Einleitung
Es war im Jahr 2001. Ich saß in einem Erdloch, meine Hand- und Fußgelenke waren zusammengebunden. Ich hatte eigentlich keine Angst, denn die vielen Jahre des Missbrauchs hatten mich gegenüber Gefahren unempfindlich gemacht. Vielmehr hatte ich mein Leben aufgegeben. Ich sah keinen Sinn mehr darin. In der von mir akzeptierten Realität war mein Leben eine Folterkammer, aus der ich niemals lebendig entkommen würde.
Als ich in die Grundschule ging, geriet ich ins Visier eines Bekannten meiner Familie; er war ein Psychopath, was meine Eltern nicht wussten. Nach außen präsentierte er sich als geachtetes, führendes Mitglied der Gemeinde und als Gesundheitsexperte, aber er hatte eine viel dunklere Seite. Er nahm an Sektenritualen teil, was nur wenige Leute wussten. Er wurde zu meinem Mentor und hatte freien Zugang zu mir. Meine Eltern vertrauten ihm und hatten keine Ahnung, dass er mich quälte. Sie sahen zwar die roten Warnflaggen, aber sie missverstanden sie. Mein Peiniger drohte damit, meine Familie umzubringen, wenn ich es jemals wagen sollte, jemandem zu erzählen, was er mit mir machte, und ich wusste, er war zu einem Mord fähig. Dieser rituelle Missbrauch dauerte dreizehn Jahre lang an.
Ich verbrachte viel Zeit in diesem Loch im Boden sitzend, genannt »der Raum des Geistes«; es war gerade einmal groß genug für eine sitzende Person. Das Loch wurde von einem zusammengenagelten, verwitterten Holzgitter verdeckt. Im Sommer war der Boden von Brennnesseln überzogen; das war seine Vorstellung eines »geistigen Trainings« für mich. Bevor ich in dieses Loch gebracht wurde, wurde ich meistens nackt ausgezogen und mir wurden Hand- und Fußgelenke zusammengebunden. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er mich da drinsitzen lassen wollte, und wusste auch nie, ob er womöglich beschlossen hatte, mich auf immer in diesem Loch einzusperren, mich umzubringen oder mich später am Abend zu meinen Eltern zurückzubringen.
Ich war so oft in diesem Höllenloch eingesperrt gewesen, dass es sich trotz der schmerzlichen Ungewissheit wie normal anfühlte. Ich hatte mich an das Leiden gewöhnt – bis auf eine Sache: Wenn ich in den »Raum des Geistes« gebracht wurde, war ich mit mir allein, und das konnte ich nicht ertragen. Ich spürte nichts als innere Leere, und noch schlimmer, es war ein vollkommen leerer Raum, dessen Ränder von Leid und Kummer gefärbt waren.
Jahrelang tat ich alles, um dieses Leid zu vermeiden und mich von dieser Leere fernzuhalten. Und eines Tages geschah es: Ich saß im »Raum des Geistes« und verspürte die bereits vertraute Verzweiflung. Doch dieses Mal war etwas anders. Ich erkannte: Wenn mein Gefühl der Verzweiflung in Bewegung war, dann war ich auf dem Weg zu einer neuen Emotion. Je mehr ich über die Verzweiflung nachdachte, desto klarer wurde mir, dass Bewegung auf etwas hin eine Bewegung hin zu etwas Gewünschtem und weg von etwas Nichterwünschtem ist.
Also fragte ich mich: »Was von dem, was in mir ist, will ich nicht?« Oder vielmehr: »Von was in meinem Innern bewege ich mich weg?« Und siehe da: Wie ich herausfand, hielt mich ein Gefühl der »Verzweiflung« von dem Gefühl vollkommener Hoffnungslosigkeit ab. Die Hoffnung zu verlieren ist das stärkste Gefühl der Ohnmacht in der Bandbreite menschlicher Emotionen. Ein Teil von mir war davon überzeugt, Hoffnungslosigkeit wäre gleichbedeutend mit Tod, und dieser Teil von mir hatte dieser Hoffnungslosigkeit widerstanden, um überleben zu können.
Ich könnte nun behaupten, an diesem Tag hätte ich mich dafür entschieden, mutig zu sein, doch in Wirklichkeit gab ich einfach die Hoffnung auf. Ich stand am Rand eines Abgrunds. Ich war emotional von fast dreizehn Jahren des Martyriums erschöpft. Die Hoffnungslosigkeit verfolgte mich wie ein Tornado überall hin, egal wohin ich rannte, und ich hatte es satt, davonzurennen. Ich wollte tot sein.
Und so machte ich genau das Gegenteil von dem, was ich sonst immer gemacht hatte: Ich drehte mich um und rannte geradewegs auf den Tornado zu. Ich beging emotionalen Selbstmord. Ich wusste nicht, was passieren würde, aber ich tat es trotzdem. Und mir stand eine Überraschung bevor.
Einen Augenblick lang versank ich in tiefem Elend und ärgsten Ängsten. Ich hatte das Gefühl, zermalmt, zerquetscht und zerbrochen zu werden. Ich holte tief Luft, und anstatt mich abzuwenden, ging ich tiefer, gab dem Gefühl die Erlaubnis, mich voll und ganz einzunehmen, als ob es einen guten Grund für seine Anwesenheit gäbe. Und schon bald fühlte ich eine große Leichtigkeit, eine Erleichterung, wie wenn Sonnenstrahlen in die Tiefen des Meeres dringen. Durch meine Entscheidung, in das Gefühl einzutauchen, löste sich die Angst vor dem eigentlichen Gefühl in Luft auf.
Ich sonnte mich eine Weile in diesem Gefühl der Erleichterung. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich nicht im Stich gelassen. An diesem Punkt hatte ich keine Ahnung, warum das, was ich da gemacht hatte, tatsächlich funktioniert hatte. Ich wusste nur, es hatte funktioniert. Und so probierte ich es immer wieder, fast immer, wenn ich mit einem unangenehmen Gefühl konfrontiert war, vor dem ich am liebsten davongelaufen wäre.
Schließlich schaffte ich es, dem Mann, der mir meine Kindheit gestohlen hatte, zu entkommen; danach versuchte ich jahrelang, mich zu heilen, versuchte zu verstehen, warum diese Technik, über die ich da gestolpert war, funktioniert hatte. Als mir klar war, wie ich mich geheilt hatte, erkannte ich: Das war ein Durchbruch, der die Welt verändern konnte.
Der Zeitpunkt hätte gar nicht besser sein können. So viele Seelen auf dieser Welt bedürfen der Heilung, und wie ich entdeckt hatte, beginnt alles damit, unsere Emotionen wirklich zu fühlen. Im Mutterleib haben wir Menschen Empfindungen aus der Welt da draußen wahrgenommen, noch bevor wir sie erblickten. Wenn wir als winzige Babys in dieses Leben treten, erfahren wir die Welt ausschließlich über unsere Wahrnehmung. Wir gehen durchs Leben und tragen den emotionalen »Ton«, die Klangfarbe unserer Kindheit mit in unser Leben als Erwachsene; das ist eine angelernte Schwingung, auf die wir aufbauen und die wir weiter ausbauen.
Wir lernen, mit anderen Menschen im Wesentlichen über diesen emotionalen Ton in Verbindung zu treten, was durchaus positiv ist, wenn der emotionale Ton unserer Kindheit ein positiver ist. Ist er jedoch negativ und schmerzvoll, dient diese negative und schmerzliche emotionale Verfassung als Filter, durch den wir die Welt als Erwachsene wahrnehmen. Sie ist das emotionale Grundtrauma, über das wir anscheinend nie hinwegkommen. Unser ganzes Leben lang versuchen wir, unsere »Störungen« zu beheben, aber leider mit nur wenig oder gar keinem Erfolg.
In meinem Fall machte ich fünf Jahre lang eine Traumatherapie mit verschiedenen Therapeuten, die auf rituelle Traumata spezialisiert waren. Ich unterzog mich den allerneuesten Therapien und den üblichen Vorgehensweisen und fand heraus, was funktionierte und was nicht.
Durch die traditionelle Traumatherapie lernte ich auch die Arbeit mit dem inneren Kind kennen, und das war für mich eine Offenbarung. Die dahinterstehende Theorie und Heilmethode beruht auf der Überzeugung, dass alle Menschen auf der Erde die Essenz des Kindes, das sie einst waren, in sich tragen. Im Laufe unseres Reifeprozesses wird ein Teil von uns erwachsen, der andere Teil dagegen bleibt ein Kind. Dieses innere Kind symbolisiert unser emotionales Selbst. Egal, ob wir in der Kindheit nun gute oder schlechte Erfahrungen gemacht haben – unser erwachsener Anteil wächst heran, obwohl er als Kind nicht alles bekommen hat, was er brauchte. Deshalb hält der erwachsene Anteil den Schlüssel zur Heilung in der Hand.
Während meiner eigenen Traumatherapie fühlte ich mich durch die Art und Weise der Arbeit mit dem inneren Kind nie ganz. Erst als ich schon als international erfolgreiche spirituelle Lehrerin tätig war, verstand ich voll und ganz, warum die Technik, die ich im »Raum des Geistes« entdeckt hatte, wirklich funktionierte und warum die Arbeit mit dem inneren Kind wirkte. Und noch wichtiger – und das ist der Knackpunkt – wie beides zusammenpasste.
Mir wurde klar: Ich hatte den heiligen Gral gefunden. Ich entwickelte einen Prozess, mit dessen Hilfe auch äußerst verletzte, zerbrochene Menschen wieder heil und ganz werden können. Zunächst probierte ich ihn an mir selbst aus, um ihn zu vervollkommnen, dann an meinen Klienten.
Ich wünsche meinen Lesern, dass sie das freudvolle Leben erfahren, welches nur denjenigen offensteht, die bereit sind, sich voller Mut auf die Reise nach innen zu begeben, ganz tief hinein, und diejenigen Aspekte ihrer selbst wieder zum Leben zu erwecken, die verloren gegangen sind. Wenn dieser Prozess jemanden heilen kann, der rituellen Missbrauch in vielerlei Form überlebt hat, kann er jeden Menschen heilen. Ich nenne diesen Ansatz den Completion Process.