HANS-ALBERT WALTER
Essay
Mit einem Nachwort von
HERBERT WIESNER
C. W. LESKE VERLAG
Dem Andenken des Parlamentarischen Rates, der, als die Erinnerung an die politische Verfolgung von Deutschen noch frisch war, politisch verfolgten Ausländern das Recht auf Asyl zugesichert und in den Katalog der Grundrechte des am 23. Mai 1949 verkündeten Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen hat.
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25,31–40
Innsbruck, ich muß dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen
in fremde Land dahin.
Mein Freud ist mir genommen,
die ich nit weiß bekommen,
wo ich im Elend bin.
Geheimnisvoll klingt das Wort und sehr pathetisch, mit dem der Dichter wiedergegeben hat, was in unseren Augen ganz banal ist und bar jeden Geheimnisses: Einer hat seine Stadt verlassen, ist weggewandert anderswohin. Mehr ist nicht geschehen. Der Mann hat sich darüber aber nicht zu fassen gewußt. Obwohl er hoffen durfte, neue Städte kennenzulernen, andere Gegenden, womöglich fremde Länder, hat er geklagt, daß er »im Elend« sei. Schwer begreiflich für den, der als Elend den unentrinnbaren Gang seines immer gleichen Alltags anzusehen gewohnt ist, und sei der noch so bequem gepolstert mit Freiheit, Freizeit und Geld. Ihm ist die Fremde nicht Qual. Heilung verspricht er sich von ihr, und sein Zauberwort heißt reisen, möglichst oft und möglichst weit weg. Ihm gilt als elend, wer daheim bleiben muß – welch armer Teufel, der sich nichts leisten kann.
Die Klage von Innsbruck, ich muß dich lassen ist allerdings schon sehr alt. Sie stammt aus einer Zeit, als das Wort »Elend« einen anderen, inzwischen lange vergessenen Sinn hatte. Den ursprünglichen aus noch viel früheren Zeiten.
Das althochdeutsche »elilenti«, von dem es herkommt, war nicht so verschliffen und vieldeutig wie unser heutiger Begriff. Eigneten dem Wort auch eine konkret faßbare Haupt- und eine aus ihr abgeleitete Nebenbedeutung, so meinten beide doch ein und dasselbe. »Elilenti« hieß zugleich »Verbannung« und »anderes Land« – weil man sich damals nämlich gar nicht hat vorstellen können, daß einer seine Heimat freiwillig verließ. Und da dies so ganz außerhalb allen Denkens, allen Wollens und Tuns lag, da es Gefahr für Leib und Leben bedeutete, dieses Verbanntwerden in ein anderes Land, wurde »elilenti« auch zum Synonym für »Not« und »Trübsal«: Was sonst als Not und Trübsal warteten auf den, der die Heimat verließ? Und also beklagt der von Innsbruck Scheidende, daß er gezwungen sei, ins fremde Land zu fahren: »wo ich im Elend bin«.
Verständlicher ist die Verszeile nun zwar geworden, nichtsdestoweniger noch genauso schwer nachzuvollziehen für den, den die Fremde nie geschreckt hat; der zeitlebens das Glück der Seßhaftigkeit genoß, meist nicht einmal ahnend, daß es ein Glück sei, und welch ein großes. Könnte es gleichwohl wissen. Liest täglich davon in der Zeitung und sieht schaurige Bilder im Fernsehen. Längst schon ist das Elend der politischen Verbannung auf Zeit oder der politisch erzwungenen Auswanderung auf Dauer dem Schwarzen Tod zu vergleichen, der Menschheitsgeißel des Mittelalters, längst schon ist es genauso unberechenbar und grauenvoll wie seinerzeit jene. Verblendet, wer sich für sicher hält, nur weil dieses Geschick im Augenblick andere trifft. Die Flüchtlingsströme der Gegenwart, die immer neuen Wellen von Vertreibung und Verbannung sind kaum noch zu zählen. Gut möglich, daß man unser Jahrhundert einmal das der Flüchtlinge nennen wird.
Derzeit rückt auf uns zu, was vor fast einem Menschenalter von uns aus die Grenzen anderer Länder zu überwinden, die Küsten fremder Kontinente zu erreichen suchte: menschliches Strandgut. Kein unpassender Vergleich, und schon gar kein ungehöriger. Wie der afrikanische, der nah- und der fernöstliche, der ost- und der südosteuropäische Flüchtling heute, ist der aus Hitlerdeutschland »im Elend« gewesen. Spricht man von den einen mit Achtung und Trauer, so kann man von den anderen schlechterdings nicht mit Abscheu reden. Erst recht wird dies nicht fertigbringen, wer nur ein wenig von ihrem so ähnlichen Schicksal weiß, davon, wie sie es durchlitten und ertragen, wieviel Kraft sie gebraucht haben, es zu meistern.
Obwohl Exilerfahrung vor allem Leiderfahrung ist, anfangs wird der Exilierte dieses Faktum kaum wahrnehmen. Je größer die Unterdrückung, je gefahrvoller das Leben in der Heimat war, desto freundlicher wird ihm das Land erscheinen, in das er geflohen oder ausgewandert ist. Hier kann er endlich wieder sagen, was er denkt. Niemand schreibt ihm die Gesinnung vor, niemand die Zeitung, die er lesen, den Gruß, den er entbieten muß. Der Nachbar ist bloß Nachbar, nicht auch potentieller Spitzel, und das scheue Sichern, das man in den dreißiger Jahren den »deutschen Blick« nannte, war zum Überleben nicht mehr notwendig, auch wenn man es vielleicht so schnell nicht loswurde.
Exil ist das Synonym für wiedergewonnene Freiheit, und es ist der Stolz des Exilierten, daß er die Sklavensprache nicht sprechen, daß er nicht einmal ihre Chiffren kennen muß. Von der Diktatur daheim und vom Diktator spricht er im Klartext und bedient sich nicht selten einer getragenen Sprache. Seine Feinde nennt er offen beim Namen und prangert die Verbrechen an, mit denen sie das Vaterland schänden. Nur keine Zweideutigkeiten! Sein im Lande ausharrender Freund jedoch muß zum mythologischen Bilde flüchten oder in entlegene Geschichtsbereiche, will er von der ihn bedrückenden Gegenwart sprechen. Vieldeutig muß sein Wort sein, auf alles passend und auf nichts, und dennoch werden es die verstehen, die drinnen seines Sinnes sind. Der Exilierte indes wird der glatten Stirn dieses Worts mißtrauen, ohne zunächst zu bemerken, daß er die daheim nicht mehr versteht, weil er die Sklavensprache nicht beherrscht; daß ihre Botschaften ihn nicht mehr erreichen, nicht ihre Nöte und Flüche, nicht ihre Wünsche und Träume. Dieser Graben trennt ihn von der Heimat, und er wird um so tiefer werden, je länger das Exil währt.
Den Mann oder die Frau, die gerade glücklich entkamen, schreckt das freilich noch lange nicht. Statt dessen werden sie anderes desto früher bemerken, je mehr sie zuvor auf des Lebens Sonnenseite zu Hause waren. Kaum ein Zufall also, daß in der deutschen Emigration, von der ich hauptsächlich spreche, Thomas Mann es war, der als erster davon Notiz nahm. Nur etwa ein halbes Jahr war seit jener Abreise aus München vergangen, die sich bald als ein Entkommen demaskieren sollte, da schrieb er schon ins Tagebuch: »Ich vertrage sehr schlecht die Unsicherheit der Zukunft, das improvisierte Leben u. das Fehlen fester Grundlagen, die wenigstens subjektiv, für immer, bis zum Tode gelten. Eben dies habe ich verloren, und es ist gewiß kein Wunder, daß Ersatz nicht im Handumdrehen zu schaffen ist.« Ersatz? Welch eitle Erwartung. »Im Leben eines Flüchtlings ist das einzig dauernde, daß alles provisorisch ist.« Das eher beiläufige Wort aus den Erinnerungen des Sozialarbeiters Henry Jacoby ist ein Fazit aus zehn Jahren Exil. So gleichmütig hat es freilich nur ziehen können, wer mit des Lebens Wechselfällen schon vorher auf vertrautem Fuß gestanden hatte.
Solch ein von Grund auf verändertes Lebensgefühl ist Exilierten und Emigranten aller sozialen Schichten und jeder politischen Couleur rasch beigebracht worden, rasch und gnadenlos. Ein Schock nach dem Freiheitsrausch ihrer ersten Tage und Wochen, und noch jede Fluchtbewegung seit dem Ersten Weltkrieg ist derart auf das Terrain zurückgeholt worden, welches in Politikermund »der Boden der Tatsachen« heißt. Früher war man im Ausland so gern gesehen gewesen und wohlgelitten, wie zahlende Gäste es allerorten sind. Kaum einer, der sich klargemacht hätte, was die plötzliche Verwandlung von einem Reisenden in einen Zufluchtsuchenden konkret bedeutete. Kein umworbener Gast mehr, sondern auf unbestimmt lange Zeit ein fremder Bittsteller, ein fremdartiger außerdem, mit anderer Sprache, anderer kultureller Prägung und anderen Lebensgewohnheiten (ich komme auf den Makel des Andersartigen noch zurück) und somit ein sozialer Fremdkörper im Zufluchtsland. Für die vox populi stand fest, daß dieser lästige Ausländer den Einheimischen das Brot wegfraß und die Arbeitsplätze stahl, und für die Behörden stand womöglich noch Schlimmeres fest: daß dieser Mensch sich Ordnung und Gesetzen seines Heimatlandes nicht gefügt hatte. Dadurch wurde er selbst dort suspekt, wo man die Diktatur ablehnte, deren Opfer er war; so suspekt, daß frühere Verdienste nicht mehr zählten.
Tucholsky etwa, wie hatte er Frankreich gepriesen, seine Menschen gerühmt und seine Lebensart, seine Landschaften und seine Weine. ›Wenn ihr nur ein bißchen wie die Franzosen wäret, um wieviel besser ließe sich mit euch leben‹: Jahrelang hatte er den Deutschen das gepredigt, der inoffizielle Botschafter Frankreichs in der deutschen Presse, für den Paris schon in den Tagen Weimars ein Zufluchtsort gewesen war vor deutschen Bitternissen. Und so wird doch der von den Nazis Ausgebürgerte, der mit einem Staatenlosenpaß von Schweden anreist, in Frankreich mit Ehrungen empfangen! So werden sich doch wohl alle Türen auftun für den auch ob seiner Liebe zu Frankreich aus der Heimat Verjagten! Danebengeraten. Jedermann braucht ein Visum, und einem Staatenlosen, sei er, wer er wolle, gibt es der Konsul erst nach ausdrücklicher Genehmigung des Außenministeriums in Paris. Um kein Haar besser bei Heinrich Mann, dem anderen großen Frankophilen in Deutschland. Als sein eigentliches Vaterland hat er la douce France stets empfunden, und so ist er 1933 auch in diese idealere Heimat geflohen. Dort schrieb er Die Jugend des Königs Henri Quatre, und als das Buch erschienen war, meinte Thomas Mann, für diese Verherrlichung seiner Geschichte werde, nein, müsse das Gastland sich mit der Rosette der Ehrenlegion revanchieren. Heinrich Mann wußte besser Bescheid. Wie Tucholsky staatenlos, hatte er sich schon längst darum bemüht, Franzose zu werden. Vergebens. Warum also ein Orden für ein einziges Buch, wo das gesamte ›Vorleben‹ nicht mal für einen Paß gut genug gewesen war? So ist die Antwort auf die brüderliche Bemerkung ein wenig bitter ausgefallen: »Wer in seinem eigenen Lande der Macht verdächtig ist, wird es jeder Macht.«
Exilierte und Emigranten waren deklassiert, wie berühmt sie auch sein mochten. Aus ihrer Nation gestoßen, waren sie über Nacht zu Menschen minderen Wertes geworden. Das Asyl war kaum je ein Recht, auf das sie Anspruch hatten, es war eine Gnade, die ihnen gewährt wurde, meist eine knapp befristete und allemal eine jederzeit zu widerrufende. Sie waren aus einem Status herausgefallen, den sie für selbstverständlich gehalten hatten. Um so dramatischer hatte der Sturz sich vollzogen, je höher ihr Rang gewesen war, je größer ihr Ansehen. Als Minister gestern noch nahezu unumschränkter Herr über ein Heer von Beamten, doch heute nicht mehr vorgelassen bei dem ausländischen Amtskollegen, mit dem man am Konferenztisch gesessen und den man beim Bankett mit »Mein verehrter Freund« angeredet hatte. Höchstens, daß der der Ausländerpolizei einen Wink gab, es bei dem Gestürzten mit Papieren nicht so genau zu nehmen. Mag sein aber auch, daß der verehrte Freund sich mit derlei Kleinkram nicht abgab; daß er ihn unteren Instanzen überließ, Subalternen, die einen Stempel geben, die ihn aber auch verweigern konnten nach eigenem Ermessen. Der Extremfall macht die Demütigung nur besonders plastisch, die jedem Exilierten und Emigranten bevorstand. Immer aufs neue bestätigt sich, was Brecht in den satirischen Satz gefaßt hat, der edelste Teil eines Menschen sei sein Paß, und diese Erfahrung hatte prägende Kraft auf Lebenszeit.
Ludwig Marcuse griff regelmäßig ins Jackett, bevor er aus dem Haus ging, und er zögerte nicht mit der Erklärung, als er beim zweiten oder dritten Mal meinen fragenden Blick bemerkte. Der Paß. Er verlasse die Wohnung nie ohne Paß. Dabei gingen wir nur spazieren oder ins Restaurant, wo er Stammgast war. So geschehen am Tegernsee, Mitte der sechziger Jahre. Die Zeit der Staatenlosigkeit war für Ludwig Marcuse schon seit zwei Jahrzehnten vorbei. Ihm konnte nichts geschehen, er hatte den sozusagen besten Paß der Welt, den amerikanischen.
Nicht minder eindrucksvoll das Erlebnis mit jenem anderen Exilierten in England, einem damals Dreiundsechzigjährigen. 1933 war er als Kind mit seinen Eltern nach Palästina geflohen, mit gültigen deutschen Reisepapieren, und als die Familie 1936 ausgebürgert wurde, hatte das keinerlei praktische Bedeutung; kaum ein halbes Jahr danach erhielt sie, was ich, der Kürze halber, die palästinensische Staatsangehörigkeit nennen will. Gleich nach dem Krieg war mein Bekannter dann zum Studium in die Schweiz gegangen, hatte sich dort niedergelassen und war schon seit vielen, vielen Jahren Bürger der Eidgenossenschaft, als ich ihn in Cambridge bei einem Symposium traf. Das feierliche Abschlußessen war vorbei, und wir wollten vor der Abreise noch eine Runde um den wunderbar gepflegten Rasen des Colleges drehen, als mein Bekannter bemerkte, daß er Paß und Brieftasche verloren hatte. Beim Bücken müßten sie ihm aus dem Anzug gefallen sein, meinte er. Er sagte aber nicht Anzug oder Jacke, sondern wie ein rechter Berner, der er nicht war, aus der Kutte. »Us dr Chutte keijet.« Obwohl sprachlich weitestgehend assimiliert – nicht nur Sprachmelodie und Betonungen waren richtig, fast waren es auch die Kehllaute –, überdies durch Auftreten und Habitus an einen bedächtigen Eidgenossen gemahnend, offenbarte die Reaktion auf den Verlust des Passes die wahre Identität des Mannes.