Nicht noch einmal

Kriminalroman: Bussards fünfter Fall

Ralf Kurz


ISBN: 978-3-95428-610-2
1. Auflage 2015
© 2015 Wellhöfer Verlag, Mannheim

info@wellhoefer-verlag.de
www.wellhoefer-verlag.de
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen
Das vorliegende Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig.

Inhalt

Ralf Kurz

Den geborenen Pfälzer, Jahrgang 1961, verschlug es nach dem Abitur nach Freiburg, wo es ihm so gut gefiel, dass er die Stadt zu seiner Wahlheimat erkor. Er erlernte den Kaufmannsberuf, spielte jedoch nebenbei viele Jahre als Gitarrist und Bassist in Rock- und Bluesbands, bevor er mit dem Schreiben begann.

Seine ersten beiden Romane »Sdaiv – die Entführung der Fußball-Nationalmannschaft« (Krimi, 2005) und »Die Ziege im Anzug« (Liebeskomödie, 2008) sowie einige Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlichte er unter seinem Pseudonym FREEMAN. Im Jahr 2008 erschien unter seinem eigenen Namen der große, historische Porträtroman »Der Diplomat« über den Staatsmann und Minister Johann Christian von Hofenfels
(1744 – 1787).
Mittlerweile ist Kurz zum Krimigenre zurückgekehrt.

Bereits im Wellhöfer Verlag erschienen:
Die Honigspur – Kommissar Bussards erster Fall
Im Schatten der Wahrheit – Kommissar Bussards zweiter Fall
Tödlicher Triumph – Kommissar Bussards dritter Fall
Kopf oder Zahl
Kommissar Bussards vierter Fall

Für Friedhelm

Prolog

Ihr Anblick traf ihn wie die Druckwelle einer Detonation und katapultierte sein Bewusstsein zurück in eine Zeit, die er längst vergessen zu haben glaubte. Wie war es möglich, dass sie nun hier auftauchte?

Im Schatten einer alten Kastanie zog er sich zurück, bis der knorrige Stamm ihn fast vollständig verbarg. Ohne zu bemerken, dass er den Atem anhielt, verfolgte er jeden ihrer Schritte. Sie sah nicht in seine Richtung, doch die Frage, was geschehen würde, wenn ihre Blicke sich trafen, trieb kalten Schweiß auf seine Stirn. Er schluckte und sog keuchend kühle Abendluft in seine Lungen. Die Peripherie seines Blickfeldes löste sich auf und im Fokus blieb nur noch sie übrig, gerade, aufrecht und mit sicherem Schritt einen Fuß vor den anderen setzend.

Die Kastanie hatte sie längst passiert. Er beobachtete, wie sie sich langsam von ihm entfernte, doch ihre Augen hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt. Sie hatten sie verraten, auch wenn sie ihr Äußeres den Gegebenheiten angepasst hatte. Ihren Blick konnte sie nicht verändern und er würde sie immer erkennen, selbst unter Tausenden.

Als sie die Querstraße erreichte, bog sie ab. Er sah sie nicht mehr, doch er spürte ihre Anwesenheit immer noch. Ihre Gegenwart hatte ihn vollständig eingehüllt und drohte, ihn zu ersticken. Seine Welt war so plötzlich aus den Fugen geraten, dass er glaubte, im luftleeren Raum zu schweben. Nichts war mehr wie zuvor. Er hatte sie gesehen, leibhaftig, und nun würden die Dinge einen anderen Lauf nehmen. Obwohl sie längst aus seinem Blickfeld entschwunden war, schickte er ihr ein heiseres Flüstern hinterher: »Du gehörst mir!«

 

Zwei Monate später

1

»Sag mal, wie war eigentlich dein Tangokurs?«

»Ernüchternd.«

Susanne Bauer, EDV-Spezialistin der Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen bei der Freiburger Kripo, und Anja Hill, die für dieselbe Abteilung im Außendienst arbeitete, trockneten ihre Körper mit großen Frotteehandtüchern ab. Die beiden Frauen hatten ein schweißtreibendes Nahkampftraining hinter sich, bei dem sie nicht gerade zimperlich agiert hatten. Für Susanne stand dabei der sportliche Aspekt im Vordergrund. Die abwechslungsreichen Übungen beanspruchten Körper und Geist gleichermaßen. Kraft und Ausdauer wurden ebenso geschult wie Beweglichkeit, Schnelligkeit, Koordination und Reaktionsvermögen. Als Ausgleich zu ihrem Schreibtischjob war das Training bei der Polizei mehr als willkommen, auch wenn sie noch nie in die Verlegenheit gekommen war, ihre Kenntnisse und Fertigkeiten in einem Ernstfall anwenden zu müssen. Anja hingegen, die mit ihrem Partner immer an der vordersten Front stand, hatte schon häufiger Armhebel und Haltegriffe gebrauchen müssen, um renitente Verhaftete an der Flucht oder an gewaltsamem Widerstand zu hindern.

»Keine schnuckeligen Typen dabei? Keine Latin Lover?«

»Komm, hör bloß auf!« Anja warf ihr Badetuch auf die Bank, öffnete ihre Sporttasche und nahm frische Unterwäsche heraus. »Ich habe mich angemeldet, weil ich tanzen will, aber die Hälfte der Männer kann den rechten Fuß nicht vom linken unterscheiden.«

»Die müssen das Tanzen auch erst mal lernen, deshalb gehen sie ja zu einem Kurs.«

»Und bis sie es können, solltest du als Frau bei einem Anfängerkurs am besten Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen tragen.« Die Kriminalkommissarin verzog missmutig das Gesicht. »Ich habe mit vier verschiedenen Männern getanzt, aber nicht einer von denen hatte etwas, das man auch nur ansatzweise Rhythmusgefühl hätte nennen können. Dass Führen beim Tanzen Männersache ist, hat vermutlich auch noch keiner gehört.«

»Freiburg liegt in Südbaden und nicht in Süd-
amerika. Vielleicht solltest du nicht zu viel erwarten.« Susanne schlüpfte in ihre Jeans und zog den Reißverschluss zu. »Außerdem glaube ich, dass die meisten Männer gar nicht tanzen lernen, sondern nur anbaggern wollen. Schließlich kriegt in einem Single-Tanzkurs jeder Typ eine Frau ab, ganz egal, wie er aussieht oder wie er drauf ist.«

»Oh ja!« Anja nickte zustimmend. »Alle zehn, fünfzehn Minuten gibts Partnerwechsel und einmal bin ich an einen Typen namens Carlo geraten. Der glaubt bestimmt, dass ihm jede Frau zu Füßen liegt, wenn er sie nur ansieht und im Hintergrund Tango läuft. Wahrscheinlich hält er sich für Gottes Geschenk an die Frauen, aber wenn einer nicht bis drei zählen kann, übersteigt ein Viervierteltakt schon seinen Horizont.«

Carlo, groß und übergewichtig, hatte schon beim ersten Tanz mit Anja nach einem plumpen Sind wir uns nicht schon einmal begegnet? von der erotischen Komponente des Tangos gefaselt. Was er damit bezweckte, hatte er kaum verhehlen können oder vielleicht nicht einmal wollen. Anja hatte seine Anzüglichkeiten ignoriert und darauf geachtet, ihre Zehen nicht unter seinen Füßen zu platzieren. Als gutaussehende, attraktive Frau, die großen Wert auf ihre Erscheinung legte, war sie es gewohnt, dass Männer ständig mit ihr in Kontakt kommen wollten. Sie war nicht prüde und einem Flirt selten abgeneigt, vorausgesetzt, der Flirtpartner verfügte über ein gewisses Niveau. Carlo allerdings hatte in dieser Hinsicht nichts zu bieten gehabt. Im Grunde genommen war das auch nicht tragisch gewesen. Nicht jeder Mann konnte ein Prinz sein und es gab nun einmal viele Frösche, die Frösche blieben, selbst wenn man sie noch so oft küsste. Anjas Ärger über die erste Stunde des Tanzkurses rührte jedoch daher, dass sie noch am gleichen Abend eine Freundschaftsanfrage von Carlo via Facebook erhalten hatte. Offensichtlich hatte Steffi, die Freundin, mit der Anja den Kurs besuchte und die ebenfalls mit Carlo getanzt hatte, ihm mehr Informa-
tionen verraten als Anja lieb gewesen war. Die Kommissarin hatte die Anfrage zwar abgelehnt, doch sie fürchtete, Carlo könnte sein Glück bei ihr in der nächsten Stunde erneut versuchen.

Über Männer im Allgemeinen und danach auch im Besonderen redend zogen die beiden Frauen sich an, föhnten ihre Haare und schminkten sich, was bei Anja wesentlich länger dauerte als bei Susanne. Auch die EDV-Spezialistin war eine ebenso kluge wie gutaussehende Frau, die wie ihre Kollegin eine schlanke, sportliche Figur ihr Eigen nannte. Damit erschöpften sich jedoch die Gemeinsamkeiten. Anja, brünett mit braunen Augen, ging nie ohne Make-up, das zwar dezent sein durfte, aber perfekt sein musste, aus dem Haus. Susanne hingegen begnügte sich meist mit etwas Wimperntusche und sparsam aufgetragenem Lippenstift in nicht zu kräftigen Farben. Im Alltag bevorzugte sie ein lässiges Outfit und trug meist Sportschuhe, während Anja auf flache Pumps umgestiegen war. Im Wirtschaftsdezernat, in dem sie bis zu ihrer Versetzung gearbeitet hatte, waren High Heels für sie ein Muss gewesen, doch bei der Ermittlungsgruppe Gewaltverbrechen hatten sich diese Schuhe als unpraktisch erwiesen. Turnschuhe waren für sie jedoch keine Option und so hatte sie mit sich selbst einen akzeptablen Kompromiss geschlossen.

Als die beiden Frauen das Gebäude verließen, bemerkte keine den grünen Geländewagen, der ein Stück versetzt auf der anderen Straßenseite parkte. Auch das Klicken einer Fotokamera hörten sie nicht.

 

<><><>

 

Mit drei Taschen beladen stand Anja vor ihrer Haustür. Als sie ihre Sporttasche abstellen wollte, um den Schlüsselbund aus ihrer Schultertasche zu fischen, wurde die Tür von innen geöffnet.

»Guten Abend.« Anja nickte Yavuz Özgan grüßend, aber reserviert zu. Sie mochte ihren Vermieter nicht besonders, der keine Gelegenheit ausließ, anzügliche Bemerkungen zu machen.

»Ah, Frau Hill, so ein Zufall.« Özgan grinste die Kommissarin an und einmal mehr dachte Anja, dass Zahnpflege weit weniger verbreitet war, als man aus der Werbung hätte schließen können. Özgans gelbliche Zähne rührten wahrscheinlich von seinem enormen Zigarettenkonsum her und der Geruch des Mannes, der zehn Jahre älter aussah als er war, verriet, dass er kürzlich Knoblauch gegessen, aber vermutlich seit Tagen nicht mehr geduscht hatte. »Na, sind Sie wieder ganz alleine heute Abend?«

Anja antwortete nicht. Sie griff nach ihrer Sport-
tasche und wartete, dass Özgan zur Seite treten würde, um ihr Platz zu machen. Bei der Wohnungsbesichtigung ein halbes Jahr zuvor war er ihr nicht so unsympathisch erschienen, doch sie hatte ihm auch wenig Beachtung geschenkt. Die Wohnung hatte ihr auf Anhieb gefallen und für Freiburger Verhältnisse waren die drei Zimmer, Küche, Bad und Balkon wirklich günstig. Anja hatte sofort zugesagt und sich darüber gefreut, dass Özgan ihr gleich einen vorgefertigten Mietvertrag unter die Nase gehalten hatte. Warum er gerade sie den anderen Bewerbern vorgezogen hatte, wusste sie nicht, aber sie hatte auch nicht danach gefragt.

»Würden Sie bitte einen Schritt zur Seite gehen?«

Özgans Grinsen wurde noch breiter, während sein Blick in Anjas Ausschnitt hängen blieb. Er trat einen halben Schritt zurück und nickte. Der Platz zwischen seinem nach Zigarettenrauch, Knoblauch und Schweiß stinkenden Körper und der Wand des Hausflurs war so gering, dass sich Anja zur Seite drehen musste, um eine Berührung mit dem Hauseigentümer zu vermeiden. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, trat Özgan plötzlich auf Anja zu. Die Kommissarin wich instinktiv aus, doch sofort spürte sie die Wand in ihrem Rücken.

»Du musst doch nicht alleine bleiben.« Özgan kam noch näher und plötzlich spürte Anja seine Hände auf ihren Brüsten, während sein Körper den ihren gegen die Wand drückte. »Ich komme zu dir rauf und dann …«

Abscheu und Ekel währten nur einen kurzen Augenblick, dann setzten Anjas antrainierte Reflexe ein. Sie ließ ihre Taschen fallen, griff mit ihrer Rechten nach Özgans rechter Hand, drückte mit ihrem Handballen auf seinen Handrücken und umfasste seine Handkante mit ihren Fingern. Mit einer schnellen, schwungvollen Bewegung riss sie seine Hand von ihrer Brust, während sie gleichzeitig ihr Handgelenk nach unten bog und Druck auf Özgans Handrücken ausübte. Von ihrer unerwarteten Gegenwehr überrascht stieß Özgan ein wütendes Knurren aus. Sein Handgelenk war verdreht und er musste sich zur Seite und nach unten beugen. Bevor Anja mit ihrer linken Hand den Griff sichern konnte, riss sich Özgan jedoch los, was sein Gelenk mit einem scharfen Schmerz quittierte.

»Du elende Schlampe!« Er wollte nach ihrem Hals greifen, doch Anja reagierte blitzartig. Die Enge des Hausflurs ließ ihr zwar wenig Möglichkeiten zur Gegenwehr, doch als sie mit ihrer linken Hand Özgans Hände zur Seite stieß, sich um neunzig Grad nach links drehte, ihr Gewicht auf den vorderen Fuß verlagerte und ihren rechten Ellenbogen mit einem kurzen, harten Schlag gegen den Hals ihres Angreifers stieß, traf sie einen neuralgischen Punkt. Özgan taumelte rückwärts, bis die gegenüberliegende Wand seine Bewegung stoppte. Mit beiden Händen fasste er an seine Kehle, während er mühsam nach Atem rang und röchelnd in die Knie ging.

»Was ist hier los?«

Anja wandte den Kopf, bereit, sich gegen den nächsten Angreifer zu verteidigen, doch der Anblick des Mannes, der plötzlich im Türrahmen stand, hatte den Alarmzustand ihres Körpers wie auf Knopfdruck ausgeschaltet. »Carlo? Was machst du denn hier?«

»Ich rette dich.«

»Nicht nötig.« Die Kommissarin blickte auf den am Boden knienden Mann, der noch immer röchelnd nach Luft schnappte. Sie beugte sich vor und aus ihrer Stimme sprachen Wut und Verachtung: »Wenn Sie noch einmal versuchen, mich anzugrabschen, wird es richtig wehtun. Und was dann noch von Ihnen übrig ist, lasse ich in einer Zelle auf unserer Dienststelle verrotten. Haben Sie mich verstanden?«

Die linke Hand in einer halb flehenden und halb abwehrenden Geste erhoben nickte Özgan lediglich. Zum Sprechen war er noch nicht fähig.

»Er hat dich angegrabscht?«

»Ja, Carlo, aber wie du siehst, ist ihm das nicht gut bekommen.« Anja bückte sich und griff nach ihren Taschen. »Mist! Ich habe mir einen Nagel abgebrochen.«

Sie sah zuerst auf das zersplitterte Ende ihres Fingernagels und dann auf Özgans Hände. Über den Rücken seiner rechten Hand zog sich ein roter Streifen, aus dem ein einzelner Blutstropfen hervorquoll.

»Lass mal, ich helfe dir.« Carlo wollte den Griff von Anjas Sporttasche packen, doch die Kommissarin schüttelte den Kopf.

»Ich schaff das auch alleine.«

»Aber wenn ich dich zu deiner Wohnung bringe, kann ich doch eine Tasche nehmen.«

»Danke, Carlo, aber nein danke.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, wirklich nicht.«

Carlo betrachtete die Kommissarin unschlüssig, dann deutete er mit einem Kopfnicken auf Özgan, der langsam wieder auf die Beine kam. »Und was machst du mit ihm? Verhaftest du ihn jetzt?«

»Wozu?« Anja hob ihre Taschen an. »Eine Anzeige wegen sexueller Belästigung bedeutet vor allem Schreibkram für den Kollegen, der die Anzeige aufnimmt. Viel mehr als einen blauen Brief von der Staatsanwaltschaft wird er ohnehin nicht bekommen. Außerdem hat er seine Lektion gelernt, nicht wahr, Herr Özgan?«

»Ja, Entschuldigung.« Özgans Stimme war heiser und er musste sich zuerst räuspern, bevor er weitersprechen konnte. »Es tut mir leid, ehrlich, ich schwöre.«

Den Kopf zwischen die Schultern gezogen sah er Anja unterwürfig an, dann drehte er sich um, ging den Flur entlang und verschwand in seiner Wohnung.

»Soll ich nicht doch mitkommen, nur für alle Fälle?«

»Nein, Carlo. Danke, dass du mich retten wolltest.« Anja schenkte ihm ein halbes Lächeln, auch wenn ihr nicht danach zumute war. »Geh jetzt bitte und zieh die Haustür hinter dir ins Schloss.«

»Sehen wir uns wenigstens am Dienstag beim Tango?«

»Ja.«

»Okay.« Er beugte sich vor, um Anja einen Kuss auf die Wange zu geben, doch die Kommissarin zog ihren Kopf zurück.

»Hör auf, Carlo! Mir ist jetzt wirklich nicht danach. Mein Bedarf an männlicher Nähe ist für heute gedeckt. Also, machs gut, bis Dienstag.«

»Okay, bis Dienstag.« Er nickte ihr lächelnd zu, drehte sich um, verließ den Hausflur und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Die Kommissarin atmete einmal tief durch, dann stieg sie die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Ihre Wut über den dreisten Angriff war noch nicht verraucht und sie konnte kaum fassen, dass Özgan tatsächlich ohne Vorwarnung nach ihren Brüsten gegrabscht hatte. Es war der widerlichste Annäherungsversuch gewesen, den sie jemals erlebt hatte. Hin und wieder hatte sie schon einmal eine Männerhand auf ihrem Hintern gespürt, die sie dort nicht hatte haben wollen – zumindest in den meisten Fällen – doch noch nie hatte sie körperliche Gewalt einsetzen müssen, um sich vor Zudringlichkeiten zu schützen. Özgan hielt sie wohl für sexuelles Freiwild, weil sie eine alleinstehende Frau war, und Anja hoffte, dass er seine Lektion wirklich gelernt hatte. Ganz sicher war sie jedoch nicht. Die Vorstellung aber, im Treppenhaus künftig wachsam sein zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht.

Als sie ihre Wohnung betrat und die Tür hinter sich ins Schloss drückte, fühlte sie sich beschmutzt, obwohl seit der letzten Dusche kaum mehr als eine Stunde vergangen war. Anja hatte das Gefühl, als hätte ihre Bluse Özgans Gestank aufgesogen, jene widerwärtige Mischung aus Zigarettenqualm, Knoblauch und saurem, altem Schweiß. Noch bevor sie ihre Einkäufe in die Küche brachte, zog sie die Bluse aus, ließ im Badezimmer Wasser ins Waschbecken einlaufen und weichte das Kleidungsstück ein, denn die Vorstellung, die Bluse zu ihren anderen Sachen in den Wäschekorb zu stecken, war unerträglich. Vielleicht würde sie die Bluse sogar entsorgen, weil sie sie immer an den Vorfall erinnern würde. Eigentlich hätte sie ein Glücksgefühl, wenn nicht sogar einen Triumph verspüren müssen, weil sie ihren Angreifer in Sekundenschnelle erfolgreich überwältigt hatte, doch noch immer überwogen Wut und Abscheu.

Unter dem Spiegelschrank steckte eine Nagelfeile in einem Becher auf der Ablage. Der abgebrochene Fingernagel war ärgerlich, aber kaum der Rede wert. Einen bleibenden Schaden würde er nicht hinterlassen. Anja griff nach der Feile, als sie plötzlich mitten in der Bewegung verharrte. Die Frage war ihr wie aus dem Nichts in den Sinn gekommen und sie sprach sie laut aus, obwohl niemand sie hören konnte.

»Wieso weiß Carlo, wo ich wohne?«

2

Bussard schloss die Augen, auch wenn es ihm schwerfiel, denn das, was er sah, faszinierte ihn auf eine Weise, die er lange nicht mehr erlebt hatte. Mit geschlossenen Lidern drang die Stimme noch tiefer in ihn ein. Sie brachte eine Saite in seinem Inneren zum Schwingen und er lächelte selig vor sich hin. Er fühlte sich wie ein Glas, das langsam mit warmem, goldenem Honig gefüllt wurde, dessen intensives Aroma und unvergleichliche Süße ein Wohlbehagen hervorrief, das schon fast an einen Rausch grenzte. Die Empfindung breitete sich langsam, aber mächtig und trotzdem überraschend in ihm aus, hüllte ihn ein und trug ihn wie auf Engelsflügeln schwerelos davon. Kein Gedanke störte das Glücksgefühl, das er wiedergefunden hatte, ohne zu wissen, wie lange er es schon vermisste. Als der letzte Ton verklungen war und der Applaus einsetzte, öffnete Bussard seine Augen. Auch er begann zu klatschen, nur mechanisch zuerst, weil er noch immer von der Darbietung gefangen war, dann aber mit zunehmender Lautstärke und Intensität.

»Sie hat echt eine tolle Stimme.«

Die Sängerin auf der Bühne verbeugte sich und Bussard dachte, dass sich eigentlich das Publikum vor ihr verneigen sollte.

»So toll würde ich auch gerne singen können.«

Zwei Reihen blendend weißer Zähne funkelten im Scheinwerferlicht, als die Sängerin strahlend die Ova-tionen der Zuhörer entgegennahm. Mit einem laut-
losen Danke verbeugte sie sich ein weiteres Mal.

»Papa?«

Wow, dachte er, wow, wow, wow!

»Hey, Papa!«

»Oh, sorry.« Bussard sah zur Seite und lächelte seine Tochter schief an. »Was sagtest du gerade?«

»Ich habe gesagt, ich würde auch gerne so toll singen können.«

»Ja, ich auch.« Noch immer applaudierend erhob er sich von seinem Stuhl, was die Sängerin mit einem Blick und einem dankenden Kopfnicken quittierte. Sofort taten es ihm viele andere Zuhörer gleich, bis schließlich das ganze Publikum stehende Ovationen spendete.

»Isa Jones!« Der Ansager, der durch das Programm führte, deutete auf die Sängerin und sofort brauste der Applaus noch einmal auf.

Es war eine großartige Idee gewesen, das Konzert im Paulussaal zu besuchen. Miriam, Bussards vierzehnjährige Tochter, die zwei Jahre älter war als ihre Schwester Tabea, hatte davon berichtet, dass in der Schule im Musikunterricht die Geschichte der Popmusik auf dem Lehrplan stand. Die Wurzeln dieser Gattung reichten zurück bis zu den Baumwollplantagen im Süden der USA, wo Sklavenarbeiter vor zweihundert Jahren die Unerträglichkeit ihres Daseins durch Gesänge zu mildern versucht hatten. Aus den Liedern der Sklaven hatten sich im Lauf der Zeit Blues und Gospel entwickelt, die das Fundament für Jazz und Rock´n´Roll bildeten, aus denen schließlich die Beatmusik und danach alle weiteren Spielarten der populären Musik entstanden waren. Ohne die Gesänge der einstigen Negersklaven, hatte Miriam ihrem Vater erklärt, gäbe es heute weder Hiphop noch Heavy Metal. Bussard, der selbst Kontrabass in einer Bluesband spielte, hatte wissend genickt und vorgeschlagen, ein Gospelkonzert zu besuchen, bei dem man den Wurzeln der Popmusik vermutlich noch am nächsten kam. Miriam hatte sofort zugestimmt und nun applaudierten Vater und Tochter dem Gospelchor mit seiner Solosängerin Isa Jones.

Nach der Zugabe drängte Bussard zum Aufbruch. »Es ist schon zehn Uhr vorbei und du musst morgen früh zur Schule.«

»Aber ich will noch ein Autogramm, bitte, Papa.«

»Na gut.« Mit der Hand verwuschelte Bussard liebevoll die Haare seiner Tochter. »Dann lass uns mal sehen, dass wir sie noch erwischen.«

Gegen den Strom der Konzertbesucher, die den Saal verließen, drängten Vater und Tochter zur Bühne. Bussard fragte nach den Umkleiden und zehn Minuten später entdeckten sie die Sängerin auf dem Flur. »Frau Jones, dürfen wir Sie um ein Autogramm bitten?«

Isa Jones, die nun statt der Robe Jeans und einen Strickpullover trug, lächelte die beiden an. »Ein Autogramm von mir?«

»Ja, bitte!« Miriam streckte der Frau ihre Konzertkarte und einen Kugelschreiber entgegen und die Sängerin erfüllte den Wunsch gerne.

»Können wir auch ein Foto machen?«

»Klar!«

Miriam gab ihrem Vater ihr Handy und stellte sich neben die Sängerin. An der Seite der wesentlich größeren, üppigen Frau, deren Haut die Farbe von Milchkaffee hatte, wirkte der schlanke Teenager noch schmaler, als er ohnehin schon war, während beide um die Wette strahlten. Bussard schoss zwei Fotos und gab seiner Tochter das Handy zurück.

»Hat Ihnen unser Konzert gefallen?«

»Absolut!« Bussard nickte lächelnd. »Es war großartig und ich muss gestehen, dass Sie mich wirklich beeindruckt haben. Ich hätte Ihnen noch stundenlang zuhören können.«

»Danke, das freut mich.«

»Mir hat es auch gefallen.« Miriam verstaute die Konzertkarte mit dem Autogramm in ihrer Handtasche. »Wie lange singen Sie schon?«

Die Sängerin lachte auf. »Seit ich denken kann. Ich habe schon immer gerne gesungen und die Gospelmusik liegt mir am meisten.« Sie beugte sich vor und zwinkerte Miriam zu. »Aber wenn ich Opernarien singen müsste, würden die Leute wahrscheinlich davonlaufen.«

»Das müssen wir jetzt leider auch.« Bussard legte seine Hand auf die Schulter seiner Tochter. »Morgen früh ist Schule und Miriam muss ins Bett.«

»Och, Papa, können wir nicht noch ein bisschen bleiben?«

»Nein, wirklich nicht. Wir müssen jetzt los.«

»Okay, aber vorher will ich noch ein Foto von euch machen.«

»Von wem?«

»Von dir und Frau Jones.«

»Also gut.« Bussard stellte sich neben die Sängerin. »Sofern Sie einverstanden sind.«

»Aber sicher. Jede Frau lässt sich gerne mit einem attraktiven Mann fotografieren.«

Bussard nahm das Kompliment lächelnd zur Kenntnis, während Miriam ihr Handy in Position brachte.

»Du musst die Kamera etwas höher halten, dann kriegst du schönere Bilder.« Isa Jones nickte Miriam zu. »Und wir beide sehen etwas vorteilhafter aus.«

Miriam hob ihr Handy an. »Okay, und näher zusammen. Kannst du sie nicht in den Arm nehmen, Papa?«

Vom Wunsch seiner Tochter überrascht wandte sich Bussard an die Sängerin. »Darf ich?«

Als Antwort spürte er, wie sie ihren Arm um seine Hüfte legte. Schmunzelnd legte er seinen Arm um ihre Schultern, während sie sich ein wenig fester an ihn drückte. Beide strahlten in die Kamera, während
Miriam den Auslöser drückte. Bei der zweiten Aufnahme gab die Sängerin dem verdutzten Vater einen Kuss auf die Wange.

»Danke!« Miriam steckte ihr Handy ein und reichte der Sängerin die Hand. »Auf Wiedersehen, Frau Jones.«

»Tschüss, Miriam.« Wieder zeigte die Frau, deren afrikanische Vorfahren man nicht nur an der Farbe ihrer Haut, sondern auch an den typisch krausen Haaren und den großen dunklen Augen erkennen konnte, zwei Reihen blendend weißer Zähne. »Vielleicht sehe ich Sie ja mal wieder bei einem unserer nächsten Konzerte.«

»Ja, vielleicht.« Bussard ließ sie los und erwiderte das Lächeln, dann wandte er sich an seine Tochter. »Okay, Abmarsch. Wir wollen deine Mutter nicht verärgern.«

 

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Yavuz Özgan wusste nicht, was er geträumt hatte, doch er erwachte schlagartig. Irgendetwas hatte ihn geweckt, etwas, das nicht so war, wie es hätte sein sollen. Mit offenen Augen starrte er in die Dunkelheit, die kein Geheimnis preisgab. Er lauschte, doch außer seinem eigenen Atem hörte er absolut nichts. Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf, dann beugte er sich zur Seite und tastete nach der Nachttischlampe. Als er sie einschaltete, blendete ihn das Licht einen Moment lang, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Das Schlafzimmer sah aus wie immer. Alles stand an seinem Platz, nichts fehlte und nichts war zu viel, und dennoch hatte Özgan das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht so war wie sonst, ohne dass er dieses Etwas hätte benennen können. Der Wecker neben der Nachttischlampe zeigte, dass es kurz vor vier Uhr morgens war. Özgan sah sich noch einmal im Zimmer um, doch er fand noch immer keinen Hinweis darauf, was ihn mitten in der Nacht geweckt hatte. Er schluckte und spürte den Schmerz in seinem Hals. Die Schlampe, die über ihm wohnte, hatte ihm im Hausflur den Ellenbogen gegen den Kehlkopf geschlagen und vermutlich würde er die Nachwirkungen noch den ganzen Tag spüren. Sie hatte Glück gehabt, dass dieser Typ plötzlich aufgetaucht war, denn sonst hätte sie etwas erleben können. Eine solche Demütigung ließ er sich nicht gefallen, schon gar nicht von einer Frau. Er hätte ihr gezeigt, wo der Hammer hing, und sie hätte es nicht noch einmal gewagt, die Hand gegen ihn zu erheben. Mit einem verächtlichen Lächeln schaltete Özgan das Licht aus. Irgendwann würde ihm die Schlampe wieder über den Weg laufen und das nächste Mal würde sie ihn nicht unvorbereitet treffen. Er würde ihr zeigen, wer der Mann und wer die Frau war und welche Rolle dem einen und der anderen zukam. Eine ordentliche Tracht Prügel würde ihr den ihr zukommenden Platz weisen und dann würde er die verdammte Nutte so lange durchficken, bis sie um Gnade winselte. Beim Gedanken, was er mit seiner Mieterin anstellen würde, spürte Özgan die einsetzende Erektion, die seine Aufmerksamkeit auf jenen Bereich seines Körpers lenkte, wo eine volle Blase nach Entleerung verlangte. Missmutig schloss Özgan die Augen und brummte. Er hatte keine Lust aufzustehen, doch er wusste, dass er nicht wieder würde einschlafen können, wenn er nicht aufs Klo ging. Einen unverständlichen Fluch murmelnd schaltete er die Lampe wieder ein. Er schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Schlurfend und etwas wackelig, weil sein Kreislauf noch nicht in Schwung war, verließ er das Schlafzimmer. Im Flur wandte er sich nach links und drehte ruckartig den Kopf, als eine Stimme hinter ihm ihn unvermittelt ansprach. Die halblaute Frage war das Letzte, was Yavuz Özgan in seinem Leben hörte.

»Willst du noch zu Allah beten, bevor du stirbst?«