Lucretia L’Incarto
Chroniken von Chaos und Ordnung 4
Lucretia L’Incarto
Krieg
Praßl, J.H.: Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L’Incarto. Krieg, Hamburg, acabus Verlag 2016
Originalausgabe
PDF: ISBN 978-3-86282-441-0
ePub: ISBN 978-3-86282-443-4
Print: ISBN 978-3-86282-440-3
Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag
Umschlaggestaltung: Annelie Lamers, acabus Verlag
Umschlagmotiv, Illustrationen und Karten: © J.H. Praßl
Einige hier verwendete Elemente wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages für Fantasy- und Science-Fiction-Spiele aus dem Fantasy-Rollenspiel MIDGARD übernommen.
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Widmung
Halbzeit! Der vierte Band ist geschrieben und auch längst gespielt. Die Spieler der „Chroniken“ sind das Herzstück der Geschichte. Sie sind echt. Sie leben … sie kämpfen, sie haben Angst, sie scherzen, sie fluchen, sie stehen vor Wänden und wollen da durch … oder schrecken davor zurück. Und manchmal fließen auch Tränen. Diese „emotionale Realität“ lässt die bloße Fiktion haptisch, die schlichte Idee lebendig und substanzlose Worte zu dynamischer Wirklichkeit werden.
Darum, und weil manch einer bereits Abschied genommen und neuen Spielern Platz gemacht hat, hier noch mal ein inniges Danke an die Starakteure der ersten vier Bände:
Christian Stüger (alias Chris) für Bargh Barrowsøn (alias Bargh), den vallandischen Krieger mit dem lichten Herzen und dem höllischen Schlachtbeil … treuester Freund und schlimmster Gegner, Liebling aller Leser und „Herzchen“ aller Frauen. Wafningar ehrt dich!
Dominik Staudinger (alias Dom) für Thorn Gandir (alias Held des Imperiums und Cäsarusmörder), den Waldläufer mit den ehernen Idealen und gleichsam wankelmütigem Selbst – Freund der Elfen und Feind der Clans … für einen Helden, den man lieben und hassen kann, je nachdem, wie er gerade drauf ist. „Solange du lebst, liegt es in deiner Hand … entscheide dich! Immer wieder, immer neu, jeden Tag!“
Katharina Prexl (alias Kathi) für Lucretia L’Incarto (alias Schlüssel zu … der Rest des Titels wäre ein Spoiler), Akademiemagierin aus Tremon und Frau von Welt, die die Vorteile der Macht für sich entdeckt hat und vor keinem Gott ihr Knie beugen möchte. Dieser Band ist dein Band, Kathi. Möge dir jeder (magische) Spruch auch in Zukunft locker von der Zunge gehen!
Markus Raith (alias Max) für Telos Malakin (alias Gottesfeind, Chaosbringer und Lichtbringer), den hässlichen aber charismatischen Kriegspriester mit den klaren Prinzipien, dem leichten Hang zur Hybris und einem Herzen aus Gold. Agramon hämmere deine Feinde, Max!
Und wie immer auch ein herzliches Danke allen ehemaligen Spielern, die uns die Vorgeschichte bereitet und sich z. T. sogar in die Elite Al’Jebals hochgearbeitet haben, sowie jenen, die uns nur vorübergehend beehrten:
Alex, Boris (Gemiramel Weißfels), Chris (Artemos Hortensis Plopteres alias Ploppi, Kalidor Sirionopoulos), Georg (Girim Y’Harsteen alias Girim), Gux (Mara-Na-Pheru alias Asquia), Hoink (Fusulos Konfusius alias Fusl, Manolus Maranopoulos), Karin, Lili, Peter (Gaan El’Schiban Al’Hamar alias Gaan), Roland (Freon Eisfaust El’Salah alias Eisfaust und Jagan Kerme El’Alachin), Simona, Stefan (Langeladeon), Tom (Herkul Polonius Schroeder), Mio (Siralen) …
Musikempfehlung
1) Oceania - Kotahitanga (Union)
Kapitel „Die Prophezeiung“: Lied der Dad Siki Na
2) Joachim Witt – Refrain von Bataillon D’Amour
Lied der Söldnertruppe „Bataillon D’Amur“
3) The Tiger Lillies – Glory in Battle
Kapitel „Der Krieg schreibt keine Heldenlieder“: Lied des Gefangenen
AMALEA
Detailkarte Amalea
Ankarnia
Umgebung Isahara
Isahara
Der Krieg ist keine Sünde, sagen die Leute und ziehen ihre Schwerter gegen die, die Sünder sind in ihren Augen.
Der Krieg ist eine notwendige Maßnahme zur Bekämpfung des Übels, sagen die Leute und töten, während sie den Namen der Götter auf den Lippen tragen, die für Licht und Ordnung stehen.
Nur wenn wir Krieg gegen das Chaos führen, werden wir am Ende Erlösung schauen, sagen die Leute und steigen über die Leichen derer hinweg, die sie auf ihrem Weg zur Erleuchtung in Stücke gerissen haben.
Ich aber sage: Der Krieg wird dich zu Boden werfen! Er wird dir den Atem aus den Lungen pressen und dich mit dem Gesicht voran in den Dreck stoßen, bis du denkst, du krepierst an Hunger, Übermüdung und innerer Leere!
Aber die Leute sehen das anders. Sie werden dem Guten ein Liedchen trällern und mit dem Gedanken an Ruhm und Ehre in den Tod gehen, wissend, dass sie rechtens gehandelt haben … Und ich werde ihnen vorausgehen.
In den Schriften der Gelehrten steht geschrieben:
„Die Ordnung hat nur einen Fehler. Sie erkennt das Chaos nicht, wenn sie es vor sich hat.“
Dieser Fehler ist allerdings verheerend.
Amalea im Jahre 345 nach Gründung Fiorinde:
Tausend und dreihundertfünfzig Jahre
nach Beginn der Chaoszeit.
Fünfhundert und siebzig Jahre
nach dem Höhepunkt der Chaosherrschaft.
Zweihundert Jahre
nach der Vertreibung der Chaosmächte
aus den Gebieten des Nordens, des Ostens,
des Südens und des Westens.
Die Zeit der Dunkelheit ist vorüber. Die Völker Amaleas sind im Begriff, die Welt von den letzten Chaosanhängern zu befreien und den Göttern der Ordnung zu neuer Macht zu verhelfen.
In Moravod zieht die Apotheose des ehemaligen Propheten Hadra und jetzigen Gottes Hakkinen Dragati einen religiösen Krieg nach sich, der einen Großteil der Bevölkerung aus dem Land vertreibt, darunter sämtliche moravische Elfen. Die Hinterbliebenen werden von den Anhängern Dragatis zum Glauben an den neuen Gott gezwungen. Während Hakkinen Dragati als der Eine Wahre gefeiert wird, übernehmen die Dragatisten Stück für Stück das Land. Moravod wird zu Dragatistan.
In Rawindra, dem Land südlich Moravods, beginnt der Krieg zwischen den Echsen und den Menschen. Der Untergang des Nekromanten Satlek Mu’ul, dessen Untotenheer Gerüchten zufolge von Hakkinen Dragati besiegt wurde, bringt den Verrat der Grakas am Fürstentum Lakschanam ans Licht und lässt die Einwohner zu den Waffen greifen. Der Radscha Bangha Maha Schemburi ist gezwungen, das Land zu verlassen.
In Valland, dem nördlichsten Land Amaleas, findet die größte Evakuierung statt, von der je berichtet wurde. Während die Tulurrim im Namen des Chaos das Land überrennen, segeln hunderte Schiffe unter Al’Jebals Banner Richtung Süden, um der ehemaligen Bevölkerung Vallands eine neue Zukunft in Aschran zu ermöglichen.
In Mon Asul, Sitz Al’Jebals, beginnen die Vorbereitungen für die Reise einer Armada von tausend Schiffen zum neu errichteten Stützpunkt auf den Kabugna-Inseln. Zur selben Zeit trifft ein Mann namens Agadur Konwin Aun’Isahara, der Jüngere, in seiner uneinnehmbaren Festung in Erainn die Entscheidung, den mächtigsten Nekromanten aller Zeiten ins Leben zurückzurufen …
Mon Asul
Die Macht der Götter ist eine Macht der Superlative.
Die Götter waren die einzig wahren Herrscher, die einzigen, über die nichts Höheres gedacht werden konnte, zumindest glaubten dies alle Sterblichen. Kein Sterblicher wagte es, die Macht eines Gottes anzuzweifeln. Und kein Gott teilte sich mit einem Sterblichen seine Macht – absolute Souveränität – eine Autokratie, die in der Welt der Menschen nicht zu finden war. Der Glaube bestimmte das Credo und das Credo war das Fanal, dem die Menschheit widerstandslos folgte. Wohin, lag auf der Hand: Der Götter Wort ist Gesetz! Das Gesetz schaffte Ordnung, Ordnung brachte Sicherheit, Sicherheit führte zur Zufriedenheit, bis hin zur Stagnation. Die Welt lag in der Götter Hände und nur jemand, der den Göttern trotzte, würde die Welt verändern können!
Aber auch auf dem profanen Boden Amaleas gab es Mächtige und weniger Mächtige. Und hier, wo Landesgrenzen, wo Manipulation, Suggestion und politisches Ränkespiel die Macht des einzelnen definierten, war es möglich, die eigene Größe wachsen zu lassen, bis hin zur annähernden Unabhängigkeit. Genau das war es, was es in Lucretias Augen zu erreichen galt – die Macht, vor niemandem sein Knie beugen zu müssen!
Lucretia L’Incarto hatte einen weiten Weg zurückgelegt. Sie war von einem in gutem Hause großgewordenen, wissensdurstigen Einzelkind zu einer gebildeten Frau herangewachsen, die sich zu einer Magierin dritten Ranges emporgeschwungen und sich als solche in die Liga der herausragenden Zauberkundigen Al’Jebals gespielt hatte. Inmitten dieser Elite hatte sie einen ersten entscheidenden Erfolg zu verbuchen. Sie war nicht mehr länger eine von vielen, sie war bereits ein Jemand, eine, deren Name Bekanntheit erlangt hatte.
Nach einem gemächlichen Zwei-Tages-Ritt über unwirtliche Gebirgsstraßen und in der nicht gerade erhebenden Gesellschaft zweier Leibwächter, die sich zu keiner wie auch immer gearteten Unterhaltung herabließen, lenkte Lucretia ihr Pferd an den orkischen Wachen des äußersten Walls von Mon Asul vorbei. Man ließ sie und ihren Begleitschutz ohne viel Aufheben passieren.
Gut gelaunt umrundete sie die Mauern des kreisförmig angelegten Zwingers, der in das gewaltige Zentrum der Anlage führte. Zu ihrer Rechten stieß Al’Jebals Turm wie eine himmelstürmende, glatt polierte Felssäule von bestechend schlichter Dominanz empor. Mon Asul war eine architektonische Meisterleistung, jedenfalls in Lucretias Augen. Es gab Gerüchte, dass sich der Turm so tief in die Erde schraubte, wie er in den Himmel wuchs, aber sie zweifelte daran. Andererseits … nur was tief wurzelte, konnte hoch hinauswachsen. Und Al’Jebals Turm war immerhin vierzehn Etagen hoch, wobei eine Etage etwa die doppelte Höhe eines gewöhnlichen Festungsstockwerkes maß.
Der Alte vom Berg verstand es in der Tat, Macht zu demonstrieren, auch wenn er jedwede Art der Selbstinszenierung nur sehr bescheiden und kalkuliert einsetzte. Wenn aber doch, dann mit einem unvergleichlichen Auge für das Wesentliche. Und darin äußerten sich ja bekanntlich Stil und Geschmack.
Mon Asul jedenfalls war von einzigartiger Prägnanz – dunkler, geschliffener Stein, der erst im krönenden Abschluss seiner Spitze mit den vier Erkertürmchen und dem spitz zulaufenden mit Kupfer geschindelten Dachgiebel die Hand des Architekten verriet. Lange vor Erreichen der Oase Hadiy sichtbar, repräsentierte der Turm zugleich Schatten und Licht. Die Nachmittagssonne beleuchtete die von Grünspan durchsetzten Kupferschindeln und wurde weiter unten vom Schwarz des glatten Gesteins verschluckt, sodass sich vor dem Auge des Betrachters ein attraktives Wechselspiel von Tag und Nacht vollzog.
Mon Asul trug nicht unerheblich zur Verbreitung diverser Geschichten über die Oase Hadiy bei. Vor vielen Jahren hatte eine Schlacht um den Turm getobt, über die nur bekannt war, dass sich eine Handvoll todesmutiger Söldner unter Al’Jebal gegen eine gewaltige Übermacht behaupten konnte. Es hieß, dass sogar Thanatanen unter den Angreifern gewesen seien. Als Al’Jebal selbst mit einer Ork-Streitmacht rettend eingriff, war der Sieg auf seiner Seite.
Ja, der Alte hatte sich zweifelsohne einen Namen gemacht und das nicht nur in Aschran. Sein Ruf war Lucretia einst jene Versuchung gewesen, nach Billus zu reisen. Ihre eigene Macht war kümmerlich, noch, aber Satlek Mu’ul hatte ihr dazu verholfen, auf der Treppe nach oben zwei bis drei Stufen zu überspringen. Der Tod des Nekromanten war das Katapult, das sie über die ersten Etappen der Erfolgsleiter hinweggeschleudert hatte. Sie hatte bewiesen, wozu sie als Magierin in der Lage war. So gesehen, stand Al’Jebal ein klein wenig in ihrer Schuld. Und egal, was über den Magier so gemunkelt wurde, in einer Sache war man sich einig: Al’Jebal beglich seine Schulden.
Die Zugbrücke zum Haupttor lag still und unbelebt über dem tiefen Graben, der sich um den Turm schloss. Nachdem Lucretia mit ihren Begleitern in den Burghof geritten war und vor dem Graben Halt gemacht hatte, verabschiedeten sich die beiden Männer mit einem knappen „Ormut und Alaman in ainem“ und übernahmen ihr Pferd, um es zusammen mit den anderen beiden Reittieren in die Stallungen zu bringen.
Lucretia passierte unbehelligt Zugbrücke, Ork-Wachen und Tor und betrat den halbkreisförmigen, schmucklosen Eingangsbereich, von dem aus eine Rampe in die erste Etage führte. Nachdem sie sich angemeldet hatte, nahm sie die Wendeltreppe in Angriff. Hastig kramte sie in ihrer Umhängetasche aus Kamelleder nach den Plänen, die sie in den letzten Tagen in Billus ausgearbeitet hatte.
Schön, sie war nicht wegen ihrer Zukunftsvisionen zu Al’Jebal gerufen worden. Aber was konnte es schaden, den einen oder anderen Wunsch zu äußern, zumal man sich gerade einer besonderen Beliebtheit erfreute. Gelegenheiten ließ man nicht ungenutzt vorüberziehen!
Herkul Polonius Schroeder, Jagan Kerme, diese Elfe namens Asquia … kurz, Al’Jebals Elite – sie hatten alle einen festen Wohnsitz in Billus. Warum nicht auch sie? Es musste ja nicht gerade eine Villa sein, aber ein kleines, feines Häuschen mit Garten, Terrasse und geschmackvoller Einrichtung … damit wäre sie schon zufrieden. Zur Einweihung würde sie eine glanzvolle Feier geben, die keinerlei Wünsche offen ließ – ein kleines Orchester, das zum Tanz aufspielte, Kerzenschein, bester Wein aus Tremon, Whischkai aus Alba … Sie würde die gesamte Elite einladen: Freon Eisfaust, Admiral Schroeder, ja sogar Assef El’Chan und den größten aller Großen selbst, Al’Jebal. Wahrscheinlich, dass Letzterer ihre Einladung mit einem kaum merklichen Hochziehen einer Augenbraue ausschlagen würde, aber träumen durfte man ja wohl noch!
Sie raffte ihren dunkelgrünen Wollrock, atmete tief durch und begann den langen Aufstieg ins siebte Geschoss Mon Asuls, wo Al’Jebal sie erwartete.
Neun Stockwerke tiefer, im zweiten Untergeschoss des Gefängnisturms an der Westmauer Mon Asuls, glitt ein Augenpaar wieder und wieder über die Gitterstäbe, die sich einem Raster gleich durch sein Gesichtsfeld zogen. Seit drei Tagen, wenn ihn seine innere Wahrnehmung nicht täuschte, saß er jetzt in diesem Kerker. Seit drei Tagen hatte er niemanden gesehen, abgesehen von dem Wärter, der ihm Nahrung und frisches Wasser brachte. Seit drei Tagen stellte er sich immer wieder die gleiche Frage: Was hatte er sich zuschulden kommen lassen, dass er zur Haft verurteilt worden war? Und was, was erwartete ihn, wenn sich die Zellentür öffnete, um ihn … Ja was? Als Sklave zu verkaufen, vor Gericht zu stellen, hinzurichten?
„Nehmt in fest!“
Al’Jebals Befehl klang Telos noch immer in den Ohren und der fragende Blick in Charas abgeklärtem Gesicht spukte ihm im Kopf herum, seit man ihm die Handfesseln angelegt hatte. Die Dinge hatten eine unvorhergesehene Wendung genommen …
Seit jenem Tag, an dem er, Chara und Lucretia Satlek Mu’ul in Orkchos Reich geschickt hatten, war alles aus den Fugen geraten. Er hätte es wissen müssen! Er hätte wissen müssen, dass Agramon ihn trotz seiner Begnadigung für seine Taten büßen lassen würde, und er spürte deutlich, dass eine Veränderung vonstatten ging … mit ihm, mit Chara, mit allem, was sie in Al’Jebals Gebiet umgab.
Die Besichtigung Tamangs hatte in Telos ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit ausgelöst. Nachdem Al’Jebal ihnen sein Geheimnis über das von ihm gegründete Bündnis der Allianz anvertraut hatte und die Ereignisse um Dragati und Mu’ul bewiesen hatten, dass Al’Jebals Berichte über das Chaos der Wahrheit entsprachen, bestand keinerlei Zweifel mehr an der Rechtschaffenheit des Alten vom Berg. Doch jetzt hatte derselbe Mann, der Bündnisse gegen das Chaos schmiedete, einen Anhänger der Ordnung gefangen nehmen lassen, und Telos wusste nicht, warum.
Als Kriegspriester war Telos mit Veränderungen vertraut. Der Kampf war immer der Beginn einer Veränderung, aber als Mann des Glaubens und der Ordnung war ihm jede Wandlung zuwider. Die Ordnung war der Rahmen, der diese Welt zusammenhielt. Krieg bedeutete Chaos und Chaos bedeutete Verwüstung und Neuerung. Neuerungen führten wiederum zwangsläufig zu Unstetem und meist kam dabei nichts Gutes heraus. Jetzt war eine Zeit der Unruhen angebrochen und er hatte keinerlei Anhaltspunkt, was diese Zeit bringen würde. Alles, was er wusste, war, dass Al’Jebal ihn festgesetzt hatte. Begründet oder grundlos? Diese Frage quälte ihn am allermeisten.
Telos lenkte seinen Blick von den Gitterstäben auf seine Schlafstatt. Diese Zelle hatte nichts mit dem Kerker in Billus gemein. Sie war annähernd sauber, sogar hell, wenn man bedachte, dass es kein Fenster gab – dafür sorgten die Fackeln an den Wänden außerhalb seiner Zelle. Ja, er hatte sogar ein Feldbett und einen Nachttopf, der regelmäßig geleert wurde. Es war nicht allzu feucht, auch nicht besonders kühl und der Geruch war annehmbar. So gesehen war diese Einrichtung beinahe komfortabel, natürlich nur, wenn man davon absah, dass es keine Unterkunft für willkommene Gäste, sondern eine Kerkerzelle war.
Mit einem leisen Seufzen sank Telos auf das Feldbett und ließ seine linke Faust in der rechten Hand verschwinden.
Solange du bei mir bist, kann ich alles ertragen, Agramon! Aber ich bitte dich dennoch, weise mir den Weg aus dem Dunkel!
Agramon war hier! Dies war die alle Ängste vernichtende Gewissheit. Der Kontakt zu seinem Gott war da. Solange diese Verbindung nicht verloren ging, gab es auch nichts zu fürchten, nicht einmal den Tod. Das, was ihn plagte, war der Gedanke an Schuld – Schuld an seinem Glauben, Schuld an der Ordnung, Schuld im Sinne chaotischer Gedanken und Taten, die, das konnte er nicht von sich weisen, in den letzten Monden seine Welt durchwoben. Und begonnen hatte alles mit einem Mann namens Hakkinen Dragati …
… Chaosgünstling, Prophet, Götze, der es wagte, seinen eigenen Gott herauszufordern und sich selbst zum Gott zu erheben! Dragati hatte mit ihnen gespielt. Sie waren ihm mit Haut und Haaren ausgeliefert gewesen und ungewollt seiner Spur gefolgt, bis sie ihm am Ende jenen Aufstieg ermöglicht hatten, der ihn zum Abgott für all jene werden ließ, die dem Abnormen und zutiefst Lebensverachtenden zugeneigt waren. Dragati, Satlek Mu’ul, die tätowierten Berater der vallandischen Führung … das Chaos! Wo sie auch den Fuß hinsetzten, es hatte sie verfolgt. Chara hatte es auf den Punkt gebracht, als sie dem Jarlkunr Edisen auf seine Frage hin, weshalb Al’Jebal Valland evakuieren wolle, geantwortet hatte: „Er entzieht dem Chaos den Nährboden.“
Sie selbst waren zu einer Manifestation dieser Wahrheit geworden, als sie mit Dragati verhandelt hatten. Sie selbst hatten es zugelassen, dass die Saat des Chaos in ihrem Geist austreiben konnte. Doch Telos hatte letztlich verstanden und eingelenkt, oder etwa nicht? Er hatte Buße getan und die Verwerflichkeit seiner Taten anerkannt, vor Agramon, der ihm verziehen hatte! Warum saß er dann hier in dieser Zelle?!
Bargh, mein Freund … gefallen durch Charas Hand. Thorn, krepiert in den Armen eines Dämonenfürsten … Alles hat sich verändert! Alles ist mir entglitten!
Gedanken, Gedanken, Gefühle, Zweifel, Fragen, Gedanken … Telos’ Verstand spielte mit seiner Seele Shak und er hatte das Gefühl, dass jede Strategie ins Leere lief. Strategien halfen hier nichts. Ohne Fakten, auswertbare Daten – keine Strategie! Er hatte keine Fakten. Er hatte lediglich Spekulationen, Vermutungen, Befürchtungen …
Wie lange würde er hier noch festsitzen, schwitzen, fragen und zweifeln? Wie lange würde er noch…
„Morgen!“, riss ihn die Stimme des Aufsehers abrupt aus seinen Gedanken und Telos hob seinen Kopf. Der Aschraner stand im Licht der Fackel vor seiner Zelle und musterte ihn unangenehm berührt – als wäre es ihm zuwider, ihn in einer Zelle zu sehen. Seine Finger nestelten nervös an seinem Gürtel. „Ihr werdet morgen aus dem Kħerker gebracht“, erklärte er und sah auf den Boden. „Ihr werdet die Gelegenhait ħaben, Euch żu waschen und żurechtżumachen.“ Ein vorsichtiger Blick in Telos’ Augen, dann wandte er sich ab. „Gute Nacht, Ħohepriester!“
„Warte!“, rief Telos und sprang auf die Füße. „Wohin werde ich gebracht? Was hat Al’Jebal mit mir vor?“
Keine Antwort. Der Mann stieg bereits die steinerne Treppe hinauf, um sich leise davonzumachen.
„Werde ich in Mon Asul bleiben? Wird man mich …“
Mit einem Knarren fiel die Tür am Ende der Stufen ins Schloss und Telos war wieder allein. Nervös fuhr er sich über seine Stoppelglatze und begann in der Zelle auf und ab zu wandern.
Alles auf Anfang: Die Gedanken begannen erneut zu rotieren.
Etwa zwölf VALM entfernt, im obersten Stockwerk der in den Felsen gebauten Assassinenfestung, glitt eine bleiche Hand über eine Pergamentseite in einem kleinen Buch aus schwarzem Leder und streifte sie glatt. Die andere hielt einen schwarzen Federkiel zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ diesen in fahrigem Schriftzug über die Seiten tanzen.
Triudag, 1. Trideade im Kranichmond/345 nGF
Es ist fünf Tage her, dass Telos festgenommen wurde. Ich habe die Gründe dafür nicht erfahren. Vielleicht hat ihn seine priesterliche Seele dazu verführt, den Willen seines Gottes über den Willen Al’Jebals zu stellen. Vielleicht hat er sich etwas zuschulden kommen lassen, das sich meiner Wahrnehmung entzieht. Der Grund für Al’Jebals Entscheidung wird mir verborgen bleiben. Alles wird mir verborgen bleiben, was den Meister und seine Pläne anbelangt.
Ich habe noch immer nicht begriffen, was Al’Jebal mir bei meiner letzten Audienz zu sagen versuchte, aber ich nehme an, es soll mich nicht weiter beschäftigen. Ansonsten hätte ich den Befehl erhalten, darüber nachzudenken.
„Du bist MEIN!“ Wahrscheinlich ist dies Al’Jebals Art, sein Siegel aufzudrücken. Die Prägung eines Assassinen ist ja bekanntlich nicht allzu schwer. Die meisten von uns sind von Geburt an den Suggestionen des Meisters ausgesetzt und haben, gelinde gesagt, kein privates Bewusstsein. Fremdbestimmte Gedanken lenken unsere Taten. So beginnt das Leben eines Hatschmaschin. Da war ich eine Ausnahme. Meine Ausbildung begann ich erst im Alter von fünfzehn Jahren. Umso dringlicher für Al’Jebal, mich an meine Bande und meinen niederen Stellenwert zu erinnern.
„Du bist mein!“
Ich bin kaum noch dazu in der Lage, etwas anderes zu denken.
„Ich bin dein! Dein … dein … dein …“
Meine Frage hat er nicht beantwortet. Ich hätte sie vermutlich gar nicht stellen sollen. Das, was in mir west, soll vergessen werden. Zavir und seine Folter, das blaue Licht, das in mir glomm, um mir festungsgleich Deckung zu bieten … Ich soll nicht weiter danach fragen. Wird mir nicht allzu schwerfallen. Hat mich zwar interessiert, muss aber kein Thema mehr sein. Nichts muss ein Thema sein, solange es nicht zum Thema gemacht wird. Themen anderer sind keine Themen für mich. Meine Themen gibt es nicht. Ich bin die Null vor der Eins … Die Null sagt nichts aus. Sie ist nichtig. Die Bedeutung beginnt bei der Eins.
„Es werde Licht!“, sagte die Eins, bevor die Zwei der Nacht den Tag zur Seite stellte. Und damit hat alles angefangen.
Diese Gedanken sind mir neu. Ich habe sie noch nie gedacht. Haben sie eine Bedeutung? Wohl kaum.
Telos sitzt im Kerker Mon Asuls, soweit ich weiß. Ich bin hier. Al’Jebal hat mich gerufen. Darum werde ich morgen nach Mon Asul aufbrechen.
Status Quo
Chara klappte den Einband zu, stand auf, drehte sich um und stierte auf die weiße Rose, die dort in der Vase am Fußende ihres Bettes stand. Sie war kurz davor, zu erblühen. Wenn sie nach ihrem Aufenthalt in Mon Asul zurückkehrte, würde ihr erster Blick auf eine neue Rose fallen. Irgendjemand würde die alte inzwischen ausgewechselt haben. Sie würde die neue Rose betrachten – den einzigen weißen Akzent in dem tiefen Schwarz ihres Zimmers – und sie würde sich dabei hohl und lebendig zugleich fühlen.
***
Als die Sieben im Begleitschutz ihrer Ordenskrieger die schmale Gebirgsstraße entlangritten, die sich um die gewaltige Felsformation des Altan wand, hatte die Sonne bereits den Zenit überschritten. Alle sieben Augenpaare wanderten über die in den Berg geschlagenen Erker und Mauern der Assassinenhochburg weit westlich von ihnen, deren natürlich anmutende Wehrhaftigkeit jedem Passanten zu sagen schien: Du bist hier nicht willkommen!
Dort lebten also Al’Jebals gefürchtete Schergen. Es wollte Syrinx Lykaios nicht in den Kopf, dass sie im Begriff waren, ausgerechnet den Boden jenes Mannes zu betreten, der weithin als ein Überbleibsel aus Chaoszeiten gehandelt wurde. Doch es war der einzige Weg, diese unsägliche Angelegenheit zu klären, die Jeden im chryseischen Pantheon in übelste Bedenken gestoßen hatte.
Syrinx drehte sich um und bedachte den Oberhohepriester Kalidor Sirionopoulos mit einem unheilvollen Blick, den dieser mit einem kaum merklichen Kopfschütteln erwiderte. Die Atmosphäre um die sieben Priester, die ihre Pferde über die staubige Straße Richtung Oase lenkten, war spürbar kälter geworden. Alle Blicke hafteten nun auf dem dunklen Turm inmitten Hadiys. Der Gedanke, den niemand auszusprechen wagte, weil er ihr Vorhaben als unkalkulierbaren Wahnsinn entlarvte, schien sich bei jedem von ihnen in die gefurchte Stirn gegraben zu haben.
Er ist ein Feind der Götter. Wie können wir ihm trauen?
Tatsächlich hatten sie keine Wahl. Ein Verbrechen den Göttern gegenüber musste geahndet werden, ohne Ausnahme! Und es stand noch viel mehr dahinter. Agramon, Achilea, Orkchos, Sagros und Wredelin hatten sie dieser Wege geschickt, ihnen allen ein Zeichen gegeben. Es war der Wille ihrer Götter, dass sie den Alten vom Berg in seinem Machtgebiet aufsuchten, um dort ihres heiligen Amtes zu walten. Und dabei wurden sie ihrer bislang härtesten Prüfung unterzogen. Denn seit sie Fuß in Al’Jebals Gebiet gesetzt hatten, hatten sie jeglichen Kontakt zu ihren Göttern verloren. Zunächst hatte sie diese Tatsache in ärgste Bedenken gestürzt. Beinahe wären sie umgekehrt. Doch dann ereilte sie die Erkenntnis, die alles in ein anderes Licht rückte: Diese Mission diente nicht nur dazu, einen ihrer Brüder einer Glaubensprüfung zu unterziehen, sondern sie alle! Sie waren die mächtigsten Vertreter des chryseischen Pantheons und ihre Götter hatten sie in das Gebiet eines ihrer schlimmsten Feinde geschickt. Sie wollten, dass sie dort die Macht der chryseischen Götter spürbar machten und sie wollten, dass sie den Abtrünnigen aus ihren Reihen richteten – nach eigenem Ermessen, auf der Basis eigener Entscheidungen und ohne die Hilfe ihrer Götter. Der Chaosgünstling Al’Jebal hatte ihnen sein Wort gegeben, dass sie auf seinem Boden ihrem göttlichen Auftrag nachkommen konnten. Und auch wenn das Wort eines Chaosanhängers so wenig Bedeutung hatte wie ein Sandkorn in der Aschranischen Wüste, hieß es von Al’Jebal, dass er sich an seine Versprechen hielt. So setzten sie ihren Weg schließlich fort.
Hohepriester Syrinx Lykaios warf einen letzten Blick auf die dunklen Mauern der Assassinenfestung zu seiner Rechten und lenkte sein Augenmerk dann auf Al’Jebals monumentalen Machtsitz im Zentrum der Oase.
Agramon hatte sie hierher geführt! Jeder weitere Gedanke erübrigte sich.