Silja Walter
Das dreifarbene Meer
topos premium
Eine Produktion des Paulusverlags
Meine Heilsgeschichte –
eine Biographie
topos premium
Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck
Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement
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ISBN: 978-3-8367-0017-7
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5064-6
E-Pub: ISBN 978-3-8367-6064-5
2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim
Paulusverlag Freiburg/Schweiz
Umschlagabbildung: © Liliane Géraud
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Abt Martin Werlen
Priorin Irene Gassmann
und meiner Schwesterngemeinschaft
Fahr
in Dankbarkeit
Dreifarbenes Meer,
Dreifarbenes Meer,
ich weiß nicht was sagen dazu.
Vorwort
Das Leben ist spannend, besonders spannend sind die Grenzerfahrungen, die wir machen – auch im klösterlichen Leben. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen. Wer dahinter blickt, dem öffnet sich eine neue Welt, der erfährt neues Leben.
Silja Walter, die 2011 verstorbene Nonne und Schriftstellerin, reflektiert im vorliegenden Buch als Neunzigjährige in dichter, lebendiger Sprache ihren Weg als Benediktinerin. Dabei wird deutlich: Das Leben im Kloster ist kein bequemer Sonntagsspaziergang, sondern gleicht einer anspruchsvollen Bergwanderung. Offen und ungeschminkt beschreibt Silja Walter ihre Grenzerfahrungen im Zusammenleben in der klösterlichen Gemeinschaft, Auseinandersetzungen mit den Obern, persönliche Schwierigkeiten mit dem Chorgebet oder der Beichte. Trotz dieser Krisen entscheidet die Nonne Silja Walter, im Kloster zu bleiben und den gewählten Weg konsequent weiterzugehen. In allen Prüfungen erinnert sie sich an das prägende Erlebnis vom Schwarzsee in den Walliser Bergen am 6. August 1947. „Das Dreifarbene Meer“ – wie Silja Walter diesen ihren Berufungsmoment nennt – ermutigt die Nonne, den Problemen nicht auszuweichen, sondern dem Ruf treu zu bleiben und sich den Grenzerfahrungen des Lebens zu stellen.
Auch dem heiligen Benedikt waren Grenzerfahrungen im klösterlichen Leben nicht fremd. In seiner Regel mahnt er seine Mönche und Nonnen: „Fliehe nicht vom Weg des Heils; er kann am Anfang nicht anders sein als eng. Wer aber im klösterlichen Leben und im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes“ (RB Prolog 48-49).
Die Benediktinerin, Silja Walter, läuft nicht davon, auch wenn der Weg eng ist. Bewusst und im Blick auf „Das Dreifarbene Meer“ geht sie weiter und entdeckt im Laufe ihres monastischen Lebens eine ungeahnte Weite. Im „Dahinter“ begegnet sie dem Herrn, ihrem Gott, und erfährt so ihre persönliche Heils-Geschichte. Nicht selten entstehen in diesen „Eng-Pässen“ literarische Meisterwerke. In dichter poetischer Sprache bringt die schreibende Nonne ihre Grenz- und Gotteserfahrung zum Ausdruck. Viele bekannte und auch unbekannte Texte bekommen beim Lesen dieses Buches eine neue Tiefe, da sie nun im Kontext ihrer Entstehung zu lesen sind.
Auch wenn es für Silja Walter manchmal zum Davonlaufen war: Sie blieb im Kloster am Rand der Stadt. Dass die hochbegabte, prophetische Schriftstellerin auch für ihre Mitschwestern oft eine Herausforderung darstellte, ist verständlich. Der benediktinische Respekt der Einzigartigkeit jedes Menschen ermöglichte, dass Silja Walter in der Gemeinschaft im Fahr bleiben und ihr Charisma entfalten konnte. Ich bin meinen Mitschwestern und meinen Vorgängerinnen sehr dankbar für diese Offenheit. Ohne Schwester Hedwig – wie Silja Walter im Kloster hiess – wäre das Leben unserer Gemeinschaft, aber auch die literarische Welt um vieles ärmer. Silja Walter hinterlässt uns mit ihrem schriftstellerischen Werk einen reichen Schatz. Ihre Texte – insbesondere ihre Lyrik – haben eine prophetische Dimension.
Dass Silja Walters Werk in der Stille und im Rhythmus unseres Klosters entstehen konnte, ist eine Frucht und sichtbares Zeichen des monastischen Lebens. Dies erfüllt mich mit Dankbarkeit auch für meine Berufung als Benediktinerin.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich, dass „Das Dreifarbene Meer – Meine Heilsgeschichte“ auch Sie ermutigt, den Grenzerfahrungen des Lebens nicht auszuweichen, sondern hindurchzugehen und im Dahinter dem Herrn zu begegnen und dabei zu erfahren: „Ist hinter allen Dingen, die scheinbar nicht gelingen, doch Einer, der mich liebt.“ (aus: Silja Walter, Lied der Armut, GA 8, S. 39)
Kloster Fahr, am Fest der Hl. Maria Magdalena
22. Juli 2016
Priorin Irene Gassmann
Nach dem großen jüdischen Theologen Abraham Joshua Heschel leben wir in den sechs Tagen der Woche unter der Tyrannei der Dinge. Aber am Sabbat sollen wir teilnehmen an dem, was ewig ist in der Zeit.
Erst lebte ich dreißig Jahre lang sechs Tage in der Woche. Seit meinem Eintritt ins Kloster vor sechzig Jahren versuche ich, aus der Tyrannei der Dinge herauszukommen und an dem, was ewig ist in der Zeit, teilzunehmen.
„Das, was ewig ist“, wartet im laufend vergehenden Welthaften auf Entdeckung. Mit dieser Entdeckung setzt die existentielle und tägliche Spannung des monastischen Lebens ein.
Auch draußen werden immer Menschen in diese Spannung geholt. Sie haben damit zu leben, nicht anders als wir Frauen im Fahr. Nur vermögen wir da leichter im Glauben zu entdecken, zu wissen und zu erfahren: Gottes Gegenwart ist das, was ewig ist im Jetzt und Hier der Zeit.
Im Kloster ist mein Glaube an dieser, zu dieser Tatsache hin, aus seinem Halbschlaf erwacht. Er trieb und treibt mich weiter und weiter an, hinein zu sehen, zu tun und zu schreiben, was ich davon erkenne und erfahre, was mich durch Bibel und Eucharistie in mein Inneres zieht, ins Christus-Mysterium, ins „Schauspiel für die Welt vor Engeln und Menschen“. (1 Kor 4,9)
Das zur Sprache zu bringen, ist der Wunsch meines Verlegers.
Christus-Mysterium – Ich denke mir, es geht im Christentum darum, sich vom Heilswerk Gottes persönlich angesprochen zu hören und sich im universalen Heils-Spiel, das in der Genesis begann, selber als miteinbezogen seine christliche Identität zu erfahren und zu bekennen. So sehe ich mich selber im Gebüsch sitzen, nachdem ich Gott mein „Nein“ erklärt hatte, und muss feststellen:
Ich laufe
in unserm Garten
herum
und suche
mich.
Gott!
jetzt, heute
und hier
brausen und brennen
die Engel
in unserm Garten
vor dir.
Ich sitze
versteckt im Haselgebüsch
und
wisch mir den Mund
von der Sucht
nach der sündigen Frucht
vgl. Gen 2,3
Sünde – Tod – Heil, das christliche Mysterienspiel schlechthin, die Heilsgeschichte des Menschen. Sich herausrufen hören aus dem Gebüsch des Abfalls zurück zu Gott, da beginnt sein erster Akt, der erste auch meines Heils-Spiels.
Schwester Ambrosina sagte mir nach der schriftlichen Abschlussprüfung, mein Aufsatz sei unerwartet schwach, aber der Experte hätte ihn verteidigt. Ich sei offensichtlich echt lyrisch begabt. Zu ihrem Erstaunen erhielt ich von ihm für meine schwache Leistung in „Deutsch“ die beste Note.
Anders fiel die Prüfung in Methodik aus.
„Besser zur Bühne, als ins Schulzimmer“, sagte die altehrwürdige Schwester Benedikta und taxierte mich entsprechend im Diplom. Vermutlich hatte sie mich kurz zuvor im Seminartheater als „Parzival“ gesehen.
Dass ich aber statt zum Theater ins Kloster ging, daran war erstens die Krankheit schuld, zweitens der Krieg und drittens Gott.
Kurz nach der Mobilmachung im August 1939 hatte ich im Zivildienst einen an die Grenze abkommandierten Lehrer zu ersetzen. Die Kinder liebten mich, „weil sie so schöne hohe Stiefel trägt“.
Nach vierzehn Tagen Schuldienst wurde bei mir eine beginnende Lungentuberkulose festgestellt. Kuren, ein paar Monate, sagte der Chefarzt. Die Heilung brauchte drei Jahre Zeit. Zuerst drunten am Ägerisee, später, nach dem eigentlichen Ausbruch, droben im Walliser Bergland, Montana und Leysin.
In den Augen meiner Lehrerinnen und Freunde war ich „eine hochgradige Individualistin, ständig mit sich selber beschäftigt“.
Zugegeben, das war ich wohl. Aber wie konnte ich anders? Ich musste doch wissen, wer und wozu ich bin. Leysin gab mir Zeit und Ruhe zum Nachdenken. Was man da tat, war auf Heilung warten, liegen und lesen, auch geistliche Bücher, was mir sonst wohl nicht einfiel. Vor allem rührte mich eines an, als ob es mich aufwecken wollte: „Traktat der Gottesliebe“ von Franz von Sales. Mein Onkel, der Domkaplan an der Kathedrale von Solothurn, hatte es mir geschickt; von ihm erhielt ich auch „Der innere Jubel“, geistliche Texte mittelalterlicher Autoren, und einen kleinen Band, vom „lebendigen Wasser“ nach Joh 4.
Mir wurde bewusst, da gab es überall Dinge und Sachverhalte, große, heilige, an denen ich nicht vorbeikam, was mich aber eher störte.
Erst nachdem ich das Sanatorium verlassen konnte, erfuhr ich, dass ich auf den Tod krank gewesen war.
Und jetzt?
Die Krankheit war das erste, das meine Zukunft zunächst bestimmt hatte.
Die Invasion der Amerikaner unter Eisenhower von Nord-Afrika herüber nach Süditalien hatte damals begonnen. Nur noch die Alpen standen zwischen dem Krieg und unsern Balkons, wo wir lagen und unter Fliegern und Panzergeschütz-Donner auf „Bazillenfrei“ warteten. Dass Hitler vor Torschluss noch einmarschierte, war nicht mehr möglich. Die Russen waren jedoch im Anmarsch, gefolgt von Gräuelberichten aus dem besetzten Wien. Wozu gesund werden, um morgen im Lager umzukommen oder sonstwo erschossen zu werden? Leben und Heilung waren von neuem fragwürdig.
Das erste war die Krankheit, das zweite der Krieg. Beides holte mich zwar aus meinem Narzissmus heraus, stieß mich aber in Ängste, gereizte Langeweile und Leere.
Wozu alles?
Dann wieder dieser Franz von Sales. Es gibt die Heiligen. Was ist mit den Heiligen? Was wussten die? Was war mit diesem Comte de Sales, dass er Bücher über Gott schreiben konnte? Er war ein Radikaler, sie waren alle radikal, auch die kleine Therese. Auch Onkel Domkaplan. Die Leute in der Stadt nannte ihn noch als Ehrendomherrn „s’ Heilig Mannli“. Baten sie sterbenskrank, sie auf den Tod vorzubereiten, fuhr er sie an: „Auf den Tod bereite ich niemanden vor, aufs Leben bereite ich Sie vor!“ Woher diese Sicherheit über das, was nachher kommt?
Wer das weiß, hat der die Antwort auf die Frage: „Wozu alles?“ Diese Frage setzte sich fest in mir, wurde zur unruhigen Sehnsucht nach der Wahrheit und – zur Wehr gegen Gott!
In meiner Erzählung „Monika tanzt“ – „brach langsam die nur angelehnte Terrassentüre ins Zimmer ein, und die dunkelroten Gardinen bauschten sich weit, als wären sie das feierliche Gewand eines großen, aus der Nacht hereintretenden Gastes“.
GA 1, S. 117
Langsam brach eine Türe ein – aber wie David legte ich einen Kieselstein in meine Schleuder …
Es stand in jener Zeit eben so mit mir, dass es mich nicht kümmerte, wer anders noch als ich selbst im Hause lag und was es mit ihm und mit ihm und seiner Krankheit für eine Bewandtnis hatte. Daran war der Kieselstein schuld, den ich gegen mein Herz eingetauscht hatte.
(…)
In unsern Kirchen stehen Opferstöcke, nahe beim Portal. Oft hängt ein bedrucktes Kartonstück daran oder ein Metallschildchen, auf dem zu lesen ist, für wen oder für welchen Zweck das hineingelegte Geld der Gläubigen verwendet wird. Nun war mein Herz solch eine Münze geworden, die ich herlegen musste auf den Opferteller des ewigen Gottes, und ich sollte es hinunterlassen in den Opferstock, an dem keine Anschrift stand, zu welchem Zweck! So sollte also mein Herz, und das ist doch ich selbst, zu gar keinem andern Zweck auf Erden sein als dazu, in der finstern Öffnung des Opferstockes Gottes zu verschwinden, ohne zu wissen wozu, kurz, zu gar keinem Zweck?
(…)
Niemand war da, der mich Gottes wegen trösten konnte. Nichts und niemand stand mir bei gegen Ihn, und niemand sah die arme, rot glühende Herzmünze, die zuckte und brannte unter Seinem Blick, derweil Er, der Allgegenwärtige dastand in mir und um mich in der Finsternis.
aus: „Stern“, GA 1, SS. 140, 144f.
Ich hatte gedacht, mit einem Kieselstein müsste ich Gottes wegen nicht mehr leiden, weil ein Kieselstein nicht leiden kann. Mit einem Kieselstein schützte ich mich vor seinem Griff nach mir.
Aus den Walliser Bergen wieder zu Hause, erfand ich, was ich für meine erste Prosaerzählung halte: „Monika tanzt“, die Geschichte eines jungen Mädchens, das Gott zu widerstehen entschlossen war und hinter dem ich mich selber verbarg.
In ihrer Lizentiatsarbeit 1999 über „Tanz in den frühen Gedichten von Silja Walter“, schreibt Manuela Waeber:
„Das Forschungsinteresse am ‚Tanz in den Frühen Gedichten von Silja Walter‘ war bisher gering. Das ist nicht erstaunlich, da es überhaupt kaum Sekundärliteratur zur Schriftstellerin gibt und gerade das Frühwerk mit dem Klostereintritt ins Abseits geraten ist. Erstaunlich dagegen, da kein anderes Bild häufiger im gesamten Werk zu finden ist als der Tanz. Die dreiteilige Erzählung ‚Monika tanzt‘ handelt von dem jungen Mädchen Monika, welches auf der Suche nach Sinn und Identität Gott begegnet.“ (M. W.)
Monika hatte den „Ruf aus dem Garten“ gehört. Ihre Antwort war Abwehr.
Du sollst mich nicht segnen, Gott, denn ich will glücklich sein!
(…)
Als er nicht locker ließ und mich fragte und fragte, zog ich, es war im August, ein Kleid mit Orchideen darauf an, kaufte mir eine breite, doppelreihige Korallenkette, machte mich schön und fremd und freute mich über meine große Klugheit. So konnte ich Gott sicher entgehen.
(…)
Reddie [mein Freund] hat mir versprochen, nie von Gott zu sprechen. Wir tanzen viel zusammen. Wir tanzen auf den Rändern Gottes. Er stört uns nicht. Ein kleiner Schritt nur, und ich tanze mit Reddie dort hinaus, wo Gott nicht ist.
aus: „Monika tanzt“, GA 1, SS. 122, 135, 134
Das Kleid mit Orchideen, die Korallenkette und Reddie, der Freund, sind erfunden, gehören in die Erzählung, nicht in meine Biografie. Aber Monika war ich selber. Ich brauchte Ausgedachtes um mich herum, um die Bedrängnis mit Gott loszuwerden.
Die französische Dichterin Marie Noël schrieb, es sei nicht gut, sich zu viel Kummer um Gott zu machen. Manuela Waeber zitiert weiter:
„Dann träumte das Mädchen nachts eine Woche lang denselben Traum. Es musste in einer Kirche tanzen:
‚Es gab in der Höhe farbige Fenster, der Chor war dunkel, und im ganzen Raum Orgelmusik. An den Wänden hingen Gesichter, die auf und ab schaukelten. Ich trug ein lan-ges, weites Kleid aus rotem Tuch und tanzte auf einer kleinen Fläche. Mir war, ich sei eine Flamme, denn ich warf einen hellen runden Schein auf den Boden. Ich hielt die Arme ständig über mich hinaus und fühlte sie kaum, ich vergaß, dass ich Arme hatte. Es war ein sonderbarer Tanz.‘ Sonderbar erscheint ihr dieser Traum, der an eine Vision erinnert, die durchaus eine Offenbarung von Gott sein könnte. Kein alltäglicher Tanz wird getanzt, ein anderer Tanz, ein Tanz im Traum.
‚Ich hielt die Arme ständig über mich hinaus‘, heißt es da. Das Abheben der Arme erinnert an das Abheben vom Boden. Im Tanze vergisst sie ihre Arme, vergisst sich, ist ganz Flamme. Den Tanz deutet sie als eine Folge auf das Heimgehen durch die Stadt, die ihren Sinn und ihr Geheimnis in sich und vor sich versteckt. Und dann wird eines Abends dieser Tanz wirklich.“
Was hier in meiner Erzählung folgt, könnte eine Erfahrung aus meiner Zeit in Fribourg sein, was ich indes nicht sicher behaupten möchte.
Es war spät abends. (…) Je weiter ich schritt, umso stärker empfand ich, was für eine große Sache dieses Heimgehen durch die nächtliche Stadt ist. Was für ein Tanz das wird, wenn man sich dem Rhythmus überlässt, der auf- und abwogt durch diese Straßen voll von unter tausend Lichtern dahin und daher gehender Menschen.
Ein Tanz. Ich fühlte plötzlich, wie alles mich trug, wie ich mich verlor, wie ich nicht mehr war. In meinen flachen Schuhen lief ich auf den Bändern der Randsteine heim, lief wie auf einem rinnenden Boden … und plötzlich fiel ich beinahe in die Knie. Mir war, als sei ich an eine Mauer hingelaufen. Es war aber keine Mauer. Gott stand mitten im Weg.
Nichts außer Gott kann so unsäglich tonlos unsichtbar und wirklich sein, als sei alle Umwelt aufgelöst und unendlich weit weggewichen.
Es fällt mir jetzt schwer, mit Sicherheit zu wissen, dass ich das wirklich erlebt hatte. Tanz und Gott lagen mir jedoch immer wieder ganz beisammen. Prosa, Spiele, Gedichte – immer wieder Tanz.
Mit der Tänzerin Susej, die heimlich in der Kirche tanzt, beginnt mein Schauspiel „Sie kamen in die Stadt“, das André Revelly vom Theater 58 inszeniert hat.
„Tanz vor dem Herrn“ heißt eines meiner Gottesdienst-Bändchen für Jugendliche aus meiner „Blauring-Zeit“. In der „Kleinen Anthologie des Tanzes“, im Anhang, um die ich den Liturgiker, Professor J. Baumgartner von der Universität Fribourg gebeten hatte, zitiert dieser den altchristlichen Kirchenlehrer Gregor von Nazianz:
„Allein, wenn du schon tanzen musst, als Liebhaber der Panegyris und der Feste, so tanze nur, aber nicht den Tanz der Herodias, den ausgeschämten Tanz, der dem Täufer den Tod brachte, nein, tanze den Tanz des David vor der ruhenden Gotteslade.“
Und nach einem Gang spät abends dem Dorf zu, zusammen mit dem jungen Dichter und Buchhändler H. B. in der gespenstischen und bedrängenden Stimmung einer über den Jura herein einbrechenden Nacht, entstand:
TÄNZERIN
Der Tanz ist aus. Mein Herz ist süß wie Nüsse.
Und was ich denke, blüht mir aus der Haut.
Wenn ich jetzt sacht mir in die Knöchel bisse,
sie röchen süßer als der Sud Melisse,
der rot und klingend in der Kachel braut.
Sprich nicht von Tanz und nicht von Mond und Baum
und ja nicht von der Seele, sprich jetzt nicht.
Mein Kleid hat einen riesenbreiten Saum,
damit bedeck ich Füße und Gesicht
und alles, was in diesem Abend kauert,
aus jedem Flur herankriecht und mich misst
mit grauem Blick, sich duckt und mich belauert,
mich gellend anfällt und mein Antlitz küsst.
Sprich nicht von Tanz und nicht von Stern und Traum
und ja nicht von der Seele, lass uns schweigen.
Mein Kleid hat einen riesenbreiten Saum.
Drin ruht verwahrt der Dinge Sinn und Reigen.
Ich wollte Schnee sein, mitten im August,
und langsam von den Rändern her vergehn,
langsam mich selbst vergessend, ich hätt Lust,
dabei mir selber singend zuzusehn.
GA 1, S. 32
Flucht aus den Dingen, singend ins Nichts, wie Schnee im Feuer vergehen … Ist das die Lösung? Befreit mich das von meiner Not der Gottesfrage?
Nachdem ich auf Bewährung nach Hause entlassen worden war, wollte ich studieren. Erst durch Privatstunden das Latinum absolvieren und gleichzeitig ins Herbstsemester jenes Jahres in Fribourg einsteigen.
Ich immatrikulierte mich in Phil. I. Belegte bei Professor Newald Deutsche Literatur, bei Professor Oehl Mittelhochdeutsch, dazu Weltgeschichte bei Vasella und Philosophie bei einem alten Dominikaner, Pater A. Weiss, der mir gleich zu Beginn seiner Vorlesung zu verstehen gab, dass Frauen in seinem Hörsaal nichts zu suchen hätten.
Sowohl Professor Oehl wie Professor Obermaier begrüßten mich freundlich mit der Bemerkung: „Ich kenne Ihren Vater.“ Sie kamen beide aus dem Kreis des Freiherrn Richard von Kralik, dem damals bekannten Kultur- und Literaturhistoriker in Wien, dem mein Vater als Student angehörte.
Tagebuchnotizen aus dem Hörsaal:
Mit Eindrücken ist es nicht gemacht, und doch kann ich nicht anders von meinen Eindrücken bei N. sprechen als so, wie man von stoßweise belichteten Dingen redet: von den Umrissen, den stärksten Schatten und dann wieder nur mit eigenen Gedanken darüber.
Was sich mir aus der Belichtung des Kollegs bei N. eröffnete, weiß ich von Kollegen, deren Notizen ich auf meine Blätter hereinsammelte, allerdings im sichern Bewusstsein, dass an diesen Bestandteilen des Vortrags mein Inneres nicht wächst. Ich befürchtete vielmehr, diese Streublumen verwischten meine eigene Denklinie.
Stoßweise, im Rhythmus seines ständigen Standortwechsels kommt Professor Newalds Rede auf uns zu. Zweimal innert einem Scriptblättchen wechselt er vom linken auf den rechten Fuß. Ich kann mir sein Gesicht nicht einprägen, kann, was er doziert, nicht behalten. Das hat aber nichts zu sagen. Ich mache mir aus seinen notwendigen Einzelheiten eine eigene Ordnung meines Wissens, knüpfe an Bekanntes an und schichte sie darauf, in der Absicht, mit der Zeit auch diese richtig ins Ganze einzugliedern.
Seminararbeiten dagegen sind fein, da bin ich es, die sprechen darf. Und ich bemühe mich, schön zu sprechen, alle Richtigkeit des erarbeiteten wissenschaftlichen Stoffes in eigener Sprache auszudrücken, darin liegt in meinem Fall der Erfolg.
„Das haben Sie sehr hübsch gemacht“, war denn auch Professor Newalds Urteil über meine Arbeit zu Goethes „Zauberlehrling“.
Herr Newald verließ kurz danach die Schweiz. Noch immer war Krieg. Möglich, dass er als „Reichsdeutscher“ ausgewiesen wurde oder selber ging. Auf die kleinste Verdächtigung von Spionage wurde heftig reagiert.
Professor Pobé verhilft mir zur Ehrlichkeit. Ich fühle, was er sagt, ist richtig. Jeder Gedanke geht ein und wandelt sich ein wenig nur, aber dennoch in meine Art zu denken um, so dass ich nicht weiß, kam es mir selbst in den Sinn oder hörte ich es.
Was Gedichte betrifft: es ist meine volle Überzeugung, dass das Gedicht erst in seiner Ganzheit aufgenommen sein will, und dass erst, wenn man seine Musik empfindet, der Verstand daran herumtasten darf. Dass der Versuch, seinen herausgelösten Sinn zu erkennen, misslingt, weil man sich in der Berührung mit Poesie in erster Linie wartend verhalten muss, ertragend und dann erst erkennend. Nie, aber auch dann nie nur zeilenweise, sondern immer als rundes Ganzes.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich dieses Zitat selber dachte und aufschrieb, oder einer Vorlesung entnahm. Der Stil wies jedenfalls deutlich auf meine damaligen komplizierten, pseudo-akademischen Denkversuche, und damit darauf, wie sich das wissenschaftliche Studium nicht in mein Wesen integrieren ließ. Es blieb mir fremd.
Aber Fribourg gefiel mir. Da war die Studentenverbindung, meine Kommilitoninnen, da war die studentische „Mimenzunft“, der Studentenball, der akademische Vinzenzverein, wo ich gleich zur Kassierin ernannt worden war. Wir besuchten arme Familien unten an der Sarine, ich schrieb und inszenierte mit den Kindern der Altstadt ein Weihnachtsspiel, spielte in Max Melis Apostelspiel auf der Kornhaus-Bühne die Rolle der Magdalena, und zum Couleurball trug ich einen langen, weiten schwarzseidenen Rock, weiße Bluse und einen breiten, gerafften, mohnroten Seidengürtel.
Ich liebte meine langen weiten Abendkleider für gesellschaftliche Anlässe, fand mich schön und glücklich darin. Tanzte aber nicht gut. Vermutlich weil die oft erstaunlich geistlosen Konversationsversuche meiner Tanzpartner mich aus dem Schrittwechsel des Englisch-Walzers brachten, den ich doch sehr liebte. Wohl noch eher fehlte mir die Anpassungsfähigkeit an deren Tanztechnik.
Ausdruckstanz dagegen – das war etwas anderes.
Mein Lebensspiel verlief jedoch ungerührt an meinem Ballkleid-Glück vorbei.
Nur einmal noch saß ich mit meinem Couleur-Begleiter in der „Bonbonnière“, einem Freiburger Nachtlokal, samstags bis morgens zwei Uhr. Zuvor hatte ich den Studentenseelsorger um seine Meinung über die Einladung „am Samstag in die Bonbonnière“, befragt. Er fand sie problemlos, bat mich aber, nie nach einem Tanzanlass im Ballkleid sonntagmorgens in die Frühmesse zu kommen.
So ging ich hin, tanzte in der „Bonbonnière“, hatte aber bald genug. Ich sah mich auch nicht auf einem der hohen Barstühle bei der Theke sitzen und mich mit Unsinn ansprechen lassen. Ich wollte jedoch mit Hans W bis gegen Morgen zusammenbleiben und mit ihm sprechen. Er studierte Jus, und wir hatten uns einfach und gut unterhalten. Worüber weiß ich nicht mehr, nur dass es auf einmal, mitten im Getöse, um Gott ging.
Es war beim Tee im Haus der Dame, bei der ich damals wohnte, als eine ihrer Freundinnen mich fragte: „Sie gehen doch ins Kloster?“ Da stand ich wie getrieben auf und verließ das Zimmer. Hörte noch wie die Gastgeberin sagte: „Un coup de théatre.“ Das war es aber nicht, das war kein Theater.