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Paul M. Zulehner
Gott ist größer als unser Herz

topos taschenbücher, Band 1052
Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags

Paul M. Zulehner

Gott ist größer als unser Herz

Eine Pastoral des Erbarmens

topos taschenbücher

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1052-7

Ebook (PDF): 978-3-8367-5049-3

ePub: 978-3-8367-6049-2

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Umschlagabbildung: © nena2112/photocase.com

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Pastoral des Erbarmens

Selig die Barmherzigen

Einführung

Erbarmungslos

Ein Wort aus alten Zeiten

Das Antiquierte ist avantgardistisch

Welt ohne Erbarmen

Zum Denkweg

Theologische Schwarzweißmalerei?

Böses in der Kirche

Gutes in der Welt

Erbarmungsloses Freiheitsrisiko

Erbarmungslose Ungerechtigkeiten

Erbarmungslose Diesseitigkeit

Gott des Erbarmens

Jesu Gott

Der Vater und seine beiden verlorenen Söhne

Der Jüngere

Lebensumwegig
Fremdheit
Ent-Fremdung

Der Vater

Gerechtigkeit und Erbarmen
Erbarmen: überbotene Gerechtigkeit
Erbarmen, wenn Gerechtigkeit unmöglich

Der Ältere

Verständnis für den Älteren
So ist Gott
Gebet Gottes um Barmherzigkeit

Mensch des Erbarmens

Schädliches Mitleid

Würdelos

Hilflos

Leistungsfeindlich

Spiritualität des Erbarmens

Erbarmen erfahren

Offene Augen und Ohren

Compassion: Mitleiden

Eintreten

Werke der Barmherzigkeit

Taten und Strukturen des Erbarmens

Hungernde atzen – Hunger der Welt

Hunger an den Wurzeln bekämpfen
Leibliche Barmherzigkeit praktisch
Politische Heilige

Dürstende tränken – weltweiter Trinkwassermangel

Gottesdurst
Wasser
Wassermangel
Dürsten nach Gerechtigkeit

Fremde beherbergen – Migration

Migration und ihre Ursachen
Doppelherausforderung
Was zu tun wäre

Nackte bekleiden – Obdachlosigkeit

Obdachlosigkeit
Psychische Obdachlosigkeit

Kranke besuchen – Gesundheit für alle

Die enge Welt des Kranken
Krankenhäuser
Umbaukrise

Gefangene besuchen – strafen oder resozialisieren?

Humanisierung des Strafvollzugs
Todesstrafe
Gemeinde hinter Gittern

Tote bestatten – Betrübte trösten

Trauernde
Trauerprozess

Die Unwissenden lehren – Bildung für alle

Bildung und Armut
Bildung ist mehr als Ausbildung
Theologische Bildung

Den Zweifelnden Recht raten – vom Dienst der Beratung

Beratung
Gemeindeberatung
Beratung oder Politik
Institutionen

Die Sünder zurechtweisen – warum nicht Bekehrung zumuten?

Schuld und Sünde
Umkehr
Bekehrung
Zurechtweisen
Strukturelle Sünde

Die Lästigen geduldig ertragen – Toleranz

Toleranz
Geduld
Im Pluralismus
Die Wahrheit wird euch befreien
Pluralismustoleranz

Denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen – Versöhnung als Kultur des Friedens

Erinnern
Vergeben
Versöhnung
Dienst an der Versöhnung

Kirche des Erbarmens

Wege zum Erbarmen

Mystik des Erbarmens

Immanuel

Weg zum Erbarmen

Gebete des Erbarmens

Religion der Hindus
Lehre des Buddha
Religion Zarathustras
Judentum
Christentum
Islam

Praxis des Erbarmens

Zur Ehepastoral

Akribia und Oikonomia
Lieben und Erbarmen

Grundsicherung

Fegefeuer

Das Herz

Anhang

Textnachweis

Anmerkungen

Vorwort zur Neuausgabe

Als dieses Buch vor zehn Jahren im Schwabenverlag erschien, konnte niemand ahnen, dass am 13.3.2013 mit Papst Franziskus ein Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt würde, das das Erbarmen zum obersten Prinzip des Handels der Kirche machen wird. Dieser Papst steht für eine „Pastoral des Erbarmens“. Selbst in seinem Wappen taucht das Erbarmen auf: „miserando atque eligendo“. Etwas frei übersetzt heißt dies: „In seinem Erbarmen hat er mich erwählt.“

„Erbarmen“ ist das Herz aller großen Weltreligionen. In jeder Sure des Islam wird Allah als der Allerbarmer gepriesen. Im tibetischen Buddhismus ist einer der verehrten Buddhas, der „Buddha des Erbarmens“, dargestellt mit 1000 Augen und 1000 Händen – der Dalai Lama ist seine Reinkarnation. Auch das Judentum sieht bildlich Gott mit einem Mutterschoß (rechem): Das Wort ist mit Erbarmen verwandt. Und in der Botschaft Jesu, vor allem wie Lukas sie theologisch verdichtet, spielt das Erbarmen eine zentrale Rolle.

Natürlich ist Franziskus nicht der erste Papst, dem an einer mütterlich-erbarmenden Kirche liegt. Schon der Konzilspapst Johannes XXIII. wünschte bei der Eröffnung des Konzils, dass dieser mütterliche Zug der Kirche zum Tragen komme. Papst Johannes Paul II. wiederum schrieb im Jahre 1980 – inspiriert durch die von ihm heiliggesprochene Sr. Faustina Kowalska aus Polen – eine Enzyklika, in der er Gott pries als „Dives in misericordia“ – „Reich an Erbarmen“.

Papst Franziskus aber schien dieses Anliegen seines Vorvorgängers noch zu wenig den Alltag des kirchlichen Lebens und Handelns erreicht zu haben. Er rief für die Zeit vom 8. Dezember 2015 bis zum 20. November 2016 ein Heiliges Jahr aus, um das Anliegen zu vertiefen, dass die Kirche das reiche Erbarmen Gottes erfahrbar machen soll.1 Bei der Ankündigung vermerkte er: „Vielleicht haben wir es für lange Zeit vergessen, auf den Weg der Barmherzigkeit hinzuweisen und ihn zu gehen.“ In seiner Predigt wünschte er sich, dass das Heilige Jahr eine „neue Etappe auf dem Weg der Kirche“ sei, das Evangelium der Barmherzigkeit allen Menschen zu bringen. Bereits am Anfang des Jahres 2015 hatte der Papst insistiert: „Das ist die Zeit der Barmherzigkeit. Es ist wichtig, dass die Gläubigen sie leben und in alle Gesellschaftsbereiche hineintragen. Vorwärts! Wir leben in der Zeit der Barmherzigkeit, das ist die Zeit der Barmherzigkeit.“

Papst Franziskus ist wie seinem Vorbild, dem umbrischen heiligen Franziskus, das „Evangelium sine glossa“ wichtig. Deshalb umkreist er ständig und inständig das Thema der Barmherzigkeit. In einer Botschaft zur Fastenzeit 2015 sagte er: „Wie sehr möchte ich, dass die Orte, an denen sich die Kirche zeigt –unsere Gemeinden und besonders unsere Gemeinschaften –, zu Inseln der Barmherzigkeit im Meer der Gleichgültigkeit werden!“

Und schon beim ersten Angelusgebet nach seiner Wahl am 17.3.2013 bekannte der Papst: „Es hat mir so gut getan von der Barmherzigkeit zu hören… Es ist das Beste, was wir hören können: es ändert die Welt. Ein wenig Barmherzigkeit macht die Welt weniger kalt und viel gerechter. Wir haben es notwendig, diese Barmherzigkeit Gottes gut zu verstehen, dieses barmherzigen Vaters, der so viel Geduld hat.“

Es gibt in unserer Kirche Kreise, denen es mehr um Gesetz und Lehre, also Gerechtigkeit und Wahrheit geht. Erbarmen betrachten sie als einen Verrat an diesen. Sie misstrauen deshalb Franziskus, weil er von der Kirche eine Rückkehr in die Spur des Erbarmens Jesu fordert; denn anders, so der Papst, könne die Kirche nicht glaubwürdig die Kirche Jesu sein. Jesus lebte das Erbarmen gerade mit jenen am Rand, den Kranken, Aussätzigen, Zöllnern, Sündern, Ehezerbrechern. Das trug ihm massive Kritik bei den Gesetzeshütern seiner Zeit ein. Ihnen erzählt er das Gleichnis vom Erbarmen des Vaters (Lk 15,11–32). Dabei hatte er den einen Sohn in ein umfrommes verlottertes Leben, den anderen aber in fromme Hartherzigkeit verloren. Den verkommenen Sohn konnte der Vater in die Arme nehmen. Konnte er auch den gesetzestreuen Sohn gewinnen? Jesus lässt dies offen.

Pastoral des Erbarmens

Wie sehr das Erbarmen das Wirken von Papst Franziskus prägt, zeigt seine „Regierungserklärung“ „Evangelii gaudium“. 40-mal kommt dort das Wort vom Erbarmen vor. Barmherzigkeit prägt auch das Ringen um eine Vertiefung der katholischen Ehe-, Familien- und Geschiedenenpastoral. Die entschlossene Treue zur Überlieferung soll mit dem Prinzip des Erbarmens verbunden werden. Während die Ideologen mehr auf die Strenge der Tradition setzen, versuchen die Hirten den Menschen gerecht zu werden, deren Ehe aus Schuld und Tragik unwiderruflich zu Ende gegangen war.

In den Diskussionen werden Gerechtigkeit und Barmherzigkeit manchmal gegeneinander ausgespielt. Aber könnte es nicht sein, dass die Gerechtigkeit auf die Spitze getrieben sich in Unrecht umformen kann, wie das schon die alten Weisen gelehrt haben, dass „summum ius summa iniuria“ werden kann. Wäre es dann nicht die Aufgabe der Barmherzigkeit, die Gerechtigkeit davor zu schützen, in Unrecht zu kippen?

Fürsprecher einer solchen Pastoral des Erbarmens im Umfeld von Papst Franziskus ist Kardinal Walter Kasper. Er hat sich dazu in einer bewegenden Rede vor dem Kardinalskollegium geäußert.2 Zuvor hatte er eine Monographie zur Barmherzigkeit als Schlüssel christlichen Lebens verfasst.3

Meine „Pastoral des Erbarmens“, die nunmehr neu aufgelegt wird, ist bereits einige Jahre zuvor erschienen. Dass Papst Franziskus das Erbarmen so sehr in den Mittelpunkt seines Pontifikats gerückt hat, ist Grund genug, mein vergriffenes Buch neuerlich zugänglich zu machen. Möge es dem großen pastoralen Anliegen des Papstes Flankenschutz geben.4

Die Erstausgabe des Buches war 2006 unter Mitarbeit des Münchner Priesterfortbildners Josef Brandner verfasst worden. Dieser ist 2010 in München gestorben. Ich habe ihn in meiner Autobiografie „Mitgift“ dankbar geehrt.5

Selig die Barmherzigen

Wir würden aber die Botschaft nur halb verstanden haben, würden wir bei der Dankbarkeit stehen bleiben, dass uns Gottes Erbarmen in aller Schuld und Tragik geschenkt wird. Jesus legt großen Wert darauf, dass wir nicht nur das Erbarmen des Vaters annehmen, sondern selbst wie der Vater werden, Menschen des Erbarmens werden und die Werke der leiblichen (Mt 25) und geistigen Barmherzigkeit pflegen. Beides geht unlösbar miteinander einher. „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt 5,7), so Jesus. Er unterstreicht das auch im Gleichnis von jenem Mann, dem von seinem Herrn unbegleichbare Schuld erlassen worden war, der aber gegenüber seinem eigenen Kleinschuldner unbarmherzig war: „Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt.“ (Mt 18,35)

Paul M. Zulehner, Wien 2016

Einführung

Das Erbarmen – kann es den Sinn haben, unser Urteil aufzulösen?
Oder hat es nicht eher den Sinn, dass das Erbarmen uns über das Urteil,
ohne es aufzulösen, hinausführte zum zweiten Teil der Aufgabe:
zum Handeln, und wie sollte ein Handeln, das nicht aus einem Urteil
kommt, jemals eine wirkliche Hilfe sein? Hilfe bedeutet Veränderung im
Sinne einer Erkenntnis; beides im Maße unseres Vermögens
.

Max Frisch (1946)

Erbarmen und barmherzig, Mitleid und mitleiden bilden ein weites Wortfeld. Vielfältige Erfahrungen sammeln sich in ihm: Gefühle und Taten. In der langen Menschheitsgeschichte hatten diese Worte durchweg einen guten Klang. Besonders die großen Religionen setzten sich für sie ein und machen sich bis heute für sie stark. In jüngerer Zeit gab es aber Einspruch gegen sie.

Erbarmungslos

Mitleid galt ihm als lebensfeindlich. Kräfte, welche die Welt bejahen, würden gestört, der Wille zur Macht geschwächt, der Aufstieg des Übermenschen behindert. Die Schwachen und Elenden übten Macht aus, indem sie Gerechtigkeit, Gleichheit und Mitleid einforderten. Das wiederum schwäche die kraftvollen und dem Leben zugewandten Starken.

„Zu lange hat man ihnen Recht gegeben, diesen kleinen Leuten: So gab man ihnen endlich auch die Macht – nun lehren sie: ‚Gut ist nur, was kleine Leute gut heißen.‘

Und ‚Wahrheit‘ heißt heute, was der Prediger sprach, der selber aus ihnen herkam, jener wunderliche Heilige und Fürsprecher der kleinen Leute, welcher von sich zeugte ‚ich – bin die Wahrheit.‘

Dieser Unbescheidne macht nun lange schon den kleinen Leuten den Kamm hochschwellen – er, der keinen kleinen Irrthum lehrte, als er lehrte ‚ich – bin die Wahrheit.‘

Ward einem Unbescheidnen jemals höflicher geantwortet? – Du aber, oh Zarathustra, giengst an ihm vorüber und sprachst: ‚Nein! Nein! Drei Mal Nein!‘

Du warntest vor seinem Irrthum, du warntest als der Erste vor dem Mitleiden – nicht Alle, nicht Keinen, sondern dich und deine Art.

Du schämst dich an der Scham des großen Leidenden; und wahrlich, wenn du sprichst ‚von dem Mitleiden her kommt eine große Wolke, habt Acht, ihr Menschen!‘

– Wenn du lehrst ‚alle Schaffenden sind hart, alle große Liebe ist über ihrem Mitleiden‘: oh Zarathustra, wie gut dünkst du mich eingelernt auf Wetter-Zeichen!

Du selber aber – warne dich selber auch vor deinem Mitleiden! Denn Viele sind zu dir unterwegs, viele Leidende, Zweifelnde, Verzweifelnde, Ertrinkende, Frierende.

Ich warne dich auch vor mir. Du erriethest mein bestes, schlimmstes Räthsel, mich selber und was ich that. Ich kenne die Axt, die dich fällt.

Aber er – musste sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn, – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit.

Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzigsten Winkel. Dieser Neugierigste, Über-Zudringliche, Über-Mitleidige musste sterben.

Er sah immer mich: an einem solchen Zeugen wollte ich Rache haben – oder selber nicht leben.

Der Gott, der Alles sah, auch den Menschen, dieser Gott musste sterben! Der Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt.“6

Die Rede ist von Friedrich Nietzsche. Mit dem Christentum als Pastorensohn bestens vertraut, hat er dieses verworfen, ja wortstark verflucht7, und eine antichristliche Position verfochten. Ihn störte Christi Mitleid.8 Einen Gott des Erbarmens hielt er buchstäblich für erbärmlich. Daher ließ er ihn sterben. Nietzsche hasste das Mitleid mit den Schwachen und einen Gott, der solches Mitleid übte und verlangte. Mitleid war für ihn eine Sache von Untermenschen. Den Übermenschen hingegen leite mitleidsloser Wille zur Macht. Nietzsche, ein Prophet der Erbarmungslosigkeit? Und das zur Rettung der Größe des Menschen?9

Ein Wort aus alten Zeiten

Abel steh auf

Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
Damit die Kinder Abels
sich nicht mehr fürchten
weil Kain nicht Kain wird
Ich schreibe dies
ich ein Kind Abels
und fürchte mich täglich
vor der Antwort
die Luft in meiner Lunge wird weniger
wie ich auf die Antwort warte
Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen
Die Feuer die brennen
das Feuer das brennt auf der Erde
soll das Feuer von Abel sein
Und am Schwanz der Raketen
sollen die Feuer von Abel sein

Hilde Domin

Nietzsche steht mit seinem Spott über das Erbarmen, gemessen an der langen Sprachgeschichte des Wortes, freilich ziemlich allein da. In so gut wie allen Sprachen hat das Wort eine positive Bedeutung. Meistens ist es eng an religiöse Erfahrungen gebunden, was in früheren Zeiten ein Wort aufwertete.

Die religiöse Geschichte unseres christlichen Kulturkreises ist stark vom Alten Testament geprägt. In der biblischen Sprachwelt stehen für Erbarmen in einem weiten Sinn zwei Wörter zur Verfügung, hesed und rachamim.

Hesed meint „Güte“, dann auch „Huld“ und „Freundlichkeit“. Mit „Erbarmen“ wird es nicht übersetzt, wohl aber mit „Liebe“. Für hesed ist dreierlei prägend:

Die Tat, die aus der Gesinnung erfließt. Sie ist lebenserhaltend und lebensfördernd, ein Freundschafts- und Pietätserweis.

Die Gemeinschaft: Hesed geschieht im Bereich der Beziehungen – sei es zwischen den Menschen, sei es zwischen Gott und den Menschen. Zunächst geht es um die Familien- und Sippengemeinschaft als Ursprungsort, dann auch um andere Gemeinschaften. Hesed umschreibt das gemeinschaftsgemäße Verhalten, hat aber keine rechtlichen Grundlagen. Der profane Gebrauch wird vom religiösen übernommen – nur ist bei Gott das ganze Volk der Empfänger der hesed. Weil hesed auf Gegenseitigkeit hin angelegt ist, gibt es auch einen Bezug zu rachamim „Erbarmen“ einerseits (da ist der Grund der Güte allein in großherziger Bereitschaft für den anderen) und zu berit „Bund“ andererseits.

Dauer und Verlässlichkeit.

Während hesed die grundsätzliche Güte ist, meint rachamim das besondere Sich-Zuwenden angesichts einer Not oder Schuld. Der profane Gebrauch von rachamim ist sehr begrenzt.10 Rachamim gehört zu den Wesensbeschreibungen Gottes. Mit Blick auf Gott werden, wie in der „Gnadenformel“ des Volkes Israels, beide Wörter miteinander verwoben:

Der Herr ist barmherzig (rachamim) und gnädig, langmütig und reich an Güte (hesed) (Ex 34,6)11.

Das lateinische Wort für Erbarmen ist misericordia. Es setzt sich zusammen aus cor und miser: Der misericors hat also buchstäblich ein „Herz für die Armen“. Augustinus: „Barmherzigkeit ist, wenn einem im Herzen elend ist wegen des Elends eines anderen, wobei einen diese Empfindung antreibt, dem Elend des Nächsten, wenn irgend möglich, abzuhelfen.“12 Von daher erklärt sich auch das deutsche Wort „Erbarmen“: Ausdrücklich verweist es auf die Armen. Es kommt mit der Verkündigung des Christentums als Lehnwort in unsere deutsche Sprache.13

Im Russischen hat sich Daniil Granin mit der miloserdie intensiv auseinandergesetzt. Das Wort sei im Kommunismus 1917 aus dem Sprachlexikon ausgemerzt und danach vergessen worden. Das System habe sich als erbarmungslos erwiesen – wie alle totalitären Systeme?14

Das Antiquierte ist avantgardistisch

Worauf soll man also heute setzen: auf die alten (religiösen) Traditionen oder auf den modernen (antichristlichen) Nietzsche?

Ich werde in diesem spirituellen Buch eine Lanze für das Erbarmen brechen: in der Welt, in der Kirche. Denn ich bin davon überzeugt, dass nichts avantgardistischer ist als das Antiquierte: also das Alte, das Unverbrauchte. Dabei kann durchaus von Nietzsche gelernt werden. Denn er attackiert eine Form des Mitleids, die eine Karikatur jenes Erbarmens ist, welches die jüdisch-christliche Tradition meint. Wahres Erbarmen macht den anderen nicht klein, sondern begegnet ihm in seiner Würde. Es verurteilt ihn nicht zu demütigender Passivität, sondern macht ihn zu einem Partner in einem wechselseitigen Geschehen.

Der Weg zu solchem wahren Erbarmen ist ein spiritueller. Ich werde ihn in einigen Etappen beschreiten.

Zunächst schaue ich mit offenen Augen auf unsere moderne Welt. Ohne zu leugnen, dass es in ihr viel aufrichtendes Erbarmen gibt, werden unverstellt Erbarmungslosigkeiten in unserem modernen Leben sichtbar werden.

Sodann gehe ich mit Ihnen in die „Schule“ der jüdisch-christlichen Tradition. Es gilt, vor allem in der Schule Jesu, Erbarmen als ein Grundmerkmal des christlichen Gottesbildes zu erahnen.

Der Blick wendet sich von da weg auf unser eigenes Leben, auf unsere Person: Wie kann eine Lebenskultur aussehen, die von göttlichem Erbarmen geformt ist?

Schließlich stellt sich die Frage nach einer Pastoral des Erbarmens. Die christlichen Kirchen haben in der Nachfolge Jesu die Aufgabe, Gott (in großer Gemeinsamkeit mit den Religionen der Welt) als den „Allerbarmer“ in Erinnerung zu halten oder zu bringen – eine Aufgabe, bei der die Christenheit schon oft genug versagt hat, weil sie hin und wieder, statt Erbarmen zu üben, erbarmungslos wurde.

Welt ohne Erbarmen

Das verlassene Mädchen

Das verlassne Mädchen hört ich sagen:
Bürsten will ich mein Haar, dass es nicht stumpf wird.
Baden will ich meine Augen in einem Aufguss
von Salbei und wilder Kamille. Ich will nicht erfahren
die Scham meines Vaters und die Sorge meiner Mutter.
Erbarmen ist eine ekle Speise von Würmern.
Gebt sie den Toten. Ich esse sie nicht.

Marie Luise Kaschnitz

Menschen, vor allem gedemütigte, haben einen Hang, erbarmungslos zu sein: anderen wie sich selbst gegenüber. Wenn ich hier Menschen sage, dann meine ich zuallererst einzelne. Aber auch im Verbund, im gesellschaftlichen Miteinander können Menschen erbarmungslos sein und handeln. Sollte es gar eine „Kultur“, genauer eine „Unkultur der Erbarmungslosigkeit“ geben? Eine „Welt ohne Erbarmen“?

Zum Denkweg

Theologische Schwarzweißmalerei?

Um einem Missverständnis zuvorzukommen: Ich gehöre nicht zu jenen theologischen Schwarzweißmalern, die in der Welt nur das Böse und in der Kirche nur das Gute sehen. Diese Geisteshaltung ist zwar unter Mitgliedern der Kirche weit verbreitet. Häufig wird sie den leider so genannten „Fundamentalisten“ zugerechnet – leider, weil ich selbst auch einer bin, insofern ich nicht ohne Grund, ohne Fundament leben will, das mir mein Glaube an den unbegreiflichen Gott ist.

Aber es gibt eben Personen in der Kirche, die, wenn sie aus den zumeist dichtgemachten Luken des Kirchenschiffs hinausschauen, nur Dunkel und Sturm sehen. Die Ursache dieser Dunkelheit meinen sie in der Gottlosigkeit der Welt zu erkennen. Damit ist auch schon klar, worum es ihnen geht: Sie wollen die böse gottlose Welt retten, indem sie ihr den guten Gott bringen. Insgeheim gehen sie davon aus, dass die Welt so werden sollte, wie sie die Kirche sehen: gut und gottvoll.

Böses in der Kirche

Aber ist die Kirche wirklich nur gut und gottvoll? Die letzten Päpste haben sich nicht gescheut, sich für die bösen Taten der Kirche, oder wie sie es gern – die heilige Kirche schützend – formulieren, für die bösen Taten von Angehörigen der Kirche entschuldigt. Papst Johannes Paul II. hat am Beginn des neuen Jahrtausends „im Dienst der Wahrheit“ eine umfassende Vergebungsbitte gesprochen – und nicht wenige „fundamentalistisch“ Denkende in der Kirche haben ihm heftig widersprochen. Die Liste der Verfehlungen ist lang und macht sehr betroffen.15

Niemand also kann sich auf einen Papst berufen, wenn er die Welt für schlechthin böse und die Kirche für schlechthin gut hält. Auch Benedikt XVI. hat in seiner Ansprache auf dem Weltjugendtag in Köln im Jahr 2005 darauf hingewiesen, dass die Kirche nicht ohne Fehler ist:

„An der Kirche kann man sehr viel Kritik üben. Wir wissen es, und der Herr hat es uns gesagt: Sie ist ein Netz mit guten und schlechten Fischen, ein Acker mit Weizen und Unkraut. Papst Johannes Paul II., der uns in den vielen Seligen und Heiligen das wahre Gesicht der Kirche gezeigt hat, hat auch um Verzeihung gebeten für das, was durch das Handeln und Reden von Menschen der Kirche an Bösem in der Geschichte geschehen ist. So hält er auch uns selber den Spiegel vor und ruft uns auf, mit all unseren Fehlern und Schwächen in die Prozession der Heiligen einzutreten, die mit den Weisen aus dem Orient begonnen hat. Im Grund ist es doch tröstlich, dass es Unkraut in der Kirche gibt: In all unseren Fehlern dürfen wir hoffen, doch noch in der Nachfolge Jesu zu sein, der gerade die Sünder berufen hat.“16

Gutes in der Welt

Nun wird niemand ernstlich bestreiten, dass es in der Welt viel Böses gibt: das, was Gottes Absichten zuwiderläuft und Menschen klein macht. Die Propheten des Alten Bundes haben dagegen anklagend angeredet.

Doch lässt die christliche Tradition keinen Zweifel daran, dass es in der Welt, auch in unserer modernen, neben dem Bösen auch Wahres und Gutes gibt.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich in dieser Frage deutlich geäußert. Am Beispiel eines Atheisten, der (vielleicht ohne sein Zutun) Gott gar nicht kennen lernen konnte, der ihn vielleicht ablehnt, weil Gott von den Christen falsch verkündigt und durch Untaten statt in Kredit in Misskredit gebracht wurde, betont die dogmatische Konstitution über die Kirche:

„Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen. Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe.“17

Gott ist also in der Geschichte der Welt durch seinen Geist am Werk: mit uns, ohne uns, manchmal auch gegen uns, seine Kirche. Es ist Gottes Geist, der das Angesicht der Erde erneuert, und dieser Geist weht –wie der Wind –, wo er will (Joh 3,8). Daher betet die Kirche zu Pfingsten:

Sende aus deinen Geist,

und das Gesicht der Erde wird neu.18

Wer also nur Dunkles in der Welt sieht, übersieht entweder das Gute, das Gottes Geist bewirkt, oder er traut Gott (ohne uns) nicht viel zu. Wer hingegen mit den Augen des Glaubens auf die Welt, auch die moderne, blickt, wird böses Unkraut und guten Weizen sehen und nicht in der Lage sein, beides fein säuberlich so voneinander zu trennen, dass Unkraut ausgemerzt werden kann (vgl. Mt 13,24–30).

Einige Jahre hatte ich die ehrenvolle Aufgabe, für den jeweiligen Vorsitzenden des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen theologische Beratungsdienste zu leisten. So gelangte ich in die theologische Schule des großen Kardinals Carlo M. Martini. Er ließ keinen Textentwurf, in dem es um die moderne Welt ging, durchgehen, wenn neben den prophetischen Anklagen nicht auch wertschätzend die Stärken der modernen Welt, in der Medizin, in der Wirtschaft – auch in der globalisierten –, benannt wurden. Ihm ist auch die Formulierung zu verdanken, dass Evangelisierung im Zuge einer solchen gerechten Theologie der modernen Welt nur heißen könne, „dass die Kirche lernt und lehrt“. Denn nicht selten war die moderne Welt in der Entwicklung des Guten schneller als die manchmal nachhinkende Kirche. Dabei muss nicht geleugnet werden, dass auch im Bildungsbereich, in der Sorge um die Kranken, die Schwachen, nicht zuletzt auch in der Wissenschaft kirchliche Kräfte die Vorhut von Fortschritt und Entwicklung gebildet haben und auch heute noch (etwa in der Hospizbewegung) bilden.

Wenn wir im Folgenden auf eine dunkle Seite der modernen Welt schauen, dann kann das vor dem Hintergrund des bisher Bedachten nicht bedeuten, dass die ganze Welt dunkel ist und es kein Licht in der Welt gibt. Vielmehr: Das tatsächlich vorhandene Dunkel lässt sich erst dann wirklich „sehen“, wenn es eben auch das Licht gibt. Niemand wüsste um Leben, wäre ihm der Tod fremd. Und die Liebe erkennt am ehesten, wer unter Hass leidet. Das Dunkle und das Helle, das Böse und das Gute sind wie zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Welt ohne Erbarmen: Mit dieser Aussage wird ein markanter Zug der heutigen Welt hervorgehoben. Nicht die ganze Welt wird als erbarmungslos eingeschätzt. Dennoch ist eine vielgesichtige Erbarmungslosigkeit eines der Hauptmerkmale moderner Lebenswelt. Dieser Erbarmungslosigkeit in unserer heutigen Welt gehe ich nach, wohl wissend, dass ich um diese nicht wüsste, wenn ich nicht auch eine Ahnung vom Erbarmen hätte: aus konkreten Erfahrungen oder zumindest im Modus tiefen Verlangens nach Erbarmen.

Erbarmen wie Erbarmungslosigkeit sind zuallererst an konkrete handelnde Personen gebunden. Dieses Handeln kann über Wiederholung zu Handlungsmustern führen und zu einer Haltung dahinter werden. Haltungen wiederum können sich zu gesellschaftlichen Strukturen, zu kulturellen Grundstimmungen verdichten, die sich von einer zur nächsten Generation gleichsam „vererben“. Dann entsteht so etwas wie eine „strukturelle Erbarmungslosigkeit“ oder aber eine „(Un-)Kultur des Erbarmens“. Beide gesellschaftlichen Phänomene können wiederum auf das Tun der einzelnen Personen zurückwirken. Sie sind dann wie die Luft, die wir atmen und die uns formt oder eben auch verformt. Vielleicht lässt sich eine erbarmungslose Kultur als Moment an der von den Vätern [und manchmal noch mehr von den Müttern] ererbten sinnlosen Lebensweise (1 Petr 1,18) verstehen, also an dem, was die Theologie so schwer verständlich „Erbschuld“ nennt. Umgekehrt ließe sich eine Kultur des Erbarmens als eine Art „Erbheil“ erleben.

So wird im Folgenden eine kleine Kulturdiagnose vorgelegt. Sie erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen Erbarmungslosigkeiten im modernen Leben aufgedeckt werden.

Ich orientiere mich dabei an den drei großen Dimensionen moderner europäischer Kultur: Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit. Diese drei Dimensionen sind wertvolle Kulturgüter. Aber in der Art, wie sie heute konkret gelebt werden, haben sie eine – oftmals verborgene und deshalb übersehene – erbarmungslose Schattenseite. Diese gilt es aufzudecken. Dabei wird uns selbst ein Spiegel vorgehalten werden.

Erbarmungsloses Freiheitsrisiko

Freiheit zählt in modernen Kulturen zum Grundanspruch. Europas jüngere Geschichte ist eine Abfolge erfolgreicher Freiheitsrevolutionen: von 1789 bis 1989, von der blutigen französischen zur unblutigen „samtenen“ Revolution, deren unverdiente Zeitzeugen viele von uns geworden sind. Freiheitsrechte gelten in modernen Demokratien als verbrieft: Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, die Freiheit, sich anzusiedeln und Arbeit anzunehmen, wo man will. Wir rühmen uns heute in Europa, in einem langen historischen Ringen zu einem Kontinent der Freiheit geworden zu sein.

Umso mehr überrascht es, dass inmitten gesellschaftlich verbriefter Freiheiten immer mehr Menschen anfangen, die ihnen lästige Last der Freiheit wieder loszuwerden. Sie sind bereit, ihre Freiheit und mit ihr auch ihre Verantwortung an andere abzugeben – in der Politik ebenso wie in den Religionsgemeinschaften. Hier profitieren die „Populisten“, dort die „Fundamentalisten“.

Man kann diese Freiheitsflucht inmitten von Freiheitskulturen verstehen, wenn man die erbarmungslosen Züge moderner Freiheit in Betracht zieht. Es spielen zusammen: wachsende Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas), zunehmende Unbezogenheit (Jürg Willi), erhöhtes Risiko, das in moderner Freiheit enthalten ist (Ulrich Beck), und das bei zugleich abnehmender Daseinskompetenz.

Wachsende Unübersichtlichkeit: Jürgen Habermas19 hat darauf hingewiesen, dass modernes Leben für viele Bürgerinnen und Bürger immer unübersichtlicher wird. Wer kann heute schon vorhersagen, ob er morgen noch Arbeit haben wird? Wer kann wissen, ob sie in einer befriedeten Beziehung lebt? Wer weiß, wie sich das Klima entwickelt, ob wir noch trinkbares Wasser, atembare Luft, nicht kontaminierte Erde, unbedenklich genießbare Lebensmittel haben werden? Die Herausforderungen modernen Lebens nehmen also zu.

Mit den Herausforderungen muss heute und noch mehr morgen jede und jeder Einzelne allein fertig werden. Dies hat mit dem Individualisierungskonzept moderner Kulturen zu tun. Der Einzelne ist in seinem Leben immer mehr auf sich allein gestellt. Moderne Individualisierung entnetzt die Menschen. Selbstverwirklichung, ein erkämpftes soziales Gut moderner Kulturen, hat dem Menschen zwar große Vorteile, individuelle Entwicklungschancen und produktive Unabhängigkeiten gebracht. Aber sie geschieht immer öfter, so Jürg Willi20, unbezogen. Der Preis dafür ist hoch.

Die Risiken, welche die moderne Freiheit für den Menschen bereithält, muss dieser nun allein tragen. Freiheiten sind nicht nur ein erstrebenswertes Gut, sondern werden immer „riskanter“ (Ulrich Beck21). Immer mehr Menschen erleben sich überfordert. Die entlastende Kraft von Institutionen ist seit den Achtundsechzigern geschwunden: Institutionen wurden wie Normen und Autoritäten im Kampf gegen Repressionen geschwächt. Also scheitern immer mehr mit ihren Lebensplänen: in der Arbeit und in der Liebe.

Solches Scheitern wird noch dadurch begünstigt, dass die Daseinskompetenz vieler Menschen mit den Herausforderungen nicht zu-, sondern eher abnimmt. Das hat mit den Schwächen unseres familialen und schulischen Systems zu tun.22 Es fehlt in der Formung der nachwachsenden Generation an Vätern und Autoritäten, welche Lebenskompetenz dadurch fördern, dass sie sich mit den Kindern nachhaltig in flexibler Unnachgiebigkeit ringend auseinandersetzen. Eine Kultur der „Überverwöhnung“ bringt kaum ausreichend daseinskompetente Menschen hervor – schon gar nicht angesichts der wachsenden modernen Anforderungen und der prognostizierten Entwicklungen.

So erweist sich die moderne Freiheitskultur zwar als ein enormer historischer Gewinn, in der konkreten Ausgestaltung zeigt sie aber zugleich erbarmungslose Schwächen. Dies wird daran erkennbar, dass heute immer weniger Menschen an Repression, aber immer mehr an Depression leiden.

Zudem ist eine Freiheitskultur, in der die Freiheitskunst der Menschen nicht ausgereift ist, anfällig für geheime Verführungen und totalitäre Tendenzen: in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Verwaltung, in der Mode. In seinem Schreiben über das Erbarmen aus dem Jahre 1980 diagnostizierte Papst Johannes Paul II. eine innere Unruhe, eine existentielle Angst im modernen Menschen. Diese entspringe nicht nur dem Wissen um die atomar mögliche Selbstzerstörung der Menschheit; „sie erwächst auch aus vielen anderen Folgen einer materialistischen Zivilisation, welche – trotz ‚humanistischer‘ Erklärungen – dem Vorrang der Sachen über die Person huldigt. Der zeitgenössische Mensch fürchtet also, dass durch die von dieser Zivilisation erfundenen Mittel die Einzelpersonen und auch die verschiedenen Lebensbereiche, die Gemeinschaften, die Gesellschaften und die Nationen Opfer der Willkür anderer Einzelpersonen, Lebensbereiche und Gesellschaften werden könnten. Die Geschichte unseres Jahrhunderts bietet dafür Beispiele zur Genüge. Trotz aller Erklärungen über die Rechte des Menschen in seiner Ganzheit, das heißt in seiner leiblichen und geistigen Existenz, können wir nicht sagen, dass diese Beispiele nur der Vergangenheit angehören.“23

Erbarmungslose Ungerechtigkeiten

Eine der herausragenden Stärken Europas ist der Sozialstaat. Er federt in verbriefter Solidarität die großen Lebensrisiken des einzelnen Menschen ab: Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit. Entstanden ist er aus dem Versuch, moderner Freiheit Gerechtigkeit abzuringen (Jean B. Lacordaire, 1802-1865). Die Ausweitung der Freiheiten für die starken Fabrikherren brachte dem Industrieproletariat von damals keine Gerechtigkeit. Im Gegenteil: Die Erfindung der Dampfmaschine und mit ihr die Industrialisierung veränderten das soziale Gefüge der damaligen Gesellschaft tiefgreifend. Das führt zu jenen Missständen, die im Begriff „Soziale Frage“ gebündelt worden sind. Ein jahrzehntelanges Ringen, mit blutigen Revolutionen und Kriegen, brachte Europa dazu, Freiheit und Gerechtigkeit in eine für viele akzeptable Balance zu bringen.

Diese Errungenschaft ist heute erneut in Gefahr. Wiederum ist es eine technische Erfindung, welche einen neuerlichen, diesmal weltweiten Umbau der Gesellschaft verursachte, nämlich die Erfindung der Mikrochips und damit die Informatisierung.

Dazu kommt der Fall des Eisernen Vorhangs. Dem Siegeszug (neo)liberaler Entwürfe für Wirtschaft und Gesellschaft stand nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa weltweit nichts im Wege. Für die Finanzmärkte und die multinationalen Konzerne wurden die Freiheitsgrade global ausgeweitet. Das hatte und hat bis heute zur Folge, dass es lokal kaum ein Land in Europa gibt, dessen Sozialstaat nicht in eine tiefe (Finanzierungs-)Krise geraten ist. Eine neue „Soziale Frage“ zeichnet sich ab, mit einem hohen Niveau an Arbeitslosigkeit und einer starken Verunsicherung der Menschen, was ihre Zukunft und Sicherheit betrifft. Auch der Sozialstaat ist in der herkömmlichen Form trotz des privaten Reichtums der Bürgerinnen und Bürger wegen der Verarmung der Gemeinwesen nicht mehr zu finanzieren. Zwar gibt es nach wie vor viele, die von dieser Entwicklung profitieren. Zugleich wächst aber die Zahl der Modernisierungsverlierenden24, unter den Frauen mehr als unter den Männern. Die nachwachsende Generation ist tief verunsichert.

Diese Verunsicherung bezieht sich aber nicht nur auf die Arbeit. Viele auch in reichen Gesellschaften sind besorgt, dass sie überflüssig werden und die Gemeinschaft ihnen die Sorge entzieht – sie also buchstäblich „ent-sorgt“.25