image

Urs Eigenmann
Dom Hélder Câmara

topos premium

Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus
in Gemeinschaft mit der Edition Exodus, Luzern

Urs Eigenmann

Dom Hélder
Câmara

Sein Weg zum prophetischen Anwalt
der Armen

topos premium

Image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN (topos premium): 978-3-8367-0015-3
ISBN (Edition Exodus): 978-3-905577-95-2
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5043-1
E-Pub: ISBN 987-3-8367-6043-0

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
In Gemeinschaft mit Edition Exodus, Luzern
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der
Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer.
Umschlagabbildung: © KNA Bild
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Vorwort

I. Vom Verteidiger des Status quo zum Befürworter einer strukturellen Revolution

Lebensphasen und Bekehrungen

Prägende Erfahrungen in der Kindheit

II. Unter dem Einfluss des brasilianischen Integrismus und Integralismus

Seminarausbildung im Geiste kirchlicher Restauration und theologischer Apologetik

Kontakte mit der integristischen Bewegung und Aktivitäten in faschistisch inspirierten Organisationen

Als Priester Funktionär der faschistischen integralistischen Partei

Abschied vom Integrismus und Rückzug aus der aktiven Politik

III. Entdeckung der sozialen Probleme und Zusammenarbeit mit dem Staat

Als Verantwortlicher der Katholischen Aktion in Kontakt mit den Verhältnissen Brasiliens

Ernennung zum Nationalen Vizekaplan der Katholischen Aktion

Verfasser der ersten sozialkritischen Stellungnahme

Von der Reform der Katholischen Aktion zur Gründung der Brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB)

Generalsekretär der Brasilianischen Bischofskonferenz

Bischof der Favelas und Zusammenarbeit mit dem Staat

Begegnung mit Kardinal Gerlier und die Option für die Armen

Der Kreuzzug des hl. Sebastian und die Entdeckung struktureller Ursachen des Elends

Höhepunkt der Zusammenarbeit von Kirche und Staat

Eine kritische Sicht der sozio-ökonomischen Verhältnisse und der Aufgabe der Kirche

Kritik am weltweiten Egoismus und die Forderung nach Gerechtigkeit

Anwalt einer armen Kirche im Dienste der Armen auf dem Konzil

Für grundlegende Reformen und gegen antikommunistische Propaganda

IV. Opposition zum Militärregime und weltweiter Einsatz für eine gewaltlose Revolution

Strukturelle Grundreformen von unten aufgrund der Option für die Armen

Rede zum Amtsantritt als Erzbischof von Olinda und Recife

Politische Kritik und Abwahl als Generalsekretär der CNBB

Ganzheitliche Entwicklung als wesentliche Dimension der Evangelisierung

Im Konflikt mit Militärbehörden, der Regierung und konservativen Kreisen

Auf der Seite der Arbeiter

Verteidigung und Präzisierung der Position

„Erklärung einiger Bischöfe der Dritten Welt“ und weitere Stellungnahmen

Subversiv und von Dom Sigaud zur Verhaftung empfohlen

Bewegung der Gewaltlosigkeit zur Veränderung der Strukturen

Gegen die Politik der Regierung und Angriffe von konservativer Seite

Mordanschlag gegen Mitarbeiter und Todesdrohung

Anwalt der Armen der Dritten Welt in den Industrienationen

Appelle an die Institutionen zwischen 1965 und 1970

Rede- und Reiseverbote des Vatikans

Zwischen internationaler Anerkennung und nationaler Ablehnung

Suche nach abrahamitischen Minderheiten seit 1970

V. Die Bekehrungen eines Bischofs

Äußere Faktoren und innere Motive

Berufliche Tätigkeit – Vom konservativen Parteifunktionär zum prophetischen Bischof

Sicht der Wirklichkeit – Von der Verteidigung des Status quo zur strukturellen Revolution

Kirche und Theologie – Vom Bündnis mit der Macht zur kritischen Funktion religiöser Rede

Die Option für die Armen und deren Implikationen

Gespräch mit Dom Helder Camara

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Dom Helder Camara1 (1909‒1999) ist im Laufe seines Lebens zwischen den 1920er- und den 1960er-Jahren einen langen Weg der Entwicklung in seinem Denken und Handeln zum prophetischen Anwalt der Armen gegangen, den er selbst als eine Folge von Bekehrungen bezeichnet hat. Dieser Weg wird im vorliegenden Band beschrieben und analysiert. Es handelt sich dabei um den vollständigen Nachdruck des zweiten Teils meiner Dissertation über das Leben und die Reden Dom Helder Camaras, die am 7. Februar 1984 an dessen 75. Geburtstag von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz angenommen worden ist.2 Die Publikation des biografischen Teils der Dissertation wird durch die Erstveröffentlichung des Gesprächs erweitert, das ich mit Dom Helder am 15. März 1979 in Paris führen konnte. Ein Jahr nach Erscheinen der Dissertation wurde am 10. April 1985 dem altersbedingten Rücktrittsgesuch von Dom Helder Camara durch den Vatikan entsprochen. Er musste noch miterleben, dass nicht der von ihm gewünschte Weihbischof José Lamartine Soares, sondern der unbekannte und konservative Bischof von Minas Gerais, José Cardoso Sobrinho, sein Nachfolger wurde.3 Unter diesem wurden 1989 das Regionalseminar des Nordostens und das Theologische Institut von Recife (ITER) geschlossen.4 Im Alter von über neunzig Jahren ist Dom Helder Camara am 27. August 1999 gestorben.

Vor allem aus zwei Gründen wird der biografische Teil der vergriffenen Dissertation neu herausgegeben. Der erste Grund ist die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung der Briefe von Dom Helder Camara aus dem Konzil.5 Der vorliegende Band zeigt zum einen auf, welchen Weg Dom Helder bis zum Konzil gegangen ist und was er weswegen auf dem Konzil einbringen wollte. Zum andern wird über den Weg berichtet, den er nach dem Konzil als prophetischer Anwalt der Armen gegangen ist.6 Der zweite Grund ist der am 3. Mai 2015 in der Erzdiözese Olinda und Recife offiziell eröffnete Seligsprechungsprozess von Dom Helder Camara. Das ist Zeichen der Anerkennung seines Lebens und Wirkens auch vonseiten der Kirche.

Im Bereich von Wissenschaft und Universität wurde die Bedeutung von Dom Helder Camara schon früher erkannt und gewürdigt. Bereits 1971 verlieh ihm die Universität Freiburg/Schweiz das erste von insgesamt 32 Ehrendoktoraten. Die Rede des damaligen Dekans, Professor Dr. Alois Müller, bezeugt das und ist es wert, vollständig wiedergegeben zu werden:

„Herr Bischof, lieber Bruder in Christus, seit dem 27. Juni 1970 steht Ihr Name in den Akten der Theologischen Fakultät. Damals fasste der Fakultätsrat einen Beschluss über Ihre Person, doch war dieser abhängig von Ihrer Anwesenheit in Freiburg, mit der man für den Dies academicus 1970 rechnete. Da sich jener Plan nicht verwirklichen ließ, blieb auch unser Beschluss unwirksam, bis wir erfuhren, dass Sie zum 50-Jahr-Jubiläum von Pax Romana nach Freiburg kommen würden. Augenblicklich erneuerte die Fakultät ihren Entscheid, nämlich Ihnen den theologischen Doktorgrad honoris causa zu verleihen. In kürzester Zeit wurde unser Gesuch von der römischen Studienkongregation gutgeheißen, und besonders der Großkanzler unserer Fakultät, der Generalmagister des Predigerordens, begrüßte den Beschluss.

Dieser Akt, Herr Bischof, verlangt nach einer Interpretation. Die Fakultät ist sich klar, dass es eher ihre eigene Ehre ist, wenn sie Sie zu ihren Doktoren zählt. Indes gehen wir damit auch eine theologische Verpflichtung ein. Dieser Akt bedeutet, dass Sie durch Ihr Leben, durch Ihr pastorales Wirken, durch Ihr Zeugnis ein Lehrer des Glaubens sind, ein wirklicher Ausleger der Wahrheit des Evangeliums, vor welchem die Inhaber theologischer Lehrstühle sich erheben und verneigen. Die Verleihung des theologischen Doktorats an Sie bedeutet eine Ausrichtung der Theologie selber nach der gelebten Wahrheit Jesu Christi, des Propheten der Liebe Gottes, seines Vaters, des Dieners der Menschen, seiner Brüder, des Schlachtopfers für den Frieden und die Gerechtigkeit.

Ihre Ehre, Herr Bischof, ist das lautere Zeugnis für Christus, das Sie vor der ganzen Welt ablegen; wir aber sind glücklich, sie zu verbriefen und zu verkünden durch unser akademisches Diplom, dessen Wortlaut ich hiermit bekanntgebe:

Aus Liebe zu einem verstehenden Glauben bleibt er der Theologie zugetan, auch wenn die apostolische Liebe ihn drängt, sich ganz in Arbeit und Mühen aufzuopfern;

Er arbeitet unermüdlich daran, seine einfache Landbevölkerung zu schulen, ihr Arbeitstalent auszubilden, ihre Menschenwürde und ihren christlichen Adel zu fördern;

Im Verein mit dem ganzen lateinamerikanischen Bischofskollegium widmet er sich der Entwicklung besserer Seelsorgestrukturen durch Förderung der Mitverantwortung aller Gläubigen;

Kraftvoll nach Gerechtigkeit rufend, spricht er allerorts für die zum Schweigen Verurteilten, damit in den Herzen und den Sitten, aber auch in den Gesetzen und den Strukturen zwischen Völkern und Nationen brüderliche Freundschaft herrsche und die Rechte aller, besonders der Armen, geachtet werden;

Er hört nicht auf, mit der Kühnheit eines Propheten die Reichen und Mächtigen zu mahnen, begegnet aber auch seinen Widersachern mit Liebe und kämpft für den Frieden stets nur mit den Waffen des Friedens.“7

Aus Anlass des 100. Geburts- und 10. Todestages von Dom Helder Camara erschien im Jahre 2009 ein Heft der Zeitschrift Concilium mit dem Titel „Kirchenväter Lateinamerikas“. Darin wird neben den Bischöfen Leonidas Proaño, Méndez Arceo, Aloisio Lorscheider und Oscar Arnulfo Romero auch Dom Helder Camara als Kirchenvater Lateinamerikas gewürdigt. In der Einleitung des Heftes heißt es: „Manche Bischöfe der Generation des Konzils und der Versammlungen von Medellín und Puebla, oftmals von der eigenen Hierarchie geächtet und bekämpft, gewannen allgemein Anerkennung als ‚Glaubenslehrer‘ und in einigen Fällen als Märtyrer. Einige Bischöfe der Generation des Konzils, der Versammlungen von Medellín und Puebla sind für die Christen Lateinamerikas und nicht nur für diese tatsächlich zu Bezugspersonen von grundlegender Bedeutung geworden, und zwar durch das von ihnen hervorgebrachte Glaubensmilieu, durch die von ihnen angeregten Stil- und Praxisformen, durch die von ihnen geschaffene Solidarität, durch das Erbe, das sie für das kirchliche Leben und die Theologie der folgenden Zeit hinterlassen haben. Gelegentlich ist vorgeschlagen worden, diese Generation von Bischöfen den Vätern der Kirche des Ostens und des Westens an die Seite zu stellen, die im 4. und 5. Jahrhundert gewirkt haben und von der Alten Kirche als ‚Normen der Theologie‘ und ‚Autoritäten des Glaubens‘ betrachtet wurden. Mit diesem Heft von CONCILIUM wollten wir diesen Vorschlag aufgreifen, weil wir überzeugt sind, dass die Lehre und die martyria mancher dieser ‚Väter der Kirche‘ – nicht nur der lateinamerikanischen, sondern der universalen Kirche – nicht einer chronologisch abgeschlossenen Phase angehören. Vielmehr repräsentieren sie, auch wenn wir heute in einem zutiefst andersartigen historischen Kontext leben als vor einigen Jahrzehnten, in augustinischem Sinne ‚die Gegenwart der Vergangenheit‘, die immer noch Möglichkeiten einer Relektüre bietet, die es versteht, sich deren fortdauernde Fruchtbarkeit als inspirierende Quelle der Inspiration zur Erschließung neuer Wege der Nachfolge eines Lebens im Geist des Evangeliums zunutze zu machen – und dies nicht nur in Lateinamerika.“8

Von den Kirchenvätern der lateinamerikanischen Kirche sagt José Comblin: „Sie hatten alle Eigenschaften von Kirchenvätern: 1. Sie zeichneten sich durch eine offensichtliche Heiligkeit aus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dom Hélder Câmara lebte wirklich arm. Er wohnte in der Sakristei einer alten Kapelle aus der Kolonialzeit. Er hatte kein Auto und keine Hausangestellte. Er aß im Imbiss an der Ecke, wo auch die Arbeiter dieser Gegend ihre Mahlzeit einnahmen. Er öffnete selbst die Tür und empfing alle Bettler, die vorbeikamen. Dom Hélder war ein Mystiker, der ständig in der Gegenwart Gottes lebte und Glaube und Hoffnung ausstrahlte. Er stand jede Nacht um zwei Uhr früh auf, um zu beten, und oftmals schrieb er seine Gebete nieder. Er hinterließ sechstausend Seiten mit Gebeten. […]

2. Sie hingen dem Evangelium in größtmöglicher Treue an, widmeten alle Minuten ihres Lebens diesem Evangelium, ohne jemals Zeit für ihre persönlichen Bedürfnisse zu reservieren.

3. Sie verstanden die Zeichen der Zeit in tiefer Weise und richteten ihr gesamtes Leben daraufhin aus, den Herausforderungen ihres Volkes zu entsprechen.

4. Sie wurden und werden immer noch von all denen, die sie kannten, als Heilige verehrt. Alle wurden sie von der Zivilgesellschaft und den kirchlichen Amtsinhabern verfolgt. Alle machten sie Zeiten der Verlassenheit durch. Alle mussten das Unverständnis der Geschwister ertragen. Sie kannten die Einsamkeit.“9

Luzern, am 7. Februar 2016,
dem 107. Jahrestag der Geburt von Dom Helder Camara

Urs Eigenmann

I. Vom Verteidiger des Status quo zum Befürworter einer strukturellen Revolution

Lebensphasen und Bekehrungen

Unter dem Titel Die Bekehrungen eines Bischofs hat José de Broucker in einem Buch Aufzeichnungen seiner Gespräche mit Dom Helder Camara veröffentlicht. Der Titel des Buches ist nicht zufällig gewählt; denn Dom Helder selbst bezeichnet sein Leben als eine Folge von Bekehrungen und gesteht, auf seinem Weg von einem Irrtum in den andern geraten zu sein, bevor er zu seiner heutigen Sicht der ökonomischen und politischen Wirklichkeit sowie der Verantwortung der Christen und der Kirche angesichts dieser Wirklichkeit gefunden habe. Im Laufe einer fast dreißig Jahre dauernden Entwicklung in Bezug auf seine politische Option und sein theologisches Denken bekehrte er sich vom integralistischen Verteidiger des Status quo im Interesse der Herrschenden zum Befürworter einer strukturellen Revolution im Dienste der Unterdrückten und versteht sich heute als Stimme jener ohne Stimme und ohne Zukunft. Deshalb wird er von den einen als roter Erzbischof und Verbündeter der Kommunisten verketzert oder als utopischer Fantast belächelt, von andern dagegen als Anwalt der Armen und Vertreter der Gewaltlosigkeit geachtet und ist mehrmals für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden.

In der persönlichen Lebensgeschichte und Entwicklung Dom Helders spiegelt sich jener Weg der brasilianischen Kirche wider, den diese zunächst als Stütze der bestehenden Ordnung, dann als Partnerin des Staates im Rahmen einer technokratischen Entwicklungskonzeption und schließlich als Verbündete des unterdrückten Volkes gegangen ist. Einerseits hat Dom Helder diesen Weg durch seine Initiativen und Stellungnahmen vorbereitet und beeinflusst, anderseits hat ihn dieser Weg, wie er 1968 in Medellín und 1979 in Puebla von den Versammlungen des lateinamerikanischen Episkopats für den ganzen Kontinent eingeschlagen bzw. bestätigt worden ist, seinerseits geprägt.

Dom Helder selbst teilt sein Leben in drei Phasen ein, die sowohl in geografischer als auch zeitlicher Hinsicht je eine Einheit bilden. In einer ersten Phase lebte er von seiner Geburt im Jahre 1909 an bis Ende 1935 in Fortaleza im brasilianischen Nordosten, in einer zweiten von Anfang 1936 bis zum Frühjahr 1964 in Rio de Janeiro und schließlich in einer dritten wiederum im Nordosten, diesmal in dessen Metropole Olinda und Recife.

Diese in geografisch-zeitlicher Hinsicht klar voneinander abgrenzbaren Phasen decken sich in etwa mit den verschiedenen Etappen im Leben Helder Camaras in Bezug auf seine berufliche Tätigkeit und sein Selbstverständnis, seine Analyse der sozio-ökonomischen und politischen Wirklichkeit, seine sozial- und entwicklungspolitischen Konzeptionen, seine Sicht der Verantwortung der Christen und der Kirche sowie der Beziehungen zwischen Kirche und Staat und sein theologisches Denken.

In diesem Kapitel wird auf die prägenden Erfahrungen Helder Camaras in der Kindheit hingewiesen. In einem zweiten wird es um die im Wesentlichen durch den Integralismus bestimmte Phase seines Lebens gehen. Ein drittes ist der Entwicklung des Denkens und des politischen Engagements im Rahmen des Modells der „Neuen Christenheit“, d. h. der Partnerschaft von Kirche und Staat ohne Einbezug des Volkes, gewidmet, im vierten soll über jenen Lebensabschnitt Dom Helders berichtet werden, der mit dem Übergang vom Modell der „Neuen Christenheit“ zur „Kirche des Volkes“ zusammenfällt, und im fünften werden die Aspekte und Etappen seines Weges zusammengefasst.10

Ohne den Anspruch zu erheben, eine umfassende Biografie Dom Helder Camaras vorzulegen, werden die Hauptetappen in seinem Leben dargestellt, wobei auf die Geschichte Brasiliens und der brasilianischen Kirche so weit eingegangen wird, als es für das Verständnis seines Weges hilfreich ist. Dieser Weg bildet seinerseits den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis des weltweiten Engagements Dom Helders als Anwalt der Armen und seiner Reden in den Industrienationen.

Prägende Erfahrungen in der Kindheit

Helder Pessoa Camara11 wurde am 7. Februar 1909 als zweitjüngstes von dreizehn Kindern in Fortaleza, der Hauptstadt des Staates Ceará, im Nordosten Brasiliens geboren. Sein Vater João Câmara Filho war zunächst als Journalist bei der Lokalzeitung A República tätig, die dessen Vater gehörte und von diesem geleitet wurde. Nachdem das Blatt in andere Hände übergegangen war, arbeitete Helders Vater in der Importfirma der jüdischen Gebrüder Boris als Buchhalter, war aber nebenbei weiterhin journalistisch tätig und schrieb vor allem Theaterkritiken. Die Mutter Adelaida Pessoa Câmara unterrichtete als Volksschullehrerin an einer öffentlichen Schule, die sich in einem Teil des Wohnhauses der Familie Camara befand, da der Staat damals nicht über genügend eigene Gebäude verfügte und sich deshalb in Privathäusern einmietete. So lag es nahe, dass Helder in den ersten Jahren zu seiner eigenen Mutter in die Schule ging. Der Schulbesuch stellte zu jener Zeit im Nordosten Brasiliens ein Privileg dar, da ihn der Staat nicht allen Kindern ermöglichen konnte, obwohl er gesetzlich vorgeschrieben war.12 Die Familie Camara gehörte in finanziell-wirtschaftlicher und kulturell-gesellschaftlicher Hinsicht der Mittelschicht an. Sie verfügte über ein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen und bewohnte in der Stadt ein Haus, das ihr die Firma der Gebrüder Boris zuerst vermietet und nach 35-jähriger Tätigkeit des Vaters im Unternehmen geschenkt hatte.13 Helders Familie nahm am kulturellen Leben regen Anteil. Der Vater war leidenschaftlich am Theater interessiert, Helders Patenonkel Carlos schrieb Theaterstücke, die bis zu zweihundert Aufführungen erlebten, und Helders ältester Bruder Gilbert war Literaturkritiker und kannte sich sowohl in der brasilianischen als auch in der französischen Literatur aus.14 Die wirtschaftlichen Verhältnisse und die soziale Stellung der Familie Camara unterschieden sich so einerseits von jenen der reichen Oberschicht der Großgrundbesitzer15 und Handelsunternehmer,16 aber anderseits auch von jenen der grundbesitzlosen Landbevölkerung17 oder der Bewohner in den Elendsvierteln am Rande der Städte.18 Helders Familie blieb zudem vom Schicksal derer verschont, die ihre Heimat verlassen mussten, weil weite Gebiete des brasilianischen Nordostens – zum einen wegen der starken Bevölkerungszunahme bei gleichzeitig abnehmender landwirtschaftlicher Anbaufläche und zum andern wegen der immer wiederkehrenden Dürreperioden – zeitweise nicht mehr alle Bewohner ernähren konnte.19

Obwohl die Familie Camara finanziell besser gestellt war als die Mehrheit der Bevölkerung des brasilianischen Nordostens, reichte es ihr doch nur zum Lebensnotwendigsten. Helder Camara erinnert sich, dass in der Familie öfters nicht nur auf die Butter oder den Nachtisch verzichtet werden musste, sondern zuweilen das Brot nicht mehr ausreichte, um unter die Kinder verteilt zu werden, manchmal überhaupt nichts mehr zu essen vorhanden war, seine Mutter dann weinte und sein Vater nur mehr stumm dasaß.20 Aber nicht nur in Bezug auf die Ernährung erfuhr Helder in seiner Kindheit am eigenen Leib die Armut und die Not in jenem Nordosten Brasiliens, der einst im 16. und 17. Jahrhundert wirtschaftlich blühendes Zentrum der portugiesischen Kolonie gewesen war, nach der einsetzenden Industrialisierung des brasilianischen Südens aber immer mehr zu einem abhängigen Randgebiet absank und heute eines der unterentwickeltsten Gebiete der westlichen Halbkugel ist,21 sondern auch in Bezug auf die Kindersterblichkeit; denn von seinen zwölf Geschwistern starben sechs bereits als Kinder, davon fünf innerhalb eines Monats an Diphtherie, weil das Serum für sie nicht rechtzeitig zur Verfügung stand.22

Neben der Armut, die Helder Camara als Kind in- und außerhalb seiner Familie erlebt und gesehen hatte, haben ihn vor allem seine Eltern entscheidend geprägt. Die Mutter beeindruckte ihn wegen ihrer Offenheit, ihres Sinnes für Gerechtigkeit und ihrer Fähigkeit, Menschen zu verstehen und menschliche Schwächen zu begreifen.23 Sie war nicht nur insofern seine erste Lehrerin, als sie ihm Lesen und Schreiben beibrachte, sondern sie war ihm durch ihr gelebtes Beispiel vor allem auch Lehrerin des Lebens. Helder Camara erinnert sich daran, dass sie ihm als Fünfjährigem eine für die damalige Zeit keineswegs selbstverständliche positive Sicht von Körperlichkeit und Sexualität vermittelte, die ihn prägen sollte. Die Mutter beeindruckte ihn, als sie nicht zögerte, ihn um Verzeihung zu bitten, nachdem sie ihn in der Schule intellektuell überfordert hatte, als sie zu ihm stand, nachdem er sich einmal entgegen der Aufforderung seiner Lehrerin Salome Cisne, die ihn in den Jahren 1920‒1923 in einer Privatschule unterrichtete und die nicht ohne Prügelstrafe auskam, geweigert hatte, einen Kameraden zu schlagen, weil dieser eine Frage nicht beantworten konnte, und als sie nach der Ermordung eines beliebten Dichters in Fortaleza angesichts des großen und verständlichen Mitleids der ganzen Stadt neben der Mutter des Ermordeten jene des Mörders nicht vergaß und sagte, sie wisse nicht, welche Mutter sie mehr bedauern solle.24 Das positive Verhältnis seiner Mutter zur menschlichen Leiblichkeit, ihre Bereitschaft, eigene Fehler selbst den Kindern gegenüber einzugestehen, ihre Überzeugung, in der Erziehung hätten körperliche Strafen keinen Platz ‒ Helder Camara kann sich nicht erinnern, von seinen Eltern je geschlagen worden zu sein ‒25, und ihre Sensibilität für Menschen, an die kaum jemand denkt, haben Helder Camara stark beeinflusst.

Mit der Erinnerung an seinen Vater verbinden sich für Helder Camara wichtige Erfahrungen in Bezug auf weltanschauliche Toleranz und in Bezug auf sein Priesterbild. Während die Mutter wohl katholisch war, jedoch nur einmal jährlich zur Kommunion ging und im Übrigen kirchlich nicht praktizierte, war der Vater Freimaurer und ohne jegliche kirchliche Bindung. Dies hinderte ihn allerdings nicht daran, seine Kinder taufen zu lassen sowie eine Tradition seines eigenen Vaters weiterzuführen und im Monat Mai mit der ganzen Familie vor dem Hausaltar den Rosenkranz zu beten und Marienlieder zu singen.26 Helder Camaras Vater war wie dessen Vater, Brüder und die ganze Familie nicht aus antireligiösen, antikirchlichen oder antichristlichen Gründen, sondern eher aus antiklerikalen Motiven Freimaurer.27 Auf die Bitte einer seiner Töchter, die Nonne werden wollte, er solle der Freimaurerei abschwören, gab er zur Antwort, dies sei ihm unmöglich, da er damit das Gedächtnis an seinen Vater und seine Familie verraten würde. Im Übrigen habe er keine Schwierigkeiten, das Glaubensbekenntnis zu beten, und in der Freimaurerei habe ihn niemand etwas gegen Gott oder die Kirche gelehrt. Ein verständnisvoller Priester gestand Helder Camaras Vater entgegen der 1864 in der Enzyklika Quanta cura und im Syllabus erfolgten kirchlichen Verurteilung der Freimaurerei zu, kein Bekenntnis gegen diese ‒ so, wie er sie verstehe und lebe ‒ ablegen zu müssen.28 Nachdem Helder Camara bereits seit seinem dritten oder vierten Altersjahr den Wunsch geäußert hatte, Priester werden zu wollen, fragte ihn sein Vater eines Tages, ob er auch wisse, was das bedeute und worauf er sich dabei einlasse. Der Vater entwarf seinem damals 7-jährigen Sohn das ideale Bild eines selbstlosen und gottverbundenen Priesters. Helder war begeistert davon und versprach, ein solcher Priester werden zu wollen, worauf ihm sein freimaurerischer Vater Gottes Segen wünschte und seinerseits versprach, alles unternehmen zu wollen, um ihm den Eintritt ins Seminar zu ermöglichen.29 Die Haltung und das Denken seines Vaters ließen Helder Camara nach seinen eigenen Aussagen immer an der Berechtigung der von der Kirche gegen die Freimaurerei erhobenen schweren Anschuldigungen zweifeln.30 So sagt er von seinem Vater, er habe ihm geholfen zu erkennen, dass es möglich ist, gut zu sein, ohne kirchlich zu praktizieren; später habe er dann entdeckt, dass es auch möglich ist, praktizierender Katholik und zugleich Egoist zu sein.31

Die schwache oder kaum vorhandene kirchliche Bindung, die das Leben der Familie Helder Camaras neben den bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen, der menschlichen Wärme der Mutter und der weltanschaulichen Toleranz des Vaters charakterisierte, war typisch für weite Kreise des Katholizismus Brasiliens zu Beginn des 20. Jahrhunderts.32

Helder Camara sollte aber während seines Theologiestudiums im Priesterseminar von Fortaleza schon bald von der in den 1920er-Jahren durch die Initiativen Dom Sebastião Leme de Silveira Cintras in Gang gebrachten Erneuerung der brasilianischen Kirche erfasst und später, als er in Rio de Janeiro Kardinal Leme persönlich begegnete, von diesem in Bezug auf sein parteipolitisches Engagement entscheidend beeinflusst werden.

II. Unter dem Einfluss des brasilianischen Integrismus und Integralismus

Seminarausbildung im Geiste kirchlicher Restauration und theologischer Apologetik

Am 2. September 1923 trat Helder Camara ins Diözesanseminar São José in Fortaleza ein, besuchte zunächst zwei Jahre das Kleine Seminar, begann dann 1925 mit dem Studium der Philosophie sowie der Theologie und wurde am 15. August 1931 zum Priester geweiht.33 Seine Studienjahre fielen in eine Zeit kultureller Neuorientierung, politischen Umbruchs und kirchlicher Erneuerung in Brasilien; denn die 1920er- und beginnenden 1930er-Jahre waren von einer dreifachen Revolution gekennzeichnet: einer kulturellen, einer politischen und einer religiösen.34

Die kulturelle Entwicklung des „movimento modernista“ begann im Februar 1922 mit einer von jungen Schriftstellern und Künstlern organisierten Woche der modernen Kunst in São Paulo anlässlich der Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal. Diese Bewegung sollte nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft von großer Bedeutung werden, da sie sowohl eine positive Einschätzung der Gegenwart und des Neuen gegenüber der Vergangenheit brachte als auch eine eigenständige Entwicklung Brasiliens bewirkte und der geistigen Nachahmung Europas ein Ende bereitete.35

Der politische Umbruch begann ebenfalls im Jahr 1922, als junge und idealistisch gesinnte Offiziere, die hauptsächlich den unteren und mittleren gesellschaftlichen Schichten entstammten, gegen die Oligarchie der Großgrundbesitzer in den Staaten São Paulo und Minas Gerais rebellierten, das korrupte und unrepräsentative politische System kritisierten, den Staat der Vertretung von Klasseninteressen bezichtigten, für dessen moralische, verwaltungstechnische und politische Erneuerung eintraten und geheime Wahlen forderten.36

Die kirchliche Erneuerung, die zu Beginn der 1920er-Jahre in Brasilien einsetzte, verdankte wichtige Impulse Dom Sebastião Leme de Silveira Cintra, der 1921 von Olinda und Recife nach Rio de Janeiro als Koadjutor von Kardinal Arcoverde versetzt worden war, und wurde entscheidend geprägt durch den jungen Journalisten Jackson de Figueiredo, der 1921 im Alter von dreißig Jahren zum Katholizismus konvertiert war. Mit ihm erhielten erstmals Laien bedeutenden Einfluss in der brasilianischen Kirche, und erst seit seiner Konversion kann in Brasilien von einer eigentlichen katholischen Intelligenz gesprochen werden.37 Dom Leme, der bereits in seinem Hirtenbrief von 1916 eine Erneuerung der Kirche gefordert hatte, vereinigte 1922 in der „Confederação das Associações Católicas“ verschiedene Laienbewegungen, Jackson de Figueiredo gab von 1921 an eine Zeitschrift mit dem Titel A Ordem (Die Ordnung) heraus und begründete im folgenden Jahr in Rio de Janeiro das „Centro Dom Vital“, das bald zum Mittelpunkt der katholischen Restauration wurde.38

Sowohl der Titel „A Ordem“ für die Zeitschrift als auch der Name „Dom Vital“ für das Zentrum wiesen auf charakteristische Züge der kirchlichen Erneuerung in Brasilien zu Beginn der 1920er-Jahre hin. Beeinflusst von den Exponenten der integralistischen ‒ d. h. alle Kultursachgebiete der Autorität der Kirche unterstellenden ‒ Action française, Charles Maurras und Léon Daudet, galt Ordnung für Jackson de Figueiredo als oberste Norm. In jeder politischen, gesellschaftlichen oder kirchlichen Veränderung sah er den Keim einer beginnenden Revolution und war davon überzeugt, dass die schlimmste Legalität besser sei als die beste Revolution. Für den Ursprung der Revolution machte er die Verkündigung der Freiheit des Einzelnen in der Reformation und die Aufklärung verantwortlich. Die sich abzeichnende Erneuerung der brasilianischen Gesellschaft war ihm verdächtig, da sie seines Erachtens unter englischem und amerikanischem Einfluss stand und viele traditionelle Werte ablehnte, dagegen protestantische und aufklärerische Ideen bejahte, hinter denen er die Macht der Freimaurerei vermutete.39 Der Name „Centro Dom Vital“ sollte an jenen Bischof von Olinda und Recife erinnern, der in den Jahren 1872‒1875 für die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat eingetreten war, womit in Brasilien in der Gestalt des Ultramontanismus die Zeit des Integralismus begonnen hatte.40

Nachdem Helder Camara in seinem Elternhaus ein Klima distanzierter Kirchlichkeit und großer weltanschaulicher Toleranz erlebt hatte, wurde er mit dem Eintritt ins Seminar von jener Erneuerungsbewegung in der brasilianischen Kirche erfasst, die in Opposition sowohl zu den kulturellen Impulsen des „movimento modernista“ als auch zu den politischen Intentionen des „tenentismo“ stand, einer Zeit nachtrauerte, in der die Kirche in Brasilien mächtig und noch nicht von Protestantismus und Freimaurerei bedroht gewesen war,41 sich am europäischen Katholizismus und dessen Kampf gegen Liberalismus, Modernismus, Freimaurerei und die in der Aufklärung wurzelnden Geistesströmungen orientierte42 und insgesamt beabsichtigte, die katholische Kirche wieder zu einer gesellschaftlich mächtigen Größe werden zu lassen.43

Während seines Studiums lernte Helder Camara eine dem Geist der Gegenreformation verpflichtete Theologie kennen, die in apologetischer Verteidigungs- und Abwehrhaltung gefangen und hauptsächlich an der Widerlegung alter und neuer Häresien interessiert war. Vor allem Pater Leonel Franca übte mit seinen theologischen Schriften gegen den Protestantismus, den Modernismus und die Ehescheidung einen großen Einfluss auf die führenden Leute der brasilianischen Kirche aus, und diese Schriften wurden von den Seminaristen mit Begeisterung gelesen.44 Das Studium solcher Theologie entfremdete die künftigen Priester umso mehr der Lebenswirklichkeit ihrer Landsleute, als sie im Rahmen der Seminarausbildung mit sozialen Fragen überhaupt nicht konfrontiert wurden.45 Helder Camara sagt dazu: „Im Seminar habe ich tatsächlich nur eine sehr naive, sehr dürftige Vorstellung von der Welt erhalten. Das hat mich dazu geführt, später die schlimmsten Positionen einzunehmen. Ich ging aus dem Seminar mit Ideen hervor, die uns heute […] schockieren.“46 Er präzisiert seine damalige Weltanschauung: „Als ich das Seminar verließ, hatte ich hinsichtlich des Sozialen nur eine, und zwar sehr einfache Ansicht. Ich meinte nämlich, die Welt werde sich immer mehr in zwei entgegengesetzte Lager spalten: den Kapitalismus und den Kommunismus. […] Der Kommunismus war das Böse, das Böseste vom Bösen.“47 War einerseits der Kommunismus Inbegriff alles Verwerflichen, so wurde anderseits der Kapitalismus als Verteidiger der christlichen Ordnung hingestellt.48

In der Rückschau beurteilt Helder Camara seine Seminarausbildung wegen der defensiv-apologetischen Tendenz der damaligen Theologie und wegen des völligen Ausblendens der sozialen Probleme der Menschheit kritisch, anerkennt aber positiv, dass er dem Seminar in menschlicher Hinsicht viel verdanke und von einigen seiner Lehrer und Rektoren entscheidend geprägt worden sei. Unter diesen beeinflusste ihn, der sich nicht ohne Widerstände in die Seminarordnung einfügte, vor allem der französische Lazaristenpater und Rektor des Großen Seminars, Tobie Dequidt, da er ihn mit der französischen Literatur vertraut machte, in einem damals keineswegs selbstverständlichen, partnerschaftlichen Verhältnis zu den Seminaristen stand, bereit war, diesen gegenüber begangene Fehler einzugestehen und sie um Verzeihung zu bitten, und als einziger die allgemeine Antimodernistenkampagne im Seminar nicht mitmachte.49

Die Seminarzeit sollte vor allem für das religiös-spirituelle Leben Helder Camaras wichtig werden, weil er damals begann, gegen zwei Uhr in der Nacht aufzustehen, um in der Stille zu meditieren und so nach den vielfältigen Eindrücken des Tages die Einheit mit Christus in sich wiederherzustellen.50

Entscheidende Weichen wurden für ihn in jenen Jahren vor allem in Bezug auf seine politische Einstellung und im Hinblick auf sein späteres, vorübergehendes parteipolitisches Engagement gestellt.

Kontakte mit der integristischen Bewegung und Aktivitäten in faschistisch inspirierten Organisationen

Im Priesterseminar gehörte Helder Camara einer kleinen Gruppe von Studenten an, die sich, fasziniert von der Persönlichkeit Jackson de Figueiredos und begeistert von dessen Ideen, „Jacksonianer“ nannten. Sie bewunderten den jungen Konvertiten, weil er in aller Öffentlichkeit mutig zu seinem katholischen Glauben stand, für ein militant engagiertes Christentum plädierte und Protestantismus, Freimaurerei und Sozialismus als Irrtümer und Feinde des Katholizismus bekämpfte. Jackson de Figueiredo sah in Brasilien weder soziale noch wirtschaftliche Probleme, da er auch größte Unterschiede in der Gesellschaft in Bezug auf Armut und Reichtum lediglich als notwendige Aspekte des Dramas des Lebens interpretierte und so rechtfertigte. Er dachte nicht in politisch-strukturellen Kategorien, sondern war der Ansicht, alle Probleme ließen sich letztlich auf moralisch-individuelle zurückführen. Da diese aber seines Erachtens vor zwanzig Jahrhunderten gelöst worden seien, gehe es jetzt einzig und allein darum, wirklich Christ zu sein. So wie Maurras ein großes und katholisches Frankreich forderte, trat de Figueiredo für ein großes und katholisches Brasilien ein.51 Er wurde in seinen Bestrebungen, mit der Zeitschrift A Ordem und den Aktivitäten des „Centro Dom Vital“ die Kirche Brasiliens zu erneuern, von Dom Leme unterstützt, stieß allerdings auf dessen Widerstand, als er eine eigene katholische Partei gründen wollte, da Dom Leme die Interessen der Kirche nicht an die Interessen und das Schicksal einer politischen Partei binden, sondern die Kirche aus parteipolitischen Verstrickungen heraushalten wollte.52 Diese Position Dom Lemes sollte später zum Ende der parteipolitischen Aktivitäten Helder Camaras führen.

Jackson de Figueiredo, von dem Helder Camara sagt, er sei eine außerordentliche Persönlichkeit gewesen und habe in seinem Leben eine große Rolle gespielt, ertrank am 4. November 1928 in der Bucht von Rio de Janeiro. Zu seinem Nachfolger als Leiter des „Centro Dom Vital“ ernannte Dom Leme den Intellektuellen Alceu Amoroso Lima, der Jackson de Figueiredo 1918 kennengelernt, mit ihm seit 1924 einen intensiven Briefwechsel über philosophische und religiöse Fragen geführt hatte und am 15. August 1928 zum Katholizismus konvertiert war.53 Alceu Amoroso Lima war ursprünglich im Unterschied zu Jackson de Figueiredo für soziale Fragen aufgeschlossen und eher an der Freiheit des Einzelnen interessiert gewesen als an einer autoritären Ordnung, begann dann aber unter dem Eindruck seiner eigenen Bekehrung und des Todes seines Freundes Jackson autoritäre und konservative Positionen zu vertreten, da er das Erbe seines Vorgängers weiterführen wollte. Er war der Meinung, es brauche vor allem Katholiken, die wahre Christen seien, Männer der Doktrin und des Glaubens, disziplinierte, rechtgläubige Katholiken, die ihren Syllabus kennen.54

Helder Camara teilte nach dem Tod von Jackson de Figueiredo dessen Nachfolger Amoroso Lima in einem Brief sein Beileid mit und begrüßte ihn als neuen Führer der Katholiken. In seiner Antwort empfahl ihm Amoroso Lima, mit einem jungen und kürzlich zum Katholizismus konvertierten Leutnant namens Severino Sombra, der eben in Fortaleza angekommen sei, Kontakt aufzunehmen.55 Helder Camara folgte diesem Rat und arbeitete von da an eng mit Severino Sombra zusammen, der von Salazar inspiriert und ein begeisterter Anhänger Mussolinis war. Damit begann der knapp zwanzigjährige Seminarist mit seinen Aktivitäten in integralistisch-faschistisch orientierten Organisationen. Zusammen mit Leutnant Sombra gründete er die „Legião Cearense do Trabalho“, eine Vereinigung, die bald fast alle Arbeiter von Fortaleza umfasste und auch im Innern des Staates Ceará Zellen gründete. Sie orientierte sich am Ständestaat Salazars, kämpfte mit Streiks für die Besserstellung der Arbeiter, um dem kommunistischen Einfluss entgegenzutreten, förderte zwar das Klassenbewusstsein der Arbeiter, ohne aber dabei den Klassenkampf zu propagieren. Helder Camara war als Seminarist einer der Propagandisten der Liga und trug deren Abzeichen am Ärmel seiner Soutane.56

Im Januar 1930 gründeten er und Severino Sombra zusammen mit Leutnant Jeova Mota, der unter dem Eindruck der Konversion seines Freundes Severino ebenfalls katholisch geworden war und sich den beiden angeschlossen hatte, entsprechend dem „Centro Dom Vital“ in Rio de Janeiro das „Centro Jackson de Figueiredo“ in Fortaleza. Die drei gaben zudem eine Zeitschrift mit dem Titel O Bandeirante heraus, die allerdings nicht über zwei Nummern hinauskam, und veröffentlichten gemeinsam verfasste Artikel unter dem Pseudonym Agathon in der katholischen Tageszeitung O Nordeste.57 Helder Camara, der seine eigenen Artikel damals zuerst mit dem Pseudonym Athanasius und später mit Alceu da Silveira zeichnete, beurteilt diese im Nachhinein recht kritisch, wenn er sagt: „Es waren ziemlich schwache Artikel, die ich seinerzeit schrieb, und extrem rechts.“58

Getreu dem von Jackson de Figueiredo vertretenen Grundsatz, den er sich ‒ wie er selbst gesteht ‒ ganz zu eigen gemacht hatte, dass die schlimmste Legalität besser sei als die beste Revolution, und unter dem Einfluss von Amoroso Lima lehnte Helder Camara wie schon die Intentionen der „tenentes“ so auch die Revolution von 1930 ab, durch die Getúlio Vargas am 4. November an die Macht kam.59 Diese Revolution, mit der die erste Republik (1889‒1930) in Brasilien zu Ende ging und die oligarchische durch die populistische Phase abgelöst wurde, war „… eine Bewegung unter der Führung der großen, dissidenten Oligarchie, einem Flügel aus der Spitze des Militärs, mit einer aktiven Beteiligung der Mittelschichten […] gegen die wirtschaftliche und politische Herrschaft einer Minderheit, deren Macht auf regionaler Ebene lag“60.

In dem auf die Revolution folgenden Jahr wurde Helder Camara am 15. August 1931 in der Kathedrale von Fortaleza zum Priester geweiht. Bei seiner ersten Messe dienten ihm die beiden Leutnants Severino Sombra und Jeova Mota in Uniform, was selbst für damalige Verhältnisse keineswegs selbstverständlich war.61

Zu dieser Zeit dachte Helder Camara politisch in solchen Ordnungskategorien, dass er irgendwelche strukturelle Änderungen grundsätzlich ablehnte und die Verteidigung des Status quo befürwortete.62 Er sagt dazu: „… noch nach meiner Priesterweihe habe ich die allgemeine Blindheit geteilt. […] Die Sorge um die Erhaltung von Autorität und sozialer Ordnung […] hinderte [uns daran], die Ungerechtigkeiten zu entdecken und bloßzustellen. […] Wir arbeiteten unter diesen Umständen den Beherrschern in die Hände.“63 Die Welt schien sich ihm immer mehr in zwei feindliche Lager zu spalten, in ein kommunistisches und ein kapitalistisches, wobei er die antikommunistischen Kräfte Kapitalismus und Faschismus als Verbündete der Kirche betrachtete.64

Als Priester Funktionär der faschistischen integralistischen Partei

Nach seiner Priesterweihe wurde Helder Camara in Fortaleza mit der seelsorglichen Betreuung von Arbeitern, Lehrern und Jugendlichen beauftragt. Für die Arbeiter bestand bereits die „Legião Cearense do Trabalho“, für die Lehrer wurde am 2. Januar 1932 die Vereinigung katholischer Lehrer gegründet, deren Präsident Helder Camara und deren Vizepräsident Severino Sombra waren und in deren Rahmen Helder Camara Vorträge über Psychologie hielt, und für die Jugend entstand, angeregt durch die Aktivitäten Joseph Cardijns in Europa, eine Organisation für die Arbeiterjugend.65

Schon bald sollte Helder Camara in die aktive Politik eintreten. Am 24. Mai 1932 hatte Plinio Salgado in São Paulo die „Ação Integralista Brasileira“ (AIB)66 gegründet, eine brasilianische Version des europäischen Faschismus. Salgado entdeckte in der „Legião Cearense do Trabalho“ Gemeinsamkeiten mit seinen eigenen Ideen und lud deshalb deren Präsidenten Severino Sombra ein, die Führung der integralistischen Partei im Staate Ceará zu übernehmen, und Helder Camara, deren Sekretär für das Erziehungswesen zu werden. Nachdem er sich mit seinem Bischof Manuel da Silva Gomes besprochen und dessen Einverständnis erhalten hatte, nahm Helder Camara das Angebot Plinio Salgados an und wurde so im Alter von 23 Jahren integralistischer Parteifunktionär.67 In dieser Eigenschaft verurteilte er damals in zahlreichen Reden und Zeitungsartikeln den Trend zum Liberalismus und zur Freiheit im Geist der Französischen Revolution und vertrat die Ansicht, der Nationalismus der totalitären Staaten verleihe dem Zeitalter eine neue Bedeutung.68

Im Zusammenhang mit dem Kampf der Kirche um größeren Einfluss in Staat und Gesellschaft sollte Helder Camara schon bald gegen seinen Willen ein politisches Amt in der Regierung des Staates Ceará übernehmen müssen. Nachdem Kardinal Leme bereits im Jahr 1931 mit zwei Massenkundgebungen von Katholiken zu Ehren der brasilianischen Landesheiligen, Unserer lieben Frau von Aparecida, und Christus des Erlösers der Regierung Vargas zeigen wollte, in welchem Ausmaß religiöser Geist im Volk lebendig sei und welch politischer Faktor die Kirche darstelle, und er zusammen mit fünfzig Bischöfen Getúlio Vargas einige Wünsche der Kirche an die Adresse des neuen Regimes gerichtet hatte, gründete er 1932 im Hinblick auf die Wahlen in die verfassunggebende Versammlung vom Mai 1933 die „Liga Eleitoral Católica“ (LEC). Dieser katholische Wahlbund war keine eigentliche politische Partei, sondern eine Art Pressure-Group der katholischen Kirche mit der doppelten Zielsetzung, einerseits die katholische Wählerschaft zu informieren und zu organisieren und anderseits dafür zu sorgen, dass nur jene Kandidaten die Stimme der Katholiken erhalten, die sich auf ein Programm der Kirche verpflichtet und bereit erklärt hatten, dieses in der verfassunggebenden Versammlung auch zu vertreten.69 Kardinal Leme nahm mit allen Bischöfen Kontakt auf und legte ihnen nahe, die Liga, deren Präsident Amoroso Lima war, in ihren Diözesen zu fördern, wobei die Priester aber im Hintergrund bleiben sollten. Dom Manuel von Fortaleza hielt Dom Lemes Plan, die Kandidaten bloß aufgrund eines abgegebenen Versprechens zu unterstützen, für zu unsicher und war auch mit Dom Lemes Sicht in Bezug auf die Rolle der Priester nicht einverstanden. Er gab deshalb in seiner Diözese eine Liste der Kandidaten der Kirche heraus und beauftragte Helder Camara, im Staate Ceará für die Wahl dieser Kandidaten zu werben. So zog Helder Camara von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, empfahl die in den Augen der Kirche unterstützungswürdigen Kandidaten zur Wahl und diffamierte jene der oppositionellen Partei als kommunistisch, sozialistisch, freimaurerisch und allgemein als häretisch.70 Der Erfolg der Kampagne, in deren Verlauf Helder Camara sich den Ruf eines flammenden Redners erwarb, war durchschlagend; denn im Staate Ceará wurden alle von der Kirche empfohlenen und unterstützten Kandidaten gewählt, und die verfassunggebende Versammlung nahm die von der Kirche aufgestellten Forderungen in die Verfassung von 1934 auf. Zwar blieben Staat und Kirche weiterhin rechtlich getrennt, doch konnte der Staat die Kirche finanziell unterstützen, und die Kirche erhielt jene öffentliche Anerkennung, die ihres Erachtens ihrer gesellschaftlichen Stellung angemessen war.71

72