copyright:
Charles Verlag
Mathias Müller & Marcel Dax GbRDruck: Booksfactory
Lektorat: Sonja Rudorf
Umschlaggestaltung: Marcel Dax
Titelbild: © panthermedia.net /ulkan
ISBN 987-3-940387-78-3
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dbb.de abrufbar
Meddi Müller wurde 1970 in Frankfurt am Main geboren und ist im Hauptberuf Feuerwehrmann bei der Berufsfeuerwehr Frankfurt. Er hat die historischen Romane »Der Gewürzhändler zu Frankfurt«, «Der Türmer«, »Glanzgold«, »Unter Verdacht«, »Im Schatten der Schwester« und »Frankfurt muss brennen« veröffentlicht. »Der falsche Fürst« ist sein sechster abendfüllender Roman. Etliche seiner Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Magazinen und Büchern veröffentlicht. Mehr über ihn finden Sie unter: www.meddimueller.com
Semplet aliquid haeret -
Etwas bleibt immer hängen
Es war eine schwülwarme Sommernacht im Jahre 1636. Der lange Krieg hatte das Land noch immer fest in seinem Würgegriff.
Die Männer kamen wie aus dem Nichts. Plötzlich standen sie im Zimmer. Alles ging so schnell. Johannes Wagner, Sohn der mittellosen Leibeigenen Bernwardt und Martha Wagner, schreckte in seinem kleinen Bett hoch. Die Dunkelheit in der kargen Holzhütte, die umgeben von ausgedörrtem Boden in einem kleinen Dorf vor den Toren der Stadt Frankfurt lag, hielt den knapp zehnjährigen Jungen noch gefangen. Verschlafen, die blonden Haare wirr vom Kopf abstehend, versuchte er, Schärfe in den Blick seiner blauen Augen zu bekommen. Eben noch hatte er auf einer saftig grünen Wiese gespielt, alles war schön und warm gewesen. Jetzt, aus seinen Träumen gerissen, lag er, nur bekleidet mit einem alten abgetragenen Hemd, das zudem noch schmutzig und löchrig war, auf seinem Strohlager. Um ihn herum standen mehrere fremde Männer und sagten seltsame Dinge.
»Wo kommt der denn jetzt auf einmal her?«, hörte Johannes einen der Männer sagen.
»Wusstet Ihr, dass sie ein Kind haben?«, fragte ein Anderer.
»Natürlich, ich hatte es nur vergessen«, sagte ein Dritter.
Johannes spürte eine eiskalte Hand im Nacken. Aber da war keine Hand. Nur die Angst. Diese Männer wirkten bedrohlich. Der Junge spürte instinktiv, dass sein Leben in Gefahr war. Starr saß er in seinem Nachtlager und bat den lieben Gott zu machen, dass es aufhört.
»Und jetzt?«
»Verdammt!«
»Meint Ihr, er hat etwas gesehen?«
»Kann man nicht wissen.«
»Was sollen wir mit ihm machen?«
»Ersäuft ihn im Bach!«
»Aber er ist doch noch ein Kind!«
»Das uns an den Galgen bringen kann, vergiss‘ das nicht, Schrummbiegel!«
»Ihr seid wirklich grausam, mein Herr.«
»Vielen Dank. Ich fühle mich geehrt.«
»Edgar, erledigt das!«
»Wieso ich?«
»Weil ich es sage!«
»Aber ich wollte meinen Saft auch noch loswerden.«
»Pech gehabt.«
»Herr, darf ich derweil, … wo ihr doch mit ihr fertig seid … da dachte ich ...«
»Na gut, aber mach schnell.«
Edgar schaute seinen Herrn ungläubig an und rührte sich nicht vom Fleck.
»Was ist? Willst du Wurzeln schlagen?«, fuhr dieser Edgar an. »Geh und wirf den Balg in den Fluss, ich muss zurück nach Frankfurt, man wartet auf mich. Wir haben heute Abend ein Bankett.«
Zögerlich trat Edgar auf Johannes zu, während die beiden anderen Männer den Raum so schnell verließen, wie sie ihn betreten hatten. Der Junge saß immer noch wie gelähmt in der Ecke und verschanzte sich hinter seiner löchrigen Decke. Der Mann, der auf Johannes zukam, stank fürchterlich. Eine Fahne aus Alkohol, Zwiebeln und modrigem Geruch umgab ihn. Johannes ekelte sich. Jetzt, wo sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er mehr erkennen. Der Mann war gekleidet wie ein Soldat. Er trug langes, zotteliges Haar und hatte einen löchrigen Bart, der nicht das ganze Gesicht bedeckte. Sein Wams war in der Körpermitte von einem schmutzigen Rot. Die Ärmel waren braun. Auf seiner Brust trug er ein Wappen, und in seiner Hand hielt er einen Dolch.
Sekunden später hatte Edgar den Jungen mit einem schnellen Griff eingefangen. Johannes versuchte zwar, sich zu wehren, hatte aber mit seiner schmächtigen Gestalt gegen den großen Mann keinerlei Aussicht auf Erfolg. Er schlug wild um sich, traf zwar den Angreifer, doch seine kindlichen Schläge blieben ohne Wirkung. Der Riese umschlang den Jungen mit seinen kräftigen Armen, packte ihn und trug ihn ins Nachbarzimmer. Dort wartete schon Schrummbiegel mit einem Seil. Johannes wurde mitsamt seiner Decke gefesselt, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. Die Fesseln schnürten ihm ins Fleisch seiner jungen Haut und zwangen ihn zur Regungslosigkeit. An Flucht war nicht zu denken. Er lag auf dem gestampften Lehmboden der Hütte und starrte seine Peiniger an. Ohne dass er es wollte, brannten sich die Gesichter dieser Männer in sein zehnjähriges Gehirn ein. Dort würden sie für immer sein und ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen. Der Anführer, an dem der Junge von Edgar vorbei geschleift wurde, war sehr viel kleiner als die beiden anderen und von gedrungener Statur, aber nicht so schmutzig wie seine Helfer. Er trug auch ein andersfarbiges Wams. Seines war blau. Es zierte indes dasselbe Wappen. Unter dem Wams trug der Mann ein Kettenhemd, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Johannes konnte eine grüne Hose und schwere, schwarze Stiefel erkennen.
Der Anführer trug sein blondes Haar lang und hatte ein glatt rasiertes Gesicht. Über seinem linken Auge hatte er eine kleine Narbe, und als er sich umdrehte und Johannes direkt ansah, erschrak der Junge. Seine Augen waren unterschiedlich gefärbt. Das linke war blau und das rechte braun. Eine angsteinflößende Laune der Natur.
Tränen der Wut rannen Johannes über das schmale Gesicht. Dann sah er seine Eltern. Sie lagen regungslos auf dem harten Boden. Sein Vater starrte ihn mit offenen Augen an.
»Vater, so helft mir doch!«, rief Johannes, doch sein Vater rührte sich nicht. Er starrte ins Nichts. Er war tot. Dem Jungen schnürte es die Kehle zu.
»Mutter«, schrie, nein - krächzte Johannes. »Hilfe!«
Doch seine Mutter konnte ihm nicht helfen. Auch sie lag regungslos, mit seltsam leeren Augen, die sonst so hell geleuchtet hatten, auf dem Boden. Blut lief ihr über das Gesicht. Eine Strähne ihres dunkelblonden Haares hing ihr unbeachtet in die Stirn. Johannes sah noch, wie sich Schrummbiegel auf sie legte, gierig keuchte und mit seiner Hüfte auf und ab wippte. Seine Mutter zuckte im selben Rhythmus. Ihr Gesicht war dabei ausdruckslos. Johannes wusste nicht, was hier geschah. Er wusste nur, dass seine Mutter wie eine Fremde auf ihn wirkte.
Schnell war die Sache erledigt. Der Mann, der sich an Johannes Mutter vergangen hatte und die gleiche Kleidung trug wie Edgar, ließ von seinem Opfer ab. Johannes sah im dämmrigen Licht, dass seine Mutter weinte.
»Na, Bürschchen. Wie fühlt man sich so wehrlos?« Schrummbiegel hatte sich über den Jungen gebeugt, während er noch an seiner Hose nestelte.
Er war hässlich. Dünnes Haar, faule Zähne und pockennarbige Haut. Über seiner Oberlippe wucherte ein Bart, in dem noch Essensreste hingen. Sein Atem stank erbärmlich. Der Schurke lachte böse. Johannes spuckte ihm ins Gesicht.
»Du kleine Ratte«, schrie Schrummbiegel. »Dir werde ich ...«
Statt weiter zu reden, schlug er Johannes. Er trug einen schweren Ring, mit dem er dem Kind eine klaffende Wunde über dem linken Auge zufügte. Sofort lief das Blut über das zarte Gesicht des Jungen. Es tat weh, doch Johannes lächelte trotzdem.
»Ganz so wehrlos war er dann wohl doch nicht«, erkannte Edgar.
»Halt's Maul und wirf das dreckige Balg in den Fluss, wie es der Hauptmann gesagt hat.«
Edgar hob Johannes kommentarlos auf und legte ihn über seine Schulter. Der Junge wehrte sich nach Kräften, kam aber gegen den Hünen nicht an. Beinahe gemütlich trottete der mit dem Bündel in Richtung des Flusses. Um sie herum begrüßten die ersten Vögel unbeeindruckt und laut zwitschernd den Tag. Die Hütte, die Johannes mit seinen Eltern bewohnte, lag abseits am Rande eines kleinen Wäldchens. Die Wagners waren sehr arm und mussten sich deshalb mit der engen und zugigen Unterkunft begnügen. Für ein Haus im Dorf hatte es nie gereicht. Manchmal musste Bernwart Wagner Vater stehlen, damit sie wenigstens eine dünne Suppe zum Essen hatten. Aber wenigstens hatten sie den großen Krieg bisher überlebt.
Bis zum Fluss mussten sie ein ganzes Stück laufen. Als sie außer Hör- und Sichtweite der Hütte waren, legte Edgar den Jungen sanft ab. Der große Mann blickte in die völlig verängstigten Augen des Buben und hockte sich vor ihn.
»Jetzt beruhige dich erst mal, Junge«, sprach er mit tiefer Stimme.
Johannes versuchte zwar, sich zu beruhigen, erkannte aber nicht ganz den Sinn darin. Sein Leben war verwirkt, da war es ziemlich schwierig, sich zu beruhigen.
»Ich werf' dich nich' in den Fluss«, sprach der Riese ruhig.
»Erschlagt Ihr mich etwa?«, fragte der Junge und blickte ihn mit erstaunten Kinderaugen an.
»Ich tu' dir gar nix.«
Johannes war verwirrt. Noch vor wenigen Augenblicken wollte dieses Monster seiner Mutter wehtun, und jetzt verschonte er sein Leben. Argwohn beschlich Johannes. Was hatte dieser Mensch mit ihm vor?
»Ich sag' dir was, mein Kleiner. Ich hab' das mit deinen Eltern nich' gewollt. Aber wenn der Hauptmann sich was in den Kopf gesetzt hat, sind wir einfachen Soldaten machtlos. Er ist nun mal mein Befehlshaber, was soll ich tun? Ich hätte deiner Mutter nie ein Leid angetan ... und dir schon lange nicht.«
Johannes starrte den Fremden ungläubig an.
»Ich lass' dich laufen und erzähl‘ den anderen, dass du tot bist. Du musst mir nur eines versprechen.«
»Alles!«
»Du musst weit weglaufen und darfst dich hier niemals wieder blicken lassen. Ist das klar?«
Johannes nicke heftig.
»Wenn dich der Hauptmann irgendwo wiedererkennt, sind wir beide so gut wie tot. Hast du mich verstanden?«
»Jawohl, hab' ich!«, bestätigte Johannes. Seine Stimme zitterte.
Edgar löste die Fesseln, wickelte den Jungen aus der Decke und füllte sie mit Steinen. Dann band er das Seil darum und warf das Ganze in den Fluss, wo es schnell versank.
»So, und jetzt lauf, so schnell du kannst, ich halte die Anderen noch eine Weile auf.«
Johannes lief los, doch Edgar rief ihn wieder zurück.
»Ja?«
Der Mann kramte umständlich in seinem Wams. Sekunden später hatte er gefunden, was er gesucht hatte und hielt es Johannes entgegen.
»Hier hast du ein paar Münzen«, sagte er. »Pass gut drauf auf und sei sparsam, dann kannst du eine Weile davon leben. Und halt dich von Hauptmann August von Bremer fern. Merk' dir diesen Namen!«
Johannes spürte eine tiefe Dankbarkeit. Er schaute Edgar an und suchte nach den richtigen Worten. Edgar lächelte. Beide verstanden sich wortlos.
»Jetzt lauf um dein Leben, Junge!«
Edgar sah dem Flüchtenden noch eine Weile nach, bis er an einer Flussbiegung hinter einer Baumgruppe verschwand. Wenigstens dieses Leben hatte er retten können, wenn es ihm schon nicht bei dem völlig unschuldigen Bauern geglückt war, den sein Herr aus reiner Lust gemeuchelt hatte.
»Auf die habe ich schon ewig ein Auge geworfen«, hatte er am Morgen gesagt, als er verkündete, sich heute Nacht eine Frau zu holen. »Das Luder macht mich verrückt. Ich muss sie haben und heute Nacht wird sie mir gehören.«
Eines Tages würde der Hauptmann seine Rechnung bezahlen müssen, da war sich Edgar sicher. Dann würden ihm all sein Geld und sein Einfluss nichts mehr nutzen.
Amicus optima vitae possessio –
Der Freund ist das beste Gut im Leben
Johannes rannte, bis ihm seine Beine den Dienst versagten. Er folgte dem Lauf des Flusses, in dem er eigentlich hätte ertränkt werden sollen. Die Nidda, wie man den Fluss nannte, gab ihm Sicherheit. An ihren Ufern würde er sich bestimmt nicht verlaufen. Spät in der Nacht legte er sich abseits des Flusses auf den Boden, wo er alsbald erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel. In seinen Träumen holten ihn die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Tages ein. Sein Schlaf war keineswegs erholend. Alpträume, die ihn immer aus dem Schlaf hochschrecken ließen quälten ihn bis zum Morgengrauen. Mit den ersten Sonnenstrahlen wachte er endgültig auf und rannte weiter. Doch schnell gab er das Rennen auf, weil ihn die Kraft verließ. Er hielt dennoch nicht an. Immer weiter folgte er dem Fluss. Das Ufer war dicht bewachsen, sodass er nur langsam vorankam. Ab und an löschte er seinen Durst im Fluss. Doch schnell kam die Furcht zurück, vom Hauptmann von Bremer und seinen Soldaten entdeckt zu werden, und trieb ihn an.
Den ganzen Tag schlug er sich durch das Dickicht am Flussufer. Sein Heimatdorf Heddernheim lag jetzt weit hinter ihm. Wo genau er sich befand, wusste der Junge nicht. Es machte ihm aber nichts aus. Er war am Leben, und das allein zählte.
Am späten Nachmittag sank er völlig erschöpft in das weiche, hochstehende Gras des Niddaufers. Irgendwo im Nirgendwo. Sein schmaler Brustkorb hob und senkte sich schnell. Johannes spürte seinen Herzschlag. Der Lebensstrom pochte kräftig in seinem Hals. Schweiß rann in Bächen über sein Gesicht. Ohne etwas dagegen tun zu können, schlief er mit dem Gedanken an seine Mutter alsbald ein.
Als er im Morgengrauen erwachte, blickte er in ein dunkles Augenpaar. Johannes schreckte hoch und wollte sofort die Flucht ergreifen, doch hinter ihm war der Fluss. Hastig suchte er nach einem Fluchtweg, sah sich aber in der Falle. Panik ergriff ihn.
Er starrte den Mann an. Der war groß und sah irgendwie freundlich aus, was Johannes ein wenig beruhigte. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Fremden und ließ seine grünen Augen leuchten. Er trug einen Hut zum Schutz gegen die Sonne, unter dem rotes Haar zu erkennen war. Seine Kleidung war zweckmäßig.
»Ruhig, mein Junge«, sagte der Fremde mit sanfter Stimme. »Ich will dir nichts tun.«
Johannes sagte nichts, er sah sich weiter nach einem Fluchtweg um.
»Warum bist du so ängstlich?«, wollte der Mann wissen.
Johannes schwieg.
»Verstehst du mich?«
Nun nickte Johannes zögerlich.
»Na, das ist doch schon mal was. Kannst du auch sprechen?«
Abermals nickte Johannes.
»Gut«, sagte der Fremde zufrieden und lachte leise. »Ich bin Paul Ehrmann. Ich bin nur ein einfacher Bauer. Ich will dir nichts antun. Ich sorgte mich nur um dich. Du musst zugeben, dass es für einen Jungen in deinem Alter nicht normal ist, im Morgengrauen am Ufer herumzuliegen. Und dazu noch mutterseelenallein.«
Johannes schwieg und musterte den Mann.
»Willst du mir nicht deinen Namen verraten?«
»Jo … Johannes.«
»Prima, Jo-Johannes. Nun kennen wir schon mal unsere Namen.« Paul lächelte freundlich. »Du siehst aus, als ob du Hilfe nötig hättest.«
Da konnte Johannes nicht widersprechen. Er wollte dem freundlichen Mann erzählen, was passiert war. Doch beim Gedanken an die schrecklichen Ereignisse konnte er nicht anders, als in Tränen auszubrechen. Jetzt, wo er sich das erste Mal mit dem Erlebten wirklich auseinandersetzte, brach es aus ihm heraus. Er heulte wie ein Schlosshund und schämte sich nicht dafür. Als die Tränen versiegten, fing Johannes an zu erzählen. Paul Ehrmann war schockiert ob des Berichtes des Jungen. Ihm fehlten die Worte. Wut, Mitleid und Angst mischten sich in ihm. Wie konnte man einem kleinen Jungen so etwas antun? Wie konnte man Irgendjemandem so etwas antun?
»Weiß du was, Johannes?«, sagte Ehrmann schließlich, als er sich wieder ein wenig gefasst hatte, »du kommst jetzt erst mal mit zu mir auf den Hof und dann sehen wir weiter.«
Die Familie Ehrmann besaß einen kleinen, aber gut bewirtschafteten Hof in Dortelweil, etwa einen Tagesmarsch vor den Toren der Stadt Frankfurt. Das Dorf war ein beschauliches Örtchen, umgeben von Wiesen und Feldern, das sich der Stadt Frankfurt zum Lehen verschrieben hatte. Als Gegenleistung profitierte man von den Vorzügen Frankfurts und vor allem vom Geld der wichtigen Stadt am Main.
Der Hof der Familie Ehrmann kam Johannes riesig vor. Er lag am Rand des Ortes. Er umschloss vier aus Fachwerk und Stein gebaute Häuser, die kreisförmig angeordnet waren. Sie durchfuhren einen Torbogen, der unter einer der Scheunen hindurchführte. Drei Nutzgebäude und ein Wohnhaus umfasste das neue Zuhause Johannes'. Das Wohnhaus lag direkt vor ihnen. Flankiert wurde es zu beiden Seiten von den Ställen. Aus dem rechten Gebäude hörte Johannes Tiere rufen. Schweine, Kühe und Schafe glaubte er zu erkennen. Das linke Gebäude diente als Lager für Getreide, Futter und Gerätschaften. Am linken Rand des Hofes, der aus gestampftem Lehm und erstaunlich sauber war, stand sogar ein eigener Brunnen. Alle Gebäude waren in ausgezeichnetem Zustand. So viel Reichtum war Johannes nicht gewohnt. Mit großen Augen schaute er über den Hof.
Über den staubtrockenen Boden liefen Hühner, Katzen und Gänse. Paul und Johannes fuhren über den Hof. Staunend saß der kleine Junge auf dem Kutschbock. Paul schien reich zu sein. Vor dem Wohngebäude stoppte er, sprang elegant vom Kutschbock und half Johannes beim Absteigen. Der Junge schaute sich um. Dienstbare Geister hasteten umher. Mägde und Knechte, die geschäftig taten beim Anblick ihres Herrn. Ein einfacher Bauer schien Paul Ehrmann dann doch nicht zu sein. Johannes war es reichlich egal. Sicher würde er hier übernachten können und etwas zu essen bekommen. Dann würde er weitersehen.
»Komm mit, ich stelle dich meiner Frau vor«, sagte Ehrmann und führte Johannes in das Hauptgebäude, wo sie wenig später in die Küche gelangten.
An der Kochstelle in der Mitte des Raumes stand eine Frau, die in etwa das Alter des Bauern hatte. Sie war hübsch anzusehen. Ein farbenfrohes Kleid umspielte ihre schmale Figur. Ihr langes, braunes Haar war zu einem Zopf geflochten und hing ihr fast bis zur Hüfte. Als sie die beiden erblickte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Johannes fielen die blauen Augen auf, die denen seiner Mutter ähnelten. Die Stupsnase der Bäuerin kräuselte sich, als sie lächelte. Johannes fasste sofort Vertrauen zu der Frau mit den zierlichen, fein geschwungenen Gesichtszügen.
»Sei gegrüßt, Liebster«, sagte sie und küsste ihren Mann flüchtig auf die Wange. Sie schaute Johannes an, der schüchtern am Eingang stehen geblieben war. »Und? Wen hast du da zum Essen mitgebracht?«
»Das ist Johannes«, klärte der Bauer seine Frau auf. »Ich habe ihn völlig entkräftet an der Nidda gefunden. Der arme Junge musste mit ansehen, wie seine Eltern ermordet wurden und entging nur knapp selbst dem Tod.«
»Das ist ja schrecklich«, entfuhr es Erika. »Oh mein Gott, Johannes. Du armes Kind.«
Johannes war das alles sehr unangenehm, er schämte sich.
»Du bleibst jetzt erst einmal bei uns, bis wir deine Verwandten aufgetrieben haben«, beschloss Erika. »Komm, setz' dich und iss erst mal etwas. Du siehst ja halb verhungert aus.«
Erika tischte dem Jungen eine kräftigende Mahlzeit auf und setzte sich neben ihn. Johannes schlang das Essen hinunter. Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er war. Später führte ihn die freundliche Bauersfrau in ein kleines Zimmer im oberen Stockwerk des Hauses und zeigte ihm sein Lager. Es war das Zimmer vom letzten Knecht, der sich mitten in der Nacht vom Hof geschlichen hatte, wie Erika berichtete. Es war spärlich eingerichtet, doch bot es weitaus mehr Komfort als die schäbige Hütte, in der er mit seinen Eltern gehaust hatte.
Es hatte sogar ein richtiges Bett mit einer strohgefüllten Matratze. Ein kleiner Schrank stand auf dem holzbeplankten Boden an der fensterlosen, rechten Wand. Gegenüber dem Bett und unter dem Fenster, durch das warmes Licht fiel, befand sich eine Anrichte, auf der ein Krug mit Wasser und eine dazugehörige Schüssel standen. Der Raum maß in etwa fünf auf fünf Meter und kam Johannes riesig vor.
»Es ist zwar nicht das Allerfeinste, aber fürs Erste wird es genügen«, hatte Erika darüber abfällig, ja fast schon entschuldigend gesagt. Johannes sagte nichts. Für ihn war es ein Palast.
Den ganzen Tag über kümmerte sich die Frau des Bauern rührend um den Neuankömmling. Sie zeigte ihm alles auf dem Gehöft und erklärte ihm nicht ohne Stolz, dass sie Bauern mit eigenem Besitz waren und deshalb sehr gut zurecht kamen. Sie zeigte ihm die Stallungen mit den Tieren. Die Säue hatten gerade geworfen und säugten ihre Ferkel. Die Schafe, die Johannes gehört zu haben glaubte, konnte er nicht sehen, dafür aber eine kleine Gruppe Ziegen. Die waren ihm ohnehin lieber. Die Zicklein waren verspielt und tollten keck hinter der Scheune in einem Gehege. Überall liefen Hühner frei herum. Auf dem Misthaufen, der ebenfalls hinter dem Stall war, stand stolz ein Hahn und krähte in die Welt hinaus, wer hier seiner Meinung nach das Sagen hatte.
Als Johannes am Abend erschöpft auf sein Lager fiel, kam er zu dem Schluss, dass er wohl tot sein müsse und es sich um das Paradies handelte, in dem er sich nun befand.
Quid sit futurum cras, fuge quaerere –
Was Morgen bevorstehen wird, vermeide zu fragen
»Wie kann man einem Kind so etwas antun?«, fragte Erika.
»Indem man ein paar Männer befehligt. Es ist Krieg, Erika. Jeder kleine Befehlshaber nutzt seine Macht schamlos aus.«
»Wer so etwas tut, ist kein Mensch, sondern ein wildes Tier.«
»Da gebe ich dir Recht, meine Liebe. Wollen wir nur hoffen, dass man uns und unserer Gerlinde so etwas nicht antut.«
»Gott bewahre«, rief Erika und bekreuzigte sich. »Aber was machen wir jetzt mit dem Bub?«
»Wir behalten ihn so lange bei uns, wie er will. Ein Maul mehr lässt sich schon noch stopfen.«
»Aber sollten wir nicht nach Verwandten suchen, die ihn aufnehmen können?«
»Nein, nein«, wehrte Paul ab. »Das wäre viel zu gefährlich für Johannes. Wenn wir ihn zu Verwandten bringen, wird von Bremer über kurz oder lang erfahren, dass er noch am Leben ist und ihn töten.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
Das Ehepaar Ehrmann beschloss, dem kleinen Johannes so viel Zeit zu geben, wie er benötigte, um Vertrauen zu ihnen zu fassen. Sie würden ihn auf dem Hof verstecken und ihn beschützen, so lange es ging.
Johannes dankte seinen Rettern auf seine Weise. Er zeigte sich wohlerzogen und willig, alle anfallenden Arbeiten auf dem Hof zu verrichten. Etwas anderes hatten die Ehrmanns auch nicht von ihm erwartet. In der gleichaltrigen Gerlinde fand Johannes eine Spielkameradin. Gerlinde sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Auch sie hatte diese zarten Züge und das Kräuseln des Nasenrückens, wenn sie lachte oder auch nur lächelte. Das widerspenstige Haar flocht sie, wie Erika, zu einem Zopf, der jedoch etwas kürzer als der ihrer Mutter war. Aber wenn die Beiden nebeneinander herliefen, sah es aus, als wäre Gerlinde eine Miniaturausgabe ihrer Mutter.
Das Mädchen war sehr verspielt. Schnell brach das Eis zwischen den beiden Kindern. Am besten gefiel Johannes, dass Gerlinde so ganz anders war als die Mädchen seines Alters aus seinem Dorf. Sie war sich nicht zu schade, auch einmal im Schmutz zu spielen oder durch den nahen Fluss zu waten, nur um zu sehen, wie das Dorf von dort aussah. Sie war abenteuerlustig und frech.
Die beiden Kinder stritten sich so gut wie niemals. Johannes sah in ihr die Schwester und den Bruder, den er nie gehabt hatte. In kindlichem Entdeckungsdrang erforschten sie die Winkel und Ecken des großen Gehöftes und in die umliegenden Wälder und Wiesen.
Nach wenigen Wochen fühlte sich Johannes als vollwertiges Familienmitglied. Den Knechten und Mägden auf dem Hof wurde er als Mündel eines verstorbenen Vetters des Bauern vorgestellt, was unangenehme Fragen nach dem fremden Kind im Keim erstickte.
So wuchs er im Schoße der Familie Ehrmann heran. Sein Leben verlief, wie man es sich für einen Jungen in seinem Alter wünschte. Er arbeitete auf dem Hof und half im Haushalt, wo er konnte. Nach einiger Zeit bekam er die Pflege der Tiere übertragen. Er hatte sich darum zu kümmern, dass sie ausreichend zu Fressen hatten, ihre Ställe sauber waren und auch, dass sie beizeiten geschlachtet wurden. Schon bald konnte er kleine Tiere wie Hühner und Gänse eigenständig zu Nahrung verarbeiten. Nur bei den größeren Tieren wie den Ziegen und Schweinen zeigte sich seine schmale Statur als Hindernis. Hier musste ihm ein Erwachsener zur Hand gehen.
Die Verantwortung, die ihm Bauer Ehrmann mit einer ungewohnten Selbstverständlichkeit übertrug, stärkte sein Selbstvertrauen und ließ ihn alsbald vergessen, warum er eigentlich hier war. Zumindest am Tage. Abends, in seinem stillen Kämmerlein, kam die Erinnerung zurück. Er sah die Gesichter seiner Eltern vor sich. Dann schloss er die Augen und versuchte die Erinnerung an beide so gut es ging aufrecht zu erhalten. Sie fehlten ihm schrecklich. Ihm war, als hätte man ein Stück aus ihm herausgerissen. Es verging keine Nacht, in der er nicht von Albträumen heimgesucht wurde. Sie waren schrecklich und angsteinflößend. Doch Johannes wollte trotzdem nicht, dass die Träume ausblieben, denn sie hielten die Erinnerung an den Hauptmann August von Bremer und seinen Adjutanten Schrummbiegel lebendig. Der Junge war beseelt vom Gedanken der Rache. Er schwor, es den widerlichen Vergewaltigern eines Tages heimzuzahlen. Doch bis dahin musste er sich in Geduld üben. Er dankte dem Herrn dafür, dass er ein neues Zuhause gefunden hatte, aber so freundlich die Familie Ehrmann ihn auch aufgenommen hatte und versuchte, ihm das Gefühl zu geben, zu ihnen zu gehören, so sehr fehlten ihm seine Eltern, seine treu sorgende Mutter und sein stets um das Wohl seiner Lieben besorgter Vater.
Von Bremer hatte sie ihm genommen.
Und dafür würde er eines Tages büßen müssen. Aber Johannes hatte nicht vor, ihn zu töten, denn der Tod ist keine Strafe. Er wollte ihn vernichten und so lange am Leben erhalten, bis seine Schuld getilgt war. Eines Tages würde die Stunde der Abrechnung kommen.
Johannes wuchs zu einem stattlichen jungen Mann heran. Zwölf Jahre lebte er nun schon auf dem Gehöft der Ehrmanns und zählte jetzt zweiundzwanzig Jahre. Man schrieb den Monat Juli im Jahr 1648. Endlich hatte der lange Krieg ein Ende gefunden, man war gerade dabei, die Friedensverträge auszuarbeiten, die das sinnlose Morden beenden sollten. Das endlose Kämpfen hatte die Bevölkerung beinahe ausgelöscht, Hunger und Elend über das ganze Land gebracht. Zwar hatte der Krieg die Ehrmanns weitestgehend verschont, doch wurde man hie und da von ihm gestreift, wenn eine kämpfende Truppe an ihrem Hof vorbeizog und Verpflegung einforderte, oder wenn fahrendes Volk von den schrecklichen Ereignissen im Lande erzählte. Der lange Krieg schien endlich vorüber, doch die Probleme des Alltags blieben.
»Dieser gottverdammte Hintermann«, schimpfte eines Tages Paul am Tisch beim gemeinsamen Abendbrot.
»Hattest du schon wieder Streit mit ihm?«, schlussfolgerte Erika missmutig und runzelte die Stirn.
Seit Monaten schwelte zwischen Paul und dem Besitzer des Gehöftes am anderen Ende Dortelweils ein Zwist. Es war unmöglich zu bestimmen, welcher der beiden Dickköpfe den Streit begonnen hatte, aus dem sich mittlerweile eine Dauerfehde entwickelt hatte. Anfangs blieb es bei verbalen Scharmützeln, doch irgendwann hatte einer der beiden begonnen, dem anderen etwas zu zerstören. Zu Beginn nur Kleinigkeiten - mal wurde dem Kontrahenten ein Gattertor aus den Angeln gehoben oder ein Zaun zerbrochen.
Kleinigkeiten.
Aber der Disput schaukelte sich über Monate hinweg hoch. Eine Aktion des Einen verursachte eine Gegenaktion des Anderen. Der vorläufige Höhepunkt war die Zerstörung von acht Bienenstöcken der Ehrmanns an diesem Morgen. Fast der gesamte Bestand war hinüber.
»Woher willst du denn wissen, dass es Hintermann gewesen ist?«, fragte Johannes.
»Wer denn sonst?« Paul war außer sich vor Wut. »Dem werde ich es zeigen.«
»Was hast du vor, Paul?«, fragte Erika in Sorge darüber, dass ihr Mann eine Dummheit begehen könnte.
»Es ihm heimzahlen, diesem ...«
Johannes war skeptisch. Es könnte genauso gut ein Landstreicher auf Nahrungssuche gewesen sein. Er traute Hintermann zwar auch nicht über den Weg, aber das ging dann doch zu weit. Es wäre schon ziemlich dreist, sich an den Bienenstöcken zu vergreifen. Zumal durch den Verlust der Völker eine gute Einnahmequelle der Ehrmanns ausfiel; da hörte der Spaß auf. Selbst Hintermann wusste das. Johannes hatte so seine Zweifel, ob Hintermann wirklich so weit gehen würde. Paul hingegen war sich sicher.
»Johannes, begleitest du mich?«, fragte er und warf sich eine Jacke über die Schultern.
»Wohin?« Aber Johannes wusste die Antwort bereits.
»Wir gehen zum Hintermann und stellen ihn zur Rede.«
»Paul, du weißt doch überhaupt nicht, ob er damit etwas zu tun hat. Das gibt doch nur wieder neuen Ärger«, gab Erika zu bedenken.
Paul und Johannes ignorierten die Warnungen der Bauersfrau und machten sich noch am selben Tag auf den Weg zum Hof des Bauern Hintermann.
Si tacuisses, philosophus mansisses –
Wenn Du geschwiegen hättest, wärst Du Philosoph geblieben
Es war schon spät, die Dämmerung schritt voran und hüllte das Dorf an der Nidda in ein warmes Licht. Der Weg zum benachbarten Gehöft war nicht allzu weit. Hätten die beiden Männer eine Nacht über die Ereignisse geschlafen, so hätte ihr Leben vielleicht eine andere Wendung genommen, doch so geschah es im Monat August des Jahres 1648, dass Johannes Wagner und Paul Ehrmann an einem warmen Abend das Gehöft des Bauern Hintermann am westlichen Ende Dortelweils betraten, um ihn für seine schändliche Tat zur Rede zu stellen.
»Hintermann!«, rief Paul gegen das dunkel daliegende Gebäude, das zwar ähnlich groß wie das der Ehrmanns war, jedoch in wesentlich schlechterem Zustand. Auch war der Hof nicht gepflastert. Man sah überall tiefe Furchen von Wagenrädern und Löcher, die von Pferdehufen stammten. Der Hof war an den Ecken voll von Unkraut, und das Gemäuer rissig. Auch die Dächer von Scheune und Haupthaus bedurften der dringenden Beachtung. Johannes hätte wetten können, dass es bei den Hintermanns ins Haus regnete.
Paul rief erneut nach dem Bauern.
Nichts geschah.
Johannes nutzte die Gelegenheit, sich auf dem Gehöft ein wenig umzusehen. Er erinnerte sich, wie ihm Paul einst von dem guten Boden des Hintermannschen Gutes vorgeschwärmt hatte.
»Wenn ich das Land der Hintermanns hätte, wäre ich heute der reichste Bauer weit und breit«, hatte er zu ihm gesagt.
Umso mehr wunderte es ihn, dass sich der Hof nun in solch schlechtem Zustand befand.
»Hintermann«, hörte Johannes Paul erneut brüllen. »Komm raus und stell dich deinen Missetaten.«
»Was schreist du hier so 'rum?«, hörte man eine Männerstimme. »Dir ist wohl was von deinem Acker nicht bekommen, Ehrmann.«
Johannes und Paul schauten sich um, konnten aber Hintermann nirgends sehen.
»Hier oben bin ich, ihr blinden Bauern.«
Die beiden Männer reckten ihre Köpfe. Sie sahen Hintermann auf dem Giebel des Wohnhauses. Der Mann war hager und trug verschlissene Kleidung. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte man sehen, dass sein Gesicht schmutzig war. In der rechten Hand hielt er einen Hammer.
»Komm herunter, ich habe mit dir zu reden«, befahl Paul.
»Wer bist du, dass du mir zu sagen hast, was ich zu tun habe, Nachbar? Ich bleibe hier oben, denn ich habe zu tun. Es wird regnen und mein Dach ist löchrig wie ein Käse. Also was ist? Mir pressiert‘s.«
»Also gut«, Paul straffte seinen Körper, um seinen Entschlossenheit zu präsentieren. »Ich bin gekommen, um Entschädigung für meine Bienenstöcke einzufordern.«
»Von mir?«
»Von wem denn sonst?«
»Du spinnst ja, Ehrmann«, lachte Hintermann. »Was hab‘ ich mit deinen Bienenstöcken zu schaffen? Ich hab' selbst genug davon.«
»Du hast sie allesamt zerstört, du Verbrecher. Ich hetze dir den Richter auf den Hals, wenn du mir den Schaden nicht ersetzt.«
»Ich würde dir ja den Schaden ersetzen, wenn ich es gewesen wäre. Aber da ich es nicht war, kannst du mir nichts.«
»Wer soll es denn sonst gewesen sein?«, schrie Paul. »Du sabotierst mich doch schon seit Monaten.«
»Du bist ja verrückt, Ehrmann. Außerdem hast du angefangen, meine Zäune zu zerstören.«
»Das ist doch ...«, Paul fehlten die Worte.
»Wir können ihm nichts beweisen, Paul«, raunte Johannes seinem Ziehvater zu.
»Aber ich weiß, dass er es war.«
»Gar nichts weißt du. Du vermutest. Das ist nicht genug.«
»Aber wer soll es denn sonst gewesen sein?«
»Vielleicht ein Landstreicher«, mutmaßte Johannes. »Oder ein Gesetzloser auf der Suche nach etwas Essbarem. Es gibt viele Möglichkeiten, Paul. Was wir brauchen, sind Beweise. Wenn wir die haben, kommen wir wieder und halten sie ihm unter die Nase, dann muss er zahlen, wenn er nicht im Kerker landen will.«
»Aber ...«, setzte Paul an.
Johannes, der seinen Ziehvater an Größe mittlerweile überragte, schaute Paul tief in die Augen. Nicht zuletzt, um den Zorn des Bauern zu zügeln, war er mitgekommen.
Paul musste zugeben, dass Johannes Recht hatte.
»Was ist jetzt, Ehrmann?«, rief Hintermann von oben herab, der interessiert den Zwist beobachtet, aber nichts vom Gesagten verstanden hatte. »Ich hab zu tun, wie du siehst. Pass halt besser auf dein Zeug auf.«
»Ich krieg dich noch, verlass‘ dich drauf, du Lump«, rief Paul dem sich abwendenden Hintermann in den Rücken. Dieser hielt in der Bewegung inne und drehte sich um.
»Willst du mir etwa drohen, du Wicht?«
»Paul, lass gut sein…«, beschwichtigte Johannes.
»Was ist denn hier los?«, rief jetzt Beate, die Frau des Bauern Hintermann, die nun aus dem Haus kam, um zu sehen, was woher der Lärm kam. Ihr Anblick war alles andere als schön. Ihr Mund beherbergte nur noch vereinzelt Zähne, und sie war fett. Sie trug tagein tagaus dasselbe Kleid mit derselben verdreckten Schürze darüber. Über ihrer Oberlippe wuchs ein stattlicher Damenbart. Ihre Haare waren aschgrau und standen unfrisiert in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab. Johannes lief ein Schauer über den Rücken. Sie stand breitbeinig im Hof. In der linken Hand hielt sie ein totes Huhn, das schlaff herabhing.
»Der Ehrmann droht mir, Beate«, sagte Hintermann trotzig. »Er meint, ich hätt' ihm seine Bienenstöcke zerdeppert.«
»Warum hättest du das denn tun sollen, Heribert?«, fragte Beate dümmlich und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Hab' ich ja gar nicht.«
»Und wo ist dann jetzt das Problem?«
»Frag' doch die Zwei da unten«, sagte Hintermann und zeigte auf Paul und Johannes.
Beate schaute die Männer fragend an.
»Ich krieg' dich noch, Hintermann«, zischte Paul. »Verlass dich drauf.«
Hintermann lächelte böse und sagte leise: »Da musst du schon früher aufstehen.«
Unter wildem Fluchen wollte Paul sich daran machen, das Dach zu erklimmen, aber Johannes hielt ihn zurück.
»Lass mich los, ich bring ihn um, den verdammten Drecksack.«
»Paul, hör auf damit«, sagte Johannes beruhigend.
Der Wütende versuchte noch einen Moment lang sich loszureißen, gab es dann aber doch auf.
»Wir sprechen uns noch«, rief er mit erhobener Faust hinauf zum Dach und stieg auf sein Pferd. Johannes war froh, dass sein Ziehvater am Ende dann doch so vernünftig blieb und sich nicht zu etwas hinreißen ließ. Das Ehepaar Hintermann schaute den beiden Besuchern noch eine Weile hinterher, dann gingen sie wenig beeindruckt wieder an ihre Arbeit.
Den gesamten Nachhauseweg ließ sich Paul über den verhassten Nachbarn aus und überlegte, wie man dem Hintermann endlich das Handwerk legen könnte. Johannes versuchte, dabei immer beruhigend auf Paul einzuwirken, da er Angst hatte, dass der sich zu einer Dummheit hinreißen lassen würde.
Noch in derselben Nacht brannte das Gehöft der Hintermanns bis auf die Grundmauern nieder. Nur Beate Hintermann überlebte das Inferno. Heribert Hintermann und die gerade einmal dreijährigen Zwillinge Klaus und Karl Hintermann wurden Opfer der nach Zerstörung gierenden Flammen.
Discite moniti -
Lernt, ihr Ermahnten
Paul erreichte die Nachricht von dem Brand am nächsten Morgen auf dem Feld. Ein Büttel aus Frankfurt, den Paul schon das ein oder andere Mal in ihrer Gegend gesehen hatte, überbrachte sie ihm. Er kam mit seinem Gefolge und einer Kutsche. Er selbst saß auf einem imposanten Streitross.
»Seid Ihr der Bauer Paul Ehrmann?«, fragte der Büttel in offiziellem Tonfall und stieg elegant von seinem riesigen Pferd. Er trug einen schwarzen Mantel und einen Dreispitz auf dem Kopf. Er hatte einen durchdringenden Blick und einen kurz geschorenen Bart. Sein kerniges Gesicht flößte sofort Respekt ein.
»Ja, der bin ich«, antwortete Paul und stellte die Feldarbeit ein. »Wer will das wissen?« Er holte ein Tuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gestützt auf seine Harke, wartete er darauf, dass der Büttel sein Anliegen vortrug.
»Ich komme im Auftrag des Rates der freien Stadt Frankfurt.«
»Und?«
»Ich ermittle in der Mordsache Hintermann und ...«
»Was?«, unterbrach Paul den Mann.
»Ich sagte, dass ich in der Mordsache Hintermann ermittle und ...«
»Habe ich Euch richtig verstanden, dass Hintermann ermordet wurde?«
»Wenn Ihr mich nicht ständig unterbrechen würdet, Bauer Ehrmann, dann könnte ich vielleicht mit meinen Ausführungen zur Klärung Eurer Fragen beitragen.«
»Was redet der so geschwollen daher?«, mischte sich Johannes ein, der hinzugekommen war.
»Der behauptet, der Hintermann wäre ermordet worden.«
»Verdient hat er's«, war der unbedachte Kommentar Johannes'.
Der Büttel wurde sofort hellhörig.
»Was habt Ihr da eben gesagt?«
»Ich sagte ...«
»Dummes Geschwätz«, fuhr Paul ihm über den Mund. »Der Junge hat das nicht so gemeint.«
»Das sehe ich anders, Ehrmann«, erwiderte der Büttel. »Ich muss Euch bitten, mit mir zu kommen.«
»Wohin?«
»Zum Amtmann Böhmer.«
»Ihr seid wohl übergeschnappt«, rief Paul. »Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Sucht den wahren Täter und lasst mich damit in Ruhe.«
»Für mich ist die Sache ganz einfach«, entgegnete der Mann trocken. »Ihr seid des Mordes an Heribert Hintermann beschuldigt, also werdet Ihr dem Amtmann vorgeführt, um Euch zu den Vorwürfen zu äußern.«
»Wie stellt Ihr Euch das vor, Büttel?«, protestierte Paul. »Ich habe ein Land zu bestellen.«
»Es tut mir Leid«, sagte der Büttel ohne Bedauern in der Stimme. »Die Vorwürfe wiegen derart schwer, dass mir keine andere Wahl bleibt. Ich bitte Euch inständig, keinen Widerstand zu leisten, ansonsten müssen meine Männer Gewalt anwenden.«
Erst jetzt sahen Paul und Johannes die Männer am Feldrand. Allesamt von großem Wuchs und kräftiger Statur. Sie trugen lange dunkle Mäntel und Helme. Unter den Mänteln entdeckte Johannes Degenspitzen. Erschrocken sah er seinen Ziehvater an.
»Wer erhebt solche schwachsinnigen Vorwürfe?«, rief Johannes mit zittriger Stimme.
»Die Witwe Hintermann behauptet, dass nur er in Betracht käme.« Der Büttel deutete auf Paul. »Sie berichtete mir von Eurem unerfreulichen Besuch am gestrigen Abend. Sie beschuldigt Euch, das Haus niedergebrannt und somit den Tod der Familie billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar beabsichtigt zu haben. Bauer Hintermann und die Zwillinge sind bei dem Brand ums Leben gekommen und Ihr, Bauer Ehrmann, seid dringend der Tat verdächtigt.«
»Ihr glaubt diesem Waschweib, ohne mich vorher zu befragen?«, erwiderte Paul erregt.
»Mitnichten, Bauer Ehrmann«, wies der Büttel die Vorwürfe zurück. »Wir bringen Euch nur zu einer Anhörung, um die Ereignisse aufzuklären.«
»Und dazu müssen wir bis zum Amtmann?«
»Beim Amtmann liegt nun einmal die Gerichtsbarkeit in solch schwerwiegenden Fällen. Das habe ich nicht so bestimmt. Also folgt Ihr mir nun oder muss ich Gewalt anwenden?«
»Nur unter Protest.«
»Ich nehme es zur Kenntnis«, erwiderte der Büttel ungerührt und führte Paul ab.
»Moment!«, rief Johannes. »Er ist unschuldig!«
»Wir haben einen Verdacht und dieser muss entkräftet oder bewiesen werden.« Langsam wurde der Büttel ungeduldig und wandte sich zu Paul. »Wenn Ihr unschuldig seid, habt Ihr nichts zu befürchten, Ehrmann.«
Paul und Johannes tauschten einen besorgten Blick aus.
»Nun gut«, Paul rammte die Harke in den Boden. »Ich komme mit. Johannes, kümmere dich solange um die Arbeiten am Hof. Du weißt, was zu tun ist. Ich bin bald wieder zurück.«
Johannes schaute den Reitern des Landvogtes hinterher, die seinen Ziehvater in einer geschlossenen Kutsche, einem Verbrecher gleich, abtransportierten. Wut auf die Witwe Hintermann stieg in ihm auf. Dann aber musste er zugeben, dass Paul nicht ganz unschuldig an der Eskalation der Dinge war. Dennoch glaubte er keine Sekunde daran, dass sein Ziehvater ein Brandstifter und Mörder war. Kurzentschlossen machte er sich auf den Weg zu Hintermanns Gehöft, um zu schauen, was passiert war. Als er dort eintraf, fand er die Witwe Hintermann auf dem Rand des Brunnens inmitten des abgebrannten Hofes sitzend vor. Sie hatte ein verweintes Gesicht. Johannes nahm es zur Kenntnis. Mitleid konnte er keines empfinden. Zu groß war sein Zorn. Die Bäuerin bemerkte den jungen Mann nicht gleich, sodass er sich ihr unbemerkt nähern konnte. Als er vor ihr stand, räusperte er sich.
»Was willst du denn hier?«, rief sie, als sie Johannes erkannte. Rotz hing an ihrer Nase. Johannes wandte angewidert den Blick ab. »Du hast doch deinem Vater bestimmt geholfen. Ich sollte dich genauso dem Amtmann melden.«
»Paul hat das nicht getan«, stieß Johannes aus. Er konnte seine Wut nur mühsam kontrollieren.
»Ach nein«, schrie die fette Witwe und spie dabei Spucke in Johannes‘ Richtung. »Wer sonst sollte so etwas tun? Und angedroht hat er es auch.«
»Das war im Zorn dahin gesagt. Paul wäre niemals zu so einer Tat fähig.«
»Und alles nur wegen der paar lumpigen Bienenstöcke«, flüsterte Beate vor sich hin. »Es sollte doch nur ein Denkzettel sein.«
»Also ist er es doch gewesen?«
Die Witwe Hintermann nickte.
»Kindsköpfe«, stieß Johannes aus.
»Wer konnte denn ahnen, dass der Ehrmann gleich unser Haus in Brand setzt?«
»Das hat er nicht.«
»Doch, das hat er.«
»Hast du Beweise, Weib?«
»Ich … ja … nein.«
»Also, was jetzt?«
»Ich hab ihn gesehen.«
»Was genau hast du gesehen?«
»Wie er davonrannte.«
»In der Nacht?«
»Ja.«
»Im Dunkeln?«
Die Witwe zögerte.
»Ich habe ihn gesehen.«
»Du lügst, Weib.«
»Nein!«
»Du kommst jetzt mit zum Amtmann und wir klären das auf der Stelle.«
»Einen Teufel werde ich tun«, rief die Witwe und sprang auf. Mit einem Schritt war sie bei Johannes und hielt ihm ein Messer an den Hals. »Dein Vater wird in der Hölle schmoren. Aber vorher wird er auf dem Scheiterhaufen brennen, so wie mein Heribert und meine unschuldigen Kinder gebrannt haben.«
»Du rachsüchtige Schlange«, knurrte Johannes trotz des Messers an seiner Kehle. »Gar nichts hast du gesehen, du willst nur, dass jemand für den Tod deiner Familie blutet, und da kommt dir Paul gerade recht.«
»Denk, was du willst, Johannes«, presste Beate durch ihre faulen Zähne. »Er wird genauso sterben wie mein Mann und meine Kinder. Dafür werde ich sorgen. Er hat es getan, ich weiß es.«
»Einen Dreck weißt du, Weib!«
Johannes wandte sich ab und ließ die verbitterte Witwe stehen. Er konnte seine Zeit nicht damit vergeuden, die rachsüchtige Bäuerin davon zu überzeugen, dass es besser wäre, die Wahrheit zu sagen. Er musste Paul helfen.
»Was soll der Krach?«, rief Roderich Böhmer, der Amtmann, wütend und ließ widerwillig von seiner Gespielin ab. Er war gerade dabei, die neue Magd auf ihre Qualitäten im Bett zu testen, als im Hof seines Gutes der Lärm begann. Wütend, den drallen Körper der jungen Elsa nicht genießen zu können, schwang er sich aus dem Bett und lief ans Fenster. Er spähte hinaus, während er sich umständlich die Hose über den nackten Hintern zog.
Der Amtmann war eine ganze Portion Mensch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte das Gewicht eines Mastschweines und sah im Gesicht auch fast so aus. Eine riesige runde Nase, die zerfurcht war von Narben, die unzählige Pickel aus seiner Jugend dort hinterlassen hatten. Auf dem Kopf trug er eine wilde Lockenpracht, die von schmutzigem Blond war. Sein Kopf schien direkt in den Oberkörper überzugehen. Kein schöner Anblick. Aber er war der Amtmann und hatte Geld und Macht.
Böhmer stand nun am Fenster und schwitzte, während er beobachtete, wie die Gefangenenkutsche des Büttels in Begleitung mehrerer Reiter vorfuhr und direkt vor dem Eingang des Hauptgebäudes zum Stehen kam. Der Büttel rief lautstark Anweisungen und schickte sich an, das Haus zu betreten. Böhmer seufzte und drehte sich zur Magd um. Sie lag nackt im Bett und schaute ihn fordernd an. Das Mädchen war ausnehmend hübsch und schien sich nicht an der abstoßenden Äußerlichkeit ihres neuen Herrn zu stören. Sie war ihm zu Diensten, wie es sich gehörte. Mit vollem Körpereinsatz. Natürlich nicht ohne Berechnung. Ihr würde es an nichts fehlen im Haus des Amtmannes. Dafür würden ihre Schönheit und ihre Bereitschaft, das Bett mit Böhmer zu teilen, schon sorgen.
»Was ist los?«, fragte sie. »Ich dachte, wir sind ungestört.«
»Das dachte ich auch.« Böhmer bemerkte, wie seine Erektion sich verabschiedete und beschloss, die Magd später zu beglücken. Solange dieser Büttel sich im Haus herumtrieb, hatte er ohnehin keine Ruhe. »Bleib‘ genau so liegen, bis ich wieder bei dir bin«, befahl er deshalb.
Die Magd lachte frivol und zog die Decke über ihren nackten Leib. Böhmer schleppte seinen Körper zur Tür hinaus, nachdem er seine Kleidung einigermaßen geordnet hatte. Er donnerte die Treppe hinunter, von wo aus er bald den Büttel in der Eingangshalle stehen sah.
»Was wird gewollt?«, rief er von oben. Sein Tonfall ließ unmissverständlich erkennen, dass der Besuch unerwünscht war.
»Entschuldigt die Störung, Amtmann«, entgegnete der Büttel unterwürfig. »Aber wir haben den Brandstifter dingfest machen können und ihn sofort hierher gebracht.«
»Was für ein Brandstifter?«
»Na, der Brandstifter, der den Hintermann Hof angesteckt hat.« Der Büttel hatte sich schon gedacht, dass Böhmer mal wieder nicht im Bilde war. Wenn der Fettsack die Finger von den Mägden lassen und seinen Geschäften etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würde, wäre seine Arbeit nicht immer so mit Mühsal belastet.
»Ach ja, das Feuer von heute Nacht«, schien sich Böhmer zu erinnern. »Das ging aber schnell. Sehr gute Arbeit, Roderich. Werft ihn in den Kerker, ich kümmere mich dann später um ihn.«
»Wir sollen noch heute nach Frankfurt mit ihm fahren?«
»Hörst du schlecht, Büttel?«
»Nein, Herr. Verzeiht mir meine vorlauten Worte, aber wollt Ihr nicht zuerst mit ihm reden? «
»Weshalb? Ihr habt gesagt, dass er es war. Dann ist doch alles klar.«
»Nun ja«, der Büttel zögerte. »Er wird nur beschuldigt; Beweise indes fehlen mir.«
»Von wem wird er beschuldigt?«
»Von der Witwe Hintermann.«
»Was genau sagt sie?«
»Dass sie ihn gesehen hat, und dass es Streit zwischen Ehrmann und Hintermann gegeben hat.«
»Na also«, Böhmer nickte zufrieden. »Was willst du noch?«
»Ich dachte ...«
»Du denkst?«, unterbrach Böhmer seinen Gehilfen. »Das ist ja das Allerneuste. Fort mit ihm.« Der Amtmann machte eine wedelnde Handbewegung und schickte sich an, zurück in seine Stube zu gehen, wo der warme Körper Elsas lag. Er spürte, wie sein Glied steif wurde, was seine Ungeduld befeuerte.
Roderich wollte noch etwas erwidern, doch der Amtmann, der es nicht für nötig gehalten hatte, die hölzerne Treppe komplett hinabzusteigen, war schon wieder auf dem Weg zurück in sein Zimmer, um sein Werk an der Magd zu vollenden. Dem Büttel blieb nichts anderes übrig, als den armen Teufel nach Frankfurt in den Kerker zu werfen.
Die Reise in die Stadt würde bis zum Abend dauern. Mit dem klapprigen Gefangenenwagen kam man auf den holprigen Straßen kaum voran. Gerade jetzt, wo es angefangen hatte zu regnen. Er musste sich sputen, wollte er beizeiten am Oppenheimer Tor sein, das als Kerker diente. Am Schlimmsten war, dass der Amtmann meistens vergaß, wo seine Gefangenen hinkamen und wer überhaupt eingesperrt wurde, da er kein Buch darüber führte. Dies bedeutete, dass die armen Teufel meist im Kerker jämmerlich verreckten, bevor sie die Gelegenheit auf einen Prozess bekamen, den der Amtmann eigentlich abhalten musste. Wenn der Büttel sich die Leute, die er nach Frankfurt brachte, nicht merken würde, wären sie allesamt verloren.
Aquila non captat muscas –
Der Adler fängt keine Fliegen
Johannes eilte zur Residenz des Amtmannes. Immer und immer wieder musste er an die Worte der Bäuerin Hintermann denken. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt.
Der Hass war deutlich sichtbar gewesen.