Andreas Rostek
Andreas Rostek
Eine Novelle aus Zamość
edition.fotoTAPETA
Berlin
Tadeusz Rolke gewidmet
Zwar nicht viel, aber der Hund muss fressen jeden Tag. Irgend etwas. Gestern war es ein alter Knochen mit einem Stück daran, das einmal zu einem Fuchs gehörte. Es lag am Rand der Landstraße, ein Geschenk der schnellen Autos, die Raubvögel hatten es aus irgendeinem Grund liegengelassen. Das reichte gestern. Ein paar späte Sonnenstrahlen brechen durch und beleuchten das Fell des Hundes, ein feines Schimmern, fast durchsichtiges Silbergrau hier und da. In dem Licht kommt er zu einem Haus ein Stück abseits der Landstraße. Der Weg dorthin Sand, wie der Sand in den Böden um das Haus. Nicht mehr als zwei Räume, geduckt unter einem Wellblechdach, links davon ein Bretterverschlag als Stall, rechts eine Scheune, größer als das Haus, mit reet– gedecktem Dach, Schilfenden ragen auch aus dem Fachwerk heraus. Gegen die Ärmlichkeit der Hütten wehrt sich nur ihre Anordnung, im Winkel eine zur anderen, so bilden sie den Hof. Eine Form, ein Gedanke, lange vor der Ärmlichkeit. Langsam nähert sich der Hund, kein Gebell, kein eifersüchtiges Kläffen, kein Verteidiger für den ärmlichen Flecken. In dem Licht sieht der Hund munter aus, keck, er weiß das, er muss nur den Kopf leicht heben, die Ohren locker wippen lassen, den Schweif ein wenig spielen lassen im Wind. So sieht ein freundlicher Hund aus, arglos, unbedarft, so nähert er sich dem Hof. Manchmal hat er Glück, den Geruch vom Kochherd in der Nase. Nur keine hündische Geste jetzt, nicht den Kopf beugen, nicht den Schwanz zwischen die Hinterläufe klemmen, das verlockt nur, zum Stock zu greifen, den Stein in der Hand zu wiegen und zu prüfen auf seine Eignung zum Wurf, es reizt nur zur schnellen, flüchtigen Gemeinheit.
Manchmal hat er Glück. Eine Alte schlurft in viel zu großen Latschen über den Hof, einen Blecheimer mit dampfendem Brei am Arm. Der Hund macht noch einige Schritte auf sie zu, bis er sieht, dass sie ihn bemerkt, kratzt mit einer Pfote zögerlich am Boden, spielerisch, macht noch einen Schritt, kratzt wieder. Mit der Rechten hebt die Alte eine Kelle, nein, keine Drohung, sie fährt damit in den Eimer und klatscht etwas vom dampfenden Inhalt auf den Sandboden. Der Hund macht sich über den groben Brei her, Kartoffelschalen, ein Gestank von verkochten Knochenresten. Die Alte schlurft weiter, wendet sich noch kurz um und sieht auf den Hund als versuche sie, sich zu erinnern. An was? Als sie in dem Stall verschwindet, hört der Hund noch das Scheppern von Kelle und Eimer und aufgeregtes Quieken und Grunzen. Er frisst hastig, die Ohren gespitzt, das dauert nicht lange. Der Eimer lässt noch ein Zittern hören wie ein kaputter Gong …
Und laufen, laufen. Laufen entlang der Landstraße, ein Traben, dann und wann ein langsamerer Schritt, und wieder traben, weiter laufen. Die Richtung zu halten ist leicht, immer am Rande der Grasnarbe, Stunde um Stunde, die Augen gegen einen spitzen Regen leicht geschlossen, blinzelnd, der Blick auf irgendeinen Punkt in drei, vier Metern Entfernung, der läuft mit, der Punkt. Es kommen jetzt mehr Autos, mehr als früher. Und immer zu schnell, ein Zischen auf dem feuchten Asphalt und wieder und noch einmal, schnell, als ginge es um ihr Leben. Da fehlt noch die Gewöhnung, der sichere Zugriff, zu neu, auch das. Seltener jetzt Pferdewagen, grobe Karren mit schweren Tieren. Die schnauben nur, kein Zischen, denen muss er nicht ausweichen.
Ein Hund läuft die Landstraße entlang, die von Lublin nach Zamość führt. Ein alter Weg, eine uralte Bewegung. Zielstrebig läuft er, als gebe es da ein Ziel, als sei da nicht nur die Straße und die unsichere Linie der Grasnarbe als Parallele zu irgendeinem Weg. Parallelen treffen sich nirgendwo. Oder? Die hier führen nach Zamość. Der Hund folgt der Richtung und weiß von vielen, die demselben Weg gefolgt sind. Er weiß so etwas. Eine Art von besonderem Gedächtnis, ausgestattet mit Tönen, Bildern, Worten, Orten, Wegen, Begegnungen. Mit allem. Aber nicht einfach abrufbar, es lässt sich nicht abrufen, es ruft sich selbst ins Gedächtnis, es wird erinnert, erinnert wird das Gedächtnis anderer, das Gedächtnis anderer ruft sich ins Gedächtnis.
… der Eimer also. So etwas weckt dem Hund eine Erinnerung. Ein Eimer, ein Ton, ein Wort, irgendwas. Sie rufen das Gedächtnis anderer auf. Kurz wie ein Blick zurück, kürzer noch, wie ein Blitz, so geraten dem Hund dann manchmal die Bilder durcheinander. Jetzt ist es ein Dackel, der Dackel und ein Junge, dunkles Haar, kurzer Schnitt, abstehende Ohren …
*
Es gab nur einen Dackel in der Straße, keine Straße für solche Hunde, das Fell zwar geschoren wie beim Rauhaardackel, aber doch weich, so überraschend weich, wenn der Junge es die Finger streicheln ließ. Der Eimer landete mit diesem nachklingenden Zittern auf dem Steinboden im Hof, der Dackel zuckte zusammen, von der Hauswand kam das Zittern zurück, unsicher, gebrochen an den verrußten Backsteinen, die einmal rot waren. Die Straße hieß zwar nach dem Wasser, aber die Mauern hier hielten es mit dem Ruß und der Kohle. Da war das Wasser machtlos. Und auch der Himmel wollte plötzlich düster werden, wie die Wände der Häuser. Der Junge kniete sich hin und sammelte die Kartoffeln in den Eimer, der Boden drückte ein raues Muster in die Knie. Neben ihm der Hund, erst stehend, dann ließ auch der sich nieder, der Kopf auf den kurzen Läufen, ruhig. Der Junge holte die Kartoffeln wieder aus dem Eimer, eine um die andere, und in seinem Alter versteckten Zahlen noch Muster und Geheimnisse und Geschichten, die ließen sich bewegen mit den Kartoffeln. Eine Kartoffel nach der anderen nahm er, eins: ein Berg, darin das Bergwerk, die Zwei: der gerade Weg, drei: ein Rund, vier: das Vieh kommt von den Ecken, fünf: eine ägyptische Hexe, versteckt in der Mitte, sechs: das Signal für die Schiffe auf der Ruhr …
Und plötzlich Pfiffe, auch sie hatten ihre Zahlen, erst einer, dringlich, dann zwei kurze, dann dreimal zwei. Die Kartoffeln in den Eimer! Und laufen! Sie galten nicht ihm, die Pfiffe, das wusste er, er rannte trotzdem. Ein Auto war vorgefahren, selten genug, Türen sprangen auf, dann von weitem die Pfiffe. Und wenn die Pfiffe ertönten, dann musste jemand rennen, fortlaufen, sich verstecken, sich in Sicherheit bringen. So viel Sicherheit wie die Dachböden über den dicht an dicht stehenden Häusern geben konnten. In den Häusern mit den verrußten Wänden wohnten die Roten, die mussten gewarnt werden, die mussten versteckt werden und in Sicherheit gebracht.
*
Als das Jahrzehnte später erzählt wird, war ein Spitz dabei, nicht mehr der Dackel. Und der Junge, der es da hörte, Jahre später also und zusammen mit dem Spitz, erzählte es später wieder weiter, in Hamburg. Und er wollte es gerne glauben. Aber immerzu hatte irgendwer irgendwen versteckt. Nicht nur in der Straße, die nach dem Wasser hieß. Dort, wo polnische Silben noch wie selbstverständlich geklungen hatten, vertraut wie der eigene Name. Und doch war der eine gen Westen gegangen, die Geschichten der Zahlen hatte er längst vergessen und aus den Zahlen bald Nummern und Maße, Koordinaten und Kaliber gemacht. Und dessen Bruder ging gen Osten. Sicher, beide wurden geschickt … Aber auch der Bruder kam doch über die Straße zwischen Lublin und Zamość.
Das müde Knarren und Knacken neben ihm, wieder ein Pferdewagen. Der Hund fällt in langsameren Tritt. Neben ihm rollt und rumpelt das Rad, die Radnabe noch höher als sein Kopf, die Planken der Karre darüber nimmt er aus dem Augenwinkel wahr. Dornengesträuch zwängt sich zwischen den Planken hindurch. Der Karren ist beladen mit totem Buschwerk, von dem fallen Tropfen.
Was also nun? Nun die Rosen … Und die Erinnerung dazu?
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Das war in Paris, ist es 300 Jahre her? Solange sich Rosen erinnern können, ist nie ein Gärtner gestorben. Der sprach in schönen Sätzen, Fontenelle, ein langes Leben auf der Suche nach einer Vernunft, nach Argumenten, gegen die Freuden der Selbsttäuschung. Die Gesetzmäßigkeit in der Natur? Auch nur menschlicher Glaube. Schrieb er. Er überlebte alle seine Hunde, auch den, der geduldig immer wieder und erwartungsvoll den Kopf hob, wenn Fontenelle die Sätze laut sprach, bevor er sie hinschrieb, in seine Vielzahl der Welten. Und dieses scharfe Kratzen der Feder … Unangenehm, noch in der Erinnerung.
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Ein letzter voller Windstoß hat den Regen mit fortgerissen. Wie Tau bleiben feine Tropfen auf seinem Fell. Unvermittelt stolpert der Hund aus dem Trab in einen kurzen beweglichen Halt, streckt die Beine, schnell, eines nach dem anderen, schüttelt den Kopf, dann den ganzen Körper, schnell, flüchtig und schnell, Welle und Kreisen gleichzeitig, und das Nass spritzt von ihm. Ein kurzes Zittern noch und der Hund setzt seinen Lauf fort. Wäre nicht die Bewegung, das schräge Vorwärtstreiben, dabei das Wippen der halb nur stehenden Ohren, die Farbe seines Fells verschwände fast gegen das müde Grün und Grau und Braun am Straßenrand. Jetzt fährt der Wind durch das Fell, und mit dem Wind kommen ein paar Sonnenstrahlen. Kurz leuchten da die Farbstreifen auf dem Asphalt, Parallelen im Gesichtsfeld des Hundes, einen Augenblick lang schärfer als grau.
Auch das. Die Geraden. Und gar als Parallelen …
*
In Göttingen war ein Hund, groß, schwarz, und obgleich ein überaus ruhiges Tier, doch nach einer Weile bei dem Wort zusammengezuckt. Jedes Mal, er spürte die Mühe seines Herrn. Die Geraden hebelten eine ganze Welt aus den Angeln. Wohl hatte auch der Hund etwas in der Art vor Augen, er brauchte sie ja nur zu öffnen: Holzdielen, ebenmäßig geschnitten, immer der gleiche Abstand, die Fugen bildeten dichte saubere Linien, eine schöne Arbeit. Aber diese Geraden waren begrenzt, sie endeten an der Wand. An der Wand, verdeckt von Büchern, endete das Zimmer des Observatoriums. Und darin Gauß, und der mühte sich ab genau mit solcherart Begrenztheit. So mochte es dem Hund erscheinen. Und wahrlich nicht nur Gauß und nicht nur hier und nicht erst jetzt. Warum auch hatte Euklid seinen Satz gerade so formuliert? Schon er, schon damals. So verquert? Von Parallelen zu reden, ohne sie zu nennen. Was war das? Angst vor der Unendlichkeit? Oder wusste er, dass er etwas nicht wusste? Jahrhundertlang war da keine Frage. Unmöglich. Wenn überhaupt, vielleicht, eine Frage der Schönheit. Da hatte Schönheit noch mit Wahrheit zu tun und Wahrheit mit Schönheit. Der Plan Gottes.
Aber die Unendlichkeit? Was passiert dort? Ja, doch, auch Euklid hatte davon gesprochen, gleich in seinem zweiten Satz, nicht im fünften. Jede Gerade kann unendlich weiter gezogen werden. Aber zwei? Was passiert denn mit den zwei Geraden? Gut, sie bleiben, was sie sind, einfache Geraden, nicht Parallelen, müssen sich also treffen – aber wo? Wo treffen sie sich? Eben. Und wenn es doch Parallelen wären? Wie erginge es denen dort, im Unendlichen?
Längst hatte sich der schwarze Hund damit abgefunden, dass Gauß zwar da war, aber nicht da für ihn. Was sollte er auch erwarten? Der Hund versuchte anfangs noch, sich bemerkbar zu machen, er zerrte Bücher aus dem Regal, irgendwelche, immer die falschen, dann kratzte er noch manchmal auf den Holzdielen, entlang der Linien, dann war auch er einfach nur noch da. Gauß arbeitete. Seit Plato galt die Geometrie als der schönste Beweis für die Möglichkeit sicheren Wissens. Und woran zerbrach das schöne Bild? An den Euklidischen Parallelen. Gauß wusste es schließlich, das wusste der Hund, und er wusste auch, sein Herr fürchtete, sich lächerlich zu machen.
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Der Hund verlangsamt seinen Lauf. An der Straße von Lublin nach Zamość steht ein Haus, nicht viel mehr als ein Schuppen, Schaufenster, Tür, Flachdach, hinter dem Glas des Schaufensters Gitter, dahinter eine vergilbte Gardine. Draußen in neuer Farbe das Schild, zu groß für den kleinen Bau verdeckt es Teile des Fensters und noch eine Ecke der Tür: Kawiarnia. Der Hund hebt die Hinterpfote und pinkelte an den Laternenpfahl neben dem Haus. Auch in solchen Momenten geraten ihm zuweilen die Erinnerungen durcheinander, die Nase an dem Pfahl … die Pissmarken dort, zwei, drei Hunde aus der Gegend, einer von denen wird es nicht mehr lange machen. Und dann Marke und Nachricht, die er selbst hinterlässt, und wofür eigentlich …. So viele schon, unnütz, auch das. Er ist unterwegs, er wird doch weiterlaufen. Aber noch … ein einzelnes Bild, ein weiteres Bild, deutlicher plötzlich, der Pfahl war es … Wie kommen Peitschenlampen hierher? Und wieder der Blick auf die langen Linien der Straße …
Aber die Peitschenlampen … Das war der Spitz und mit ihm ein Junge, blond, kein kleiner Junge mehr …
*
Ein bißchen was von einem Spitz jedenfalls, aber runder, zu braun das Fell. Der hatte seine ersten Jahre in einem Keller verbracht, angekettet meist, und wenn überhaupt draußen, dann angekettet auch dort. An die Peitschenlampen. So hatte der Hund seine Gründe für die Abneigung gegen solcherart Lampen. Aber der Junge, mit dem er nun draußen war, mit dem er jetzt endlich laufen konnte, ohne die Kette, woher kam dessen bitteres Gefühl? Aber was heißt da Junge. Der hätte sich bedankt, fühlte sich längst erwachsen, bestimmt schon seit ein, wenn nicht zwei Jahren, klar, jetzt blickte er durch …
Da war für die stille, anmaßende Bodenlosigkeit, die manchmal mit dem Bild der Peitschenlampen durch die Augen einsickerte an Stellen, die er nicht kennen wollte, da war für so was kein Platz mehr. Es blieb ein Gefühl von Grau, eine erstickte Aufforderung wegzulaufen, und er konnte sie nicht hören, und er wusste nie wovor. Bodenlos. Dabei standen sie da, Asphalt drumherum, der Hund pisste sie an, viel zu groß für die Vorstadtstraßen, und der Schwung des Masts kam sich so modern vor, ausgreifend, und doch standen sie da, als seien sie zusammengesackt, auf der Flucht in die Weite, unter dem Gewicht des Himmels. Grau. Misslungene Geraden.
Der Spitz wusste ein bisschen mehr, er spürte ja manchmal den anderen nach, der Junge war ja nicht allein. Der Hund, auch er, hörte noch längst beendete Monologe am Straßenrand …
–Früher, wenn sie wegfuhr, habe ich geweint. Jetzt muss ich weinen, wenn sie kommt. Gott, so was darf man ja nicht mal denken, über die eigene Mutter. Hat’s die doch verdammt schwer, Witwe, Kriegerwitwe so jung, und nun schon seit Jahren. Aber das lässt sie mich auch spüren. War schon gut, dass ich weg bin. Und wie die Sonne scheint! Kommt ja hier auch nicht immer vor. Und die gucken mir doch schon wieder nach. In der Sonne sehen selbst die Halden irgendwie gut aus. Das Schwarz … Und daneben das Grün. Jetzt haben sie hier auch asphaltiert. Ist ja auch bequemer mit Kinderwagen. Der sieht auch schon ganz vergilbt aus. Dauernd dieser Ruß … Da nützen abends auch die neuen Lampen nichts. Bogenschwung, haben sie gesagt. Na … Diesig ist es abends trotzdem. Aber ich komm’ ja abends eh nicht raus. Und alleine?! Schon wieder einer. Der hätte mir doch glatt in die Augen geguckt. ‚Der Frühling kommt die Bäume schlagen aus …‘ Gar nicht so einfach, diesen Blümchenstoff richtig zusammen zu nähen. Und wenn ich bald womöglich auch so dicke Arme krieg’ wie Mutter? Aber schöne Beine, das sagen sie alle. Was heißt schon alle?! Dass sie aber auch keine Ruhe geben kann, immer stichelt sie an ihm herum. Aber er ist ja selbst schuld. Der kriegt ja auch die Zähne nicht auseinander. Gott, wenn das Bübchen auch mal so wird. Nie das richtige Wort zur richtigen Zeit. Um des lieben Friedens willen. Immer. Statt mal auf den Tisch zu hauen. Und hinterher krieg’ ich es von beiden ab. Ist doch auch zum Heulen. Und die Kerle dort? Immer eine große Klappe. Und schon wieder ein Pfiff. Klar, von ihrem hohen Gerüst aus. Da haben sie ein vorlautes Organ. Aber wahrscheinlich noch nie ein Buch zwischen den dicken Fingern gehabt. Aber wann komm’ ich schon noch zum Lesen. Nicht mehr so wie früher. Das wird auch wieder anders. Und für den Kleinen sowieso. Das war doch schön früher. Wenigstens das. Alle zusammen und lesen, und dann allein noch im Bett, lesen … So wie ein Schlager heute, manchmal. Na ja, Capri … Aber schön wär’ das. Weit weg … Der Junge sieht ganz anders aus. Da haben die doch im Krankenhaus gesagt: das rote Jüngelchen mit dem ausgeprägten Näschen. Klar, war ich empört. Aber so ganz falsch lagen die nicht. Aber das ist ja vorbei … Und der soll mal so alt werden wie ich jetzt? Und dann bin ich neunundvierzig. Aber dann anders! Neunundvierzig! Und wenn er mal so alt ist, dann wäre ich? Dreiundsiebzig. Ja klar, und Kaiserin von China. Jetzt wacht der doch schon wieder auf …
Solche Stimmen. Ständig. Der Hund hörte sie. Der Junge hörte sie nicht, und doch nahm er sie auf, später, so wie er einen Stein sah, dort rechts zum Beispiel in der Mauer, auf dem Weg zur Schule, jeden Tag. Oder die Peitschenlampen, die nur noch irgendwie in den Blick gerieten, wie ungesehen, wie Nebel. Das Grau vereinnahmte die Lampen. So sah er das. Verstecktes Wegbeugen, falscher Schwung. Dagegen … wie klang das dagegen: Parallelen sind Geraden, die sich im Unendlichen treffen. Manchmal lernte man etwas in der Schule. Fürs Leben. Doch. Kein Grau in dem Satz, eher Licht, spitzes Licht. Ein Versprechen. Aber dass auch dieser verhuschte Englischlehrer davon weiß! Der mit seinen roten Adern im Gesicht und dem albernen roten Spitzbart. Der Mann versteckt was. Warum kommt der sonst plötzlich daher mit diesem Gedicht, und noch dreihundert Jahre alt … As lines, so loves oblique, may well / Themselves in every angle greet/ But ours, so truly parallel, / Though infinite, can never meet. Man muss weg hier! Bloß weg! Aber das dauert. Also wohin damit? Und noch anderthalb Jahre! Wenn nicht mehr. Aber dann … Berlin. Hamburg. Wenigstens das, dorthin …
*
Ja, doch, auf der Landstraße nach Zamość weiß der Hund auch das. Sein Gedächtnis als Gedächtnis anderer, Erinnerung der Erinnerung. As lines, so loves oblique … Der Hund weiß selbst von dem albernen Hündchen des Dichters Marvell. Das Tier hieß Andrew, wie sein Herr. Und der Hund schüttelt sich wie des Dichters albernes Hündchen Andrew sich schütteln musste, wenn dessen Stimme wieder und wieder halb erstickte, an eigener Inbrunst …
Der Hund schüttelt sich und unterbricht seinen Lauf noch einen Moment, kratzt sich unter der Schnauze, die Bewegung der Pfote endet wie unschlüssiges Rudern in der Luft, so wird manchmal aus der Erinnerung Verlegenheit, hilfloses Hin und Her in der Verknüpfung der Erinnerungen, die alles lässt wie es war, wie es ist. Er pisst kurz an einen Randstein, der war einmal weiß, und er läuft weiter.
Die letzten Sonnenstrahlen leuchten weite Felder zwischen Wolkenstreifen aus, die Unterseite der Wolken schon tiefgrau, ihre Ränder in der Höhe noch scharf und strahlend. Das verglimmt, erst unmerklich, dann schneller. Grau bleibt zurück, vermischt mit mattem Blau, und das Grau wird mächtiger. Auf einen schmalen Betonstreifen längs der Landstraße fällt dünnes weißes Licht von der Höhe eines Betonpfeilers, fleckiger Beton, ein eckiger Pfeiler, darüber der Lampenschirm zu klein für die Höhe des Pfeilers, ein verschmierter Glasrand, steif nach unten weisend unter dem Blechdeckel. An der Bushaltestelle wartet ein Mann. Von weitem schon sieht ihn der Hund, er sieht, wie der etwas vor dem Gesicht hält mit beiden Händen und ruhig. Der Hund läuft auf den Mann zu, langsamer jetzt, bis er in den Lichtschein der Lampe gerät. Dort hört er ein leises Klicken, er bleibt stehen, sieht auf den Mann, setzt sich, eine kleine Bewegung vor dem Gesicht des Mannes, wieder ein Klicken. Der Mann fotografiert den Hund. Der Hund sieht auf den Mann, ziellose Beobachtung, ruhiges Schauen. Er sieht einen kräftigen kurzen Regenmantel, der einmal grün gewesen sein mochte, abgewetzt an den Ärmeln, eine Cordhose, oft getragen auch die, und braune Schuhe, die an den Zehen leicht nach oben weisen, kräftig geputzt, aber mit Flecken und alten Kratzern unter dem hergeputzten Glanz. Dichtes graues Haar fällt dem Mann fast bis über die Ohren, das Gesicht schmal, mit scharf geschnittenen Falten. Aber eigentümlich runde Augen in dieser Länge des Gesichts, stille Augen, ein ruhiger Blick. Den Fotoapparat steckt er jetzt in einen Lederbeutel, und an der Bewegung erkennt der Hund den Fotografen. Er kennt auch seinen Namen, Tomasz. Der Fotograf erinnert sich nicht an den Hund, er mustert ihn nur still und aufmerksam. Der Hund läuft auf den Blick zu, neben dem Mann bleibt er stehen und schaut in die Dunkelheit. Tomasz hält ihm die Hand hin, das ist nicht mehr nötig, bereitwillig lässt sich der Hund kraulen ohne weitere Prüfung, hinter dem Ohr, unter der Schnauze. Er steht dort und schaut in die Dunkelheit.
Sie waren durch Warschau gelaufen, Tomasz mit Fremden, der Hund hinterher. Vor gar nicht so langer Zeit, aber Tomasz erinnert sich nicht daran, oder er übersieht auch hier etwas, er erinnert sich nicht an Hunde, er erinnert sich an Gesichter, sagt er. Und an Zahlen, Tomasz spielt mit Zahlen.
– Jetzt bin ich sechzig. Vor fünfzig Jahren war ich also zehn. Fünfzig minus zehn macht vierzig, und hier: die Hausnummer vierzig, im Jahr einundvierzig. Da stand das Haus auch schon hier, oder nein, nicht ganz, nicht: auch schon. Schon einmal. Es war das gleiche Haus, aber nicht dasselbe. Es war zwischendurch nicht da.
Vom Schloss her waren sie gekommen, die Krakauer Vorstadt entlang, dann durch Nowy Świat, bis zur Hausnummer vierzig. Tomasz wies auf die gelbe Fassade. Die Fugen im Putz taten, als rührten sie von großen Quadern her, zu groß für das Haus. Trotzdem hielt die Fassade ihr einfaches Gleichgewicht, drei Fenster zur Linken, eine Doppeltür zur Rechten mit runden Torbögen, früher eine Durchfahrt. Früher. Aber dem Blick der fremden Gäste fehlte etwas, nur eine Kleinigkeit fehlte zum früher. Die Radrinnen auf dem Boden, die Spuren rollender Räder an immer gleicher Stelle, aus Jahrhunderten die Spuren der Bewegung von Lastkarren, Kutschen, Pferdewagen, die fehlten. Der Sockel des Hauses, sichtbar in der Durchfahrt, war nicht gemauert aus unregelmäßigem Stein. Stattdessen ein Streifen aus grob gemischtem Beton, er zeigte schon Risse. Tomasz ging drei Schritte in die Einfahrt hinein, drehte sich plötzlich um, kam zurück auf die Straße. Die Fremden setzten fragende Gesichter auf.
– Meine Großmutter, sagte Tomasz: Als ich zehn war, lebte sie in einem Haus, das so aussah wie dieses hier und an dieser Stelle stand. Sie war meine Verbindung zur jüdischen Küche. Eine jüdische Köchin. Nein, Halbjüdin. Das war ja wichtig, damals. Also bin ich ein Achteljude, langsam geht das gegen Null …
Tomasz unterbrach sich da selbst, einen Moment schwieg er.
– Und übrigens … treffen sich zwei Juden, und sagt der eine …
Jetzt sah Tomasz den Blick der Gäste aus Hamburg.
– Na gut, lassen wir das. Aber Sie wissen, warum diese Häuser jetzt wieder stehen? Meine Großmutter lebte damals seit fünfundzwanzig Jahren in der Straße. Und nehmen wir das Jahr siebzehnhundertfünfundneunzig, da war ja auch erst mal Schluss, die dritte polnische Teilung, also 1795 minus 25 macht 1770. Da war Canaletto hier, der Neffe des berühmten Canaletto aus Venedig. Eigentlich hieß er Bellotto, aber er malte auch, genau wie sein Onkel, vielleicht etwas düsterer, aber genauso exakt, und seine Bilder dienten keine hundertachtzig Jahre später als Bauzeichnung, auch für diese Ecke hier. Sehen Sie. Und übrigens: Schon fünfzehnhundertdreißig, da war König Zygmunt der Erste mit einer Bona Sforza verheiratet, aus Italien wie Canaletto, und beide hatten doch einen sichtbaren Einfluss auf das Bauwesen in Polen. Interessant nicht?
So ging das schon eine Weile. Und die Fremden fragten sich, warum genau das interessant sei. Es wurde kälter. Über den gelben Fassaden in Nowy Świat und über der gesamten Stadt lag ein tiefer Himmel, grau und weit, durchzogen von kaum helleren Streifen, wie das Bild irgendeines Meeres in einem undeutlichen Traum, und weit, als bedecke er ohne Ende das Land von Friesland, irgendwo bei Leeuwarden, bis Moskau, bis zur Wolga, auch in Kasan vielleicht. Der graue Himmel sah aus, als gebe es viel Platz hier. Mitten in der Stadt, vor dem Haus Nummer vierzig. Der Hund schnupperte am Torbogen, an der Mauerecke, die nun schon wieder mehr als vierzig Jahre alt war, lief weiter, schnupperte am Torbogen zum Haus Nummer vierundvierzig.