Hartmut Sommer
Unsterbliche Seele?
topos taschenbücher, Band 1048
Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus
Hartmut Sommer
topos taschenbücher
Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
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ISBN 978-3-8367-1048-0
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5047-9
E-Pub: ISBN 987-3-8367-6047-8
2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der
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Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Angesichts des Todes eines geliebten Nächsten und zuletzt in Erwartung unseres eigenen Todes verstummt alles Geschwätz. Angstvoll stehen wir vor diesem letzten großen Geheimnis unseres Lebens und wir können nicht anders, als uns zu ihm in Beziehung zu setzen, denn der Mensch ist das Wesen, das um seinen Tod weiß. Mors certa, hora incerta – „Der Tod ist sicher, die Stunde unsicher.“
Indem wir uns im steten Verrinnen der Zeit unserem Lebensende nähern, stellt sich uns unausweichlich die Frage, wozu uns diese Zeitspanne gegeben ist, womit wir sie erfüllen sollen, also die Frage nach dem Sinn. Zugleich stellt sich die Frage nach dem Woher und nach dem Wohin unserer Existenz.
Wir können den Tod als Endpunkt betrachten, dem nur das Nichts folgt, vor dem wir uns nicht fürchten müssen, denn „wenn wir da sind, ist der Tod nicht da, aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr“, wie Epikur (341–271 v. Chr.) es lehrte. Mit Melancholie sehen wir dann, wie unser Leben allzu rasch verfliegt als ein Sein zum Tode. Geworfen in ein sinnloses Leben, getrieben von Angst und Sorge, bleibt uns nach der Existenzphilosophie Sartres und Heideggers nur die Möglichkeit, in diese Leere hinein unseren eigenen zu Sinn entwerfen.
Umgekehrt können wir alles vor dem Tod als Nichts betrachten, als flüchtig, voller Leid und Unvollkommenheit, während der Tod ein Gut ist, weil er Befreiung bedeutet von der Kerkerhütte des Leibes, vom Unrat dieses Fleisches, damit unsere Seele eingehen kann in das wahre Leben bei Gott. Kirchenvater Ambrosius von Mailand (339–397) etwa war dieser Auffassung. Hier klingen die neuplatonischen Lehren Plotins (205–270) an, nach denen die Leiblichkeit des Menschen Abstieg und Hindernis für die zum Geistigen berufene Seele bedeutet. Platon (428–348 v. Chr.) selbst lässt Sokrates in seinem Dialog Phaidon angesichts des nahen Todes durch den Giftbecher sogar den irritierenden Satz sagen: „Diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne dass es freilich die anderen merken, nach gar nichts anderem streben als nur zu sterben und tot zu sein.“
Und schließlich können wir unser individuelles Sein als über den Tod hinaus verstehen, als hingeordnet auf eine letzte Erfüllung in einem jenseitigen Leben, worauf wir uns in diesem leiblichen Leben vorbereiten müssen. Dieses Leben, in Einheit verstanden mit einem jenseitigen, erhält damit erst seinen Sinn, seine Würde und Verantwortungsschwere, trotz oder sogar wegen der Herausforderungen und oft genug auch Leiden, die wir darin zu bestehen haben. Unsere Leiblichkeit stellt uns in diese Welt, deren Schönheit und Fülle uns beschenkt zusammen mit der liebenden Nähe anderer Menschen, die in einem jenseitigen Leben ihre Vollendung findet durch die unbedingte Liebe Gottes.
Angstvoll also stehen wir vor diesen Fragen. Große Geister haben in der Philosophie eine Lehre gesehen, die uns zeigen kann, wie man dem Tod gegenübertritt. „Philosophieren heißt sterben lernen“, lautet der Titel eines Essays von Michel de Montaigne (1533–1592). Die Gedanken der Stoa, etwa die Selbstbetrachtungen des römischen Philosophenkaisers Marc Aurel (121–180), kreisten vor allem darum. Angesichts des Todes und der Vergänglichkeit fragte er: „Was kann uns da in unserm Innern geleiten?“ Und er antwortete: „Einzig und allein die Philosophies.“
Es gibt allerdings auch andere Antworten auf die Frage nach dem Tod: Einerseits solche, die auf universellen menschlichen Intuitionen beruhen, andererseits und vor allem religiöse, die aber Zustimmung zu den jeweiligen religiösen Grundüberzeugungen voraussetzen. Sie werden eingangs in Abgrenzung zu den philosophischen kurz behandelt. Dann aber wollen wir sehen, wie weit wir allein mit den Mitteln der Philosophie kommen, also mit Vernunftgründen als gemeinsamer Verständigungsbasis, „der alle beizustimmen gezwungen sind“, wie es Thomas von Aquin (1225–1274) als Programm seiner großen philosophischen Werke formuliert hat. Die theologischen Lehren über den Tod werden als zusätzliche Evidenz mit herangezogen im Sinne des doppelten Weges von fides et ratio, also der gegenseitigen Stützung von Vernunft und Glaube.
Fragen wir nun also, ob wir begründet hoffen können: Ist der Tod nur Finsternis und Nichts oder erwarten uns vielmehr Licht und eine letzte Erfüllung?
Vom Tod und seiner Unausweichlichkeit wissen wir durch das Sterben anderer Lebewesen und Menschen, aber auch durch unser eigenes Altern, mit dem wir im zunehmenden körperlichen Verfall für uns offenkundig unserem schlussendlichen physischen Verlöschen zustreben.
Rein medizinisch-biologisch gesprochen, ist der Tod eines Lebewesens das vollständige und unumkehrbare Versagen lebensnotwendiger Funktionen. Wann beim Menschen dieser Zustand endgültig eingetreten ist, kann auch mit heutiger medizinischer Kunst nur schwer bestimmt werden. Früher galt Herz-Kreislauf-Versagen als entscheidendes Zeichen, seit 1968 ist es der Hirntod. Er muss festgestellt sein, bevor Organe für eine Transplantation entnommen werden dürfen. Hierfür ein Kriterium zu besitzen war auch die Motivation für die neue Todesdefinition. Allerdings ist das Hirntod-Kriterium selbst beim Einsatz moderner Diagnosemethoden mit Unsicherheit behaftet. Der Ganzhirntod, also das Erlöschen jeder Aktivität in Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm, ist nur aufwändig nachweisbar. Da Bewusstseinsvorgänge mit der Großhirnrinde in Zusammenhang stehen, können sie auch dann noch vorhanden sein, wenn der Stammhirnausfall festgestellt wird, auf den sich die medizinischen Diagnosen vor allem stützen. Die schwerwiegenden medizinethischen Fragen seien damit nur angedeutet. Sie hängen auch mit der Frage zusammen, ob die Hirnfunktionen überhaupt identisch sind mit dem, was den Menschen als bewusstes Selbst ausmacht. Dies ist eine philosophische Frage, auf die wir später eingehen werden. Das Hirntodkriterium wird vor diesem Hintergrund heute kritisch diskutiert.1
Weitere äußere Zeichen des Todes sind der Atemstillstand, das Ausbleiben von Reflexen, starre Pupillen ohne Reaktion auf Lichtreizung, eine halbe bis eine Stunde nach dem Herz-Kreislauf-Versagen das Auftreten von Totenflecken, dann die Totenstarre und nach einigen Tagen die einsetzende Verwesung. Diese medizinischen Kriterien bleiben aber bei der Bestimmung dessen, was der Tod ist, an äußerlichen physisch-funktionalen Zeichen des Leibes bzw. des Leichnams haften. Philosophisch müssen wir tiefer fragen. Wir müssen fragen, was der Tod wesenhaft ist, was er für unsere geistige Existenz bedeutet und was ihn unterscheidet von der Zerstörung eines unbelebten Dinges und vom Tod des Tieres. Dazu gehört vor allem die Frage, ob es für uns ein Weiterleben nach unserem physischen Tod gibt.
Ohne bestimmte Antworten philosophischer Richtungen vorwegzunehmen, können wir zunächst sagen, dass der Tod den unumkehrbaren Abstieg eines Lebewesens aus der Seinsstufe des Lebendigen in die des Unbelebten bedeutet. Das, was das Lebewesen belebt, erlischt endgültig in diesem Leib, und ein Leichnam bleibt zurück, der radikal vom Leib unterschieden ist. Das gebrochene Auge des Toten ist etwas völlig anderes als das Auge, das mich anschaut und Gefühlsleben ausdrückt, lacht, weint, zürnt. Dabei können wir uns hinsichtlich der Frage, ob diese belebende Instanz neurokybernetisch, physikochemisch, vitalistisch oder geistseelisch zu verstehen ist, noch ganz offen halten.
Aber auch ohne eine solche Vorfestlegung lässt sich bestimmen, was für die Seinsstufe des Lebendigen kennzeichnend ist. Hier sind die anthropologisch-ontologischen Arbeiten von Max Scheler, Helmuth Plessner, Nicolai Hartmann und Hedwig Conrad-Martius grundlegend gewesen.
Als lebendig können wir danach ein Seiendes bezeichnen, das sich von innen her zu einer Ganzheit formt und gegen die Umgebung abgrenzt, das sich dabei über Veränderungen in Zeit und Raum sowie im Stoffaustausch mit der Welt identisch erhält (biologisch spricht man vom Stoffwechsel) und reproduziert. Pflanzen, Tiere und Menschen sind in diesem Sinne lebendig. Beim Tier und beim Menschen kommen die Vermögen zur selbstgesteuerten Eigenbewegung und zum willentlichen Einwirken auf ihre Umwelt durch Handeln und zeichenhaftes Mitteilen hinzu. Höhere Wirbeltiere und Menschen haben zudem mit Gefühlen und Bewusstsein eine Innerlichkeit, in der sich die Umwelt in inneren Zuständen spiegelt.
Schärfer gefasst können wir nun also sagen, dass der Tod dann eingetreten ist, wenn die dies bewirkende, von innen wirksame Instanz endgültig in dem von ihr belebten Körper erlischt und nur unbelebte Materie sichtbar zurückbleibt. Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für diese Instanz: Entelechie („Ziel in sich selbst habend“, schon bei Aristoteles, später bei Driesch), Aktzentrum (Scheler), herrschende Monade (Leibniz), lebender Nexus (Whitehead) oder eben auch Seele sind solche Bezeichnungen, die auf entsprechend unterschiedliche Wesensbestimmungen dieser Instanz zurückgehen.
Dass diese Instanz nicht mit dem Gehirn gleichzusetzen ist, haben unter anderem die Forschungen zum Hirntod eindrücklich belegt. Vielfach hat sich gezeigt, dass auch nach dem Versagen der Hirnfunktionen offenbar etwas im Körper wirksam bleiben kann, das ihn als lebendige Ganzheit noch lange erhält. So haben beispielsweise hirntote Schwangere in mehreren Fällen über Monate ihr Kind ausgetragen und gesund zur Welt gebracht. Der amerikanische Ethikrat hat daher 2008 konstatiert: Das Gehirn sei nicht der Integrator der verschiedenen Körperfunktionen; vielmehr sei die Integration eine emergente Eigenschaft des ganzen Organismus.2 Dabei zeigt die Wortwahl die Ratlosigkeit der Medizin vor diesem Phänomen, denn Emergenz als angenommenes plötzliches Entstehen neuer Eigenschaften eines Systems aus dem Zusammenwirken seiner Elemente ist nur ein Wort dafür, dass man diese Fakten medizinisch nicht erklären kann. Eine integrierende, zentrale Instanz muss hier weiter bestehen, denn nur so können sich die komplexen physiologischen Prozesse des Körpers zu einer organisierten Einheit zusammenschließen.
Den Tod als Verlöschen der von innen wirksamen, belebenden Instanz haben wir mit allen Lebewesen gemeinsam. Im Unterschied zum Lebendigen fehlt dem Unbelebten dieses von innen Einheit stiftende Zentrum, es wird von außen begrenzt durch angrenzendes anderes Unbelebtes, durch andere Körper, es wird durch äußere Kräfte bewegt, zerstört oder umgeformt. Sein Ende ist damit immer nur relativ. Helme werden zu Küchensieben, Schwerter zu Pflugscharen, Kanonen zu Glocken. Man kann aber auch Glocken wieder zu Kanonen gießen. Der Tod eines Lebewesens dagegen ist absolut, es ist ein unumkehrbarer Zustand. Lebendiges stirbt von innen und ist auf ein natürliches Ende, auf den Tod, wesenhaft angelegt, wenn man von gewaltsamen Vorgängen absieht.
Exkurs
Es gibt auch im Anorganischen manches, das an Lebendiges erinnert, wie die Kristalle und insbesondere die Flüssigkristalle. Auch ihr Wachstum und ihre Wiederherstellung bei Beschädigungen werden durch innere Bildungsgesetze bestimmt. Lebendiges unterscheidet sich jedoch grundlegend von solchen im Stoff liegenden Formungsprinzipien, denn es ist ein „sich selbst Erzeugendes. Nicht die Gestaltung, sondern die Selbstgestaltung macht das Leben aus. Deshalb ist das Leben aber auch zu Ende, wo die Selbstgestaltung aufhört. […] Auch der Stoffwechsel ist nichts als beständige Selbstgestaltung.“3 Diese Abgrenzung vom Anorganischen ist im Bereich niederer Lebensformen zum Teil schwierig. Diskutiert wird etwa der Status der Viren, die sich des Stoffwechsels ihrer Wirte bedienen, aber keinen eigenen haben. Bei höher entwickelten Lebewesen ist die Abgrenzung von der Seinsstufe des Unbelebten eindeutig.
Wir müssen nun aber weiter fragen, was den Tod des Menschen von dem des Tieres unterscheidet. Zunächst können wir dazu rein phänomenologisch vier wesentliche Tatsachen feststellen:
– Der Mensch weiß von seinem Tod. Das Tier hat zwar dumpfe Ahnungen und Ängste, versteht aber nicht, was mit ihm passiert, wenn es stirbt. Es verdämmert und verendet.
– Der Mensch muss daher seinen Tod bewusst vollziehen. Die Sterbeforschung unterscheidet typische Phasen, beginnend mit dem Schock und der Verweigerung bei der Diagnose einer unheilbaren Erkrankung, über Zorn und Verhandeln, gefolgt von Depression angesichts der erkannten Ausweglosigkeit bis zur schlussendlichen Einwilligung.4 Wir machen Bilanz, verabschieden uns, wollen mit uns ins Reine kommen. Noch in komatösen Zuständen ist offenbar unser sich vom Körper ablösendes Selbst damit befasst, wie entsprechende Forschungen belegen.5 Das bekannte Wort eines fernöstlichen Weisen deutet auf diese unsere letzte Aufgabe hin: „Meine Religion besteht darin, mich auf meinem Sterbebett nicht schämen zu müssen.“
– Der Mensch kann sich selbst willentlich den Tod geben, er kann das Geschenk des Lebens zurückweisen. Man muss hinzufügen: Er ist „ein Wesen, das sich töten kann und es nicht tun soll“, wie der deutsch-jüdische Philosoph Paul Landsberg 1942 unter dem Verfolgungsdruck des Nationalsozialismus schrieb, zweifellos im Ringen mit entsprechenden eigenen Versuchungen.6 Zwei Jahre später starb er an Auszehrung im KZ Sachsenhausen.
– Der Mensch kann sich opfern, also sein Leben für Ideale, für Werte und für ganz fernstehende Menschen hingeben, auch dies anders als das Tier, das nur rein instinktiv im Sinne der Arterhaltung seine Nachkommen schützt. Menschen sind fähig zur Nächstenliebe und sogar zur Fernstenliebe (Nietzsche).
Darin zeigt sich zugleich in besonderer Weise, was das Wesen des Menschen ausmacht: Zum Lebensprinzip und dem Seelischen, das wir mit dem Tier gemeinsam haben, kommt etwas hinzu, das Instinktiv-Vegetatives grundsätzlich übersteigt: das Geistige. Wir können es mit folgenden Wesensmerkmalen bestimmen:
– Der Mensch hat Selbstbewusstsein, kann sich also auf sich selbst zurückwenden, er weiß von sich selbst und er weiß, dass er weiß. Das ist etwas fundamental anderes als das vage, unmittelbar situationsbezogene Erkennen, das Menschenaffen vor dem Spiegel zeigen.7
– Der Mensch kann den engen Kreis der Situationen, in die er gestellt ist, überschreiten und weit darüber hinaus Zukünftiges vorausdenken und sein Handeln planen. Der Mensch „darf versprechen“, hat Nietzsche gesagt. In der Tat offenbart sich damit eindrücklich die Zeit und Raum transzendierende Kraft des menschlichen Geistes, der sich als über die Zeit identisches, handelndes Ich erfährt.
– Der Mensch wird nicht vollständig bestimmt durch Triebe und Instinkte. Er kann zwischen Handlungsoptionen wählen, ja er muss es tun. Arnold Gehlen hat ihn daher auch Mängelwesen genannt, das Institutionen als ordnende soziale Gehäuse schaffen muss, um sich von diesem Entscheidungsdruck zu entlasten. Scheler drückt das positiv aus: „Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.“8
– Der Mensch erkennt Werte und kann sein Handeln danach ausrichten. Er unterscheidet Gut und Böse. Das erstaunliche Phänomen des Gewissens tritt bei ihm auf. Es sei hier dahingestellt, ob der Zugang zu diesen Werten in einem emotional-intuitiven Akt erfolgt, als Wertsichtigkeit oder Wertfühlen nach Max Scheler und Nicolai Hartmann, oder durch Erkennen der werthaften Seinsordnung nach dem Wertrealismus.
– Der Mensch hat Vernunft, was etwas grundsätzlich Neues ist im Vergleich zur einfachen, auf Triebbefriedigung gerichteten Intelligenz des Tieres. Er kann ideieren9, das heißt er ist fähig, durch Abstraktion Allgemeinbegriffe zu bilden, etwa die Zahl 3, ohne dabei immer drei Gegenstände gegenwärtig zu haben. Auch das Tier kann eine von drei Möhren unterscheiden, also Mengen erkennen, es hat aber nicht die Zahl 3, geschweige denn √3, 32 oder gar x3. Damit erschließt sich dem Menschen die Welt des Geistes mit dem von ihm unabhängig bestehenden idealen Sein, wie es die Logik repräsentiert, die Zahl Pi oder der Satz von Euklid, demzufolge es unendlich viele Primzahlen gibt. Und schöpferisch ist er fähig, mit der Kultur selbst die Welt des objektiven Geistes hervorzubringen.
– Der Mensch fasst darüber hinaus sogar den Gedanken eines absoluten Seins, er hat das Wort „Gott“. Wie Karl Rahner sagt: „Dass es dieses Wort gibt, ist allein schon des Nachdenkens wert.“10 Auch der Atheist muss diesen Gedanken zunächst haben, um ihn verwerfen zu können. Daher kann der Affe eben nicht einmal Atheist sein, wie ich humorvoll in einer Diskussion mit einem Freund anmerkte, der für sich selbst jedes Gottesverhältnis ableugnete.
Das geistige Aktzentrum, der vernünftige Wesenskern des Menschen, von dem diese Vermögen ausgehen, wird seit Boethius (5./6. Jahrhundert) auch als Person bezeichnet. „Persona est rationalis naturae individua substantia“, schärfer also noch gefasst als individuelle und vernünftige Substanz. Auf die Frage, wie in diesem Zusammenhang Substanz genau zu verstehen ist, kommen wir noch zu sprechen.
Exkurs
Die Fähigkeit zur Abstraktion und die entsprechend hohe Komplexität der menschlichen Sprache sind mehr als nur graduell unterschieden von der Produktion gestischer Zeichen bei Menschenaffen, die immer bezogen bleiben auf die Triebbefriedigung und die unmittelbaren Gegebenheiten. Selbst die außerordentlich lernfähige Schimpansin Washoe, die 350 Zeichen der amerikanischen Gebärdensprache beherrschte, konnte nur Sätze, oder besser Zeichenfolgen, bilden wie „Bitte kitzeln“ (gimme tickle) oder „komm gib“ (Come gimme) als den ersten überhaupt von ihr gelernten gestischen Ausdruck.11 Letzteres signalisiert auch bereits mein Kater, indem er sich demonstrativ neben seinem Futternapf aufbaut.
Nach der Bestimmung dessen, was den Menschen wesenhaft ausmacht, können wir wieder zu der Frage zurückkehren, was sein Tod ist. Wenn er stirbt, bleibt für uns sichtbar nur unbelebte Materie zurück, sein verwesender Leichnam (wohl unterschieden vom Leib, der ja belebt sein muss, sonst ist es kein Leib). Ist damit aber auch sein geistiger Wesenskern vergangen? Wir müssen das nicht zwingend annehmen, denn wir haben ja auch zu Lebzeiten eines Menschen die Person immer nur über leiblich vermittelte Ausdruckszeichen erschließen können. Sie ist für uns, anders als der Leib, nicht direkt wahrnehmbar. Scheler hat das eindrücklich gezeigt:
„Dass wir sie [die Person] nach dem Tod nicht sehen, besagt sehr wenig, da man sie überhaupt nicht sinnlich sehen kann. Dass Ausdruckserscheinungen nach dem Tode ausbleiben, ist daher ein Grund allein zur Annahme, dass ich die Person nicht mehr verstehen kann; nicht aber ist es ein Grund zur Annahme, sie sei nicht da. Man erlaube ein Bild: Werfe ich die Tür zu, durch deren Öffnung man eben noch eine fliegende Mücke erblickte, gewiss wird man mir dann nicht beweisen können, die Mücke befinde sich noch im Zimmer und sei nicht eben zum Fenster hinausgeflogen. Vielleicht flog sie hinaus genau im Augenblicke, als die Tür zugeschlagen war – aber ein Grund zur Annahme, sie sei hinausgeflogen, weil ich die Tür zugeschlagen habe, besteht dann so wenig, wie aus der Länge eines Schiffsmastes das Alter des Kapitäns folgt. So kann auch die Person faktisch aufhören zu sein, wenn Ausdruckserscheinungen mangeln, sie zu verstehen. Es steht ja nirgends geschrieben, dass Personen immer fortdauern müssen; aber ein Grund, sie dauerten nicht fort, liegt im Mangel dieser Ausdruckserscheinungen nicht.“12
Damit ist zwar noch kein positiver Beweis für das Fortleben des geistigen Wesenskerns des Menschen bzw. der Seele gegeben, es erscheint aber möglich, und wir können weiter suchen, ob wir Begründungen dafür finden.
Auch kein Beweis, doch ein Hinweis auf die Tendenz zur Fortdauer der Seele über den Tod des Leibes hinaus ist ihre dem leiblichen Verfallsprozess entgegenlaufende Tendenz zur Vervollkommnung, zu geistigem Wachstum und zunehmender seelischer Fülle, das Überschießen, wie Scheler sagt, „der geistigen Akte über das immer sterbensbereite Leben“. So könne man erwarten, dass sich die Person eben auch im Tod „hinausschwinge über ihres Leibes Zerfall“13. Das haben die Menschen intuitiv immer schon gesehen.
Die starke Intuition, dass der Tod kein Ende, keine Vernichtung bedeutet, hat der französische Nobelpreisträger François Mauriac in seinem Roman Le nœud de vipères literarisch ins Bild gebracht. Der Ich-Erzähler erinnert sich in einer an seine Frau gerichteten Lebensbeichte an den Tod seiner besonders geliebten und früh verstorbenen Tochter Marie:
„ …‘“