Goethe
in Geschichten erzählt
© KERLE
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011/2016
Alle Rechte vorbehalten
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Coverillustration: Yvonne Hoppe-Engbring
Covergestaltung: ReclameBüro, München
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80748-0
ISBN (Buch): 978-3-451-71063-6
Inhalt
Vorwort
Zu Besuch im „Goethe-Kosmos“
Götz von Berlichingen (1773)
Ein Freund wird zum Feind – Eine Rittergeschichte
Die Leiden des jungen Werther (1774)
Tragische Geschichte einer unglücklichen Liebe
Erlkönig (1782)
Von unheimlichen Mächten bedroht
Iphigenie auf Tauris (1786)
… und die Sehnsucht nach der Heimat bleibt
Reineke Fuchs (1793)
List und Tücke und andere Bosheiten – Eine bissig-bitter-süße Erzählung aus dem Reich der Tiere
Hermann und Dorothea (1797)
Eine Liebe mit Hindernissen – oder ein Sohn geht seinen Weg
Der Zauberlehrling (1797)
Übermut tut nicht gut!
Faust – erster Teil (1808)
Tragische Geschichte um Wissensdrang und Lebenslust
Wissenswertes zu den Werken
Des Dichters langer Lebenslauf in Kürze
Keine Frage: Goethe gehört zu den Großen der Weltliteratur. Aber warum sollten wir uns mit seinen Werken beschäftigen? Haben seine Theaterstücke, Romane, Gedichte und Erzählungen überhaupt noch etwas mit uns heute zu tun? Mein erster Kontakt mit Texten von Goethe war während meiner Schulzeit – und es war eine Herausforderung. Vor allem die Sprache irritierte mich, schien mir fremd und zuweilen unverständlich und erschwerte das Lesen. Doch wenn es mir gelang, zur Geschichte vorzudringen, war ich jedes Mal überrascht, welche spannenden Themen und Typen mich erwarteten. Mit der Zeit lernte ich diesen vielfältigen „Goethe-Kosmos“ immer mehr kennen und traf Hexen, Zauberer und Teufel ebenso wie skrupellose Bösewichter und Intriganten, tugendhafte Ritter, herrische Könige, Befreundete und Befeindete, ungewöhnliche Künstlergestalten, Lebens-Sinn-Sucher, Eltern und Kinder mit ihren Problemen und jede Menge glücklich und unglücklich Verliebte. Zu Letzteren gehört Werther, ein leidenschaftlicher, junger Mann, der an seiner Liebe zugrunde geht. Doch zum Glück endet Liebe nicht immer so tragisch. Ein gutes Ende findet sie z. B. bei Hermann und Dorothea. Allerdings hat Hermann neben seinen Gefühlen für Dorothea noch ein anderes Problem zu meistern: Er entspricht ganz und gar nicht den Wunschvorstellungen und Anforderungen seiner Eltern.
Fragen, Überlegungen, Möglichkeiten – immer muss sich der Mensch entscheiden: für die Wahrheit oder die Lüge, das Gute oder das Böse … Einer, der klar seine Wahl getroffen hat, ist Reineke Fuchs. Ungläubig und staunend erlebt man, wie sich ein skrupelloser Lügner trotz aller Übertretungen am Ende erfolgreich durchsetzt und sogar Karriere macht! Ganz anders läuft die Geschichte beim wissensbegierigen Gelehrten Faust. Er, der Sinnsucher, verkauft seine Seele dem Teufel und lädt Schuld auf sich, um allwissend zu werden. Schuld ist auch ein Thema von Iphigenie, die sich mit dem Fluch, den ein Vorfahre verursacht hat, auseinandersetzt und ebenfalls mit der Tatsache, dass sie – wie viele Menschen heute – in einem fremden Land leben muss und sich nach zu Hause, den Eltern, der Familie sehnt.
Vom traurigen Scheitern einer Freundschaft erzählt die Geschichte des Ritters Götz von Berlichingen und ins Reich der magischen Kräfte führt Der Zauberlehrling. Dass der neugierige Zauber-Azubi unbedingt seine magischen Fähigkeiten erproben will, ist einerseits verständlich, hat aber weitreichende Folgen. In der Geschichte vom Erlkönig ist das Verhalten des Vaters folgenreich, ja sogar tödlich: Er schenkt den Worten seines Sohnes nicht genug Beachtung.
Magie und Zauber … Leben in der Fremde … unglückliche Liebe … gescheiterte Freundschaft … Probleme zwischen Eltern und Kindern … Macht und Ohnmacht … Wahrheit und Lüge … gefährliche Neugierde … Gut und Böse … reichhaltig ist der „Goethe-Kosmos“, in den dieses Buch einen Einblick gibt. Und vielleicht machen die hier erzählten Geschichten Appetit auf noch mehr Goethe!
- Eine Rittergeschichte -
Götz von Berlichingen, stolzer und mutiger Ritter
Elisabeth, seine Frau
Maria, seine jüngere Schwester
Franz von Sickingen, ein mit Götz befreundeter Ritter
Bischof von Bamberg
Albrecht von Weislingen, rechte Hand des Bischofs
Adelheid von Walldorf, attraktive Witwe am Bischofshof
Verschiedene Schauplätze zwischen Heilbronn, der Burg des Götz von Berlichingen bei Jagsthausen und dem Hof des Bischofs in Bamberg zum Ende des Mittelalters und dem Beginn der Neuzeit
„Was den Fürsten in ihren Kram dient, da sind sie hinterher, und gloriieren von Ruh und Sicherheit des Staates, bis sie die Kleinen unterm Fuß haben.“
(Götz, 1. Akt)
Fünf Tage und fünf Nächte waren vergangen, seit Götz von Berlichingen mit einem bewaffneten Trupp Reiter seine Burg verlassen hatte, um gegen den Bischof von Bamberg zu ziehen, mit dem er schon seit Längerem im Streit lag. Der sechste Tag neigte sich nun dem Ende zu. Die Sonne stand schon tief und schickte ihre letzten Strahlen in den gemütlichen Wohnraum der Burg. Elisabeth, die Ehefrau des Götz von Berlichingen, stand am Fenster und schaute besorgt in die Ferne. „Muss der Papa denn immer ausreiten, wenn’s so gefährlich ist?“, fragte der kleine Junge, der artig auf einem Schemel saß und ein Buch in seinen Händen hielt.
„Ach Carl!“, Elisabeth warf ihrem Sohn ein liebevolles Lächeln zu. „Weißt du, dein Vater ist ein rechtschaffener Ritter, der anderen hilft, wenn ihnen Unrecht geschehen ist. Erinnerst du dich, wie er neulich ausgeritten ist, um einem armen, betrogenen Schneider zu helfen?“
Das Kind hatte aufmerksam zugehört, doch jetzt sprang es plötzlich auf. „Der Papa! Der Papa! Der Türmer bläst’s!“ Freudig rannte der Junge zur Tür, die Treppe hinunter und auf den Burghof. Dort schwang sich gerade eine mächtige Gestalt in schwerer Rüstung vom Pferd. Bewundernd, aber auch ein wenig ängstlich, blieb das Kind im gebührenden Abstand stehen. Götz übergab seinem Knappen Pferd und Helm, dann begrüßte er seinen Sohn mit donnernder Stimme und streckte ihm seine Linke entgegen, denn an der anderen trug er einen unbeweglichen, starren Handschuh aus Eisen. Der ersetzte ihm die rechte Hand, die er bei einem Gefecht verloren hatte. Deshalb nannte man ihn auch „den Ritter mit der eisernen Hand“. Hinter Berlichingen war ein großer, hagerer Mann von seinem Pferd gesteigen. Er trug keine Ritterrüstung, sondern war nach der neuesten Mode der Adligen gekleidet: bunter Wamst, samtener Umhang und auf dem Kopf eine tellergroße Mütze mit einer langen, wippenden Feder.
„Wer ist der Mann?“, fragte der Junge und beäugte den Fremden, der steif und regungslos dastand.
„Grüß ihn. Bitt ihn, er soll lustig sein.“ Götz lachte laut und herzhaft, und der Kleine streckte dem Fremden artig seine Rechte entgegen.
„Da Mann! Hast du eine Hand, sei lustig, das Essen ist bald fertig.“ Die starren Gesichtszüge des Mannes lösten sich. Gerührt hob er das Kind in die Höhe. „So ein braves Kind! Was für ein Glück!“
„Oh! Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“, seufzte Götz. „Leider gerät mein Sohn so gar nicht nach mir. Ängstlich ist er und ihm fehlt der ritterliche Tatendrang. Lernt lieber fromme Geschichten! Doch wozu?“ Berlichingen schüttelte unwirsch den Kopf.
„Aber lernen ist doch nichts Schlechtes“, warf eine sanfte Stimme ein.
Götz drehte sich um.
„Maria!“, rief er freudig und wandte sich an den anderen. „Erinnerst du dich noch an Maria, meine Schwester? Und da ist auch meine Frau.“ Elisabeth kam mit raschen Schritten auf die Gruppe zu. Man begrüßte sich höflich. Dann nahm Berlichingen seinen Gefangenen mit in die Ritterstube und bot ihm freundlich einen Platz an. Der andere blieb mit versteinerter Miene im Raum stehen. Götz holte eine Flasche Wein und zwei Becher und setzte sich gut gelaunt an den Tisch. „Bis das Essen fertig ist, wollen wir wie in guten alten Zeiten einen trinken.“
„Die sind vorbei!“, erwiderte der andere kühl. „Ich bin jetzt dein Gefangener.“
Götz ließ sich nicht beirren, nahm seinen Becher, prostete dem anderen zu und begann, munter über die gemeinsame Vergangenheit zu reden. „Erinnerst du dich, Weislingen, als wir beim Markgrafen in der Ausbildung waren? Castor und Pollux nannte er uns! Und war’s nicht auch so, dass wir in unserer Jugend wirklich wie zwei unzertrennliche Brüder waren?“ Götz nahm einen kräftigen Schluck Wein und sein lautes Lachen erfüllte den Raum. Dem anderen waren die Erinnerungen an das gemeinsam Erlebte sichtlich unangenehm. Er wusste nicht, wohin er schauen sollte, während Götz ungeniert weitersprach. „Weißt du, ich verstehe bis heute nicht, warum du dein freies Leben als Ritter aufgegeben hast und als Höfling in den Dienst des Bamberger Bischofs gegangen bist.“
Berlichingen schüttelte missmutig den Kopf. „Der Bischof! Nimmt meinen Knappen gefangen und lehnt jegliche Verhandlungen ab. Ist das eine Art? Sag selbst: Was blieb mir da anderes übrig, als dich, der du seine rechte Hand bist, in meine Gewalt zu bringen? Kann doch meinen Knappen nicht im Stich lassen.“ „Du siehst es nur von deiner Seite aus, aber es sind neue Zeiten angebrochen“, erklärte Albrecht von Weislingen seinem ehemaligen Jugendfreund und setzte sich nun endlich zu ihm an den Tisch. „Wir können nicht mehr wie früher als Raubritter umherziehen. Es gibt jetzt Gesetze und Verordnungen und die Fürsten und Bischöfe sorgen für deren Einhaltung.“
„Gesetze! Verordnungen! Dass ich nicht lache!“, wetterte Götz und schlug mit seiner eisernen Hand auf den Tisch, dass es krachte. „Bei allem, was die Fürsten und Bischöfe tun, geht es ihnen immer nur um ihren eigenen Vorteil und dafür scheuen sie vor nichts zurück. Ich bin ihnen ein Dorn im Auge, weil ich die alten Rittertugenden hochhalte. Mut. Tapferkeit. Wahrhaftigkeit. Das gefällt ihnen nicht und deshalb schwärzen sie mich ständig beim Kaiser an. Und du, Weislingen“, seufzte Berlichingen, „bist ein Werkzeug in ihren Händen. Du, der du einst ein freier Ritter wie ich warst, hast dich von ihnen abhängig gemacht.“ Götzens Worte, so ehrlich, so deutlich, so klar und ohne Häme vorgebracht, beeindruckten den einstigen Freund, und je länger Götz sprach, desto nachdenklicher wurde Weislingen. Hatte Berlichingen vielleicht recht? Wie abhängig war er schon von der Gunst des Bischofs? Wäre ein Leben als freier Ritter besser?
„Ich kann und will dich nicht als Gefangenen hierbehalten“, sagte Götz am Ende des langen Gesprächs. „Du bist frei. Du kannst gehen, aber auch gerne noch mein Gast bleiben.“ Und Weislingen blieb. Noch einen Tag. Zwei Tage. Drei. Eine Woche. Zwei Wochen – und dann stand fest, dass er nicht mehr an den Hof des Bischofs zurückkehren würde. Vielleicht auch wegen Maria, der hübschen Schwester von Götz. Die junge Frau hatte Albrecht von Weislingen vom ersten Augenblick an gefallen. Auch Maria war ihm sehr zugetan. Die beiden kamen sich näher und bald schon feierte man auf der Burg ihre Verlobung. Weislingen war entschlossen, sein Leben als Ritter wieder aufnehmen und mit Maria auf seine Burg zu ziehen.
* * *
Der Bischof von Bamberg war keineswegs bereit, seinem Erzfeind, dem Berlichingen, Albrecht von Weislingen zu überlassen. Mit seinen Vertrauten schmiedete er Pläne, wie man den Abtrünnigen wieder an den Hof zurückholen könnte. „Mit Weibern, Fürstengunst und Schmeichelei lässt sich bestimmt etwas machen“, riet Liebetraut, ein durchtriebener Höfling des Bischofs. Er bot sich an, die nötigen Maßnahmen zu treffen. Der Bischof war einverstanden, und kurz darauf machte sich der listige Mann auf den Weg.
Es war nicht schwer, den wankelmütigen Weislingen nach Bamberg zu locken. Mit dem Vorsatz, die Unterlagen für seinen Nachfolger zu ordnen und dem Bischof seine Entscheidung zu erklären, kam Weislingen an den Hof. Als alles erledigt war, wollte er zu Götz und seiner Verlobten zurückkehren. Doch da erhielt er überraschend eine verlockende Einladung. Adelheid von Walldorf, die am Hofe des Bischofs lebte, wollte ihn unbedingt kennenlernen. Weislingen, der von Liebetraut und seinem Knappen schon viel von der schönen Witwe gehört hatte, fühlte sich geschmeichelt, überlegte nicht lange und folgte der Einladung. Weislingen war wie geplant in die Falle getappt. Mühelos gelang es der attraktiven Witwe, ihm den Kopf zu verdrehen. Bereitwillig warf er all seine Pläne über den Haufen, um am Hofe des Bischofs zu bleiben. Vergessen waren der Treueeid, den er Götz geschworen, und das Eheversprechen, das er dessen Schwester Maria gegeben hatte. Es dauerte nicht lange, da heiratete Weislingen die schöne Witwe. Mit seinem ehemaligen Freund wollte er fortan nichts mehr zu tun haben und verweigerte jeden Kontakt. Berlichingen war tief getroffen, als er davon erfuhr. Den Jugendfreund hatte er nun schon zum zweiten Mal verloren! Noch dazu an seinen ärgsten Feind. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Albrecht von Weislingen geriet immer mehr unter den Einfluss seiner Frau. Listig und ohne Skrupel hetzte sie ihren Mann – wie es der Bamberger Bischof wünschte – gegen den einstigen Freund auf. Sie prangerte Götz als Feind des Reiches und des Königs, als Feind der bürgerlichen Ruhe und Glückseligkeit, als Raubritter, ja sogar als Kriminellen an! Vor nichts scheute die hinterhältige Schöne zurück, um ihren Mann gefügig zu machen. So klagte sie eines Tages: „Wie sehr habe ich mich doch in Euch getäuscht. Meine Liebe galt einem Mann, der die Geschäfte des Fürstentums belebt, der eifrig seinen Ruhm vermehrt. Doch Ihr seid ein Müßiggänger, ein untätiger Melancholiker, den ich – verzeiht! – nicht länger lieben kann.“
Weislingen war betroffen. Er beeilte sich, seiner Frau zu erklären, wie falsch sie ihn doch einschätze. „Was glaubt Ihr, was ich nicht alles tue, um unseren Feind auszuschalten!“, ereiferte er sich. „Demnächst werde ich beim Reichstag in Augsburg sein und dort mit dem Kaiser sprechen. Ich bin guten Mutes, dass ich Berlichingen schon bald zur Strecke gebracht haben werde.“ Adelheid lächelte zufrieden und reichte ihrem Gatten gönnerhaft ihre Hand, auf die er einen leidenschaftlichen Kuss drückte. Von dem Wunsch angetrieben, sich seiner Ehefrau würdig zu erweisen, machte sich Weislingen wenige Tage später auf den Weg nach Augsburg.
Tatsächlich gelang es ihm, den Kaiser in ein Gespräch zu verwickeln. Doch da traten auf einmal zwei edel gekleidete Männer hinzu, warfen sich dem Herrscher demütig zu Füßen und begannen zu lamentieren. Weislingen war im ersten Moment ungehalten über die Unterbrechung. Doch sie sollte sich als Glücksfall für sein Vorhaben erweisen. Die Männer waren Nürnberger Kaufleute, die sich bitter über Götz von Berlichingen und dessen Verbündete beklagten. „Wir waren auf der Heimreise von der Frankfurter Messe. Da haben sie uns überfallen und ausgeraubt. Wir bitten Eure durchlauchtigste Majestät untertänigst um Hilfe!“ Die beiden Bittsteller hatten ein verzagtes Gesicht aufgesetzt. „Wenn ein Kaufmann einen Pfeffersack verliert, soll ich deswegen gleich das ganze Reich mobilisieren?“, brummte der