Luise Rinser
Wenn die Wale kämpfen
Porträt eines Landes: Süd-Korea
FISCHER Digital
Luise Rinser, 1911 in Pitzling in Oberbayern geboren, war eine der meistgelesenen und bedeutendsten deutschen Autorinnen nicht nur der Nachkriegszeit. Ihr erstes Buch, ›Die gläsernen Ringe‹, erschien 1941 bei S. Fischer. 1946 folgte ›Gefängnistagebuch‹, 1948 die Erzählung ›Jan Lobel aus Warschau‹. Danach die beiden Nina-Romane ›Mitte des Lebens‹ und ›Abenteuer der Tugend‹. Waches und aktives Interesse an menschlichen Schicksalen wie an politischen Ereignissen prägen vor allem ihre Tagebuchaufzeichnungen. 1981 erschien der erste Band der Autobiographie, ›Den Wolf umarmen‹. Spätere Romane: ›Der schwarze Esel‹ (1974), ›Mirjam‹ (1983), ›Silberschuld‹ (1987) und ›Abaelards Liebe‹ (1991). Der zweite Band der Autobiographie, ›Saturn auf der Sonne‹, erschien 1994. Luise Rinser erhielt zahlreiche Preise. Sie ist 2002 in München gestorben.
Luise Rinser wurde 1975 eingeladen, an sechs großen südkoreanischen Universitäten Vorträge zu halten. Sie hat in vier Wochen intensivster Zusammenarbeit mit Südkoreanern sonst unzugängliches Erfahrungsmaterial gesammelt, mit dessen Hilfe sie ihre politischen, religionsphilosophischen, historischen und wirtschaftlichen Vorstudien korrigierte, ergänzte, vertiefte.
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Erschienen bei FISCHER Digital
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ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561204-0
Alle die an diesem Abend anwesend waren, mit Ausnahme von Hahm Sok-Han, sitzen seit 1. März 1976 im Gefängnis Seoul. Sie waren anläßlich einer gewaltlosen Demonstration in der katholischen Kathedrale Seoul verhaftet worden.
Meinen Freunden
Isang Yun, Komponist, Berlin
und
Ahn Byung-Mu, Professor für
evangelische Theologie, seit
1. März 1976 im Gefängnis
Seoul.
Wenn die Wale kämpfen,
zittern die Garnelen.
Koreanisches Sprichwort
Der subjektive Eindruck ist für den Schriftsteller
das, was für den Wissenschaftler das Experiment ist,
nur mit dem Unterschied, daß das Werk der Intelligenz
durch den Wissenschaftler vorangetrieben wird, während
es der Arbeit des Schriftstellers nachfolgt.
Marcel Proust,
»Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«
Besonderen Dank schulde ich
Lee O-Young, Schriftsteller, Herausgeber der Literatur-Zeitschrift »Munhak-Sasang«, der mich nach Korea einlud und mir dort unermüdlich beistand,
seiner Frau Ann Myong-Sook
Yun Hyung-Du, meinem koreanischen Verleger, Seoul,
Chun Young-Ae, Germanistin, meiner Begleiterin, Dolmetscherin und »kleinen Tochter«,
der Deutschen Botschaft in Seoul, besonders Dr. Cornelius Sommer und Dr. Jürgen Kleiner, von denen ich jede mögliche Hilfe bekam,
Chung Kya-Hwa, Germanist, München, der mich zuerst mit dem Geist Koreas bekannt machte und alle meine Reiseprobleme lösen half.
Zur Schreibung der koreanischen Namen:
Man setzt in Korea den Familiennamen an den Anfang,
dann folgt der eigentliche Rufname und dann ein Beiname,
der eine Bedeutung ausdrückt. Im Deutschen würde
man etwa so schreiben: Müller Peter der Kluge.
Unter allen Flaggen der Erde ist die südkoreanische die merkwürdigste: sie ist Ausdruck, Symbol, Lehrbuch einer Philosophie, welche die älteste und tiefste der Menschheit ist: die Lehre vom TAO.
Der Untergrund der Flagge ist weiß. Weiß ist die Farbe, die farblos scheint, während sie in Wirklichkeit alle Farben enthält. Indem sie alle Farben in sich hat, ist sie die Fülle. Indem sie keine Farbe hat, ist sie die Leere. Weiß ist die Farbe für ALLES und die Farbe für NICHTS. Da es beides ist, Farbe und Nichtfarbe, Alles und Nichts, Fülle und Leere, ist es DAS GANZE und DAS EINE. Weiß ist die Farbe der Einheit und des Friedens.
Im Zentrum des weißen Grundes ist ein Kreis. Der Kreis ist das Symbol des in sich geschlossenen Ganzen, das weder Anfang noch Ende hat, an jedem seiner Punkte gleich ist und gleich gilt. Da der Kreis auch ein Rad sein kann, so ist es Symbol für Bewegung. Das schnell sich drehende Rad erscheint als weiße Fläche.
Die Kreisfläche setzt sich zusammen aus zwei kongruenten fisch-artigen Gebilden, von denen eines rot, das andere blau ist. Blau ist die Symbolfarbe für das Weibliche, Rot für das Männliche. In der Sprache des alten China, aus dem die Lehre des TAO stammt, heißt das Rote, Männliche YANG, das Blaue, Weibliche YIN (koreanisch: UM).
YANG und YIN sind die beiden Prinzipien des Lebens, die beiden Pole, zwischen denen alles Seiende liegt und sich bewegt. Alles, was ist, ist entweder das eine oder das andere, aber keines kann sein ohne das andere, und nur durch das andere wird es zu dem, was es ist, und es IST nur, wenn es mit dem andern ist und EINS mit ihm ist.
Wenn man mit Begriffen der westlichen Philosophie operieren will, kann man sagen, die Lehre vom TAO sei eine dialektische Philosophie. Die These heißt: alles ist EINS. Die Antithese heißt: alles muß ZWEI sein, weil es zwei Pole braucht. Die Synthese heißt: indem etwas zwei Pole hat, ist es EINS.
Der Dualismus ist nur ein scheinbarer, der Widerspruch löst sich auf. In der westlichen Philosophie haben wir dieselbe Erkenntnis: der Philosoph Nicolaus Cusanus (15. Jahrhundert) sprach von der coincidentia oppositorum, dem Zusammenfallen der Gegensätze in dem EINEN, das er GOTT nannte. In der ganzen mittelalterlichen Philosophie der Alchimisten ist die Rede von der conjunctio oppositorum, der »Hochzeit der Widersprüche«.
Der ganze Kosmos ist geordnet nach den zwei Prinzipien YANG und YIN. Wenn man YIN oder YANG sagt, sagt man sehr viel, man sagt jeweils die Hälfte alles Seienden.
So ist YIN: | und so ist YANG: |
das Weibliche | das Männliche |
die Mutter | der Vater |
die Erde | der Himmel |
die Nacht | der Tag |
das Wasser | das Feuer |
der Schoß | der lingam (Phallus) |
das Tal | der Berg |
die Wärme | die Kälte |
der Tod | das Leben |
die Milde | die Kraft und die Härte |
die geraden Zahlen | die ungeraden Zahlen |
das Nicht-Handeln | das Handeln |
die Leere | die Fülle |
und so fort – durch das ganze Universum.
YIN ist nicht weniger als YANG. Der negative Magnet-Pol ist nicht der minderwertige. YIN und YANG haben keine wertende Bedeutung, schon gar nicht eine moralische. Das Feuer ist nicht besser als das Wasser, der Tag nicht besser als die Nacht, das Leben nicht weniger als der Tod. Alle Wertungen sind nur-menschlich, beruhen auf Mißverständnissen, sind vorübergehende Aspekte, falsche Betonungen.
Jedes Negative ruft nach dem Positiven und umgekehrt: die Leere ruft nach der Fülle, die Fülle braucht die Leere, der Tag braucht die Nacht, um Tag zu sein, das Leben braucht den Tod, um auferstehen zu können. Immer ist eines zugleich mit dem andern da. Versucht man ein Positives von seinem Negativen zu trennen, zerstört man es. Versucht man ein Negatives zu leugnen, verdirbt das Positive. Auch der Mensch ist notwendig Licht und Schatten, denn auch er untersteht der Dialektik der Polarität. »Was oben ist, das ist auch unten, was innen ist, das ist auch außen, dem Makrokosmos entspricht der Mikrokosmos.« Das könnte ein taoistischer Satz sein, aber er stammt von dem europäischen Philosophen Comenius (16. Jahrhundert). Die großen Erkenntnisse aus dem Osten treffen sich mit denen aus dem Westen, wenn diese tief genug gehen.
Die Lehre vom TAO wird zur Ethik, wenn sie sich an den Menschen wendet und ihn aufruft, die YIN- und YANG-Kräfte in Harmonie zu bringen, damit nicht die kosmische Harmonie gestört werde.
Die Kräfte des Menschen scheinen auseinanderzustreben. Sie haben die Tendenz, aus dem Gleichgewicht zu fallen. Die Aufgabe des Menschen ist, das Gleichgewicht herzustellen und zu wahren.
Wenn jemand aus dem Gleichgewicht ist, so ist er gestört, also krank. Gleichgewicht ist nicht Gleichgültigkeit und nicht Mittelmaß und nicht Lauheit und nicht Durchschnittlichkeit. Es meint das Gegenteil: höchste Intensität in der Konzentrierung auf die Idee der Harmonie. Das bedeutet und erfordert: Selbst-Erkenntnis, Selbst-Beschränkung, Selbst-Beherrschung, Besonnenheit, Mäßigkeit, Toleranz, Gehorsam gegenüber einer großen Sache und deren rechtmäßigem Vertreter.
Es entspricht dem westlichen Ideal der »sacra indifferentia«: dem Erlangen der tiefsten Ruhe, jenes Friedens, »den die Welt nicht gibt«.
Diesen Frieden findet der Mensch, der das TAO erfährt.
Was aber ist das? Wie übersetzt man das Wort ins Deutsche oder in eine andere westliche Sprache? Man kann es übersetzen mit: logos, Sein, Geist, Weg. Die beste Übersetzung ist: SINN.
Was aber ist das?
Der chinesische Philosoph Lao-Tse, der um 600 v.Chr. lebte, schrieb: »Der Sinn, den man ersinnen kann, das ist nicht der ewige Sinn.« Man versteht den Satz besser, wenn man ihm einen anderen hinzufügt, der auch von Lao-Tse stammt:
»Wahren Wert erhält ein Wesen dadurch, daß es durch seine Berührung mit den Tiefen des Weltgrundes in eigenem Licht zu leuchten vermag.«
»Tiefen des Weltgrundes« können wir umschreibend erklären, indem wir es nennen: das Göttliche, den Weltgeist, Gott.
TAO ist jenes, was ALLES ist, aber nicht mit den Sinnen (den äußeren, leiblichen Sinnen) erfahren wird, sondern nur dann, wenn man diese Sinne verschließt und den inneren Sinn für DEN Sinn öffnet. Dann kommt die Erleuchtung. Damit ist, so denke ich, das gleiche gemeint, was man das ZEN im Zen-Buddhismus nennt und in der westlichen Mystik das »innere Licht« oder »visio beata«.
Die Lehre vom TAO ist reine Metaphysik und Mystik.
Kung-Fu-Tse (Konfuzius) hat sie in die Erde verwurzelt, er hat eine Gesellschaftslehre aus ihr gemacht, die praktisch, und zwar politisch-moralisch, anwendbar war auf die konkrete Wirklichkeit des alten China und die für ein paar Jahrtausende die Grundlage der Staats-Philosophie im Fernen Osten wurde, auch für Korea.
Die Lehre vom TAO lautet dann so:
Ein Volk gedeiht nur, wenn alle Kräfte und Ränge in Harmonie sind, so daß weder die YIN- noch die YANG-Kräfte die Alleinherrschaft an sich reißen. Das ist ein Aufruf an das Volk, die tradierte, »göttlich gegebene« Ordnung bewußt und freiwillig zu wahren. In heutigen Worten gesagt, heißt das: das Volk muß seinen individuellen und seinen nationalen Egoismus beschneiden, seine Aggressionen abbauen, den Drang zur Beliebigkeit und zu nicht-notwendigen Revolten oder Revolutionen bezähmen und die Neigung zur Ex-zentrik, zum Verlieren der Mitte, überwinden.
Die koreanische Flagge, die das Zeichen des TAO trägt, meint beides: das TAO als Metaphysik und Mystik und das TAO als gesellschaftspolitische Moral. Sie meint auf jeden Fall: Harmonie.
In den vier Ecken der Flagge sind Zeichen, die demjenigen bekannt sind, der sich schon mit dem »I Ging« (richtig: I King) befaßt hat.
Es sind uralte Zeichen. In einer Chronik aus dem Jahr 541 v.Chr. liest man, daß das »I King« mit dieser Zeichensprache schon um 2300 v.Chr. bekannt war. Die Entstehungs-Geschichte sei diese: Der Kaiser Fu-Hai betrachtete lange die leuchtenden Figuren am Himmel, dann die Züge der Vögel, dann die auf der Erde abgebildeten Zeichen, dann die Unregelmäßigkeiten des Bodens, die Wege der Tiere und so fort, und dabei entdeckte er, daß die Figuren einander entsprechen und daß sie zugleich Zeichen sind für andere und daß die äußeren Zeichen inneren entsprechen. So fand er, daß das TAO, das vorher dem Menschen nicht geoffenbart war, sich in Zeichen deutlich zu erkennen gibt. Diese Zeichen schrieb er auf in jener Schrift, die wir aus dem »I King« kennen. Aber der Kaiser fand sie nicht sogleich, sondern in langem Nachdenken. Zunächst fand er den Strich, der ungebrochen ist: das Zeichen für das Männliche, dann fand er den zweigeteilten Strich, das Zeichen für das Weibliche. Da er aber erkannte, daß jedem Prinzip das Gegenprinzip innewohnt, fand er folgende Zeichen: und Dann fügte er den jeweils zwei Strichen einen dritten hinzu, der (so kann man es deuten) den Sachverhalt entweder verstärkt und bejaht oder schwächt und verneint. Es gab damit acht Trigramme, und mit ihnen lassen sich alle Möglichkeiten und Entsprechungen ausdrücken:
der Himmel, die Nacht, der Aufstieg, die unbesiegliche Kraft, der Süden, der Vater | |
das stillstehende Wasser, der See, der Sumpf, das Vergnügen, die Freude, die jüngste Tochter, der Süd-Osten | |
das Feuer, die Schönheit, der klare Verstand, die Eleganz, die zweite Tochter, der Osten | |
der Blitz, die erregende Macht, die bewegende Gewalt, der älteste Sohn, der Nord-Osten | |
der Wind, das Holz, die Biegsamkeit, der Gehorsam, die Unterwürfigkeit, die Durchdringung, die älteste Tochter, der Süd-Westen | |
das fließende Wasser, die Wolke, die Quelle, der Fluß, die Gefahr, die Schwierigkeit, der jüngere Sohn, der Westen | |
das Gebirge, die Ruhe, das Gefängnis, der jüngste Sohn, der Nord-Westen | |
die Erde, die willige Unterwerfung, die Mutter, der Norden. |
Den Zeichen entsprechen Zahlen, und jedes Zeichen hat eine Tendenz zur Wandlung, zum Schicksals-Umschwung; daher heißt das Buch auch »Buch der Wandlungen«. Es ist ein Orakelbuch auf höchster geistiger, nicht magischer Ebene. Es offenbart sich nur in der strengen Meditation.
Die koreanische Flagge trägt die vier Grundzeichen dieser Geheimsprache angeordnet um den Kreis des TAO. Es sind die Zeichen für Erde, Wasser, Feuer, Himmel, für Vater, Mutter, Sohn, Tochter, für Westen, Osten, Süden, Norden, und so fort. In einfachen westlichen Worten gesagt, bedeutet die Flagge: nur wenn alle diese Elemente im Gleichgewicht sind, herrscht Harmonie, und das Volk gedeiht.
Was für eine Flagge! Und was für ein Volk, das eine solche Flagge sich wählte!
Wie aber ist die konkrete Situation dieses Volkes unter der TAO-Flagge? Diese Situation zu schildern und ihre Beziehung zu dieser Flagge darzustellen, ist der Inhalt dieses Buches.
Als ich die Einladung nach Südkorea bekam, wußte ich von diesem Lande nicht mehr und nicht weniger als die meisten anderen Europäer: Korea ist eine kleine Halbinsel westlich von Japan, östlich von China, südlich vom südlichsten Teil der Sowjetunion; ein unbedeutendes Anhängsel am asiatischen Kontinent, aber ein begehrter Bissen für die großen Nachbarn, vor dem Aufgefressenwerden vorläufig beschützt durch die USA, für welche, nach dem Rückzug aus Vietnam, Südkorea der letzte militärische Stützpunkt im Fernen Osten ist. Aus der Zeitgeschichte weiß man, daß Korea am 38. Breitengrad liegt. Nahe diesem Breitengrad liegen rings um die Erdkugel aufgereiht andere bedeutende Weltorte wie Peking, Jerusalem, Athen, Rom, Madrid, New York, San Francisco; aber keiner dieser Orte hat den 38. Grad berühmt gemacht. Das tat einzig eine höchst leidvolle, folgenschwere Phase der jüngsten koreanischen Geschichte: dieser Breitengrad wurde nach dem zweiten Weltkrieg die (als vorläufig gedachte) Grenze zwischen Nord- und Südkorea, das heißt zwischen der Einflußsphäre der Sowjets und der Rotchinesen (die damals gemeinsame Fernost-Politik machten) einerseits und dem restlichen, dem nicht-kommunistischen, dem demokratischen freien Teil andrerseits. Nach dem Koreakrieg, 1953, wurde die Grenze ein wenig verschoben; und da verläuft sie nun, von Ost nach West, und trennt Nord- und Südkorea schärfer als Ost- und Westdeutschland getrennt sind durch den Nord-Süd-Schnitt. Wie Deutschland, so unterstehen die beiden Korea, obgleich völkerrechtlich freie, selbständige Staaten, zwei Großmächten: der Norden der UdSSR, der Süden den USA. Es gibt allerdings einen Unterschied: Deutschlands freier Teil ist faktisch eine Demokratie, Koreas nicht-kommunistischer Teil ist es nur dem Namen nach; tatsächlich ist es eine totalitäre Rechtsdiktatur unter dem Präsidenten Park Chung-Hee. Wir haben ihn auf Pressefotos gesehen: er schüttelt 1961 John F. Kennedy die Hand, 1964 dem deutschen Präsidenten Lübke, 1966 Nixon und dem Vietnamesen Van Thieu, 1968 dem äthiopischen Kaiser Haile Selassie, 1972 den Wiener Sängerknaben und dem österreichischen Präsidenten Jonas, und wir konnten 1974 durch Zufall vor dem Fernsehapparat Zeuge sein, wie seine Frau erschossen wurde, während er zur Erinnerungsfeier der Befreiung Koreas von Japan eine Rede hielt, die er sogleich fortsetzte, nachdem man die tote Frau weggetragen hatte.
1975 hat uns Korea eine Weile beschäftigt, als die UNO lange darüber beriet, welches der beiden Korea Mitglied werden dürfe, es gab viel internationalen Ärger, obgleich dieselbe UNO in ihrer 3. Versammlung 1948 die Südkoreanische Regierung klipp und klar als einzig rechtmäßige erklärt hatte. Wir wissen, daß Park Chung-Hee sich eines großen CIA-Netzes bedient, um sein Volk unter ständiger Kontrolle zu halten, im Inland und auch im Ausland. Wir erfuhren das, als 1967 der Komponist Isang Yun aus Berlin, wo er an der Hochschule für Musik lehrte, entführt wurde auf eine bemerkenswerte Art; er selbst erzählte mir, daß eines Tages zwei Koreaner ihn besuchten, ihn unter einem Vorwand in die südkoreanische Botschaft nach Bonn brachten, ihn dort mit Drogen bewußtlos machten und ihn nach Korea entführten. Er kam im Gefängnis von Seoul zu sich. Kurze Zeit später holte man auch seine Frau. Die Anklage lautete, wie üblich, auf Paktieren mit dem Kommunismus; Isang Yun hatte mit südkoreanischen Studenten sympathisiert, die in Berlin für ein freies demokratisches, keineswegs für ein kommunistisches Südkorea demonstrierten. Isang Yun‘s Frau blieb acht Monate im Gefängnis, er selbst zwei Jahre. Erst die zahlreichen gemeinsamen Proteste der Intellektuellen vieler Länder bewogen Park dazu, ihn freizulassen. Nun lebt Isang Yun wieder in Berlin, frei, berühmt und inzwischen deutscher Staatsbürger geworden.
Es ist nicht der einzige Fall eines KCIA-Skandals in Europa. Ist es verwunderlich, wenn Südkorea einen so schlechten Ruf genießt, daß eine deutsche Zeitschrift 1975 schreiben konnte, es sei »ein einziges Gefängnis«?
Erfreuliches über Südkorea kommt uns nicht zu Ohren. So halten wir es für ein finsteres, reaktionäres, von einem besonders unsympathischen Tyrannen unterdrücktes Land, das zu besuchen nicht tunlich ist. Was auch sollte uns dorthin locken? Es sei landschaftlich schön, sagt man, und man ersieht es aus den Prospekten der Reisebüros. Aber das ist kein Grund, so weit zu reisen: rund zwanzig Flugstunden dauert die kürzeste Route mit der KAL, der Korean Air-Lines, von Paris über Anchorage in Alaska und über den Nordpol nach Seoul.
Besitzt Südkorea eigentlich eine eigene Kultur? Gleicht sie nicht der chinesischen oder japanischen, so wie die koreanischen Gesichter den chinesischen und japanischen gleichen? Hat es große Dichter, Maler, Philosophen, Religionsstifter, Wissenschaftler von Weltruf? Ein gutes, ein artistisch perfektes Ballett hat es, das, auf Welttournee geschickt, erfolgreich ist. Daß wir nichts wissen von der koreanischen hohen Kultur, ist auch unsere Schuld: wir haben uns nie dafür interessiert. Wie ist das Volk? Uninteressant; sonst wüßte man etwas darüber. So meinen wir. Um Ostasien kennenzulernen, reist man nach China oder Japan.
Nach Südkorea gehen freiwillig nur christliche Missionare, gezwungenermaßen Politiker und, von materiellen Interessen getrieben, Geschäftsleute, die in diesem rückständigen Bauernland Industrien aufbauen, wobei die USA besonders viel Geld investieren, um sich dort einen neuen Absatzmarkt zu schaffen.
Was gibt es eigentlich in Südkorea? Bodenschätze? Die finden sich in Nordkorea, mitsamt einigen von den Japanern aufgebauten älteren Industrien. Südkorea hat, so scheint es, nur Unwichtiges zu bieten: Seide, Lack- und Perlmutt-Arbeiten, Halbedelsteine, Töpferwaren und die geheimnisvolle Ginseng-Wurzel, die man im Westen als Extrakt und Tee und Pillen kauft, welche Gesundheit, Kraft und langes Leben verleiht.
Was uns Südkorea im Gedächtnis festhält, ist die Möglichkeit, daß dort eines Tages die Spannung zwischen Nord und Süd derart stark wird, daß ein Bruderkrieg ausbrechen und einen Dritten Weltkrieg auslösen könnte.
Alles in allem: was für ein unsympathisches Land! Alle meine Bekannten warnten mich vor der Reise. Als ein bekannt antifaschistischer Autor in eine Rechtsdiktatur eingeladen zu werden, kann nicht harmlos sein. Man wird dir, sagten Freunde, nur das zeigen, was du sehen darfst und worüber du schreiben sollst; man benützt dich als Aushängeschild für vorgebliche Toleranz und Freiheit; man kauft dich und wehe, wenn du etwas sagst oder tust, was der Regierung nicht paßt; du wirst vom KCIA überwacht werden nicht nur in Südkorea selbst, sondern auch nach der Rückkehr …
Warum eigentlich hatte niemand mich gewarnt, als ich, ebenfalls eingeladen, in die Sowjetunion reiste oder nach Franco-Spanien oder in den Vorderen Orient oder in die Militärdiktatur Indonesien oder in den faschistoiden Süden der USA? Mit welchem Maß wird da gemessen?
Einige Monate vor der Reise besuchten mich teils nach-, teils miteinander vier Südkoreaner, die schon einige Jahre in Deutschland lebten. Sie wichen allen meinen politischen Fragen höflich aus; sie trauten mir nicht, weil sie keinem Menschen trauen. Nur einer gab sich offen; er sagte, ich dürfe in Südkorea alles sagen, alles kritisieren, alles fragen; mir würde nichts geschehen; Südkorea entspreche nicht seinem schlechten Ruf; freilich sei vieles übel dort, und natürlich stehe ein Teil des Volkes gegen die Regierung, aber in welchem Land sei das Volk einig und in welchem gebe es keine Mißstände? Dieser Mann war vom KCIA; er begegnete mir in Korea wieder; er war bei denen, die mich am Flughafen offiziell empfingen; er tauchte immer wieder auf, bis ich andernorts meinen Verdacht aussprach. Von da an sah ich ihn nicht mehr.
Wenngleich ich das abratende Gerede meiner Bekannten in den Wind schlug, hegte ich doch selber einige Bedenken vor der Reise. Wieso eigentlich war gerade ich eingeladen? Ein Jahr vor mir, als erster Gast der Zeitschrift »Munhak-Sasang« (Literatur und Denken), war Constantin Virgil Gheorgiu eingeladen, Exil-Rumäne und Ex-Kommunist; das war eine verständliche, eine begründete Einladung. Aber ich? Natürlich gab es eine Erklärung, die gelten konnte: im Laufe der letzten fünfzehn Jahre sind zehn meiner Bücher ins Koreanische übersetzt worden, als Raubdruck, und eines dieser Bücher, das erst-übertragene, der Roman »Mitte des Lebens«, ist seither Bestseller und Schullektüre, wie ich zuerst von südkoreanischen Krankenschwestern erfuhr, die in Deutschland arbeiten.
Gerade das aber war mir nicht geheuer, denn die Heldin des Romans, Nina, eine Studentin, agiert im Widerstand gegen die Hitler-Diktatur. Das ist doch absurd, ein derart antifaschistisches Buch so zu fördern in einer Diktatur und dann auch noch die in Vergangenheit und Gegenwart nachdrücklich antifaschistische Autorin einzuladen. Natürlich war ich nicht von der Regierung direkt eingeladen. Aber in einer totalen Herrschaftsform geschieht nichts ohne Wissen und Erlaubnis der Regierung. Wußte sie nicht, wer da eingeladen wurde? (Sie wußte es.) Oder bestanden etwa innerhalb der Regierung zwischen Kultusministerium und Partei Rivalitäten und Kontroversen, so wie es sie in Hitlerdeutschland gab zwischen Partei, SS, Militär und Kultusministerium? (In der Tat war es jemand aus dem südkoreanischen Kultusministerium, der den Herausgeber der Zeitschrift »Munhak-Sasang« unterstützte; er war es auch, der gestattete, daß ich, als eine »V.I.P«, feierlich am Flugzeug empfangen wurde.) Dennoch blieben ungelöste Rätsel: wieso hatte man in der Zeitschrift meine politische Biographie veröffentlicht? Wieso fragte man mich im ersten Interview am Flughafen nach eben dieser Vergangenheit? Wieso wiederholte man die Frage eine Woche später im Fernseh-Interview? Wieso führte man mich in jedem meiner Vorträge mit dieser Biographie und mit dem Hinweis auf »Nina« ein? Wieso hatte man in »Munhak-Sasang« meinen Vortrag über »Humanismus heute«, den ich an der EHWA-Universität Seoul halten sollte, vorabgedruckt, obgleich ich darin über die marxistische Philosophie sprach und keineswegs vorwiegend negativ kritisch? Aber wieso wollte dann der Einladende im letzten Augenblick doch verhindern, daß ich über dieses Thema sprach? Wieso erlaubte er es aber, als ich darauf bestand? Wieso konnte in der Diskussion eine Studentin aufspringen und provokatorisch intensiv fragen: »Was hat Ihnen die Kraft gegeben, Ihrem Diktator zu widerstehen?« Und warum kamen zu jedem meiner Vorträge an sechs Universitäten in verschiedenen Städten etwa 4000 Studenten? Weshalb diese erstaunliche Begeisterung? Weshalb bekam ich beim letzten der Vorträge in der im Südwesten gelegenen Stadt Kwangju einen »kleinen« Saal, der nur 2000 Hörer faßte, und warum war der Platz vor der Universität, auf dem die Nicht-Eingelassenen standen, 5000 sollen es gewesen sein, von Polizei mit Gummiknüppeln bewacht, was nirgendwo sonst geschah? Fürchtete man hier eine Demonstration, oder war der Massenandrang an sich schon eine stumme Demonstration? (Es war so, wie ich später erfuhr.) Warum mußte ich nur in dieser Stadt die südkoreanische Flagge grüßen, an der Seite des Gouverneurs der Provinz? Und warum bekam ich in dieser Stadt feierlich die Ehrenbürgerurkunde (Nummer sieben), in gerade der Stadt, wo die meisten Studentendemonstrationen stattfinden und immer Studenten im Gefängnis sitzen und bisweilen für Jahre dort »vergessen« werden? Kwangju war im Laufe der Geschichte immer schon die Stadt der Rebellen.
Widersprüche über Widersprüche. War ich eigentlich vom KCIA überwacht? Ganz gewiß. Aber ich merkte es nicht, und ich kümmerte mich nicht darum. Wer wie ich lange in einer totalitären Diktatur gelebt hat, weiß sich zu verhalten: kühn, gleichgültig und vorsichtig zugleich: eine Mischung, die nur der kennt und handhaben kann, der sie zu üben gezwungen ist. Die Südkoreaner kennen sie.
An einem der ersten Tage meines Aufenthalts in Seoúl war ich in der deutschen Botschaft zu einem Abendessen eingeladen, zusammen mit koreanischen Intellektuellen. Scherzend fragte ich: »Und wer von uns ist nun vom KCIA?« Man lachte. Hernach sagte man mir: »Es gibt keine Zusammenkunft in Südkorea, bei der nicht jemand vom KCIA anwesend ist. Wer, das wissen wir fast nie. Es stört uns auch nicht. Der KCIA ist eine staatliche Institution wie andere auch.« Man erzählte mir, daß kurz zuvor ein ausländischer Geschäftsmann eine überseeische Nachricht per Telex erwartete; er merkte zu spät, daß er kein Papier eingespannt hatte. Nun: er ging zur KCIA-Zentrale und bat um die Kopie. Man gab sie ihm in aller Selbstverständlichkeit.
Was, so fragte ich, kann denn der KCIA anfangen mit den Lawinen von Informationen in allen Sprachen der Welt? Er hortet sie. Im Ernstfall allerdings greift die Justizbehörde darauf zurück. Aber das hat sie eigentlich gar nicht nötig: sie braucht, um jemanden zu verurteilen, keine Indizien; ist er verdächtig, so wird er verhaftet; ist er im Gefängnis, so wird ihm ein Papier vorgelegt, auf dem steht, daß er sich kommunistischer Propaganda schuldig gemacht habe. Das muß er unterschreiben. Tut er es nicht, weil er sich nicht schuldig weiß, so wird er gefoltert. Der Schriftsteller Kim Chi-Ha berichtet, man habe ihm fünf Tage Essen und Schlaf vorenthalten, bis er, erschöpft und schon im Delirium, unterschrieb. Er hat die Selbstanklage später in einem Manifest, das aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde, widerrufen. Ein anderer Angeklagter, Universitätsprofessor, erzählte mir, er sei von einem Vortrag weg verhaftet worden und man habe ihm das übliche Papier unterbreitet. Als er sich weigerte, zu unterschreiben, sagte der KCIA-Mann: »Herr Professor, ich weiß, daß Sie unschuldig sind, ich kenne Sie ja. Die andern wissen es auch. Aber was nützt das? Wenn Sie nicht unterschreiben, werden Sie gefoltert, bis Sie es tun. Sollten Sie sich weiter weigern, werde ich gefoltert. Ist’s da nicht vernünftiger, wenn Sie gleich unterschreiben?« Er unterschrieb. Er blieb acht Monate im Gefängnis und wurde dann auf Widerruf freigelassen, jedoch seiner Professur enthoben. Er ist einer jener Koreaner, die, wie er sagt, »nichts mehr zu verlieren haben« und die offen zu mir sprechen. Im allgemeinen verhalten sich Koreaner im eigenen Land genau so wie in Europa: ein Koreaner allein ist im Gespräch unter vier Augen sehr offen, wenn er endlich dem Partner voll vertraut und ein wenig zu viel getrunken hat (Koreaner vertragen seltsamerweise keinen Alkohol); bisweilen passiert es, daß man so jemanden, der allzu lange schwieg und dann plötzlich explodiert, vor einer gefährlichen Selbstpreisgabe bewahren muß. Zwei oder drei Koreaner zusammen sind höflich verstockte Schweiger; ihre Gesichter drücken rein gar nichts aus, wenn sie sich beherrschen, wie sie überhaupt zu einer zeremoniell anmutig-steifen Feierlichkeit neigen. Dazu sind sie erzogen: man zeigt keine Gefühle, besonders nicht, wenn es leidenschaftliche sind.
Wie eine große, scheinbar einheitliche Gruppe sich verhält, wenn sie unerwartet politisch provoziert wird, erlebte ich bei einem Presseempfang. Ich überbrachte die Grüße Isang Yun’s; ich sagte, es gehe ihm sehr gut im Westen; er bedauere, noch nicht nach Korea zurückkehren zu können, aber er arbeite für den Ruhm und die Zukunft seines Vaterlandes Korea. Zunächst folgte dieser Rede, die ein Kollege undurchdringlichen Gesichts übersetzt hatte, bestürztes Schweigen. Dann explodierte ein Teil in heftigen Beifall, ein anderer unterließ es ausdrücklich und eisigen Gesichts, der Rest blickte unschlüssig vor sich hin. Hernach aber, in eiligen und geflüsterten Zwiegesprächen zwischen Tür und Angel und auf der Treppe noch, versuchten mir einige einen Kommentar zu ihrem Verhalten zu geben. Es ging ihnen darum, vor mir, der Ausländerin, der Frau, die im Widerstand gewesen war, ihr Gesicht zu wahren, indem sie mir erklärten, sie stünden in der Opposition, sähen aber im Augenblick keine Möglichkeit eines sinnvollen, das heißt politisch wirksamen Aufstands. Was konnte ich ihnen antworten? Ich erinnerte mich an Hitler-Deutschland. Die Schriftsteller, die nicht emigriert waren, schwiegen. Bis auf wenige. Ich verbot mir ein Urteil über meine südkoreanischen Kollegen.