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Für
Ornette Coleman
Butch Morris
Fred Anderson
Buddy Bolden’s Blues
Am Anfang war ein Fluss. Egal, ob man den Beginn des Jazz im Ragtime von St. Louis oder in der Alltagskultur von New Orleans ansetzen will, es war in jedem Fall der Mississippi, dessen schlammige Fluten die Klänge des Jazz in die Welt hinaus trugen. Vorläufer und Parallelerscheinungen des Jazz gab es in der schwarzen und weißen Kultur in ganz Nordamerika, und wenn man die Improvisation als Charakteristikum von Jazz zugrunde legen will, sicher auch in der europäischen Musik. Das Zentrum des frühen Jazz, der diesen Namen noch nicht trug, war jedoch zweifellos New Orleans. »Die Legende von New Orleans als Geburtsstadt des Jazz hat vielen anderen Legenden gegenüber eines voraus, sie stimmt – jedenfalls in großen Zügen«, sagt Ekkehard Jost (Sozialgeschichte des Jazz, S. 17). Werfen wir daher zunächst einen Blick auf die Stadt an der Mündung des Mississippi.
»Im frühen 20. Jahrhundert war New Orleans ein Ort der miteinander kollidierenden Identitäten«, schreibt der amerikanische Autor Thomas Brothers (Louis Armstrong’s New Orleans, S. 1). In einem multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Staatsgebilde wie den USA, das gerade erst im Begriff war, seine nationale Identität territorial wie kulturell und nicht zuletzt militärisch zu definieren, galt das selbstverständlich auch für viele andere Städte und Regionen. Für Ben Sidran ist New Orleans jedoch »nicht allein eine Art städtischer ›Testfall‹ für die Entfaltung einer einzigartigen schwarzen Kultur – die als Vorbild für die schwarze Sozialisation in den Ghettos des Nordens diente –, sondern ein echtes städtisches Zuhause. Der ökonomischen Unsicherheit des ländlichen Lebens stand hier eine Sicherheit gegenüber, die der hohe Bevölkerungsanteil Schwarzer, der relative Wohlstand und die Entwicklung eines einzigartigen schwarzen Soziallebens mit sich brachten« (Black Talk, S. 74).
Dass dies in vielen anderen Metropolen Nordamerikas anders war, hatte historische, ökonomische und architektonische Gründe. Louisiana war ursprünglich eine französische Kolonie. Die zumeist männlichen französischen Einwanderer wollten Familien gründen, was aber nur mit schwarzen Sklavinnen möglich war. Rasch kam der Wunsch auf, den farbigen Nachkommen aus diesen Verbindungen die rechtliche Gleichstellung mit den Weißen zu garantieren, woraus die sogenannten »gens de couleur libres«, die »freien Farbigen« von New Orleans hervorgingen, die man kurz als Kreolen bezeichnete.
Viele Kreolen empfingen ihre Bildung in Europa, einige hielten sogar selbst schwarze Sklaven und standen als wohlsituierte Städter sozial und ökonomisch über der oft ländlich orientierten weißen Bevölkerung Louisianas. Kreolen gab es auch andernorts, aber in New Orleans bildeten sie neben Schwarzen und Weißen die dritte ethnische Hauptgruppe. Während die Schwarzen, die nach dem Bürgerkrieg hauptsächlich aus den Plantagen nach New Orleans geströmt waren, gegenüber den Weißen rechtlich weitgehend benachteiligt waren, hatte sich ein kreolisches Kleinbürgertum herausgebildet, das nicht nur über hohe Bildungsstandards verfügte, sondern kulturell europäisch geprägt war. Die Kreolen trugen französische Namen und waren größtenteils katholisch.
Diese Situation ging mittellosen weißen Einwanderern aus dem Norden gegen den Strich, die nach dem Bürgerkrieg als Sieger in den Süden gekommen waren und sich nun immer noch in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen einer farbigen – aus ihrer Perspektive schwarzen – Mittelschicht gegenübersahen. Das provozierte Unruhen, welche kurz vor 1900 in einer Reihe von Gesetzen, den sogenannten Jim Crow Laws, gipfelten, die nicht nur die bis dahin faktische Benachteiligung der Schwarzen juristisch legitimierten, sondern auch die rechtliche Stellung der Kreolen jener der Schwarzen anglichen.
Für die Kreolen war diese Herabstufung eine Katastrophe, die sie nicht erwartet hatten. Soziale oder kulturelle Berührungen zwischen Schwarzen und Kreolen hatte es zuvor kaum gegeben. Obwohl Rassenhass und Segregation in New Orleans nicht so stark ausgeprägt waren wie in vielen anderen amerikanischen Städten, waren die Wohnviertel der beiden Bevölkerungsgruppen ebenso rigoros getrennt wie ihre sozialen Betätigungsfelder.
Das sollte sich um 1900 ändern. Die Kreolen, die nach ihrem Selbstverständnis immer noch sozial über den Nachfahren der schwarzen Plantagenarbeiter standen, begannen sich den Schwarzen gezwungenermaßen Schritt für Schritt anzunähern. Für die Schwarzen war es im Gegenzug ein gefühlter, teils auch reeller sozialer Aufstieg, in kreolischen Kreisen Fuß zu fassen. Diese Situation und die sich daraus ergebenden kulturellen Konsequenzen waren einzigartig in New Orleans und trugen maßgeblich zur Herausbildung des Jazz bei. Doch die ethnische Zusammensetzung war nicht die einzige Voraussetzung.
New Orleans hatte seit dem frühen 19. Jahrhundert eine besondere Attraktion. Der Congo Square war ein Ort, an dem schwarze Sklaven ab Mitte des 18. Jahrhunderts jeden Sonntag in bescheidenem Umfang Handel treiben durften. Allerdings verdankte der Congo Square seine Existenz nicht nur der Toleranz der Bewohner von New Orleans, sondern auch dem Umstand, dass der Südosten Nordamerikas im Gegensatz zum Rest des Halbkontinents katholisch beeinflusst war. Das hieß, der Sonntag war Feiertag. Im meist puritanischen Rest Nordamerikas wurde an sieben Tagen in der Woche gearbeitet.
Im Jahr 1816, zur Zeit der spanischen Besetzung, begann ein aus Havanna stammender Señor Gaetano auf dem Congo Square mit schwarzen Zirkusvorstellungen. Sie wurden zur festen Einrichtung. Sowohl Sklaven als auch Freigelassene führten Tänze und musikalische Darbietungen auf. Anfangs waren diese Vorstellungen nach »Stämmen« und »Stammesgruppen« getrennt. Die vier »Stämme«, die sich auf diese Weise produzieren konnten, waren Minahs, Mandingos, Congos und Gangas. Gegen 1840 begannen sich die Gruppen laut Brothers zu vermischen. Die Historiker sind sich einig, dass sich an diesem Ort, parallel dazu aber auch auf den Sklavenplantagen, aus verschiedenen Formen afrikanischer Musik die afroamerikanische Musik herausbildete.
Der Congo Square wurde nicht nur zur Wiege der afroamerikanischen Musikkultur, sondern auch zu einer unverzichtbaren Touristenattraktion der Stadt. Lange vor der Herausbildung des Jazz zeigte sich dort schon das Phänomen, dass schwarze Musiker und Tänzer sich vor einem weitgehend weißen Publikum produzierten. Toleranz schlug in New Orleans in klingende Münze um. Mochte der Congo Square vor dem Sezessionskrieg den Grundstein für die musikalische Offenheit von New Orleans gelegt haben, waren seine Klänge laut Daniel Hardie jedoch um 1890 weitgehend vergessen. Eine direkte Verbindung zwischen dem Treiben auf dem Congo Square und der sich ausbildenden Jazz-Kultur um 1900 gab es nicht. Die Tanzkultur wurde von europäischen Tänzen, hauptsächlich Walzern und Quadrillen, dominiert, die nach und nach vom Ragtime infiltriert wurden (The Loudest Trumpet, S. 4).
Auch klimatische, geographische und daraus resultierende wirtschaftliche und architektonische Gegebenheiten prädestinierten New Orleans als Geburtsstätte des Jazz. Während die Städte des Nordens in einen architektonischen Wettstreit traten, gab es in New Orleans aufgrund des instabilen Baugrunds keine hohen Gebäude. Die Häuser waren ein-, maximal zweistöckig, nicht für die Ewigkeit gebaut. Das Ambiente der Stadt war zum großen Teil ländlich, nicht zuletzt weil die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung ihre ländliche Lebensweise von den Plantagen mitgebracht hatte. In New Orleans gingen die Uhren langsamer als in anderen Städten. Die Schwerfälligkeit des großen Stromes dominierte und dämpfte die Dynamik der Stadt. Während die Tradition der schwarzen wie der weißen Musik andernorts von der Industrialisierung aufgefressen wurde, wollte sich Fortschritt in New Orleans nicht so recht einstellen.
Der Strom selbst war zudem ein wunderbarer Resonanzkörper. Die Klänge der Stadt waren allgegenwärtig, wurden durch die Wassermassen und die hohe Luftfeuchtigkeit auch in umliegende Gemeinden getragen, wie etwa nach Algiers am gegenüberliegenden Ufer. Das Fehlen hoher Gebäude ebnete dem Klang den Weg in die Öffentlichkeit. Die Marching Bands trugen ihre Parades ohnehin auf der Straße aus, doch selbst das Treiben der ebenerdigen Tanzhallen war im Klangbild der Stadt allgegenwärtig.
Auch die geographische Lage von New Orleans trug zur Herausbildung des Jazz bei. Durch die wechselnden Zugehörigkeiten – französisch, spanisch, amerikanisch – war die Stadt ohnehin schon einer Vielfalt von Einflüssen ausgesetzt. Doch New Orleans war auch Hafenstadt. Die Karibik, speziell Kuba und Haiti, lagen in der Nachbarschaft. Aus Europa fielen Scharen von Einwanderern in die Südost-Metropole ein. Zwischen Palermo und New Orleans gab es eine direkte Schifffahrtslinie, was zum Zuzug vieler Süditaliener führte. Die Italiener hatten keine Probleme mit den Schwarzen. Im Gegenteil, sie fühlten sich durch deren musikalische Praktiken an den öffentlichen Umgang mit Musik in ihrer Heimat erinnert und waren in ihren Etablissements stets an schwarzer Musik interessiert. Viele Clubs gehörten sizilianischen Einwanderern, und italienische Musiklehrer unterrichteten schwarze Musiker. Die Ähnlichkeit zwischen italienischen Prozessionen und den Funeral Marches in New Orleans ist frappant (so Kathy J. Ogren).
Diese Allianz hatte nicht nur zur Folge, dass sich ein Großteil der weißen Jazzmusiker in der Frühzeit des Jazz aus der italienischen Bevölkerungsgruppe rekrutieren, sondern dass es auch zu Zeiten der Prohibition eine enge Verbindung zwischen Mafia und Jazz geben sollte, die in den 1920er Jahren in New York und Chicago kulminierte. Italienische Gangster waren bekannt dafür, besonders großzügige Trinkgelder zu geben. Der italienische Einfluss gab schwarzen Musikern weit über die Jahre in New Orleans hinaus ein Gefühl von sozialer Sicherheit.
Aus dem stromaufwärts gelegenen St. Louis kam zudem der Ragtime, bis 1897 Negro Jig genannt. Es ist eine Frage der Definition, ob man Ragtime als ein Vorstadium, eine frühe Erscheinungsweise oder ein paralleles Phänomen des Jazz betrachten will. Im Gegensatz zu der sich in New Orleans herausbildenden Musikkultur entstand der Ragtime nicht in den unteren Volksschichten – Thomas Brothers spricht von »vernacular music«, also volksnaher Musik oder Dialekt-Musik –, sondern wurde von ausgebildeten Komponisten/Virtuosen als zumeist schwarzes Gegenstück zur europäischen Klaviermusik notiert. Ragtime wurde zum größten Teil von Afroamerikanern komponiert und gespielt, aber Joachim-Ernst Berendt hielt in seinem Jazzbuch fest: »Auch einige Weiße waren unter den großen Ragtime-Pianisten um die Jahrhundertwende, und es ist auffällig, dass selbst Fachleute nicht in der Lage waren, einen Unterschied im Spiel zwischen den weißen und den schwarzen Ragtime-Pianisten zu finden« (S. 6).
Die Gemeinsamkeit zwischen Ragtime und Jazz bestand in der Synkopierung. Ragtime bedeutet genau genommen »zerrissene Zeit«. In »ragged time« zu spielen war auch eine Maxime der New-Orleans-Musiker, die ihren Stil damals noch »syncopated music« nannten. Es ist nicht leicht, zwischen dem Ragtime als Stil und der »ragged time« als Prinzip im frühen Jazz zu unterscheiden, zumal viele New-Orleans-Musiker mit großer Vorliebe die Rags von Scott Joplin und anderen Komponisten spielten.
Eine wichtige Voraussetzung für den Jazz war eine Erscheinung, die es nicht nur in New Orleans gab, die dort aber in einer unvergleichlichen Konzentration zu beobachten war: die Marching Band. In New Orleans gab es um 1900 nicht weniger als dreißig Marching Bands, die jeden Sonntag ihre Parades abhielten. Das trug die Musik in den öffentlichen Raum. Parades funktionierten wie Gottesdienste auf der Straße, an denen jeder teilhaben konnte.
Anfangs waren die Marching Bands streng nach Kreolen und Schwarzen getrennt, doch in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts begannen die kreolischen Bands, schwarze Musiker aufzunehmen. Für die Schwarzen war es eine Aufwertung des eigenen musikalischen Selbstverständnisses, sich die Erfahrung der Kreolen einzuverleiben (Sidran, Black Talk, S. 81). Auf diese Weise begaben sich die jeweils typischen Instrumente von Schwarzen und Kreolen in eine Art Symbiose. Die Schwarzen bevorzugten Blechinstrumente wie Trompete, Posaune und Tuba, die Kreolen setzten eher auf Instrumente, die aus der Kammermusik kamen, wie Geige, Flöte und Klarinette. Die Geige spielte in der Marching Band zwar keine Rolle, aber in den Dance Halls des frühen Jazz war das Streichquartett noch eine gängige Besetzung. Welche Musik diese Streichquartette gespielt haben, ist heute unklar, Donald M. Marquis vermutet in In Search of Buddy Bolden, dass es neben Mazurkas und Polkas Ragtimes waren.
In einer Marching Band zu spielen bedeutete Arbeit. Bei einer Temperatur von 40 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent vier Stunden lang uniformiert und mit schweren Instrumenten bepackt durch schlammige Straßen zu marschieren und dabei zu blasen oder zu trommeln war nicht nur Vergnügen. Es wird von mehreren Fällen berichtet, bei denen Musiker auf Parades zusammenbrachen, teilweise auch vor Erschöpfung starben. Auf der Härte dieser Parade fußte der fatale Männlichkeitskult, der für ein ganzes Jahrhundert den Jazz dominieren sollte. Jazz war harte Arbeit.
Die »wechselseitige Abhängigkeit von Gesang und Tätigkeit« hatte sich laut Arrigo Polillo bereits im Work Song manifestiert, dessen Prinzip von »Call and Response«, also einem Vorsänger und einem oder mehreren Erwiderern, sowohl im baptistischen Gottesdienst wie auch in den Marching Bands übernommen wurde. »Eine Handlung des ›Captain‹, des Aufsehers mit der Peitsche, das Vorbeigehen einer Frau, ein Streit, alles kann in Gesang umgeformt werden, und der Gesang in Tätigkeit, in Bewegung der arbeitenden Gruppe« (Jazz, S. 26). Genau das war die Marching Band und später die Jazz Combo: eine arbeitende Gruppe.
Die Musik der Marching Bands war also alles andere als subtil, wie man in Rekonstruktionen, unter anderem von der Young Tuxedo Brass Band von 1959, hören kann. Keiner der Ausführenden war Berufsmusiker. Sie mussten sechs Tage in der Woche bis zu zwölf Stunden hart arbeiten. Zeit zum Üben blieb kaum, und Noten konnte ohnehin niemand lesen. Die Synkopierung der Rhythmen erfolgte eher unfreiwillig, und die Melodien wurden nach dem Gedächtnis ausgeschmückt. Diese Praxis, die vor allem von den Schwarzen favorisiert wurde, nannte man »fake«.
Die Kreolen galten als »Reader«, die Schwarzen als »Faker«. Selbst wenn ein Schwarzer Noten lesen konnte, bezeichnete man ihn wegen seiner Langsamkeit eher als »Speller«. Als sich später aus der Heterophonie der Marching Bands die Kollektivimprovisationen der Jazz Combos entwickelten, gab es immer zwei Lead-Instrumente, von denen eines »straight« und das andere modifiziert spielte. Entsprechend der alten Rollenverteilung von Reader und Faker kam es den Kreolen zu, sauber zu spielen, während die Schwarzen den modifizierten Part übernahmen.
Die Marching Band hatte nicht nur die Funktion, den Gottesdienst auf die Straße zu tragen, sondern sie war für viele schwarze und farbige Musiker die einzige Möglichkeit, in der segregierten Stadt Zugang zu weißen Stadtvierteln zu erlangen. Dem einzelnen Schwarzen wäre es schlecht bekommen, hätte er sich anders als im Dienste eines weißen Herrn oder Auftraggebers in eine weiße Nachbarschaft gewagt. Inmitten einer Marching Band war ihm aber schwer beizukommen. Brothers beschreibt den Zugang zu anderen Stadtteilen durch die Marching Band als symbolischen Sieg.
Um sich dennoch gegen weiße Übergriffe abzusichern, hatte man die Second Line im Schlepptau. Was sich bei heutigen Paraden als lustiger Mob mit Schirmgewedel, Tanz und Akrobatik bunt und freundlich ausnimmt, war damals bis an die Zähne mit Steinen, Messern und Baseballschlägern bewaffnet. Die Second Line war ausschließlich Schwarzen vorbehalten. Kreolen sahen diese Art von Krawall als zu gefährlich an. Auch die Rhythmusgruppen wurden weniger nach Taktgefühl als nach ihrer Schlagfertigkeit ausgesucht, was der Synkopierung umso mehr Vorschub leistete. Die Musik war Ausdruck sozialer Interaktion und Integration und hob die aus der europäischen Kunstmusik übernommene Distanz zwischen Publikum und Künstler auf. So gelangte die Musik der Black Community auch in Ohren und Herzen der weißen Einwohner von New Orleans. In der Musik hob sich der weiße Rassenhass teilweise auf, was jedoch nicht zwingend in den Alltag übertragen wurde.
Die Heterophonie der frühen Marching Bands war direkt aus der Kirche übernommen worden. Wie dem Priester bei seinen Predigten aus der Gemeinde Rufe wie »Yeah, man«, »Have mercy« oder »Praise the Lord« entgegenschollen, toppten die Mitglieder der Marching Bands die melodischen Linien durch persönliche Ausschmückungen. Im Mittelpunkt blieb dabei immer die Melodie. Brothers zitiert den 1898 geborenen Schlagzeuger Baby Dodds: »Das Geheimnis von gutem Jazz bestand zu allen Zeiten darin, die Melodie die ganze Zeit durchzuhalten. Die Melodie muss deutlich von irgendeinem Instrument zu hören sein – von der Trompete, der Posaune, der Klarinette oder der Geige. In jedem Moment.«
Wann genau sich aus den Marching Bands die Jazz Combos herausschälten, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Einige Kapellen agierten parallel als Marching Band und Tanzkapelle. Daniel Hardie ist der Auffassung, dass man gesichert von Jazz erst ab 1917 reden kann. Für alle jazz-artigen Musikrichtungen, die es vorher gegeben hat und über die wir kaum etwas aussagen können, weil eben keine Aufnahmen überliefert sind, schlägt er den Begriff »Proto-Jazz« vor. Das würde dann auch diverse Parallelrichtungen in New York, Chicago, Philadelphia und anderen Städten einschließen (Jazz Historiography, S. 6).
Von vielen späteren Protagonisten des New Orleans Jazz wird Buddy Bolden als erster Jazzmusiker angeführt. Der sagenumwobene schwarze Trompeter, auf dessen Leben noch einzugehen ist, war bis 1906 aktiv. Doch es gibt auch Beispiele früherer Bands. Zum Beispiel Papa Jack Laine. Der Trommler irischer Abstammung leitete ab 1885 eine populäre Band mit Lead-Kornett, zwei weiteren Kornetten, zwei Posaunen, Lead-Klarinette, zwei weiteren Klarinetten, Bariton-Horn, Alt-Horn, Tuba und zwei Trommeln. Er war dermaßen erfolgreich, dass er nach dem gleichen Muster mehrere Bands gleichzeitig unterhielt, alle Reliance Band genannt. In seinen Bands spielten auch Schwarze, die er als Mexikaner verkleidete. Man kann davon ausgehen, dass auch das Publikum vor 1900 schlau genug war, Schwarze selbst unter Sombreros als Schwarze zu erkennen. Donald M. Marquis’ Vermutung, Laine habe seine schwarzen Bandmitglieder unter Umständen selbst für dunkelhäutige Weiße gehalten, ist wenig glaubwürdig, auch wenn Laine das später gelegentlich behauptete.
Dass gemischte Bands vor 1900 noch nicht so undenkbar waren wie nach der Jahrhundertwende, zeigt auch das Beispiel des schwarzen Bandleaders und Schöpfers des »St. Louis Blues« W. C. Handy, der gelegentlich mexikanische, deutsche und englische Musiker einstellte. Gunther Schuller zitiert ihn mit den Worten, er habe keinen guten »Neger-Klarinettisten« finden können (Early Jazz, S. 66).
Eine andere frühe Band aus New Orleans war die des schwarzen Friseurs und Gitarristen Charlie Galloway, die spätestens ab 1885 aktiv war und von einigen Zeitzeugen als erste Jazzband überhaupt bezeichnet wird. (Hardie: Exploring Early New Orleans, S. 29). Galloway leitete mehrere String Bands, die Mitte der 1890er Jahre in der Buddy Bolden Band aufgingen. Galloway soll der erste Musiker gewesen sein, der arrangierte Blues-Nummern spielte. String Bands waren nicht selten mit Brass Bands assoziiert. Oftmals übernahmen String Bands das Repertoire der assoziierten Brass Bands für kleinere Lokalitäten. An die bekannte Excelsior Brass Band war beispielsweise auch eine Excelsior String Band angeschlossen.
Neben den größtenteils semiprofessionellen Kapellen wurde das Straßenbild von New Orleans vor 1900 von sogenannten Spasm Bands dominiert. Das waren Gruppen meist verwahrloster jugendlicher Straßenmusiker, die auf selbstgebauten Instrumenten oder Alltagsgegenständen wie Waschbrettern, Zigarrenkisten, Gasrohren, Flaschen oder Knochen Musik machten und in Krüge ( jugs) hineinsangen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie waren aufs Improvisieren angewiesen, weil ihnen für alles andere die Basis fehlte. »Spielen« behielt hier die ursprüngliche Bedeutung des Wortes. Die bedeutendste Spasm Band vor 1900 war die Stale Bread’s Spasm Band. Die Band benannte sich später in Razzy Dazzy Spasm Band um und wurde eine Attraktion im Rotlichtviertel Storyville.
Eine der vielen unbestätigten Legenden des Proto-Jazz besagt, dass es zeitweilig zwei Bands unter diesem Namen gegeben hätte, zwischen denen teilweise blutige Auseinandersetzungen stattfanden. Die unterlegene Band musste sich in Razzy Dazzy Jazzy Band umbenennen. In diesem Kontext sei erstmals der Begriff »Jazz« aufgetaucht. Selbst wenn an dieser schönen Geschichte etwas dran sein sollte, ist es mehr als fraglich, ob ein Zusammenhang zu der ab Mitte der 1910er Jahre allgemein gebräuchlichen Begrifflichkeit »jass«, »jas« oder »jazz« bestanden hat. Doch dazu später mehr.
Thomas Brothers ist sich mit anderen Jazz-Historikern einig, dass die damals noch Syncopated Music oder Ragtime genannte Musik sich gleichzeitig in der weißen und schwarzen Community herausbildete. In diesem Klima der gegenseitigen Offenheit und Neugier waren integrierte Bands wenn schon nicht der Normalfall, so doch zumindest nicht undenkbar. »Der Jazz entstand in der Begegnung von ›schwarz‹ und ›weiß‹« (Berendt/Huesmann, Jazzbuch, S. 13). Von der traditionellen Toleranz in Orleans war bereits die Rede. Rassenkonflikte hielten sich im Vergleich zu anderen amerikanischen Städten in Grenzen. Im Jahr 1900 war es mit dem Frieden jedoch vorbei. Als ein Schwarzer namens Robert Charles 27 Weiße erschoss und sich daraufhin ein Mob von mehr als zehntausend aufgebrachten Weißen in die Viertel der anderen Bevölkerungsgruppen aufmachte, um blutig Rache zu nehmen, hatte auch in New Orleans der Ausgleich sein Ende. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich nach 1900 keine gemischten Bands mehr nachweisen lassen.
Ein stilistischer Unterschied zwischen schwarzer und weißer Musik in New Orleans wurde bis ca. 1915 nicht gemacht. Man nannte sie übereinstimmend Syncopated Music oder Ragtime. Erst als um 1915 der Begriff »Jazz«, bzw. anfangs »jass« oder auch »jas«, aufkam, begann man schnell, den schwarzen New Orleans Jazz oder Creole Jazz vom weißen Dixieland Jazz zu unterscheiden. Dass die Trennung zwischen Schwarz und Weiß im New-Orleans-/Dixieland-Schema indes nicht immer konsequent durchgehalten wurde, zeigt unter anderem das Dixie-Duo, das sehr erfolgreich von den beiden schwarzen Musikern Noble Sissle und Eubie Blake unterhalten wurde.
Der Begriff »Jazz« selbst kommt offenbar nicht aus dem Mississippi- Delta, sondern aus Kalifornien. Er war ursprünglich nicht musikalischer Natur, sondern wurde im Baseball als Synonym für ›Enthusiasmus‹ benutzt. Erstmals nachgewiesen ist er in der Los Angeles Times vom 2. April 1912. Laut einem Artikel von 1938 hat er sich 1913 wie ein Virus auf die Musik übertragen, als die Ragtime-Band von Art Hickman sich im Trainingslager der San Francisco Seals aufhielt (nachzulesen auf www. gracyk. com).
Ein beliebter Auftrittsort für die weißen Dixieland-Bands sollten die Riverboats werden, schwimmende Glücksspielpaläste auf dem Mississippi. Die frühen schwarzen Jazzbands wie zum Beispiel von Buddy Bolden und seinem Konkurrenten John Robichaux spielten in Dance Halls zunächst vornehmlich für ein schwarzes Publikum. Wie die Marching Bands auf der Straße gegen den Lärm des Alltags anspielten, mussten sich auch die Combos in den Tanzhallen gegen die Geräusche der Tanzenden durchsetzen. Das verlangte Kraft und Stehvermögen, denn eine elektrische Verstärkung oder Mikrofone gab es damals noch nicht.
Die wichtigsten Bands in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts waren die Gruppen des Trompeters Buddy Bolden und des Geigers und Trommlers John Robichaux. Beide hatten großen Respekt voreinander, waren aber bis aufs Blut verfeindet. Von Buddy Bolden ist wenig bekannt, wie überhaupt die meisten Fakten über die schwarze Gemeinde von New Orleans im frühen 20. Jahrhundert nur durch mündliche Überlieferung in die Gegenwart gelangt sind, was ihre Zuverlässigkeit durchaus in Frage stellt. Der aus Alabama stammende Bandleader W. C. Handy behauptete in seiner Autobiographie, seinerzeit auf seinen ausgedehnten Reisen durch den Süden nie etwas von Buddy Bolden gehört zu haben (Schuller: Early Jazz, S. 66). Wann hatte der Kult um den Kornettisten also eingesetzt?
Boldens herausragende Rolle für den Jazz wurde erstmals 1933 von dem Journalisten E. Belfield Spriggins erwähnt, ohne dass er allzu weit ins Detail gegangen wäre. Frederic Ramsey Jr. streute in seinem Buch Jazzmen – dem ersten nennenswerten Versuch, die Geschichte des Jazz umfassend zu erzählen – diverse Legenden über Bolden. Diese beruhten hauptsächlich auf den höchst zweifelhaften Erinnerungen des Kornettisten Bunk Johnson (Vic Hobson: Creating Jazz Counterpoint, S. 7). Die Glaubwürdigkeit Johnsons wird von redhotjazz. com mit folgenden Worten beschrieben: »Bunk Johnson verwirrte Historiker jahrelang, indem er Lügen über nahezu alles verbreitete.« Letzte Zweifel, dass Buddy Bolden nicht vollends ins Reich der Legende gehörte, sondern tatsächlich gelebt hat, konnten erst im Februar 1974 ausgeräumt werden, als die Sammlerin Diana Rose auf einem Trödelmarkt eine Einladung von 1903 zum Mardi Grass in der Ladies Providence Hall fand, in der ausdrücklich Prof. Bolden’s Orchestra erwähnt wurde (Hobson: Creating Jazz Counterpoint, S. 15).
Es ist nicht ganz klar, ob es wirklich die Person Buddy Boldens war oder eher der Kult um ihn, der ihn im Jazz zu jener Art Religionsstifter machte, der er heute ist. Jedenfalls lohnt es sich, einen genaueren Blick auf Bolden zu werfen, denn mit seiner Vita hat er für mindestens fünf Jahrzehnte das Stigma des schwarzen Jazzmusikers vorgegeben.
1877 geboren, begann Bolden erst mit siebzehn Jahren in einem Barber Shop, Kornett zu lernen. Frisiersalons waren beliebte Treffpunkte für Musiker. »In einer Zeit, in der es nur wenige Telefone gab, boten Barber Shops für Musiker und Promoter die Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben« (Hobson: Creating Jazz Counterpoint, S. 11). Wahrscheinlich kannte Bolden die Band von Papa Jack Laine. Nach dessen Beispiel stellte er in einem Barber Shop seine erste eigene Band zusammen, war aber auch Mitglied in Charlie Galloways Band. Er spielte lieber auf Dance Partys als auf Parades, übertrug aber das Prinzip des »ragging the tune« und den Sound der Brass Band auf die Dance Band. Das ist wahrscheinlich sein wichtigster Beitrag zum Jazz. Augenzeugen erinnern sich, dass Bolden es der Geige überließ, die Melodie »straight« zu spielen, während er auf dem Kornett das »ragging« übernahm (Hardie: The Loudest Trumpet, S. 30).
Sein Ton war angeblich derart laut, dass man ihn sechs Kilometer weit hören konnte. Das ist sicher ebenso übertrieben wie viele andere Legenden des Jazz, aber es zeigt, dass er sich Gehör zu verschaffen wusste. Jelly Roll Morton bezeichnete ihn als den lautesten Bläser seit dem Erzengel Gabriel. Zur Ankündigung eines Konzertes lehnte er sich einfach aus dem Fenster und stieß in seine Trompete. Bolden war groß, kräftig und stets darauf bedacht, seine Männlichkeit ins Spiel zu bringen. Auf den wenigen Fotos, die von ihm erhalten sind, macht er einen ernsten bis grimmigen Eindruck. Ihm haftete etwas Unnahbares an, die Aura einer Halbweltgröße.
Es war damals üblich, dass Musiker auch in öffentlichen Parks auftraten. Von Bolden wird berichtet, er habe im Lincoln Park so laut gespielt, dass er im nahe gelegenen Johnson Park seinem Konkurrenten John Robichaux das Publikum abspenstig machte. Über diesen unlauteren Wettbewerb ging er mit dem Euphemismus »call the children home« hinweg. In einem Aspekt unterschied sich Bolden ganz wesentlich von Robichaux. Es ist überliefert, dass Robichaux’ Band streng vom Blatt spielte. Von Boldens Band schreibt Hardie: »Es scheint sicher, dass alle Musiker und sogar Bolden selbst bis zu einem gewissen Grad Noten lesen konnten, aber es besteht absolute Klarheit darüber, dass keine geschriebene Musik bei Auftritten benutzt wurde« (Exploring Early Jazz, S. 36).
Bolden trat in Bordellen und Saloons auf, was vor 1907 eher unüblich war, weil unter Barbesitzern die Meinung herrschte, dass Tänzer zu wenig trinken. Sein Geld verdiente der Trompeter weniger mit Musik als mit Zuhälterei – er war auch mit mehreren Frauen gleichzeitig verheiratet – und anderen zwielichtigen Beschäftigungen. Seine wie auch andere Jazzbands waren wie Straßengangs organisiert. Die Bandleader warben einander nicht nur gegenseitig die Spieler ab, sondern verteidigten auch ihr Territorium innerhalb der Stadt. Für den Musiker einer Band war es nicht ratsam, sich im Radius einer anderen Combo blicken zu lassen, es sei denn, man hatte sich zu einen Cutting Contest herausgefordert.
Contests zwischen den Bands oder einzelnen Bandmitgliedern innerhalb einer Band waren an der Tagesordnung. Solistisch wurde der Wettkampf noch nicht ausgetragen, denn das Solo hielt erst in den 1920er Jahren Einzug im Jazz. Bei den Bedingungen, unter denen damals musiziert wurde, wäre ein Solo gar nicht aus dem Klanggewusel herauszuhören gewesen. Stattdessen verlegte man sich auf die sogenannten Dirty Dozens, gereimte Ad-hoc-Wortgefechte, die während der Musik stakkato abgefeuert wurden. Die Protagonisten beschimpften sich gegenseitig aufs übelste. Das Dissen, das heute im HipHop gang und gäbe ist, kann als später Nachfahre jener Dirty Dozens betrachtet werden. Im New Orleans vor 1917 gab es genug Arbeit für Jazzmusiker, die Dozens waren reine Männlichkeitsrituale.
Der Verlierer solcher Dozens musste mit herbem Imageverlust rechnen. Wie demütigend die Wirkung dieser verbalen Hahnenkämpfe war, beschrieb Jelly Roll Morton mit den Worten: »Es war schrecklich, wenn die Federn aus dem Pfauenschwanz gezogen wurden.« Louis Armstrong soll ein Meister der Dozens gewesen sein, und King Oliver war sich nicht zu schade, perfideste sexuelle Anspielungen selbst auf die Verwandten seiner Konkurrenten zu machen. Er bekriegte sich mit seinem Widersacher Freddie Keppard oft stundenlang, ohne dass einer der beiden als Sieger aus der Schmähschlacht hervorgegangen wäre.
Bolden soll ein hervorragender Blues-Spieler gewesen sein. Seinen kraftvollen Ton hat er sich laut Brothers von Lumpensammlern abgeguckt, die ihr Kommen mit überdimensionalen Blechhörnern ankündigten. Sie gehörten um 1900 fest ins Stadtbild von New Orleans. In der Bevölkerung waren sie beliebt, denn im Austausch gegen Lumpen und Schrott hatten sie immer kleine Spielsachen für die Kinder bei sich. Boldens Musik war somit sehr dicht an der Alltagserfahrung der Menschen.
Der Kornettist führte ein sehr unstetes Leben. Trotz seiner Popularität war er kein Berufsmusiker. Er galt als begnadeter Faker. Ab 1906 entglitt ihm jedoch die Kontrolle über sein Leben und die Geschäfte. Er litt unter Kopfschmerzattacken, wurde erratisch, und Posaunist Frankie Dusen übernahm schrittweise die Band. Nachdem Bolden zu einem Auftritt außerhalb von New Orleans nicht erschienen war, feuerte Dusen den ehemaligen Bandleader und führte die Band allein weiter. Bolden irrte als unbedeutender Sideman in Bands wie der Allen Brass Band weiter durch die Stadt. Der Legende nach verlor der einstige Held von New Orleans 1906 bei einer Parade von einem Moment auf den anderen den Verstand und fristete die restlichen dreißig Jahre seines Lebens in einer Irrenanstalt. Diese von Frederic Ramsey und Charles Edward Smith 1939 in ihrem Buch Jazzmen in die Welt gesetzte Geschichte relativiert Vic Hobson. In der Erinnerung der Zuträger für das Buch seien wahrscheinlich zwei Geschichten durcheinandergeraten: der von der Zeitung Times Picayune am 4. September 1906 konstatierte plötzliche Erschöpfungstod des Musikers William Spillis bei der Labour Day Parade und der galoppierende Wahnsinn Buddy Boldens.
Wie auch immer, der Grund für dieses plötzliche Erlöschen von Boldens Genie ist unbekannt. Donald M. Marquis mutmaßt, dass eine seiner Frauen ihn vergiftet haben könnte. Unter Psychiatern kursiert die Vermutung, dass er auch schon vor jenem verhängnisvollen Tag dem Wahnsinn anheimgefallen sei und nur deshalb so verrückt gespielt habe.
Tonträger von Bolden sind nicht mehr nachweisbar. Diese Tatsache bedeutet jedoch nicht, dass er seine Musik nicht dokumentiert hätte. Boldens Posaunist Willy Cornish erinnerte sich an einen Marsch, den die Band irgendwann zwischen 1890 und 1898 aufgenommen habe. Ins Absurditätenkabinett der Jazz-Annalen gehört die Story, warum von dieser Aufnahme so lange nichts bekannt war. Der amerikanische Jazzkritiker und Mitglied der Hot Record Society Charles Edward Smith wollte verhindern, dass sein Jazzmen-Co-Herausgeber Ramsey als Erster auf diesen Wachszylinder stoßen könnte, und kaufte Cornish für zehn Dollar das Versprechen ab, dieses Geheimnis für sich zu behalten (Hobson: Creating Jazz Counterpoint, S. 12 ff). Die Rechnung ging bekanntermaßen nicht auf, die Aufnahme blieb verschollen. Donald M. Marquis fand später heraus, dass diese und viele andere frühe Aufnahmen auf Wachszylindern, die der deutschamerikanische Ladenbesitzer Oscar Zahn entweder besessen oder gar selbst angefertigt hatte, bis Ende der 1960er Jahre auf dem Dachboden seiner Tochter gelagert haben. In Unwissenheit, welche Schätze sie da beherbergte, hat sie den ganzen aus ihrer Sicht alten Plunder jedoch unwiederbringlich entsorgt.
Die Folgen von Smiths egoistischem Anspruch, als Entdecker von Boldens Aufnahmen in die Musikgeschichte einzugehen, auf die Deutung des frühen Jazz lassen sich nicht ermessen. Hätte Cornish sein Wissen frei zur Verfügung gestellt, hätte das Jahr 1917 definitiv eine weitaus geringere Rolle in der Jazzgeschichtsschreibung gespielt. Wie viele Kopien von Boldens Zylinder-Aufnahme gemacht wurden, entzieht sich unserer Kenntnis. Bis heute wird fieberhaft weiter nach dieser Inkunabel des Jazz gefahndet.
Bekannt ist von Bolden immer noch die Komposition »Funky Butt«, aus der Jelly Roll Morton den »Buddy Bolden’s Blues« machte. Und falls man das überhaupt so sagen darf, gibt es eine einzige Aufnahme, die den Bolden-Stil halbwegs glaubwürdig repräsentiert. 1943 wurde Bunk Johnson, der mit Bolden gespielt hatte, gebeten, Boldens Spielweise aus der Erinnerung zu rekonstruieren. Mit der Pianistin Bertha Gonsoulins nahm er ein vierminütiges Bolden-Medley auf, das von Kennern wie Hardie und Hobson für einigermaßen authentisch gehalten wird.
In der Rivalität zwischen Bolden und Robichaux war noch einmal die alte Animosität zwischen Schwarzen und Kreolen aufgebrochen. Erst der kreolische Kornettist Manuel Perez führte die Errungenschaften Boldens mit denen der Kreolen zusammen. Er vereinte in sich Reader und Faker und hob den Gegensatz zwischen schwarzem und kreolischem Ansatz auf. Perez war neben Bolden und Robichaux der dritte populäre Musiker des New Orleans Jazz vor 1907. Ab 1903 leitete er die 1884 gegründete Onward Brass Band, mit der er bereits 1915, also zwei Jahre vor Beginn des großen Exodus, nach Chicago ging. In der Onward Brass Band waren teilweise über dreißig Musiker beschäftigt. Diese Großformation war jedoch keineswegs mit der späteren Big Band vergleichbar.
Dusen führte die Bolden Band indes unter dem Namen »Eagle Band« bis 1917 weiter. Danach gingen er und andere Mitglieder der Combo wie Kornettist Buddy Petit nach Los Angeles zu Jelly Roll Morton, mit dem sie sich jedoch rasch überwarfen, weil dieser sich über ihr provinzielles Auftreten lustig machte. Zu den wechselnden Mitgliedern der Eagle Band, von der keine Aufnahmen überliefert sind, gehörten spätere Jazzgrößen wie Sidney Bechet, Johnny und Baby Dodds, Freddie Keppard, Bunk Johnson und King Oliver.
Basin Street Blues
1907 begann sich die Situation für schwarze und farbige Musiker zu verbessern, weil sich ihr Aktionsradius nicht mehr auf Tanzhallen und Straßenecken beschränkte, sondern aufs Rotlichtmilieu ausweitete. Ende des 19. Jahrhunderts war in dem Viertel Storyville nach dem Vorbild holländischer und deutscher Hafenstädte ein industrieller Vergnügungsbetrieb eingerichtet worden. Dort hatte es schon immer Musik gegeben, doch die beschränkte sich aufs Klavier. Jedes Bordell beschäftigte einen Pianisten, der in der Regel den Titel Professor trug. Blasinstrumente hingegen waren in Storyville verboten.
Kathy J. Ogren schätzt, dass es 1902 in New Orleans 85 Jazzclubs, 200 Bordelle und 800 Saloons gab. Diese gemessen an einer Gesamtbevölkerung von ca. 300 000 Einwohnern gigantische Zahl von Etablissements lässt unschwer darauf schließen, dass diese Einrichtungen kaum für die Einheimischen gedacht waren. Der Bedarf an Pianisten war hoch, und Wegbereiter des Jazz-Pianos wie Eubie Blake oder James P. Johnson, die zwanzig Jahre später in New York Weltgeltung erlangen sollten, konnten in diesem Umfeld allein aufgrund von Trinkgeldern bis zu 1000 Dollar wöchentlich verdienen. Vor allem deutsche Seeleute standen neben den Italienern in dem Ruf, großzügig Trinkgelder zu verteilen.
Der Chronist Al Rose stellte die Hypothese auf, dass sich der Jazz, obwohl nicht in Storyville geboren, vor allem deshalb so gut entfalten konnte, weil er in dem legalisierten Halbweltviertel eine stabile Grundlage hatte. Ekkehard Jost hält die Bedeutung von Storyville für den Jazz hingegen für überschätzt (Sozialgeschichte des Jazz, S. 36). Tatsächlich wäre es fatal, zu behaupten, Jazz wäre in seinen Formationsjahren oder kurz danach Bordellmusik gewesen. Er war lediglich ein Idiom, das für eine Zeitlang in den Bordellen von New Orleans Zuflucht gefunden hatte, weil sich seine Subkultur in deren Halbschatten am besten behaupten konnte.
Ab 1907 öffnete sich Storyville für Brass und Dance Bands. Da die Einrichtungen in dem Vergnügungsviertel ausschließlich einem weißen Publikum zu Diensten waren, setzte sich hier die Erfahrung des Congo Square fort. Wie die schwarzen Prostituierten und Kellner ihre weiße Kundschaft zu bedienen hatten, spielten auch die schwarzen Musiker ausschließlich für weißes Publikum. Noch drastischer drückte sich diese Diskrepanz zwischen schwarzen Musikern und weißem Publikum in Gartenpartys der weißen Oberschicht aus. Sie wurden extrem gut bezahlt und waren deshalb unter den Musikern besonders beliebt.
Die soziale Stellung des einzelnen Musikers verbesserte sich dadurch erheblich. Der hauptberufliche, wirtschaftlich abgesicherte Musiker war ein völlig neues Berufsbild unter Schwarzen. Die Kehrseite der Medaille bestand darin, dass die Musik sich aus dem öffentlichen Raum mehr und mehr hinter Wände und verschlossene Türen zurückzog. Anfangs versuchten die Musiker noch, das »Street Feel« in den Club zu tragen, indem sie an unterschiedlichen Ecken des Raumes Aufstellung nahmen, doch diese Praxis konnte sich nicht durchsetzen.
Mit der Verbesserung der konkreten Lebens- und Arbeitssituation vieler schwarzer Musiker ging in New Orleans eine weitere Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den ethnischen Gruppen einher. 1910 hatte der farbige Boxer Jack Johnson dem Weißen Jim Jeffries den Titel des Weltmeisters im Schwergewichtsboxen abgenommen. Infolgedessen kam es in vielen amerikanischen Großstädten zu gewalttätigen Übergriffen von Weißen auf Schwarze. Die kreolischen Wohnviertel blieben verschont. Auch viele Weiße unterschieden immer noch zwischen Kreolen und Schwarzen. Jahrzehnte nach Einführung der Jim Crow Laws gab es jedoch auch noch Kreolen, die auf diese Differenzierung großen Wert legten. Der zwischen 1884 und 1890 unter dem Namen Ferdinand Joseph La Menthe in New Orleans geborene kreolische Pianist Jelly Roll Morton war bekannt für seinen ausgeprägten Rassismus. »Als Kreole hegte er eine offensichtliche Abneigung gegenüber ›schwarzen Negern‹ und ihrer Musik«, schrieb Gunther Schuller.
Morton begann seine Karriere als Gitarrist und Harmonikaspieler und machte sich 1902 in Storyville als Ragtime-Pianist einen Namen. Deshalb behauptete er, 1902 den Jazz erfunden zu haben. Als einer der ersten Jazzmusiker tourte er durch den Süden und Westen der USA, um diese Musik bekannt zu machen. Bereits 1914 ließ er sich in Chicago und etwas später in New York nieder. Sein »Jelly Roll Blues« von 1915 gilt als erste publizierte Jazz-Komposition. 1918 machte er in Los Angeles Aufnahmen, die heute verschollen sind. 1926 gründete er mit den Red Hot Peppers eine der wichtigsten Formationen des New Orleans Jazz, später trat er mit Musikern wie Louis Armstrong, Sidney Bechet und Baby Dodds auf.
Morton trug maßgeblich zur Verfeinerung des noch jungen Jazz bei und setzte einen intellektuellen Kontrapunkt zum proletarischen Habitus Buddy Boldens. Er war einer der ersten Jazzmusiker, die ihre Kompositionen notierten, und entwickelte ein Konzept »mit formaler Gliederung durch geplante Solofolge und Verknüpfung von Soli und arrangierten Partien, mit dynamischer Differenzierung und Klangfarben-Kalkulation, rhythmischen Wechseln und Kontrastthemen« (Kunzler: Jazz-Lexikon, Bd. 2, S. 896). Morton studierte genauestens die europäische Klassik, als deren logische Konsequenz er den Jazz empfand. Vom Klavier forderte er, es müsse ein ganzes Orchester ersetzen können.
Seine Eitelkeit und Egozentrik isolierte Morton jedoch weitgehend vom Rest der zwar als Einzelkämpfer agierenden und doch als Community in Erscheinung tretenden Jazzszene. Neben seinem theoretischen und praktischen Engagement für den Jazz war er begeisterter Pool-Spieler und Waffennarr und verdiente sich sein Geld in jungen Jahren vorübergehend als Zuhälter. Er gebärdete sich gern wie ein Gangster und ließ sich einen Diamanten in einen Schneidezahn einsetzen.
Auch der ebenfalls aus New Orleans stammende Pianist Clarence Williams beanspruchte für sich die Erfindung des Jazz. Immerhin vermerkte der umtriebige Komponist als Erster den Begriff »Jazz« auf einem Notenblatt. Williams war halb Kreole und halb Indianer. Mit seiner Blue Five Combo gab er nicht nur Armstrong und Bechet Arbeit, »er war auch einer der ersten Afroamerikaner, die eine wichtige Figur im Jazz Business wurden, indem er Bands managte sowie Standards ko-komponierte und publizierte«, wie Tim Brooks und Richard Keith Spottswood in ihrem Buch Lost Sounds (S. 507) konstatieren. 1915 gründete Williams gemeinsam mit dem erfolgreichen kreolischen Geiger Armand Piron eine Publishing Company.
Bemerkenswert ist der Umstand, dass Columbia Records Williams im Februar 1916 eine Aufnahme ermöglichte. Mit seiner Frau, der Sängerin Georgia Davis, Geiger Piron und der Columbia Haus-Band unter Leitung von Charles A. Prince nahm er den Song »Brown Skin, Who You For?« wahrscheinlich in New Orleans auf einem Diktaphon auf und erhielt dafür das fürstliche Honorar von 1600 Dollar. Die genauen Umstände der Aufnahme sind obskur; es ist auch möglich, dass in New Orleans nur eine Feldaufnahme angefertigt wurde, die dann in New York von der Prince Band kopiert wurde.
Die beschriebene Erstaufnahme des Stückes von 1916 ist nicht identisch mit der allgemein zugänglichen Version von 1921, doch letztere lässt zumindest Schlüsse auf das Original zu. Im Vordergrund der selbst für Anfang der 1920er Jahre klanglich erstaunlich guten Aufnahme stehen die Stimmen. Instrumentale Improvisation ist in diesem Kontext nicht vorgesehen, Synkopierungen und Breaks hingegen schon. Aus heutiger Sicht spricht nichts dagegen, in »Brown Skin, Who You For?« eine frühe Jazz-Aufnahme zu sehen. Zeitzeugen versichern, dass es allerdings bei Auftritten vor Publikum viel mehr zur Sache gegangen sei als bei der Studio-Session. Improvisation war im Jahr 1916 kein Kriterium zur Bewertung oder Kategorisierung von Musik. Komponisten wie Morton oder Williams waren musiktheoretisch gebildet und pflegten ihre Musik aufzuschreiben, das »Faken« war daher nicht nötig. In jedem Fall erfüllte der Song alle Kriterien von »Syncopated Music«. Das Portal basinstreet.com geht sogar so weit, den Song wegen seiner vokalen Breaks als ersten Rap-Song zu bezeichnen. Williams’ Hautfarbe war kein Hinderungsgrund für diese frühe Plattenaufnahme. Brooks und Spottswood führen einen gewichtigen Grund an, warum Williams in den Jazz-Annalen nicht das Privileg der ersten Plattenaufnahme zuteilwurde. »Gewöhnlich wird von Williams angenommen, er hätte erst 1921 aufgenommen, aber neuere Forschungen legen nahe, dass er einige unveröffentlichte Aufnahmen […] bereits fünf Jahre früher, 1916 gemacht hat« (S. 507). Mit anderen Worten, die frühe Existenz dieser Aufnahme war schlichtweg nicht bekannt. Im weiteren Verlauf seiner Karriere war Williams sehr umtriebig. Neben zahlreichen Aufnahmen unter eigenem Namen machte er die Blues-Sängerin Mamie Smith 1920 zum Star, wenig später nahm er die ersten Songs mit Bessie Smith auf. 1943 verkaufte er seine stattliche Sammlung von 2000 Songs für 50 000 Dollar an die Plattenfirma Decca.
Eine der erfolgreichsten Band-Institutionen in New Orleans war von 1912 bis 1919 das Orchester von Kid Ory. Es diente als Sprungbrett für viele später führende Musiker des jungen Stils, allen voran King Oliver, Armstrong und Bechet. Ory hatte als junger Musiker noch mit Buddy Bolden gespielt. Vom Banjo kommend, übertrug er dessen Begleitelemente auf die Posaune. Bei diesem »Tailgate« genannten Stil (»Tailgate«, weil die Posaunisten immer auf der Heckklappe des Bandwagens saßen, um die anderen Bandmitglieder nicht mit ihrem Zug zu stören) wird das melodische Spiel auf Trompete oder Kornett mit der Posaune rhythmisch pointiert. Orys Ton war robust und rau, aber auch sehr gruppendienlich.
1919 siedelte der Posaunist aus gesundheitlichen Gründen nach Los Angeles um, wo seine Band unter dem Namen Spike’s Seven Pods Of Pepper Orchestra 1921 einige Singles aufnahm, die als früheste erhaltene Aufnahmen von schwarzem Jazz aus New Orleans gelten. Ab 1925 war er in Chicago aktiv und kam unter anderem in Louis Armstrongs Hot Five und Hot Seven unter. Während der Depression zog er sich zeitweilig aus der Musik zurück und unterhielt einen Hühnerhof, um während des Dixieland Revivals in den vierziger Jahren zu den großen Stars zu gehören.
Das führende Instrument des frühen Jazz in New Orleans war ohne Frage das Kornett. Unter den wichtigen Bandleadern waren Kornettisten überproportional vertreten. Wie die Pianisten von Storyville den inoffiziellen Titel »Professor« trugen, gab es stets einen Trompeter, der zum »King« gekrönt wurde. Der erste King war Bolden gewesen, ihm folgte der Kreole Freddie King Keppard, der auch als Nachfolger Boldens in Frankie Dusen’s Eagle Band agierte. Keppard galt als glänzender Improvisator, der jedoch penibel darüber wachte, dass niemand seine Technik kopierte. Um sicherzugehen, dass keiner seiner Konkurrenten seine Licks stahl, legte er beim Spiel ein Handtuch über die Hände (eine Marotte, die nicht nur von Keppard berichtet wird). Doch seine Paranoia ging noch weiter. Anders als die meisten anfangs recht sesshaften Musiker aus New Orleans war Keppard viel auf Reisen. Auf einer dieser Reisen wurde ihm 1915 – einige Quellen sprechen von 1916 – von der Victor Talking Machine Company ein Plattenvertrag angeboten. Der Kornettist schlug ihn aus, denn auch hinter diesem Angebot vermutete er nichts als den Versuch, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Außerdem war ihm das damals übliche Honorar von 25 Dollar zu gering. »So viel gebe ich am Tag für Gin aus«, wird er von Zeitgenossen zitiert. Angeblich forderte er dieselbe Gage wie der Victor-Star Enrico Caruso. Allerdings gibt es eine Aufnahme des Songs »Tack ’em Down« von einer Creole Jass Band auf Victor, die von einigen Fachleuten als Testpressung von Freddie Keppard und der Original Creole Band angesehen wird. 1917 war Keppard einer der ersten Vertreter des New Orleans Jazz, die nach Chicago gingen. Erst dort machte er 1924 seine ersten regulären Aufnahmen. Allerdings erkrankte er kurz darauf an Tuberkulose, verfiel dem Alkohol und nahm sich 1933, verarmt und vergessen, das Leben.
Nachdem Keppard 19121920