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Dana Summer, Loki Miller

Schokoküsse unterm Mistelzweig

Ein Weihnachtsroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1. Kapitel

 

*Hope*

 

Eisiger Wind schlägt mir entgegen, als ich die Tür öffne. Ein kurzer Blick in den Himmel genügt. Die dicht verhangenen dunkelgrauen Wolken verheißen nichts Gutes. Es wird schneien und das vermutlich gleich in den nächsten Minuten. Als ob wir die letzten Tage nicht schon genug von der weißen Pracht abbekommen haben.

Mit einem Seufzen schlage ich den Kragen meines Mantels hoch. Der Schnee knirscht unter den Lederboots, als ich über die Straße zu meinem alten Seat gehe. Achtlos werfe ich meinen schwarzen Koffer auf die Rückbank und nehme auf dem Fahrersitz Platz. Dabei rücke ich meine dunkle Wollmütze zurecht, starte den Wagen und werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist kurz nach fünf. Voller Feierabendverkehr in London und ich kann nur hoffen, dass ich mein Ziel in einer guten Stunde erreiche.

Dass ich nicht die Einzige bin, die ein paar Tage vor Weihnachten zu ihrer Familie fahren will, wird mir recht schnell klar. Je weiter ich versuche aus der Stadt zu kommen, umso dichter scheint der zunehmende Straßenverkehr zu werden. Ungeduldig trommeln meine Finger auf das Lenkrad und hin und wieder stoße ich einen kleinen Fluch aus, weil diese verflixte Ampel immer nur eine Handvoll Autos durchlässt.

„Wenn das so weitergeht, erreiche ich Grandma Beth nie vor dem Abendessen“, maule ich vor mich hin. Natürlich hätte ich früher losfahren können, aber meine momentane finanzielle Lage verkraftet keine Minute, in der meine kleine Confiserie außer der Reihe geschlossen bleibt. Zum Glück erklärt sich Eddi, mein bester Freund, dazu bereit, in den Tagen, in denen ich weg bin, wenigstens für ein paar Stunden den Laden zu öffnen. Auch wenn mir bewusst ist, dass es nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, denn die potenziellen Kunden bleiben schon geraume Zeit aus. Um genau zu sein, seit dem Tag, an dem diese verflixte Schokoladenfabrik gleich eine Straße weiter ihre Türen geöffnet hat. Dort bekommen die Kunden ihre Pralinen, Gebäcke und alles Andere für beinahe die Hälfte des Preises. Es muss schon ein kleines Wunder geschehen, um nicht in ein paar Monaten bankrottzugehen.

Aber daran möchte ich jetzt nicht denken. Ich hatte Grandma Beth versprochen, mit meiner Anreise alle Sorgen für ein paar Tage zu vergessen, um einfach nur Weihnachten zu genießen. Im Moment kann ich mir unmöglich vorstellen, dass dies wirklich passiert. Dass ich das Fest der Liebe tatsächlich genießen kann. Kurz schüttle ich den Kopf und schalte das Radio ein. Musik ist in diesem Augenblick genau das Richtige. Durch die Box hallt das neuste Lied von den Kings of Leon. Ganz leise summe ich mit und irgendwann trommeln meine Finger nicht mehr vor Ärger auf das Lenkrad, sondern klopfen den Takt der Musik mit. Kilometer um Kilometer fällt die Anspannung von mir ab. Die Straße leert sich merklich, wird schmaler und ländlicher. Die Häuser werden weniger, die Alleen dafür immer mehr. Alles erinnert mich an meine Kindheit. Ich glaube sogar schon, Grannys selbstgebackene Kekse zu riechen. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, während vor meinem inneren Auge ein Teller voller Schoko-Minz-Plätzchen erscheint. Grandma hat mir alles über das Backen beigebracht. Schon als Kind habe ich die Ferien hauptsächlich in ihrer Küche verbracht. Als mein Traum von der eigenen Confiserie endlich wahr wurde, hatte sie Freudentränen in den Augen.

Ich schalte die Scheibenwischer ein und kneife die Augen zusammen. Es ist mittlerweile dunkel geworden und die Schneeflocken tanzen im Scheinwerferlicht. Das erinnert mich an etwas. Hektisch durchwühle ich mit der linken Hand meine Handtasche, während ich mit der rechten weiterlenke. Meine Finger graben sich durch Kugelschreiber, Kaugummi und Haarspangen. Ich ertaste etwas, das sich wie ein Deodorant anfühlt, lasse es los und suche weiter. Dabei werde ich immer nervöser, bis ich endlich meinen Block ergreife und aus der Tasche ziehe. Erleichtert atmete ich aus. Dieser Block ist mein Leben. Ohne ihn bin ich verloren. Ich schalte die Scheibenwischer eine Stufe höher, rutsche ein Stück tiefer in den Sitz und lenke mit meinen Knien, während ich den Block aufklappe. Schnell überfliege ich die Checkliste, hebe dabei immer wieder meinen Kopf, um zu überprüfen, dass ich nicht von der Straße abkomme. Erleichtert sehe ich, dass ich bei „Schokospäne-Hobelmaschine säubern“ einen Haken gemacht habe.

Kurz vor Feierabend hatte ich noch weiße Schokospäne vorbereitet, und wenn ich die Maschine nicht gesäubert hätte, würde mich Eddi umbringen. Er zieht mich sowieso schon auf, weil ich alles vergesse, was nicht in meinem Block festgehalten ist. Gerade will ich ihn wieder zuklappen, als ich auf einmal geblendet werde. Es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, woher das Licht kommt. Dann braucht es noch einige Sekunden, bis der Befehl, das Lenkrad zu ergreifen und dem LKW auszuweichen, bei meinen Händen ankommt. Mein Seat gerät ins Schlittern. Ich hätte in neue Winterreifen investieren sollen, schießt es mir durch den Kopf. Der LKW hupt und rauscht dann an mir vorbei. Ich kämpfe noch immer damit, meinen Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das übernimmt dann eine Hecke für mich, die mich abrupt stoppt. Der Gurt schneidet in meine Schulter, doch der Schmerz ist mir egal. Ich bin viel zu glücklich darüber, noch am Leben zu sein. Im Scheinwerferlicht sehe ich, dass sich meine Motorhaube wellt und teilweise hochsteht. Die Scheibenwischer quietschen, während sie tapfer weiter ihren Dienst verrichten. Im Radio läuft Last Christmas, was meine Stimmung nicht gerade hebt, obwohl ich das Lied normalerweise mag.

Letztes Jahr war ich noch relativ glücklich verliebt, hatte einen gut gehenden Laden und außer meiner Vergesslichkeit keine Probleme. Nun möchte ich gar nicht aussteigen und den Schaden begutachten, weil ich mir die Reparatur sowieso nicht leisten kann. Frustriert lasse ich meine Stirn auf das Lenkrad sinken und erwische dabei versehentlich die Hupe, die natürlich einen Höllenlärm veranstaltet. Aber wer soll das in dieser Einöde schon hören? Wenn ich mich nicht irre, bin ich noch einige Kilometer von dem Haus meiner Grandma entfernt und außer Schafen ist niemand bei dem Wetter draußen. Geld für ein Taxi habe ich keines.

Sosehr ich auch hin- und herüberlege, bleibt mir nichts Anderes übrig, als zu Fuß zu gehen. Mit einem lauten Seufzer öffne ich die Türe und würde sie am liebsten gleich darauf wieder schließen.

Es ist bitterkalt.

Um wenigstens ein klein wenig Licht zu haben, angle ich nach meinem Smartphone und schalte die integrierte Taschenlampen-App an. Für einen kurzen Moment lasse ich den Gedanken zu, Granny anzurufen und sie zu bitten, mir ein Taxi zu bestellen. Aber dieses bräuchte vermutlich noch länger hierher als ich zu Fuß zu ihr. Mir bleibt keine Wahl. Ich muss aussteigen. Hinter mir werfe ich die Wagentüre ins Schloss und gehe los. Ich starre auf den Boden und versuche mit meinen Füßen in der Spur der Reifenabdrücke zu bleiben. Dabei bin ich so darauf konzentriert, nicht im Schnee zu landen, dass ich die immer näher kommenden Scheinwerfer gar nicht richtig wahrnehme. Erst als der Wagen neben mir hält, drehe ich mich um und starre auf einen roten Truck. Ganz langsam wird das Fenster heruntergelassen und ich erkenne die Umrisse eines Mannes. Mit einer Stimme, die vor männlichen Hormonen nur so strotzt, fragt er: „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich hatte einen kleinen Zwischenfall mit einer Hecke und nun springt mein Auto nicht mehr an“, kläre ich ihn auf.

„Die Straße ist aber auch kaum passierbar“, füge ich zu meiner Entschuldigung hinzu.

„Dann ist das also Ihr Wagen, der dort vorne“, er deutet mit dem Daumen in die Richtung, aus der ich gekommen bin, „so bekloppt parkt?“ Seine Stimme klingt tief und beinahe gefährlich.

„Ähm ... haben Sie mir nicht richtig zugehört? Ich parke nicht dort, ich hatte einen Unfall. Sie wissen schon, Crash Boom Bang …“, versuche ich, mich zu verteidigen. Zwecklos, wie ich gleich darauf feststelle.

„Und wann kommt der Abschleppwagen? Sie wissen schon, dass Ihr Auto so nicht stehen bleiben darf!“ Verdammt, an den hatte ich gar nicht gedacht. Ich schiebe meine Brille zurecht, die mittlerweile nur noch halb auf meiner Nase hängt.

„Sie haben doch einen gerufen, oder?“, knurrt er.

„Ähm … also, um ehrlich zu sein … nein“, bis eben dachte ich noch, dass es nett von ihm war, anzuhalten und sich zu erkundigen, ob ich Hilfe gebrauchen könnte. Doch nach diesen paar Sätzen finde ich ihn gar nicht mehr so freundlich. Ich sehe, wie er die Augen verdreht: „Soll ich Sie mitnehmen?“

„Danke für das Angebot, aber ich laufe lieber. Ich habe es nicht mehr weit und werde auch schon erwartet.“ Er ist zwar nicht sehr sympathisch, scheint mir aber auch kein Serienkiller zu sein. Aber man kann ja nie vorsichtig genug sein.

„Nun gut, wenn Sie lieber erfrieren wollen, ist das Ihre Entscheidung“, gibt er trocken zurück.

Im Radio läuft gerade der Wetterbericht. Eine Frauenstimme verkündet: „… ist mit starkem Schneefall und Schneeverwehungen zu rechnen. Wir bitten alle Bewohner, in ihren Häusern zu bleiben. Falls Sie noch draußen unterwegs sein sollten, suchen Sie bitte schnellstmöglich Schutz.“

Mein vermeintlicher Retter in der Not zieht eine Augenbraue hoch und starrt mich schweigend an. „Also gut“, sage ich, ergebe mich meinem Schicksal und steige in den Truck.

„Wohin müssen Sie? Viele Möglichkeiten gibt es ja nicht.“ Als ob ich das nicht selber wüsste. Denkt der Typ etwa, dass ich eine Waldwanderung machen will oder was? Kurz und knapp nenne ich ihm die Adresse von meiner Granny.

„Schön, dann sind wir in wenigen Minuten da.“

„Sag ich doch“, entfährt es mir trotzig.

Im Wagen ist es angenehm warm. Ich ziehe mir meine Mütze vom Kopf und fahre mit den Fingern durch mein Haar. Das schwache Licht der Armaturenbeleuchtung erlaubt mir, ihn ein wenig zu beobachten.

Wenn er gerade keine garstigen Kommentare von sich gibt, macht er eigentlich einen ganz netten Eindruck. Mein Blick wandert von seinem Bart, der mal wieder eine Rasur vertragen könnte, zu seinen dunkelbraunen, leicht gewellten Haaren und ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre sie zu durchwühlen. Ich blinzele den Gedankengang weg, um mich daran zu erinnern, wie eklig er sich bislang verhalten hat. Gut, er war so nett, mich nicht erfrieren zu lassen. Das war aber auch schon alles.

Ich hoffe, dass die Fahrt nicht mehr allzu lange dauert. Er ist schon extrem schweigsam und mir wird allmählich langweilig. Um mich zu beschäftigen, schaue ich mich ein wenig weiter im Auto um. Der Boden ist mit Kiefernnadeln übersät, das Armaturenbrett überzieht eine dicke Staubschicht und zu meiner Freude entdecke ich, dass das Radio, ebenso wie in meinem geliebten Seat, noch ein Kassettendeck hat. Neugierig, was für eine Musik er hört, will ich auf Kassette umschalten. Seine Hand schnellt nach vorne, umfasst mein Handgelenk und hält es mit eisernem Griff fest. Er starrt zwar weiter geradeaus auf die Straße, doch dabei knurrt er fast schon furchterregend: „Das fasst niemand an!“

Ich versuche, mich zu befreien, und keuche vor Schmerz auf: „Aua! Sie tun mir weh!“ Jetzt bremst er leicht ab und sieht mich endlich an. Ein merkwürdiger Ausdruck liegt auf seinem Gesicht. Man könnte fast glauben, dass er tiefe Schmerzen empfindet, aber im Augenblick bin ich es, deren Handgelenk zerquetscht wird. „Ich habe es verstanden. Das Kassettendeck ist tabu! Jetzt lassen Sie mich auf der Stelle los!“

Endlich tut er, was ich möchte, und lässt mich so schnell los, dass ich ein Stück zur Seite kippe und mich an der Türverkleidung abstützen muss, um nicht komplett die Balance zu verlieren. Aufgebracht will ich ihn gerade zur Rede stellen, als er auf das Gaspedal tritt, sodass der Wagen herumschlittert. Im Gegensatz zu mir und meiner Kollision mit dem Gebüsch hat er seinen Truck aber schnell wieder im Griff. Eigentlich hätte ich Angst vor ihm haben sollen. Doch ich fühle nichts Anderes als unbändige Wut. „Wollen Sie uns umbringen?“, schreie ich ihn an.

„Sie dürfen das nicht anfassen!“, wiederholt er noch einmal anstelle einer Entschuldigung, dabei sehen seine türkisgrünen Augen mich angriffslustig an. „Keiner darf das!“

„Ja doch, das habe ich jetzt verstanden. Trotzdem müssen Sie nicht gleich handgreiflich werden! Wenn ich es mir recht überlege, will ich lieber aussteigen und den Rest laufen.“ Die Aussicht, auf dem Weg zu Granny zu erfrieren, erscheint mir auf einmal gar nicht so schlimm.

„Brauchen Sie nicht. Wir sind da.“

Auch wenn mittlerweile alles mit Schnee bedeckt ist, erkenne ich tatsächlich die Umgebung wieder. In Grannys Küche brennt Licht und Rauch steigt aus dem Schornstein auf. Als der Truck auf den Hof einbiegt, sehe ich im Scheinwerferlicht, wie meine Großmutter die Küche verlässt. Kurz darauf öffnet sich die Haustür. Noch nie habe ich mich so sehr darüber gefreut, ihr liebenswertes Gesicht zu sehen. Ich verlasse mit Schallgeschwindigkeit den Truck und werfe mich in ihre Arme. „Oh Granny, ich bin so unglaublich froh, dich zu sehen!“

Mein Gesicht bette ich an ihre Brust, die lachend erbebt. „Nicht so stürmisch, mein liebes Kind. Wo ist denn dein Auto? Und woher kennst du Nate?“

Ich hebe verwirrt den Kopf: „Wen?“

Sie deutet auf den Wagen, der noch immer mit laufendem Motor neben uns steht. Während ich Granny in den Armen gelegen habe, muss er sein Fenster heruntergekurbelt haben, denn nun reicht er ihr die Hand zur Begrüßung. „Hallo mein Lieber! Danke dir noch mal für die Ladung Holz. Und danke auch für meine Enkelin. Magst du noch mit reinkommen? Ich habe deine Lieblingskekse gebacken“, sagt sie mit einem Tonfall, der normalerweise für mich reserviert ist.

Granny kennt diesen Holzklotz? Ich fasse es einfach nicht. Erst recht nicht, dass der Typ jetzt auch noch mit ins Haus kommen soll?! Ich dachte, ich steige einfach nur aus dem Wagen und sehe meinen unhöflichen Retter oder was auch immer nie wieder. Bitte sag Nein, bitte, flehe ich im Stillen.

„Danke dir, Beth. Ein anderes Mal vielleicht. Aber deine Enkelin hat versäumt, den Abschleppwagen zu rufen.“ Er wirft einen Blick auf die Uhr. „Bei dem Wetter dauert es vermutlich eine halbe Ewigkeit, bis einer da ist. Mir bleibt also nichts Anderes übrig, als den Wagen selbst abzuschleppen“, gibt er murrend von sich. Dabei sieht er mich mit zusammengekniffenen Augen an.

Gott, der Arme, vielleicht sollte man ihm dafür einen Orden verleihen, denke ich ironisch und sage laut: „Hier kommt doch eh so gut wie kein Mensch raus. Ich rufe morgen einfach einen Abschleppwagen und das Thema ist erledigt.“

Sein Blick wird noch eine Spur finsterer. Wenn das überhaupt möglich ist. „Keine Ahnung, woher Sie kommen, aber hier ticken die Uhren anders. Wenn es Ihnen nicht passt, kann ich auch die Polizei anrufen und die kümmern sich um die Angelegenheit.“

Granny, die wohl gemerkt hat, wie wir kurz davor sind, uns an die Gurgel zu springen, tritt dazwischen. „Beruhigt euch bitte. Hope, es ist doch sehr nett von Nate, dass er den Wagen abschleppt, und Nate, bitte verzeih meiner Enkelin. Hope ist erschöpft von der Autofahrt aus London hierher und braucht einfach ein wenig Ruhe.“

Statt einer Antwort nickt er, kurbelt das Fenster hoch und wendet seinen Truck. Granny und ich sehen ihm so lange hinterher, bis nur noch zwei kleine Punkte zu erkennen sind. Dann greift sie nach meinem Arm und dirigiert mich ins Haus. „Nun komm erst mal rein. Bestimmt möchtest du dich duschen und frische Sachen anziehen?“, dabei deutet sie auf meine Jeans, die sich von den Schneeflocken klamm anfühlt.
Verflucht, ich wusste doch, da war noch was. Mein Koffer befindet sich immer noch in meinem Auto, und wenn ich nicht vorhabe, im Granny-Look durch die Gegend zu rennen, dann muss ich dem Holzklotz wohl doch noch mal gegenübertreten.

Mist.

 

*Nate*

 

Mit einem letzten Blick auf das kaputte Auto werfe ich die Scheunentür ärgerlich zu. Nur dem Wetter ist es zu verdanken, dass ich nicht augenblicklich zu dieser Frau zurückfahre und sie eigenhändig an ihren verfluchten roten Haaren dorthin zurückzerre, wo sie hergekommen ist. Wenn ich nur daran denke, dass sie doch tatsächlich mit Sommerreifen unterwegs war, steigt eine erneute Zorneswelle in mir auf. Nicht nur, dass dieses kleine rothaarige Etwas schuld daran ist, dass ich beinahe am Verhungern bin, nein, dank ihr spüre ich auch gewisse Körperteile nicht mehr. Mit schnellen Schritten stapfe ich durch den inzwischen kniehohen Schnee und schicke, wie schon die letzten Minuten, einen Fluch zu dieser Frau. Hätte ich nicht ihren Wagen aus dem Graben ziehen müssen, hätte ich die Zeit nutzen können, um den nun zugeschneiten Weg zu meinem Haus freizuschaufeln. Kurz überlege ich, dies jetzt noch nachzuholen, doch mein Magen und ein paar andere Körperregionen protestieren augenblicklich. Eine heiße Dusche ist genau das, was ich in diesem Moment am besten gebrauchen kann.

Und eine Flasche Whiskey.

Seit ewiger Zeit hat es kein Mensch mehr geschafft, mich so zu verärgern. Noch bevor ich die Tür hinter mir schließen und meine schneebehangene Jacke ausschütteln kann, werde ich von meinem Hund begrüßt. Mit großen dunklen Augen und schwarzweißem Fell kommt er auf mich zugerannt. Dabei wedelt seine Rute wie verrückt und vor Freude mich wiederzusehen bellt er kurz auf. Das hebt meine Stimmung schon gehörig.

„Hey Balu“, begrüße ich ihn und tätschle seinen Bauch. Dabei versuche ich gleichzeitig meine Schuhe auszuziehen und meine Jacke irgendwo aufzuhängen, und zwar so, dass sich nicht der ganze Boden in eine Pfütze verwandelt. Auf dem kurzen Weg vom Eingangsbereich bis zur Küche ziehe ich meine Socken und die nasse Jeans aus und lasse sie achtlos liegen. Mit knurrendem Magen öffne ich die Kühlschranktüre und schnaufe. Es sieht so aus, als ob ich verdrängt habe, dass die Lebensmittel knapp werden. Oder wie in meinem Fall beinahe verbraucht sind. Immerhin sind noch eine Flasche Bier und etwas Käse da. Beides hole ich heraus und begutachte, während ich den Flaschendeckel mit den Zähnen öffne, ob der Käse überhaupt noch essbar ist. Irgendwo zwischen all dem benutzten Geschirr liegt noch ein Stück Brot herum, was immerhin noch genießbar aussieht. Auch wenn es ein wenig hart ist.

Ich lasse einen Blick durch die Küche schweifen, nur um festzustellen, dass ich dringend eine neue Putzfrau einstellen sollte. Doch jede, die bis jetzt die Stelle angetreten hatte, kam mit meinen Vorstellungen von Sauberkeit irgendwie nicht klar. Es ist ja nicht so, dass ich keine saubere Wohnung mag. Mir sind nur andere Dinge wichtiger. Und ich brauche niemanden, der versucht mich zu belehren oder gar zu erziehen. Die letzte Putze hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt, indem sie mich zwingen wollte Hausschuhe anzuziehen. Ich meine … Hausschuhe! Nicht einmal Suzie hatte mich dazu bringen können. Wie immer, wenn ich an sie denke, fangen meine Narben an zu jucken und mich überkommt eine Traurigkeit, die ich nur schwer ertragen kann. Als ob er meinen Stimmungswechsel gespürt hat, legt Balu seinen Kopf auf mein Bein, um mich zu trösten.

Vielleicht sollte ich meine Ansprüche einfach zurückschrauben, denke ich im Stillen und betrachte den eingetrockneten Essensfleck von meiner Dosensuppe auf dem Tisch. Schlimmer als jetzt kann es wohl kaum noch werden.

Das Klopfen höre ich kaum, weil ich noch so in Gedanken bin. Erst als Balu schwanzwedelnd zur Tür läuft, begreife ich, dass jemand um Einlass bittet. Ich überlege, wer mich bei diesem Wetter besuchen will, komme aber zu keinem Ergebnis. Außer Beth, meiner Nachbarin, interessiert sich hier niemand für mich und ich habe keine Lust, das zu ändern. Es hat seinen Grund, warum ich aus der Stadt in die Einöde gezogen bin.

Ich setze mein bestes mürrisches Gesicht auf, öffne die Tür … und muss mir im nächsten Moment ein Grinsen verkneifen.

Vor mir steht die rote Heimsuchung.

Mit Genugtuung registriere ich, wie sie sichtlich frierend und zitternd die Arme um sich geschlungen hat. Warum sollte es ihr besser gehen als mir? Zu ihren Füßen steht ein Korb, der einen leckeren Duft verströmt. Ich mache keine Anstalten sie hereinzubitten, sondern lehne mich mit ebenfalls verschränkten Armen an den Türrahmen. „Sind Sie schon wieder vom Weg abgekommen?“

„Wie bitte?“, fragt sie und schiebt dabei ihre Brille zurecht, die gefährlich nah an der Nasenspitze sitzt. Jetzt erst sehe ich, dass sie zusätzlich einen Notizblock an sich gepresst hält, um ihn vor dem Schnee zu schützen.

Entnervt verdrehe ich die Augen, während Balu um sie herumspringt und nach Aufmerksamkeit verlangt. „Sie sind wie ein Bumerang. Zugegeben ein ziemlich winziger und aus rotem Holz, aber trotzdem werde ich Sie offensichtlich nicht los.“ In einem Anflug von Hilfsbereitschaft sage ich: „Na dann kommen Sie mal mit. Ich bringe Sie zurück zum Weg. Von da aus müssen Sie nur geradeaus laufen. Das sollten selbst Sie schaffen.“ Ich will mich an ihr vorbeidrücken, aber sie geht mir nicht aus dem Weg.

„Was sind Sie nur für ein unhöflicher Mensch“, empört sie sich. „Meine Granny schickt mich mit Essen zu Ihnen. Meiner Meinung nach haben Sie die Leckereien gar nicht verdient, aber Granny wird unausstehlich, wenn sie ihren Kopf nicht durchsetzen kann.“ Sie hebt den Korb auf und schleudert ihn mir mit einem säuerlichen Blick fast schon entgegen. Hektisch öffne ich meine Arme und kann ihn gerade noch auffangen, bevor alles in den Schnee fällt. Sehr zum Bedauern von Balu, der wohl auf einen kleinen Snack gehofft hatte. Trotzdem läuft er jetzt mit der Nase am Boden schnüffelnd zwischen uns hin und her und bettelt kurz darauf bei Beths Enkelin um Streicheleinheiten. „Gott, was bist du für ein süßer Kerl.“ Sie bückt sich hinunter und krault Balu hinter den Ohren. „Ganz im Gegensatz zu deinem Herrchen“, fügt sie noch brummelnd hinzu. Mein Hund, der Verräter, bellt einmal wie zur Bestätigung. Nun reicht es wirklich!

„Tja, dann … Danke an Ihre Großmutter. Richten Sie ihr bitte aus, dass ich ihr natürlich immer wieder gerne helfe. Sie hat ja sonst niemanden, der sich um sie kümmert.“

„Ich kümmere mich sehr wohl um Granny! Maßen Sie sich ja nicht an, mich oder meine Beziehung zu ihr zu kennen!“ Vor Zorn färben sich ihre Wangen leicht rosa. Ob ich vielleicht doch einen Schritt zu weit gegangen bin? Ich will gerade so etwas wie eine kleine Entschuldigung hervorbringen, als Balu im Schnee zu buddeln beginnt, einmal laut niest und dann voller Stolz mit etwas Rechteckigem im Maul zu mir kommt.

„Aus, Balu“, befehle ich ihm, stelle den Korb ab, den ich noch immer als schützende Wand zwischen uns halte, und untersuche das Fundstück im Licht der leicht geöffneten Tür. Da höre ich ein Quietschen und schneller, als ich schauen kann, hat der Rotschopf mir das Ding aus der Hand gerissen. Trotzdem hat die Zeit gereicht, es als den Block zu identifizieren, den sie vorhin so liebevoll an ihre Brust gepresst hat. Anscheinend ist er ihr heruntergefallen, als sie mir den Korb zugeworfen hat.

Genau das tut sie auch jetzt wieder, ignoriert Schnee und Hundesabber und streichelt fast ehrfürchtig darüber. Ihr Gesichtsausdruck hat etwas von Gollum, der den einen Ring endlich gefunden hat. Ihr Verhalten weckt meine Neugier. Ich würde zu gerne einen Blick hineinwerfen. Ob das wohl ihr Tagebuch ist?, grüble ich.

Sie räuspert sich und rückt wieder ihre Brille zurecht: „Würden Sie mir bitte sagen, wo Sie meinen Wagen hingebracht haben? Mein Koffer ist noch da drin.“

„Und das hätte nicht bis morgen warten können?“, frage ich verwirrt. Das war wieder typisch Städter. Ohne elektrische Zahnbürste und dem besonders flauschigen Kissen mit spezieller Füllung für die hypersensible Haut kann keiner von denen einschlafen.

Ihre Augenbrauen berühren fast ihren Haaransatz, als sie mich mit einem strengen Lehrerinnenblick ansieht und sagt: „Glauben Sie, ich wäre bei diesem Wetter draußen und würde mit Ihnen herumdiskutieren, wenn es warten könnte?“

„Bei Ihnen kann ich mir mittlerweile alles vorstellen“, grummele ich in meinen Dreitagebart, ergreife den Korb und nehme ihn mit hinein. Die Tür lasse ich zwar offen, bitte Beths Enkelin jedoch noch immer nicht herein. Stattdessen rufe ich ihr zu: „Hinter dem Haus ist eine Scheune. Da finden Sie Ihre Rostlaube.“

Ich spüre förmlich, wie sich ihr Blick in meinen Rücken bohrt, und schon wieder streift mich ein Anflug von schlechtem Gewissen. „Hören Sie …“, beginne ich und drehe mich um. Doch der Türrahmen ist leer. Von weiter weg höre ich Balu bellen. Fluchend ergreife ich die Schlüssel für ihr Auto, ziehe mir eine Jacke über, schlüpfe in die nasse Jeans und die Strümpfe und stapfe zum zweiten Mal an diesem Abend wegen ihr durch den Schnee.

2. Kapitel

 

*Hope*

 

Der Typ ist echt die Höhe! Noch nie ist mir ein solch unsympathischer Mensch über den Weg gelaufen. Am liebsten würde ich ihm etwas gegen den Kopf knallen. Außer mir vor Wut stapfe ich durch den Schnee, versuche auf dem verdammt rutschigen Boden und in dem immer stärker werdenden Sturm nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Was allerdings gar nicht so einfach ist. Jeder weitere Schritt wird zu einem Hindernis und mein Unmut gegenüber diesem Typen wird dadurch noch größer. „Wieso kann Lord Holzklotz seinen Hof auch nicht räumen?“, fluche ich vor mich hin und sehe, dass mir sein Hund, der freudig neben mir herhüpft, Gesellschaft leistet. „Wenigstens einer, der Manieren hat“, denke ich und erspähe die Holzscheune.

Hörbar laut atme ich aus und beschleunige meine Schritte. Was, wie ich allerdings gleich feststellen muss, ein verdammter Fehler ist. Denn anstelle des Schnees betrete ich eine Eisplatte, die nicht nur so rutschig ist, dass ich wild mit den Armen rudernd nach Gleichgewicht suche, sondern mich auch, kurz darauf, mit meinem Hinterteil auf den Boden aufkommen lässt.

„Zur Hölle mit dir …“, fluche ich und spüre, wie mir vor Zorn Tränen in die Augen steigen. Als ob ich heute nicht schon genug mitmachen musste. Erst der erneute Brief vom Finanzamt, dann dieser bescheuerte Unfall und jetzt auch noch das.

Balu hüpft wie ein kleines Häschen um mich herum und gibt mit einem Bellen seinen Senf zu meiner Popolandung ab.

„Ich denke, das ist nicht der richtige Platz, um ein Päuschen einzulegen“, eine mir mittlerweile bekannte Stimme erklingt durch die Nacht und ich muss mich gar nicht groß umsehen, um zu wissen, wer nun neben mir steht.

Um wenigstens einen letzten Rest Würde zu behalten, schlucke ich die Tränen hinab. „Ach echt? Wäre mir gar nicht aufgefallen.“

Er brummt irgendetwas vor sich hin und streckt mir schlussendlich seine Pratze von Hand entgegen.

„Ich brauch Ihre Hilfe nicht“, sage ich trotzig und ignoriere diese.

„Wie Sie meinen“, gibt er trocken zurück und marschiert zu der Scheune.

Dabei muss ich feststellen, dass er überhaupt kein Problem mit dem unpassierbaren Boden zu haben scheint.

Würdevoll, zumindest so gut es geht, drücke ich mich vom Boden ab und stelle mich wieder hin. Dabei spüre ich, wie die eisige Temperatur mir von Sekunde zu Sekunde mehr Wärme aus dem Körper entzieht. Vor Kälte zittere ich am ganzen Leib, höre, wie meine Zähne dabei aufeinanderschlagen, und versuche meine kalten Beine dazu zu bringen, sich fortzubewegen. Weit komme ich auf diesem verfluchten Boden allerdings nicht, und bevor ich noch einmal auf meinem Hosenboden lande, bleibe ich stehen.

Um mich herum tanzen die Schneeflocken und der Wind peitscht mir immer wieder ins Gesicht.

„Wo zum Henker bleibt er denn?“, motze ich leise und versuche meine Zehen zu bewegen.

Ich starre auf die Scheune, den Lichtkegel, der durch die offene Tür fällt, und hoffe, dass ich nun endlich meinen Koffer in die Hände bekomme. Erleichtert atme ich aus, als ich die Umrisse von Lord Holzklotz, der aus der Scheune tritt, erkenne. Mit wenigen Schritten ist er neben mir, wirft mir einen vielsagenden Blick zu: „Sie sollten sich schleunigst umziehen. Mit den nassen Klamotten holen Sie sich auf dem Weg zurück zu Beth den Tod.“ Mir rutscht beinahe eine patzige Antwort heraus, ich besinne mich dann aber eines Besseren. Für meinen Geschmack hatte ich heute schon mehr als genug Auseinandersetzungen. Auf eine weitere kann ich gut und gerne verzichten.

Kommentarlos und mit meinem Koffer in der Hand geht er an mir vorbei in Richtung seines Hauses.

Mir bleibt also keine Wahl, als ihm zu folgen. Und dieses Mal schaffe ich den Weg, ohne den Boden zu küssen. Zurück im Haus schnappe ich meinen Koffer, den er achtlos im Eingangsbereich stehen lässt, während ich höre, wie er in der Küche mit Besteck hantiert. Ich habe noch nicht einmal den Griff meines Koffers in der Hand, da ruft er mir schon zu: „Zweite Türe links befindet sich das Gästebad.“

Mein Schnauben muss wohl so laut sein, dass er es selbst über das Besteckklappern hinweg hört. „Ein einfaches Danke würde schon genügen.“

„Danke“, flöte ich und verdrehe dabei die Augen. Jetzt nur noch schnell aus den Klamotten raus, frische an und dann ab zu Granny. Mit meinem Koffer im Schlepptau öffne ich die besagte Türe und schalte das Licht an. Ein wirklich schönes Badezimmer hat er da. Mit den hellen Wandkacheln, dem dunklen Fußboden, der - welche Freude auch - noch mit einer Fußbodenheizung versehen ist. Die Wärme spüre ich durch meine Socken hindurch.

Ich verschließe die Türe und schlüpfe schnell aus den nassen Klamotten. In Windeseile habe ich frische Sachen zum Anziehen herausgefischt und trete, in der einen Hand meinen Koffer und in der anderen meine alte Kleidung, vor die Türe. Nur um gleich darauf beinahe gegen Lord Holzklotz zu prallen. Erschrocken zucke ich zusammen, aber nicht, weil ich ihn beinahe berührt habe, sondern weil mir vor Schreck meine nassen Sachen aus der Hand gefallen sind, die sich nun, welche Schande, auf dem Fliesenboden verteilt haben. Und als Krönung liegt mein pfirsichfarbenes Höschen ganz oben drauf.

„Scheiße“, stoße ich aus, will mich schon hinunterbeugen, als ich sehe, wie sein Blick auf meiner Unterwäsche liegt. Dabei fällt mir auf, dass er nicht belustigt aussieht. Eher das Gegenteil ist der Fall. Stocksauer steht er da. Die Hände zu Fäusten geballt, und ich höre, wie sein Kiefer leicht knackt.

Okay, das war mir nun doch mehr als unheimlich. Jeder Andere hätte die Situation ignoriert, sich umgedreht, um mir ein wenig Würde zu lassen, oder so. Von ihm habe ich erwartet, einen blöden Spruch zu kassieren, aber nicht das. Ich muss weg und zwar schnell. Auch wenn Granny ihn kennt, weiß man nie, was für ein Psychopath er wirklich ist.

Kurz muss ich an Hannibal Lecter denken.

 

*Nate*

 

Dass die Kleine ein wandelndes Chaos ist, war mir von Anfang an klar. Aber dass sie mit Unterwäsche um sich schmeißt bei einem völlig fremden Mann, in einem einsamen Haus, das war nun doch zu viel des Guten. Der Rotschopf kommt aus London. Dort kriegt man doch mit, was in der Welt passiert. Erst steigt sie mitten in der Nacht zu einem Fremden ins Auto, dann geht sie alleine zurück und … Vielleicht sollte man ihr vor Augen führen, wie naiv sie ist.

Suzie hätte so etwas niemals gemacht!

Gerade scheint auch der Rotschopf zu verstehen, dass die Situation mehr als nur unangenehm ist. Mit großen Augen weicht sie von mir zurück, bis fast an das Ende der Badezimmertüre. Ich möchte ihr gerade zum wiederholten Male die Meinung geigen, da kapiere ich, dass sie Angst vor mir hat. Eigentlich sollte ich darüber froh sein. Durch meine ruppige Art halte ich die Leute bewusst auf Abstand. Aber dass jemand wirklich Angst vor mir hat, ist neu.

„Ich … ähm … gehe dann wohl mal. Granny macht sich bestimmt schon Sorgen. Und wir wollen ja nicht, dass sie die Polizei ruft.“ Ihr Blick ist fest, aber ihre Stimme verrät ihre Angst, als sie hinzufügt: „Oder?“ Diese unterschwellige Drohung von einer Person, die mir nur bis zu den Kniekehlen reicht, amüsiert mich unpassenderweise. Mut hat sie, das muss ich ihr lassen.

„Hören Sie, ich glaube, wir haben heute beide einen schlechten Tag erwischt“, lenke ich ein. Obwohl Beth den Namen ihrer Enkelin schon erwähnt hat, scheint es mir doch angebracht, uns noch einmal richtig vorzustellen. „Vielleicht sollten wir erst mal damit anfangen, uns vorzustellen. Mein Name ist Nate.“ Ich bleibe an Ort und Stelle stehen und strecke ihr die Hand entgegen. Wie ein scheues Reh mustert sie mich eine Zeitlang. Ihrem Gesicht kann ich regelrecht ablesen, wie es in ihr arbeitet. Dann hat sie sich offenbar entschieden: „Ich heiße Hope.“ Sie schüttelt kurz meine Hand und ich bin überrascht, was für einen starken Händedruck dieses kleine Persönchen hat.

„Das ist nett von Ihnen. Ich hoffe, die Straßen sind bald wieder passierbar. Und selbstverständlich werde ich Sie für Ihre Mühen entschädigen.“ Sie sammelt in rasanter Geschwindigkeit ihre Unterwäsche zusammen und verstaut sie mit ihren nassen Sachen in ihrem Koffer. Ich will in einem Anflug von Hilfsbereitschaft den Koffer ergreifen, um ihn für sie zu tragen, da fährt sie mir dazwischen: „Danke, aber ich will Ihre Gastfreundschaft nicht noch mehr strapazieren.“

„Ihre Grandma versteht sich auch blendend mit Balu. Was aber wahrscheinlich daran liegt, dass sie ihn heimlich mit Würstchen füttert, wenn sie glaubt, dass ich es nicht mitbekomme.“

„Was meinen Sie mit wow?“, hake ich nach. „So überraschend ist das nun auch nicht. Ich meine, Sie kennen doch Beth. Sie füttert jeden so lange, bis er kurz davor ist zu platzen.“

Die Tür schließt sich hinter ihr. So komme ich auch nicht in die Verlegenheit, mein Grinsen vor ihr verstecken zu müssen.

„Es hat schon seine Gründe, warum wir zwei hier alleine leben. Nicht wahr, mein Großer?“ Balu drückt sich an mein Bein und leckt über meine Hand, mit der ich ihn streichele. „Na komm, dann lass uns mal schauen, was Beth uns Leckeres zubereitet hat.“ Die Aussicht, endlich etwas Essbares zu mir nehmen zu können, hellt meine Stimmung ein klein wenig auf.

Operation Putzfrau