HINZMANN • DER WANDERER IM KARST
Der Wanderer im Karst
Joe Prohaskas zweiter Fall in Istrien
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Lektorat: Maria Sikora
ISBN 978-3-99047-059-6
Dies ist ein Roman. Die Handlung sowie einige Orte
sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Das tiefe Brummen eines Automobils kam immer näher. Bartolo schreckte aus dem Schlaf hoch, hob den Kopf vom Kissen und horchte. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte fünf Minuten vor zwei. Wer konnte es um diese Uhrzeit bloß sein? Vater vielleicht? Hatte er überlebt und kam jetzt wieder zurück? Oder war es die Polizei? Als der Wagen unten vor dem Haus hielt und der Motor verstummte, schlug der schmächtige Junge die Decke zurück, sprang aus dem Bett, ging ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig beiseite und sah hinaus. Der Vollmond leuchtete hell hinter einer Wolke, die wie ein riesiger Raubfisch über den Himmel zog. Der Wind pfiff um die alten Dächer, verfing sich in den engen Gassen und rüttelte an Klappläden, bevor er zur Küste davonjagte. Durch die Ritze am Fensterrahmen strömte eisige Luft ins Zimmer. Das Auto stand vor dem Haus schräg gegenüber. Der imposante Kühler und die Stoßstangen glänzten im Mondlicht. Bartolo erschauderte. Es war derselbe Wagen, ein Horch, den er schon einmal hier gesehen hatte, als vor etwa zwei Monaten ein junger Mann seine Mutter abholte. In ihrem hellbraunen Kostüm mit der weißen Bluse hatte sie wie eine Dame ausgesehen. Sie war sehr schlank, aber das waren nach dem Krieg fast alle. Sie war die schönste Frau auf der Welt, und wenn jemand in seiner Gegenwart eine blöde Bemerkung über sie machte, ballte er die Fäuste in der Hosentasche. Der Mann hatte sie am späten Abend zurückgebracht und war noch eine Weile dageblieben. Sie hatten von Amerika gesprochen und dass alles gut werden würde. Am nächsten Tag hatte Bartolo gefragt, wann sie sich endlich auf die große Reise machen würden, aber Mutter hatte nur gelächelt und gesagt, er solle sich gedulden, es dauere noch eine Weile, bis alles geregelt sei. Bartolo dürfe aber mit niemandem darüber reden. Doch das hätte er ohnehin nicht gemacht, schließlich war er kein kleines Kind mehr.
Zwei Männer stiegen aus. Der Fahrer schnippte seine Kippe weg, öffnete den Kofferraum und sah sich um. Bartolo rückte vom Fenster ab, und als er wieder hinsah, trugen sie eine Kiste, die in eine Decke eingewickelt war und wie ein Kindersarg aussah, zum Haus gegenüber. Der Vordermann drückte die Haustür mit der Schulter auf und sie verschwanden im Flur. Durch einen Spalt zwischen den Brettern am zugenagelten Fenster im Erdgeschoss war ein Lichtschimmer zu sehen. Sie hatten wohl eine Taschenlampe angemacht. Bartolo überlegte, ob er seine Mutter wecken sollte. Sie und Magdalena schliefen im Elternschlafzimmer nebenan, aber er ließ es bleiben. Sie würde sich nur unnötig aufregen.
Nach ein paar Minuten kam der Fahrer wieder aus dem Haus, zog die Tür zu und versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, aber der Wind war zu stark. Er ging zum Auto, öffnete die Fahrertür und setzte sich ans Steuer. Die Flamme des Streichholzes erhellte für einen kurzen Moment sein Gesicht. Das war doch der Mann, der ihnen nach Amerika helfen sollte. Jetzt startete er den Motor und fuhr davon, ohne die Scheinwerfer einzuschalten. Aber wieso ist der andere nicht mitgekommen, fragte sich Bartolo, als er wieder im Bett lag. Die einzige Erklärung konnte nur sein, dass etwas Schreckliches passiert war. Vielleicht haben sie sich gestritten und der Amerika-Mann hat seinen Kumpel angegriffen und womöglich umgebracht – erwürgt oder erstochen. Einen Schuss hätte Bartolo gehört, und dann wären auch die anderen Nachbarn aufgewacht. Oder er hat ihn schwer verletzt, danach natürlich die Nerven verloren und ist deshalb abgehauen. Oder war es von Anfang an geplant, dass sie sich trennen, dass der eine wegfährt und der andere dableibt? Vielleicht wohnt er hier. Andererseits, fragte sich Bartolo, warum zermarterte er sich überhaupt den Kopf darüber? Es konnte ihm völlig egal sein, was vorgefallen war. Hauptsache, die beiden hatten nicht mitbekommen, dass er sie beobachtet hatte. Was auch immer geschehen war, er konnte nichts daran ändern. Die Männer hatten nichts Gutes im Sinn gehabt, sonst wären sie nicht wie Diebe in der Nacht hergekommen. Wenn der zweite Mann jetzt tot war, dann war er eben tot, sagte sich Bartolo und wälzte sich auf die andere Seite. Wenn man tot ist, wird man begraben, aus, fertig, Ende. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Der Pfarrer hatte immer gepredigt, man solle nicht töten, man solle seine Feinde lieben, die Guten kämen in den Himmel, die Bösen in die Hölle und lauter solche Sachen. Aber Bartolo glaubte ihm kein Wort, das behielt er jedoch lieber für sich. Die Erwachsenen behaupteten oft irgendwelche Dinge, die sich früher oder später als Lüge herausstellten. Wer waren die Guten, wer die Bösen? Das stand niemandem auf der Stirn geschrieben. Jeder war doch gut und böse, je nach Stimmung und Situation. Sein Vater war das beste Beispiel dafür. Er konnte freundlich und lustig sein, und im nächsten Moment zu einer wütenden Bestie werden, die sich auf Mutter oder ihn stürzte, niederbrüllte und schlug, um später so zu tun, als sei nichts gewesen.
Am nächsten Morgen wäre Bartolo am liebsten rüber gegangen, um nachzusehen, ob irgendwo im Haus wirklich ein Toter lag und ob die Kiste da war. Aber er musste in die Schule, die vor einigen Wochen wieder eröffnet wurde. Ob in der Kiste Waffen waren, überlegte er, während er sich rasch anzog und nach unten ging. Seine Mutter stand mit Magdalena auf dem Arm am Fenster, und als er hereinkam, drehte sie sich zu ihm um und lächelte. Sie war blass und ihre Augen waren gerötet. Sie hatte also wieder geweint. Bartolo hätte sie so gern umarmt, aber Magdalena fing zu quengeln an. Also schluckte er den Kloß hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, zog den Bund seiner ewig rutschenden Hose hoch und ging zum Herd, um sich eine Schale warmer Milch zu holen. Dann setzte er sich an den Tisch, bröckelte eine Scheibe Maisbrot in die Milch und begann zu essen.
Seine Mutter schenkte sich eine Tasse Zichorienkaffee ein und setzte sich ihm gegenüber.
»Guten Morgen, hast du gut geschlafen?«
»Es geht so.«
»Beeil dich, damit du nicht zu spät kommst.«
Bartolo nickte. Er ging gern zur Schule, auch wenn es dort kalt und ungemütlich war, aber heute wäre er lieber daheim geblieben.
»Letzte Nacht ist ein Autounfall passiert.«
»Wo?«
»Unten in der Kurve. Der Wagen ist den Hang hinunter, hat sich mehrmals überschlagen und ist gegen einen Baum geprallt.«
»Und der Fahrer?«
»Er ist tot«, sagte seine Mutter tonlos.
»Was war es für ein Auto?«
»Ein Horch, sagen die Leute. Warum fragst du?«
»Nur so.«
Erst am späten Nachmittag schlüpfte er unbemerkt ins Nachbarhaus. Drinnen war es dunkel, kalt und unheimlich. Der schimmelige Putz schälte sich von den grauen Wänden, überall lag Staub und von der Decke hingen lange Spinnweben. Er stieg über die knarrende Holztreppe in den ersten Stock. Die Zimmer waren leer geräumt. Genauso im zweiten Stock. Er ging rasch wieder nach unten und in die Küche, in der ein massiger Esstisch stand. Die Wand um den großen Kamin war schwarz vom Rauch und Ruß. Über der Feuerstelle hing an einer verrosteten Kette ein Kessel. In der kalten Asche darunter lag ein verkohltes Stuhlbein. In der rechten Ecke neben dem Kamin stapelten sich kreuz und quer übereinander alte Latten und zwei kaputte Hocker. Bartolo stand mitten im Raum und betrachtete sekundenlang die Schuhabdrücke auf dem Boden, die die beiden Männer wohl in der Nacht hinterlassen haben. Die Tür, von der man aus der Küche auf die Veranda und über die Außentreppe in den Hof und den Garten gehen konnte, stand offen. Das Schloss war wie das an der vorderen Haustür kaputt. Der zweite Mann war durch diese Hintertür abgehauen. Von der Kiste fehlte jede Spur. Er wollte sich schon auf den Rückweg machen, als er neben dem Holzhaufen eine abstehende Diele sah. Als er ein paar Bretter weg schob und die Klappe anhob, kam der Haufen ins Rutschen. Vorsichtig räumte er die Bretter zur Seite und versuchte keinen Krach zu machen. Dann öffnete er die Kellerklappe, holte seine Taschenlampe aus der Hosentasche, knipste sie an und ging die unebene Steintreppe hinunter. In der Wand zur Gartenseite fiel durch die kaputte Scheibe des Kellerfensters ein wenig Tageslicht hinein. Der Raum war vollgestopft mit Krempel. In einer Ecke standen Weinfässer, ineinander verkeilte Eimer und Blumenkübel. Spinnweben bewegten sich im kalten Luftzug. An der gegenüberliegenden Wand rostete ein Fahrrad vor sich hin. Die schmale Kiste lag zwischen dem Fahrrad und einem Holzregal. Sie war mit einem Jutesack zugedeckt. Bartolo schob das Fahrrad zur Seite und zog den nach verfaulten Kartoffeln riechenden Sack herunter. Die Kiste war aus groben Latten zusammengenagelt und mit einer fingerdicken Schnur festgezurrt. Bartolo ging in die Hocke und löste den Knoten. Seine Hände zitterten vor Aufregung und Kälte. Als er den Deckel anhob und hineinsah, schreckte er zurück. In der mit Stroh gepolsterten Kiste lagen alle möglichen Gegenstände aus Gold und Silber. Essbestecke, Schalen und Kelche, Kruzifixe und Kerzenleuchter, die aus einer Kirche stammten, jede Menge in Zeitungspapier eingewickelte Halskettchen, Perlenketten, Ringe, Broschen, Armreifen und Taschenuhren. Bartolo traute seinen Augen nicht. Vorsichtig nahm er ein mit Edelsteinen verziertes Holzkreuz heraus und betrachtete es von allen Seiten. Allein das Ding musste ein Vermögen wert sein. Aber woher stammten die Sachen, und warum haben sie die Männer ausgerechnet hier versteckt? Wussten sie überhaupt, was in der Kiste war? Er legte das Kreuz zurück, machte die Kiste wieder zu und verknotete den Strick. Dann warf er den Sack darüber wie er ihn vorgefunden hatte, rannte nach oben, verteilte die Bretter über der Luke, verließ das Haus durch die Hintertür, sprang die Außentreppe hinunter, wobei er sich an den Zweigen des Wilden Weins, der am Geländer wucherte, die Hand zerkratzte.
Als er später im Bett lag, malte er sich in schönsten Farben aus, was er mit dem Schatz anfangen könnte. Natürlich, streng genommen, sollte er alles seiner Mutter erzählen. Und sie müsste es den Behörden melden. Doch das kam einfach nicht infrage. Das war jetzt sein Schatz. Er hatte ihn gefunden, er wurde ihm durch einen Wink des Schicksals zugespielt und versprach eine wundervolle Zukunft. Dumm nur, dass er ihn in der nächsten Zeit nicht anrühren durfte. Es würde sofort auffallen, wenn er versuchte, auch nur einen kleinen Ring zu verkaufen. Er wusste auch nicht, an wen er sich da wenden könnte. Wenn es heraus käme, was er gemacht hatte, müsste er auch sagen, dass er die zwei Männer gesehen hatte. Nein, er durfte niemandem etwas sagen, nicht einmal seiner Mutter. Außerdem musste er vorsichtig sein. Der Amerika-Mann war tot, aber der andere würde sicher zurückkommen, um die Kiste zu holen. Deshalb musste er den Schatz so schnell wie möglich woanders verstecken. Die Frage war nur, wo? Im ausgetrockneten Brunnen hinter dem Haus. Das wäre ein gutes Versteck. Oder sollte er ihn im Garten vergraben? Oder in ihrem Keller oder Stall? Aber die Gefahr, dass Mutter ihn dabei erwischte, war einfach viel zu groß. Dann endlich hatte er die allerbeste Idee. Er war mit seinem Großvater oft im Karst unterwegs gewesen, wenn sie ihre Ziegen hüteten und Heilkräuter sammelten. Als eines Nachmittags ein Zicklein plötzlich verschwand, fanden sie es in einem Erdloch, das man sehr leicht übersehen konnte. Es lag am Waldrand und war mit Buschwerk und Gras zugewachsen. Großvater war hinunter geklettert und hatte das Zicklein gerettet. Als er oben war, ermahnte er Bartolo aufzupassen, wenn er da unterwegs war. Es gab viele Erdlöcher in der Gegend, und wenn man in eine Jama oder Foiba wie die Italiener die Löcher nannten, hineinfiele, käme man nicht lebend heraus. Manche Löcher seien bis zu zweihundert Meter tief. Und dieses Erdloch da sei außerdem der Eingang zu einer großen Höhle. Er solle sich die Stelle gut merken.
Am nächsten Tag wickelte Bartolo einen Teil des Schmucks in ein Tuch, das er aus Mutters Schrank stibitzt hatte, stopfte das Bündel in seinen Rucksack und machte sich eilig auf den Weg. Als er das Erdloch fand, knipste er die Taschenlampe an, die er immer bei sich trug, kletterte hinunter und kroch durch den engen Höhleneingang. Der Boden war feucht, kalt und rutschig. Bartolo unterdrückte die Angst, die ihn immer mehr beschlich, je weiter er vorankam. Als er stehen konnte, suchte er die Felswand nach einer Vertiefung ab, die groß genug war, legte das Bündel hinein, ritzte mit dem Taschenmesser ein kleines Kreuz in den Stein und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
In den folgenden Tagen versteckte er so an weiteren Stellen in der Höhle den gesamten Inhalt der Kiste. Er markierte die Verstecke, die sich wie das erste in der Nähe des Eingangs befanden, weil er sich nicht traute, tiefer in die Unterwelt vorzudringen. Am Ende behielt er nur zwei unscheinbare haselnussgroße Edelsteine, die er nach Amerika mitnehmen wollte. Er legte sie in eine Streichholzschachtel, wickelte diese in ein Taschentuch und versteckte sie unter einer losen Bodendiele unter seinem Nachttisch.
Es war gut, dass er sich beeilt hatte, den Schatz fortzuschaffen, denn als er ein paar Tage später aus der Schule kam, sah er vor dem Kirchhof den zweiten Mann aus dem Nachbarhaus herauskommen. Er sah sehr wütend aus, als er in einen zerbeulten Jeep einstieg und davonfuhr. Danach war Bartolo tagelang auf der Hut und beobachtete auch nachts das Haus, aber der Mann kam nicht wieder.
Kurz vor seinem zwölftem Geburtstag verließ er mit Mutter und der kleinen Schwester Istrien für immer. Er ging mit einem kleinen Koffer in der Hand fort und schwor sich, eines Tages zurückzukehren und seinen Schatz zu bergen.
Eigentlich hatte Prohaska schon vor Wochen vorgehabt, eine Fototour in Zentralistrien zu unternehmen, aber dann war er mehr oder weniger unfreiwillig in die Ermittlung eines Mordfalls in Rovinj hineingeraten. Danach hatte er seinem Freund Ivo Horvat geholfen, die alte Einrichtung des Fotoladens in der Carrera abzubauen, damit die Renovierungsarbeiten beginnen konnten.
Heute Vormittag endlich hatte er sich auf den Weg gemacht, war über Žminj nach Pazin gefahren, wo er eine gute Stunde damit verbrachte, unzählige Aufnahmen von dem mittelalterlichen Kastell und der tiefen Schlucht zu machen, von der schon Dante und Jules Verne so fasziniert waren. Das Wetter passte auch, da immer wieder schwere blaugraue Wolken die Sonne verdeckten. Licht und Schatten wechselten sich ab und verliehen der Landschaft ein dramatisch düsteres Aussehen. Anschließend kaufte er sich ein Sandwich, trank einen Espresso und fuhr weiter Richtung Norden. Prohaska hatte wie immer ein Navi dabei, doch das Herumkommandieren der emotionslosen Frauenstimme ging ihm auf die Nerven, sodass er es in den seltensten Fällen auch benutzte.
Vielleicht hätte er es heute einschalten sollen.
Man hätte meinen können, er sei in der gottverlassensten Gegend der Welt gelandet, dabei lag die Küste nur eine knappe Stunde entfernt gleich hinter dem mächtigen Bergrücken der Učka, von wo man bei klarem Wetter einen wunderbar weiten Blick auf die Kvarner Bucht und die Inseln Cres und Krk hatte.
Vor etwa einer Viertelstunde war er vom Istrischen Ypsilon, der Schnellstraße, abgebogen und dann auf einer schmalen, kurvenreichen Straße weitergefahren. Sie mündete in einen holprigen Feldweg, der von knorrigen Eichen gesäumt in unzähligen Kurven entlang der Bergflanke hinauf führte. Hin und wieder passierte er verlassene Häuser und verschlafene Weiler, ohne einen einzigen Menschen zu sehen. Auf den schräg abfallenden Wiesen zu seiner Linken ragten hie und da weißgraue Felsbrocken aus der Erde.
Er hielt manchmal an, machte ein paar Fotos, und fuhr langsam weiter. Als er um eine enge Kurve bog, konnte er gerade noch auf die Bremse steigen. Ein paar Meter vor ihm trotteten unzählige Schafe über die Straße. Sie strömten aus einem hangarähnlichen Betongebäude, das sich etwa zweihundert Meter entfernt rechts von der Straße auf einer großen Lichtung befand. Ein schwarzer Hund rannte umher und dirigierte die Tiere in die gewünschte Richtung.
Prohaska schaltete den Motor aus, nahm die Kamera vom Beifahrersitz und stieg aus.
Durch den Sucher sah er den Hirten aus dem Hangar herauskommen. Der Mann pfiff ein paar Mal nach dem Hund und folgte der Herde. Prohaska zoomte ihn näher heran. Er war um die vierzig, vielleicht auch jünger. Sein Gesicht war schmal und braun gebrannt. Er trug eine gefütterte Militärjacke in Tarnfarben, Jeans und Wanderschuhe. Auf der Schildmütze prangte ein Ferrari-Logo. Über der Schulter hing ein Rucksack, um den Hals baumelte ein Feldstecher. Als er die Straße erreicht hatte, winkte er und kam auf Prohaska zu.
Er reichte Prohaska die Hand. »Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich bin Elvir.«
»Hallo, kein Problem«, erwiderte Prohaska und zeigte auf die Herde. »Ganz schön viele Tiere.«
Elvir grinste. »Hundertachtzig. Machen viel Arbeit, aber das ist okay.«
So wie der Mann die Worte betont, dachte Prohaska, stammt er aus dem Süden, vermutlich aus Makedonien oder Kosovo.
»Sehr schön hier und so ruhig«, sagte Prohaska.
»Ja, ja, außer man begegnet einem Wolf, dann ist es mit der Ruhe aus.«
Prohaska fingerte die Zigarettenpackung und ein Feuerzeug aus der Jackentasche und bot Elvir eine Zigarette an. Er nahm eine, Prohaska gab ihm Feuer und steckte sich selbst eine an.
»Einem Wolf? Bist du ganz sicher?«, fragte er, nachdem er einen Zug genommen hatte.
»Natürlich bin ich sicher. Erst heute Morgen war einer da, ist dann da drüben im Wald verschwunden.« Elvir zeigte mit seinem langen Stock zum Berghang. »Und er war nicht der erste Wolf, den ich in meinem Leben gesehen habe. Da wo ich herkomme, gibt es viele.«
»Woher kommst du denn?«
»Kosovo. Und du?«
»Rovinj.«
»Schöne Stadt. Ein Verwandter von mir hat dort eine Eisdiele gleich an der Riva, du kennst die bestimmt. Ich habe ihn einmal besucht, aber das ist schon eine Weile her. Und du machst dort Urlaub?«
»Nein, nein, ich lebe da in der Nähe.«
»Ach so, aber ein echter Istrianer du bist du auch nicht, oder?«
»Nein.«
Elvir zeigte auf Prohaskas Kamera. »Bist du ein Reporter oder so was?«
»Fotograf.«
»Klingt interessant. Kann man davon leben?«
Prohaska lächelte.
»Na ja, nicht wirklich, ich habe in Deutschland gearbeitet.«
»Dann bist du auch ein Gastarbeiter. Wo warst du da genau?«
Prohaska schien es klüger zu sein, seinen früheren Beruf nicht zu erwähnen. Es musste nicht jeder wissen, dass er bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte.
»In Stuttgart. Dann hatte ich einen Arbeitsunfall und bin nach Istrien gezogen.«
»Ah, du warst bei Daimler, das sieht man.«
Elvir deutete mit dem Kinn auf Prohaskas weißes, achtzehn Jahre altes Mercedes Cabrio. »Ein Onkel von mir hat auch bei Daimler gearbeitet.«
»Nein, ich war im öffentlichen Dienst.«
»Das tut mir leid.«
Prohaska grinste. »Es muss dir nicht leidtun.«
Elvir lachte. »Nein, ich habe deinen Arbeitsunfall gemeint.«
»Ach so, danke.«
»Tja, das Leben in der Fremde ist verdammt hart«, sagte Elvir nachdenklich, und drehte sich nach seiner Herde um. »Ich war auch mal im Ausland. Zuerst in Norditalien, habe dort bei Verwandten gewohnt und in einer Lederfabrik gearbeitet. Halbes Jahr später bin ich nach Deutschland gegangen. Ein Freund hat mir einen Job auf dem Bau besorgt, aber das Wenige, das ich da verdient habe, musste ich fürs Essen und das Bett in einer Baracke bezahlen, die der Chef an uns vermietete. Eines Morgens gab es eine Razzia, und es stellte sich heraus, dass der Chef uns gar nicht angemeldet hat. Na ja, ich bin dann freiwillig zurück nach Hause.«
Prohaska nickte. Er kannte hunderte solcher Geschichten noch aus seiner Dienstzeit.
»Das einzig Gute daran war, dass ich ein wenig Italienisch und Deutsch gelernt habe. Na ja, bei der Arbeit musste man nicht viel reden.« Elvir ließ seine Kippe auf den Boden fallen, drückte sie mit dem Schuh aus und grinste. »Zum Beispiel: Rauchen nix gut. Oder: guten Tag, danke, bitte, wie geht’s, wie steht’s, bitte ein Bier, wo geht’s hier zum Bahnhof, schene Frau, willst du mit mir gehen’, solche Sachen halt.«
Prohaska lächelte. »Und wie lange bist du hier?«
»Knapp drei Jahre. Ich bin in einem kleinen Bergdorf aufgewachsen, hüte Schafe seit meinem vierzehnten Lebensjahr und möchte nichts anderes machen. Und so bin ich wieder Gastarbeiter. Klingt für mich immer noch irgendwie seltsam. Früher, in Jugoslawien, konnten wir uns frei bewegen. Dann kam der blöde Krieg. Aber was soll man machen? Das Leben muss weiter gehen. Die Menschen sind, wie sie sind. Ich will damit nicht sagen, dass es früher besser war. Aber schau dir die Welt heute an. Kriege, Vertreibungen, Korruption, Gier und Neid, jeder gegen jeden. Und es wird immer schlimmer, wenn du mich fragst.«
Und wieder einmal bestätigte sich Prohaskas Beobachtung. Die meisten Gespräche, die er mit Leuten hier führte, und seien sie auch noch so kurz und unverbindlich wie dieses jetzt, landeten nach kürzester Zeit bei der Politik.
Elvir drehte sich nach der Herde um. »Wenigstens ist es hier ruhig. Ich verdiene ganz gut, fahre alle zwei Monate für ein paar Tage nach Hause zu meiner Familie. Ich hab zwei kleine Kinder. Sie werden später bestimmt auch ins Ausland gehen, bei uns unten gibt es keine Arbeit. Armut und Elend wo du hinschaust. Meine Alten und die Schwiegereltern sind auch noch da, aber sie haben keine Rente. Deshalb müssen mein Bruder Ismail und ich die ganze Familie ernähren. Ismail und ich sind zusammen hergekommen. Wir wechseln uns alle paar Wochen ab, mal hütet er die Schafe, dann wieder ich. Jetzt arbeitet er in der Käserei unseres Chefs.«
Prohaska nickte nur, wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, also nahm er den Faden von vorhin wieder auf.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es hier Wölfe gibt.«
»Doch, doch, aber es sind nicht viele, ein oder zwei Rudel. Letzten Herbst haben sie uns ein Mutterschaf und zwei Lämmer gerissen, obwohl die Herde über Nacht auf einer eingezäunten Weide stand.«
»Und wann hast du heute den Wolf gesehen?«, fragte Prohaska und hoffte, dass er nicht zu besorgt klang.
»So gegen halb acht. Plötzlich rannten die Tiere auseinander, und Medo, das ist unser Hund, bellte wie ein Irrer, ging auf den Wolf los, und ich schreiend hinterher. Der Wolf ist abgehauen, aber ich bin sicher, er kommt wieder.«
»Kein angenehmer Gedanke.«
»Damit muss man als Hirte leben. Falls du ihn suchen willst, ich meine wegen der Fotos und so, wirst du wahrscheinlich kein Glück haben. Wölfe sind sehr intelligente und scheue Tiere.«
»Oh, das hatte ich ohnehin nicht vor.«
»Wenn sie in die Nähe von Siedlungen kommen, dann nur, weil sie in den Bergen nicht genug Wild finden. Also holen sie sich eben Schafe oder andere Haustiere. Die Bauern schimpfen natürlich jedes Mal, aber sie kriegen vom Staat eine Entschädigung, wenn sie beweisen, dass ihre Tiere vom Wolf getötet wurden.«
»Hast du denn keine Angst so allein hier oben?«
»Nein. Der Wolf tötet nur, um sich und sein Rudel zu ernähren. Vor ihm habe ich keine Angst, eher vor den Wölfen im Schafspelz. Du weißt, was ich meine.«
»Ja, denen sollte man lieber aus dem Weg gehen.«
»Tja, ich muss wieder weiter. Wie war noch dein Name?«
»Joe.«
»Ciao, es war nett mit dir zu plaudern.«
»Hey, warte, kann ich noch ein Foto von dir machen?«
»Ja, sicher.«
Elvir lehnte sich an seinen Stock und grinste in die Kamera. Prohaska schoss ein paar Aufnahmen und zeigte sie Elvir auf dem Display.
»Komm doch mal bei uns vorbei, der Hof liegt gleich da unten im Tal. Mein Bruder und ich machen den besten Schafskäse weit und breit. Frag einfach nach Miro Gordić, das ist unser Chef.«
»Ja, das mach ich bestimmt. Wiedersehen.«
Elvir pfiff den Hund zu sich. Der ließ sich von Prohaska streicheln und rannte dann der Herde hinterher.
*
Prohaska wendete den Wagen und fuhr hinunter zur Hauptstraße. Die Sache mit dem Wolf gefiel ihm nicht. Andererseits war er sich nicht so sicher, ob die Geschichte überhaupt stimmte. Vielleicht hatte sie Elvir nur erfunden, um sich interessanter zu machen. Prohaska hatte sich noch nicht besonders mit dem Leben der Wölfe beschäftigt. Klar, er kannte die Märchen von Rotkäppchen oder den Sieben Geißlein, aber das war es auch schon. Und Wölfe waren seit Urzeiten die Futterkonkurrenten der Menschen, die sie zum Sinnbild des Bösen erklärt haben. Man hetzte und jagte sie und hätte sie fast ausgerottet. Wenn sie sich wieder vermehrt zeigten, war das eigentlich ein gutes Zeichen. Vielleicht lernte der Mensch doch dazu, überlegte Prohaska und verwarf den hoffnungsvollen Gedanken gleich wieder. Der Mensch findet immer neue Wege, aus reiner Profitgier die Natur und damit irgendwann sich selbst zu zerstören. Er ist die wahre Bestie und wird so lange weitermachen, bis er sich und die anderen Geschöpfe ausgerottet hat.
Als ein verrostetes gelbes Straßenschild mit der Aufschrift Kras auftauchte, bog Prohaska nach links ab. Er war schon einmal in der winzigen alten Stadt gewesen, die wie die meisten in Istrien von Venezianern gegründet wurde. Hoffentlich war die Konoba nicht geschlossen, dachte er, während er die steile schmale Straße hochfuhr. In einer langen Kurve kam ihm ein Auto entgegen. Prohaska lenkte seinen Wagen an den Straßenrand, um Platz zu machen, und als der silbergraue BMW an ihm vorbeikam, sah er einen jungen Mann mit schulterlangen dunklen Haaren und eine blonde Frau auf dem Beifahrersitz. Sie hatten es offensichtlich eilig, von hier wegzukommen.
Prohaska fuhr weiter und hielt nur ein paar Minuten später an einer Kapelle, die auf einem Platz unterhalb von Kras stand. Der Gipfel der Učka leuchtete golden in der untergehenden Sonne. Prohaska nahm die Kamera, stieg aus und machte ein paar Fotos. Das breite Tal lag im Schatten. Über einem Flüsschen, das sich von Bäumen gesäumt, in Mäandern durch Wiesen und Felder schlängelte, stieg Nebel auf.
Nur ein paar Minuten später fuhr er durch das einstige Stadttor und stellte den Wagen unter einem riesigen alten Baum vor der Ruine eines Kastells ab. Als er aussteigen wollte, klingelte sein Handy. Er zog es aus der Jackentasche und meldete sich.
»Hallo Joe, wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Inspektor Giovanni Rossi, der Leiter der Polizeistation Rovinj, mit dem er vor einigen Wochen zu tun hatte.
»Danke, und Ihnen?«
»Sind Sie in der Stadt? Ich habe bald Feierabend und dachte, wir treffen uns auf einen Kaffee oder so.«
»Das ist nett, aber ich bin momentan unterwegs.«
»Wo denn?«
»In der Nähe von Učka, genauer in Kras.«
»Was um Himmels willen wollen Sie ausgerechnet in Kras?«
»Nur eine Kleinigkeit essen und mir dann eventuell ein Zimmer suchen.«
»Wollen Sie da etwa übernachten?«
»Haben Sie etwas dagegen?«
Rossi lachte schallend. »Aber nein, ich frage mich nur, was ein vernünftiger Mensch wie Sie in dieser Wildnis sucht. Lebt da oben überhaupt noch jemand?«
»Das hoffe ich, aber ich schau mich gerne um und berichte es Ihnen, wenn Sie wollen. Ich bin gerade angekommen.«
»Das war natürlich ein Scherz, aber passen Sie trotzdem auf sich auf. Sie haben doch bestimmt gehört, dass es da oben böse Geister, Hexen und Zauberer, ja sogar Vampire geben soll.«
Prohaska lachte. »Ja, natürlich.«
»Wenn ich es Ihnen sage.«
»Danke für den Hinweis, aber ich bin leider nicht abergläubisch. Allerdings hat mir vorhin ein Schäfer erzählt, dass er heute Früh einen Wolf gesehen hat.«
»Ja, ja, die Wölfe habe ich ganz vergessen.«
»Ach, keine Sorge, mir passiert schon nichts.«
»Na gut, viel Spaß dann, und melden Sie sich, wenn Sie wieder in der Zivilisation sind. Ich muss mit Ihnen reden.«
»Über etwas Bestimmtes?«
»Sie können es sich sicher denken. Wann sind Sie wieder da?«
»Morgen Abend.«
»Okay, bis dann.«
»Bis dann.«
Prohaska verstaute die Kamera in die Fototasche, nahm seinen Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus. Kein Mensch war zu sehen. Im dürren Grasstreifen an der Burgmauer saß eine grau gestreifte Katze und starrte ihn an. Prohaska ging zu ihr, ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Die Katze schnupperte daran und rieb den Kopf dann laut schnurrend an seinen Knien. Prohaska streichelte ihren Rücken, aber als sie merkte, dass er doch nichts zum Fressen für sie hatte, trottete sie davon. Die Häuser zu seiner Linken waren in einem trostlosen Zustand. In den Mauerritzen wucherte Unkraut, die Fensterläden waren entweder geschlossen oder hingen schief in verrosteten Angeln. Einige Fenster waren mit Brettern zugenagelt oder nur dunkle leere Öffnungen, durch die der Wind hindurch pfiff. Aber es gab auch bewohnte und renovierte Gebäude mit gepflasterten Innenhöfen und Blumenkästen an Terrassen.
Prohaska ging am großen hölzernen Tor des Kastells vorbei. Die Konoba, die in die Burgmauer hineingebaut war, stand nur ein paar Schritte entfernt und lag etwas tiefer als die Gasse selbst. Ein schwarzer Kleinwagen parkte davor, und Prohaska fand, dass der so gar nicht in diese mittelalterliche Kulisse passte. Er ging ein paar Stufen hinunter, die durch einen schmalen Vorgarten zum Eingang des Lokals führten.
Als er die Konoba betrat, schlug ihm warme und nach frischem Braten duftende Luft entgegen. Aus unsichtbaren Lautsprechern tönte leise Gitarrenmusik. Im Gastraum standen etwa fünfzehn lange Tische, auf der rechten Seite eine rustikale Theke aus dunklem Holz und ein paar Barhocker. Die einzigen Gäste, zwei alte Frauen und ein alter Mann, saßen an einem Tisch in der Nähe eines Kamins, in dem ein Feuer prasselte.
Sie sahen zu ihm rüber und verstummten. Prohaska kam sich wie in einem dieser alten Western vor, wenn ein Fremder den Saloon betritt. Hinter dem Tresen stand eine rundliche Frau um die fünfzig. Sie hatte kastanienrotes Haar und dunkle Augen. Prohaska lehnte sich an die Theke und verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein. Die Schussverletzung am Unterschenkel machte ihm immer wieder zu schaffen, und er spürte jeden Wetterumschwung, auch wenn er sich das nicht erklären konnte. Die Wirtin stellte das Glas ab, das sie gerade gespült hatte und schenkte ihm ein Lächeln.
»Guten Tag, was darf es sein?«
Prohaska lächelte zurück.
»Hallo, einen doppelten Espresso bitte, außerdem würde ich gerne eine Kleinigkeit essen.«
Die Wirtin sah zu der Pendeluhr an der Wand. Es war kurz nach drei Uhr.
»Wir haben eigentlich geschlossen. Heute Abend ist hier eine geschlossene Gesellschaft, der Herr da drüben feiert Geburtstag. Aber ich könnte Ihnen eine Käse- oder Schinkenplatte machen, wenn das okay ist.«
»Ja, natürlich, danke.«
Sie nahm eine Tasse aus dem Schrank, stellte sie unter die Düse eines riesigen italienischen Kaffeeautomaten, drückte auf einen Knopf, und während das Ding einen Höllenlärm machte, kam sie wieder vor.
»Aber bitte, setzen Sie sich, der Kaffee kommt gleich.«
Die drei Alten am Kamin nahmen ihr Gespräch wieder auf. Prohaska nickte ihnen im Vorbeigehen zu, legte den Rucksack und die Kameratasche auf einen Tisch neben der Fensterfront, die die ganze linke Wand des Lokals ausmachte und von wo aus man einen wunderbaren Panoramablick auf die Učka, die Berge der Ćićarija und das Tal hatte. Auf der langen Terrasse, die sich außen an der Fensterfront befand, standen in zwei Reihen große Tische mit Holzbänken. Prohaska ging wieder nach vorne, sah das Toiletten-Schild, wandte sich nach rechts und durchquerte einen langen schummrigen Flur, von dem eine Tür in die Küche führte.
Als er zurückkam, brachte die Wirtin den Espresso, ein Glas Wasser und auf einen Teller ein großes Stück Schokoladentorte.
»Oh, wie komme ich denn dazu?«
»Das ist von der Geburtstagstorte übrig geblieben«, sagte sie und deutete mit dem Kinn zu dem Tisch am Kamin. »Ich dachte, falls Sie sehr großen Hunger haben …«
»Danke sehr, den habe ich in der Tat.«
Der alte Mann drehte sich um und winkte Prohaska zu.
»Möchten Sie sich nicht lieber zu uns setzen?« Er sprach Kroatisch mit starkem englischem oder amerikanischem Akzent.
»Danke, aber ich möchte nicht stören.«
»Ach was, kommen Sie schon«, sagte der Mann. Die zwei Frauen musterten Prohaska neugierig.
Und weil er nicht unhöflich erscheinen wollte, stand Prohaska auf, nahm seine Sachen und ging rüber. Die Wirtin kam mit dem Kaffee und Kuchen hinterher und ging dann zurück zum Tresen.
Der alte Mann deutete auf den Stuhl ihm gegenüber.
»Nehmen Sie doch Platz. Ich bin Bartolo Monti, das hier ist meine Schwester Magdalena und die Dame neben ihr ist Katarina, eine entfernte Verwandte. Sie ist ein wenig taub, also müssen wir etwas lauter reden.«
»Angenehm, Josef Prohaska, aber die meisten sagen einfach Joe.«
Sie schüttelten sich die Hände. Prohaska setzte sich.
»Die Wirtin sagte, dass Sie heute Geburtstag haben, alles Gute.«
»Danke, danke, aber lassen Sie es sich schmecken.«
»Bartolo ist neunundsiebzig geworden«, sagte Katarina.
»Das sieht man Ihnen aber gar nicht an«, sagte Prohaska höflich und aß ein Stück Torte.
Bartolo fuhr sich mit den Fingern durch die grauen Haare.
»Danke fürs Kompliment. In meinem Alter ist man für jeden Tag dankbar, doch der Tod ist stets in der Nähe und lauert auf den günstigen Moment.«
»Sag doch so etwas nicht, Bart«, sagte Magdalena. Auch sie sprach mit starkem Akzent, aber Prohaska wollte nicht zu neugierig erscheinen und schluckte die Frage, woher sie kamen, mit einem weiteren Stück Torte und einem Schluck Kaffee hinunter.
Die Geschwister sahen sich nicht ähnlich, fand Prohaska. Magdalena war schlank, fast hager, hatte einen dunklen Teint und haselnussbraune Augen, um die sich feine Fältchen kräuselten. Prohaska schätzte sie auf Anfang oder Mitte sechzig. Ihre kinnlangen dunkelbraunen Haare waren gefärbt und perfekt frisiert. Ihre Finger waren lang, die Nägel dunkelrot lackiert, und der passende Lippenstift stand im schönen Kontrast zu ihrem schwarzen Rollkragenpullover. Darüber trug sie eine Wolljacke und einen Seidenschal mit Rosenmuster. Am linken Ringfinger steckte ein Ring mit einem roten Stein, und am Handgelenk trug sie eine schmale goldene Armbanduhr.
Bartolo Monti hingegen war klein, hatte eisblaue Augen und ein längliches und von tiefen Furchen durchzogenes, blasses Gesicht. Sein Hemd war hellblau kariert, an den Kragenspitzen waren silberne Ecken befestigt und über seiner schmalen Brust waren zwei Lederstriemen zu einem Knoten gebunden, deren Enden mit Silberkappen verstärkt waren.
Katarina war eine Einheimische. Prohaska schätzte sie weit über achtzig. Ihre Haut war an den hohen Wangenknochen und der Stirn dünn wie Pergament, aber ihre dunklen Augen waren klar und lebhaft. Sie sah Prohaska an und lächelte, wenn er in ihre Richtung sah, wobei sie eine Reihe weißer Porzellanzähne zeigte. Ihre schlohweißen Haare waren zu einem lockeren Knoten gebunden. Wie die meisten alten Frauen hier trug sie das traditionelle Witwenschwarz.
»Ich kannte mal einen Prohaska, drüben in den Staaten, aber das ist schon viele Jahre her. Er war Österreicher mit tschechischen Vorfahren«, sagte Monti.
Prohaska nickte.
»Und was verschlägt einen Tschechen, der so gut Kroatisch spricht, um diese Jahreszeit hierher?«, fragte Magdalena.