Camille Aubray
Monsieur Picasso und der Sommer der französischen Köstlichkeiten
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Anna-Christin Kramer
FISCHER E-Books

Camille Aubray hat unter Tom Stoppard und David Hare Kreatives Schreiben an der University of London studiert. Am Humber College in Toronto war Margaret Atwood ihre Mentorin. Später unterrichtete Aubray selbst an der New York University. Die Autorin lebt in Connecticut und Südfrankreich.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Er ist ein Künstler, der aus einem gelben Fleck eine Sonne machen kann.
Sie ist eine Köchin, der es gelingt, in einer Quiche das Meer, den Himmel und den Duft von Pinienwäldern einzufangen.
Er ist Spanier und voller Temperament.
Sie ein junges französisches Mädchen.
Er malt und hat sich als Picasso bereits weltweit einen Namen gemacht.
Sie arbeitet als einfache Kochgehilfin in der Provinz.
Er brennt für seine Leidenschaft, erlebt jedoch eine künstlerische Schaffenskrise und flüchtet an die Côte d’Azur.
Sie träumt von einer selbstbestimmten Zukunft, irgendwo, nur nicht in Juan-les-Pins.
Als Maler und Mädchen aufeinandertreffen, entzündet sich ein Funke, der nicht mehr zu löschen ist. Und auch ein Jahrhundert später noch lodert …
Camille Aubrays zauberhafter Roman ›Monsieur Picasso und der Sommer der französischen Köstlichkeiten‹ ist die perfekte Mischung aus Südfrankreich-Flair, unwiderstehlicher Kochkunst und Liebesgeschichte.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›Cooking for Picasso‹ bei Ballatine, einem Imprint von Penguin Random House, New York.
© Camille Aubray LLC 2016
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück gmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Abbildung: Trevillion Images/Mark Owen, GettyImages/John Arnold, www.buerosued.de
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490164-0
Für Mom
Meine Mutter zitierte, als ich noch klein war, gerne ein provenzalisches Sprichwort, fröhlich und melodiös: L’eau trouble est le gain du pêcheur sage. Sie erklärte mir, es bedeute: »Unruhige Gewässer helfen dem weisen Fischer.« Ich war stets davon ausgegangen, sie wolle mir damit sagen, man würde für seine Mühen belohnt, wenn man den Mut in schweren Zeiten nicht verlöre. Doch wie hinter den meisten Dingen, die ich von meiner Mutter gelernt habe, versteckte sich auch hier eine weitere Bedeutung: »Wenn alle anderen vom aufgewühlten Meer abgelenkt sind, kann man unbemerkt den eigenen Interessen nachgehen.«
Aus irgendeinem Grund musste ich heute daran denken, als ich die E-Mail eines Mannes öffnete, den ich kaum kannte: Ich lege um eins in Port Vauban an, aber sobald der Proviant geladen ist, verschwinde ich wieder. Wenn Sie kommen möchten, wäre jetzt die Gelegenheit. Anbei ein Pass, mit dem Sie an Bord kommen.
Die Worte erfüllten mich mit Erleichterung, denn fast hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben, jemals wieder von ihm zu hören. Allerdings war es schon zwölf. Ich sagte rasch meinen Kollegen vom Filmstudio in Nizza Bescheid, dass ich unsere Abschlussparty würde verpassen müssen, um mich um eine persönliche Angelegenheit in Antibes zu kümmern. In ihren Ohren bedeutete das anscheinend, ich wolle mich zu einem romantischen Rendezvous davonstehlen. Als ich zu meinem Auto eilte, hörte ich noch, wie sie mich scherzend L’américaine mystérieuse nannten.
Im dichten Mittagsverkehr musste ich mich mit Reisebussen, Lastwagen und Stadtbewohnern herumschlagen, die alles daransetzten, so schnell wie möglich an ihr Déjeuner zu kommen. Der Verkehr stockte immer wieder, und ich musste wohl oder übel warten. Ich blickte aus dem Fenster, um mich zu beruhigen.
Egal, wie oft ich diesen Anblick sah: Die leuchtenden Farben im hellen und gleichzeitig sanften Sonnenlicht der Riviera verschlugen mir jedes Mal den Atem. Die granatapfelroten Dächer auf den bonbonfarbenen Steinhäuschen, die sich an terrassierte Hänge schmiegten, das Grün der dichten Pinien entlang des Ufers und auf den Hügeln, und natürlich der unendliche, kobaltblaue Baldachin über mir und der weite, wogende, aquamarinfarbene Ozean, der sich ihm entgegenreckte, bis die beiden am blauvioletten Horizont in einer verschwommenen Umarmung zusammentrafen. Das alles war einfach unglaublich schön.
Atemlos und voller Sorge, das Schiff könne schon abgelegt haben, schnappe ich mir den erstbesten Parkplatz in Port Vauban. In meinen Espadrilles eile ich durch einen Park, in dem alte Männer im melonenfarbenen Licht an Picknicktischen Karten spielen, beschattet von einem sternförmigen Fort, dessen Bollwerk seit Jahrhunderten die Küste bewacht. Am anderen Ende des Hafens erreiche ich schließlich den sogenannten Milliardärskai.
Manche der riesigen Yachten erinnern mit ihren unzähligen Decks eher an Raumschiffe als an Boote. Ihre stolzen Besitzer sind hier einschlägig bekannt: ein arabischer Prinz und seine Söhne, ein eigenbrötlerischer US-Softwaremagnat, ein extravaganter russischer Ölbaron. Die Luft knistert nur so vor Geld und Macht. Am Ende des Docks befindet sich ein viel benutzter Hubschrauberlandeplatz, auf dem gerade ein wendiger Helikopter landet, elegant wie eine Libelle.
Schließlich entdecke ich die Yacht, nach der ich suche – Le Troubadour. Mit ihren drei Decks, dem königsblauen Rumpf und der goldglänzenden Reling wirkt sie derart einschüchternd, dass ich mich fast nicht näher traue. Die Crewmitglieder, alle in schneidigen blauen Uniformen, mustern mich argwöhnisch, als ich vorsichtig auf die Passerelle trete, die Yacht und Land über die Gischt hinweg miteinander verbindet. Sie schwankt leicht, während unter mir unbeirrt Enten, Gänse und der ein oder andere Schwan dahinschaukeln. Möwen drehen ihre Runden, jederzeit bereit, sich auf einen unvorsichtigen Fisch zu stürzen.
Ich strecke mein Handy mit dem Eintrittspass einem großgewachsenen Mann entgegen. Er wirft einen Blick auf meine Hand und sieht mich seltsam an. Meine Fingernägel sind immer noch von blauen und schwarzen Mascaraspuren übersät, auf meinen Handrücken leuchten ein paar rosafarbene, weiße und rote Streifen. Ich hatte den ganzen Morgen damit verbracht, nervöse Schauspieler zu schminken: die Älteren jünger, die Jungen reifer und die Hübschen glamouröser.
Ich kann mir gut vorstellen, wie ich auf ihn wirken muss, abgehetzt und in einem schwarzen Hosenanzug, während die meisten Gäste in pastellfarbener Luxusfreizeitkleidung und mit perfekter St.-Tropez-Bräune auflaufen.
Der Mann hält mein Handy unter einen Scanner. Als das Gerät grün blinkt, tritt er zur Seite und murmelt unterwürfig: »Merci, Madame, entrez, s’il vous plaît.« Genauso bereitwillig hätten seine Kollegen mich allerdings über Bord geworfen, wenn auf dem Gerät die entsprechende Meldung angezeigt worden wäre.
Nun werde ich dem Kapitän übergeben, einem gepflegten Franzosen in blendend weiß-goldener Uniform. Mit einem knappen, höflichen Nicken führt er mich über das Teakholzdeck und eine Wendeltreppe hinab zu einer Mahagonitür. Er holt einen Schlüsselbund hervor, öffnet die Tür und hält sie mir auf.
Immerhin habe ich es bis hierher geschafft. Ich atme tief durch und sehe mich dann in der Schiffsbibliothek um, die mit ihren Ledersesseln und seidenbespannten Stühlen an ein Herrenzimmer erinnert. Perserteppiche, verschlossene Kirschholzschränke, alles in tadellosem Zustand trotz der salzigen Seeluft. Bei näherer Untersuchung fällt mir auf, dass die gesamte Kabine zwar klimatisiert ist, zusätzlich aber jeder Schrank einen individuellen Thermostat sowie einen Feuchtigkeitsmesser besitzt, damit den importierten Zigarren oder den empfindlichen Schätzen in der Kuriositätenvitrine auch ja nichts zustößt. Ich vernehme ein metallisches Surren von einer der vier Überwachungskameras, die mir mit ihrer Linse folgt wie ein Raubvogel. Ich unterdrücke den Impuls, eine Grimasse zu schneiden.
In der Stille spüre ich, dass mein Herz immer noch wild klopft, weil ich mich so sehr beeilt habe. Nur, damit ich jetzt hier auf einen Mann warten muss, der sich mit der Aura eines Gangsters umgibt? Doch ich bin nicht so weit gegangen, um jetzt aufzugeben. Das hier ist das Ende einer langen Reise, und heute werde ich erfahren, ob ich die richtigen Entscheidungen getroffen habe. Angesichts meiner Umgebung schleichen sich leise Zweifel ein. Vielleicht hat mein Gastgeber all diese Vorkehrungen getroffen, weil er mir genauso wenig traut wie ich ihm.
Die Beleuchtung an diesem seltsamen Rückzugsort ist schummrig, minimal, um das Inventar vor der strahlenden Sonne zu schützen – die dunkle Seite der Riviera. Ich kenne die Geschichten reicher Earls und partywütiger Erbinnen, die Rouletteräder, die einen über Nacht ruinieren oder berühmt machen können. Mit einem gewissen Unbehagen denke ich an die Worte des Dramatikers Somerset Maugham, dessen Wahlheimat die Côte d’Azur war: Ein sonniger Ort für zwielichtige Gestalten.
Früher hätte ich mich nie als zwielichtig betrachtet, doch jeder Mensch hat versteckte Facetten und Winkel, wie ein Gesicht in einem kubistischen Traum. Als ich vor zwei Jahren, kurz nach meinem dreißigsten Geburtstag, zum ersten Mal hierherreiste, spürte ich schnell, dass auch in mir kriminelle Energien schlummern.
Während sich meine Augen an die Schatten gewöhnen, gehe ich unter dem Blick der Kameras zu einer polierten Bank aus Walnussholz, die zur besseren Stabilität bei Wellengang in die Wand eingelassen wurde. Ich setze mich leise und besinnlich, wie eine provenzalische Dame, die in einer leeren Kirche den Kopf neigt und den Rosenkranz betet, um sich vom Heiligen Geist führen zu lassen und die Schutzheiligen gegenüber ihren Liebsten gütig zu stimmen. Vielleicht praktiziere ich ja selbst eine Art Ahnenverehrung, indem ich heute hier bin.
Ich muss an meine schüchterne, geheimnistuerische Mutter denken, die mich auf diese unverhoffte Reise geschickt und mir den Stab übergeben hat, den ihre Mutter an sie weitergegeben hatte. Und nun? Habe ich ihre langgehegten Hoffnungen erfüllt – oder habe ich sie enttäuscht?
Selbst jetzt forsche ich noch nach Antworten, Hinweisen, Anhaltspunkten. Ich schließe die Augen, um mich in diesem Meer der Unsicherheit nicht zu verlieren, und wende mich wie so oft an meine Großmutter Ondine, die als junges Mädchen in einem bescheidenen honigfarbenen Haus lebte, zu dem ein auf den ersten Blick gewöhnliches Café gehörte, in einem kleinen Hafenstädtchen nicht weit von hier.
Ein salziger Südwestwind fegte mit dem Pomp eines Herolds vom Mittelmeer herein, trieb schaumgekrönte Wellen gegen die Felsen und brachte die Fischerboote im Hafen von Juan-les-Pins zum Schaukeln, bevor er in den Hinterhof des Café Paradis wehte, wo Ondine gerade Gemüse putzte.
Sie war an diesem sonnigen Aprilmorgen mit ihrem Korb ins Freie geflüchtet, da die Küche schon jetzt einem heißen Kessel glich. Die winzige Terrasse hinter dem Haus wurde von einer majestätischen Aleppo-Kiefer beherrscht, und Ondine saß auf der niedrigen Steinmauer, die den Baum einfasste. Mit sauber und gekonnt geführtem Messer sortierte und putzte sie gewissenhaft die Frühjahrsschätze der Provence – kleine Möhren, Erbsen und derart zarte Artischocken, dass man sie roh servieren konnte, unter hauchdünnen Zitronenscheiben, so süß, dass sogar die Schale essbar war.
Sie arbeitete flink, und auf dem dünnen Schweißfilm, der ihre Haut überzog, spürte sie den plötzlich aufkommenden Wind, der bedeutungsvoll durch das Geäst des hohen Baumes fuhr. Ondine, die mit dem Glauben an die günstigen Vorzeichen und Warnungen der Natur aufgewachsen war, legte das Messer weg, schloss die Augen und hob den Kopf, um die belebende Seebrise zu begrüßen, die über ihr Gesicht streifte.
Nur selten hatte Ondine einen ruhigen Moment für sich, in dem sie ihren Gedanken nachhängen konnte. Als sich jetzt die Ahnung einer aufregenderen Zukunft weit weg von hier in ihr ausbreitete, wollte sie dieses Gefühl daher unbedingt festhalten, wie man ein Glühwürmchen einfangen will, bevor dessen Licht erlischt.
»Ondine!«, rief genau in diesem Moment ihre Mutter aus der Küche des Cafés. »Wo ist sie jetzt schon wieder? On-diiine!«
Das Echo ihres Namens hüpfte wie ein Ball zwischen der Vielzahl der hellen Steinhäuser hin und her. Ondine hob den Blick und sah den Kopf ihrer Mutter, vom Fenster gerahmt wie das Porträt einer respekteinflößenden Kaiserin. Obwohl es für das Frühstück zu spät und für das Mittagsgeschäft noch zu früh war, gab es in der Küche stets etwas zu erledigen, um den hohen Standards des Cafés gerecht zu werden.
Jeder, der im Café Paradis arbeitete, kannte seine Aufgabe, bis hin zur getigerten Katze, die tollkühne Mäuse jagte, und der Bulldogge, die das Café vor Landstreichern auf der Suche nach einem offenen Fenster bewachte. Ondine, die inzwischen siebzehn war, musste in der Küche alles tun, was ihre Mutter von ihr verlangte.
Madame Belange spähte aus dem Küchenfenster und entdeckte endlich ihre Tochter. »Da versteckst du dich also. Was sitzt du hier rum wie die Königin von Saba?«
»Ich komm ja schon, Maman!« Ondine sprang auf, klemmte sich den Korb an die Hüfte und eilte zur Küche.
Der Wind hatte sich mittlerweile gedreht und ohne sie davongemacht. An seine Stelle traten die gewohnten Gerüche von Speiseöl, Abgasen und Holzfeuern auf den Äckern. Dennoch, heute lag eindeutig etwas in der Luft – selbst ihre Eltern hatten sich den ganzen Morgen über seltsam aufgeführt und geheimnisvoll miteinander getuschelt.
Durch das offene Fenster vernahm Ondines empfindliche Nase die ersten Düfte des Mittagstischs: Pissaladières, eine Art Zwiebelkuchen mit schwarzen Oliven, Eintopf mit Schweinefleisch, Rotwein und Myrte, und als Fischgericht – war das wirklich …?
Sie stürzte zu dem alten schwarzen Herd, der mit der gesammelten Hitze jahrzehntelanger Kochkunst in einer Ecke vor sich hin bollerte. Der Duft, der aus einem großen Kessel aufstieg, war unverkennbar.
»Bouillabaisse!« Wieso hatte ihre Mutter eine Suppe gewählt, für die ein halbes Dutzend verschiedener Fische nötig war, statt die einfachere, günstigere Bourride zu kochen? Anscheinend war heute wirklich kein gewöhnlicher Tag … aber weshalb?
Ondine hob den Deckel und sog schwärmerisch den Geruch ein. Sellerie, Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten, Fenchel, Pfeffer, Petersilie, Thymian, Lorbeerblätter und die für Südfrankreich typische Orangenschale; außerdem etwas ganz besonders Wertvolles, das die Brühe golden färbte.
Ondine war beeindruckt. »Hast du den Safran von Père Jacques benutzt?«
Ihre Mutter sah leicht lächelnd auf und hielt tatsächlich einen Augenblick lang inne. »Ja.« Sie griff nach einem kleinen Glasfläschchen und hielt es ehrfürchtig gegen das Licht. »Das war leider der Rest. Bloß von diesem kleinen Faden konnte ich mich nicht trennen.«
Mutter und Tochter tauschten einen bewundernden Blick angesichts des roten Safranfadens, der – mit Père Jacques’ Worten – den geheimnisvollen Geschmack »eines Kusses mit einem Hauch von frischgemähtem Heu und Maronenhonig« verbreitete.
Père Jacques hatte Ondine den selbstangebauten Safran geschenkt, bevor sie die Klosterschule in den Hügeln über Nizza verließ. Der nachdenkliche alte Mönch war einer der wenigen Erwachsenen, der ihre Neugier verstand. Da er wusste, dass ihre Eltern ein Café betrieben, befreite er sie von den gewöhnlichen Klosteraufgaben und ließ sie in seinem ruhigen, beschaulichen Garten aushelfen, wo er sie in uralte Küchengeheimnisse einweihte.
»Nichts auf der Welt ist besser als französischer Safran«, hatte er stolz verkündet, als er ihr das Feld malvenfarbener Krokusse gezeigt hatte, um die er sich geduldig kümmerte, bis sie für zwei kurze Tage im Oktober blühten. Dann packten alle Mönche mit an und pflückten die zarten Blütenstempel – lediglich drei pro Blüte –, die nach vorsichtigem Trocknen als begehrte rote Fäden in Glasfläschchen gefüllt wurden.
Ondine und ihre Mutter gingen sparsam mit dem Geschenk um und benutzten die Fäden nur zu besonderen Anlässen, wie etwa für Weihnachtspudding oder Macarons.
»Was ist heute los?«, fragte Ondine neugierig.
»Wir haben einen wichtigen neuen Kunden«, antwortete ihre Mutter geistesabwesend.
Ondine tauchte einen Löffel in die Bouillabaisse. »Mmm. Köstlich! Könnte aber noch ein bisschen Pfeffer vertragen.«
Madame Belange schüttelte den Kopf. »Sie bleibt, wie sie ist«, erwiderte sie knapp. »Heute machen wir keine Experimente.«
Ondine konnte es ihrer Mutter nicht verdenken. Im Gegensatz zu Père Jacques balancierte sie ständig auf einem Drahtseil und kämpfte mit Zeit, Lebensmitteln und Kosten, ohne je einen Franc oder auch nur einen Augenblick für sich zu haben. Mit einem mehligen Handgelenk strich sie sich eine Strähne aus der Stirn.
»Vite, vite, an die Arbeit!« Da flog die Hintertür auf und Madame Belange stieß einen warnenden Schrei aus. »Attention!«
Der Lieferjunge polterte mit einer großen Kiste Eier, Käse und Sahne herein, und Ondine brachte sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, denn die Küche war ohnehin schon eng und vollgestellt.
Während ihre Mutter zahlte, packte Ondine die Kiste auf dem großen Tisch in der Mitte der Küche aus. Sie war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, hatte zuerst heiße Schokolade für das schnelle Frühstück mit ihren Eltern vorbereitet und dann die Frühstücksgäste mit Brioches und Espresso versorgt. Anschließend hatte sie die Fonds angesetzt und war nach draußen gegangen, um das Gemüse zu putzen; jetzt waren die Salate an der Reihe.
Aber ihre Mutter hatte heute andere Aufgaben für sie im Sinn.
»Mach nur einen einzigen Salat, der unserem Pinselschwinger gerecht wird«, befahl Madame Belange. »Und schreib auf, was du dafür verwendest.« Mit der Hüfte schob sie eine Schublade zu. »Wir wollen ihm schließlich nicht ständig das Gleiche servieren. Notier dir alles, tout de suite, und sieh zu, dass deine Klostererziehung zur Abwechslung mal zu etwas nütze ist.«
Ondine griff nach einem der leeren Notizbücher, die in butterzartes, kastanienbraunes Leder gebunden waren – Geschenke von einem Schreibwarenhändler, der dreimal die Woche im Café zu Mittag aß. Auf der ersten Seite befand sich ein gedrucktes Kästchen, um das sich eine Weinrebe rankte. In dem Kästchen war eine Linie, die für einen Namen vorgesehen war. Wahrscheinlich war dieser neue Gast irgendein reicher Bankier oder Anwalt.
Sie hielt inne. »Wie heißt dieser … Pinselschwinger?«, wollte sie wissen.
Ihre Mutter winkte gleichgültig mit einer Kelle ab. »Wen interessiert’s? Er hat Geld, alles andere spielt keine Rolle.«
Ondine malte ein schlichtes P für Pinselschwinger in das Notizbuch. Dann blätterte sie um und schrieb 2. April 1936 oben auf die Seite, bevor sie sämtliche Zutaten sowie die Zubereitung notierte. Ihre Mutter führte derlei Bücher nur für angesehene Gäste und besondere Anlässe, wenn sie etwa größere Gruppen oder Hochzeitsbanketts bewirtete. Später würde sie Kommentare über persönliche Vorlieben hinzufügen und sich notieren, wie man das Rezept besser auf den jeweiligen Gast oder Kunden zuschneiden könnte.
Madame Belange sah nach einer Weile vom Herd auf. »So, bist du fertig? Leg das Notizbuch weg, damit wir die Mahlzeit einpacken können.«
»Einpacken?«, echote Ondine überrascht.
Ihre Mutter setzte eine ernste Miene auf. »Der Mann hat eine Villa oben auf dem Hügel gemietet. Hier ist die Adresse.« Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Zettel. »Du wirst ihm jeden Tag mit dem Fahrrad sein Mittagessen bringen, außer samstags und sonntags.«
»Wofür hältst du mich, einen Packesel?«, fragte Ondine empört. »Seit wann liefern wir aus? Wieso kann er sein Mittagessen nicht im Café essen wie jeder andere auch?«
»Er ist jemand très célèbre aus Paris«, erwiderte Madame Belange vage. »Er spricht Französisch, aber soweit ich weiß, ist er Spanier. Die Nonnen haben dir doch Spanisch beigebracht, oder?«
»Ein bisschen«, antwortete Ondine argwöhnisch.
»Na, dann kannst du es jetzt wenigstens einmal in deinem Leben anwenden.« Ihre Mutter sah sich suchend um. »Hol mir den guten gestreiften Weinkrug.«
»Maman, was ist los? Das ist dein Lieblingskrug!«, protestierte Ondine. Außerdem war der große, handbemalte Krug mit den rosa-blauen Streifen ihr als Mitgift versprochen worden – sollte sie jemals einen Mann finden. Ihre wenig rührselige Mutter zuckte mit den Achseln. »Ich hoffe, dieser eingebildete Spanier weiß das wenigstens zu schätzen«, murmelte Ondine.
Sie musste sich beeilen, die Mahlzeit war fast fertig. Sie wickelten die einzelnen Gerichte sorgfältig in rot-weiße Tücher und packten das Mittagessen in eine isolierte Metallkiste. Dann ging Ondine in den Keller, wo sie einen schweinsledernen Trinkbeutel mit Hauswein aus einem Eichenfass füllte. Madame Belange wies einen der Kellner an, die Kiste auf Ondines Fahrrad zu befestigen.
»Alors! Hör gut zu.« Ihre Mutter fixierte sie mit strengem Blick. »Du gehst durch die Seitentür hinein, er lässt sie für dich auf. Geh direkt in die Küche. Wärm das Essen auf und richte es für ihn an. Dann verschwindest du sofort wieder. Warte nicht darauf, dass er zum Essen runterkommt.« Madam Belange kniff ihrer Tochter in den Arm. »Ondine, Hörst du mir zu?«
»Au!« Ondine hatte aufmerksam zugehört und fühlte sich zu Unrecht bestraft.
Madame Belange kannte aus ihrer eigenen Jugend nur eine strenge Erziehung. Mütter und Töchter, die sich den Luxus philosophischer Gespräche leisten konnten, waren ihr fremd. Kinder waren wie Küken, die man liebte wie eine Henne ihren Nachwuchs – man fütterte sie, hielt sie warm, brachte ihnen bei, allein zurechtzukommen und schob sie in die richtige Richtung, wenn sie vom Weg abkamen.
Ihre Mutter wiederholte: »Du gehst leise hinein, bereitest das Essen vor, stellst es hin und verschwindest wieder. Ruf nicht nach ihm, und mach keinen Lärm. Nachher holst du die Teller wieder ab, und zwar mucksmäuschenstill.«
Angesichts der absurden Anweisung, wie eine Diebin durchs Haus zu schleichen, musste Ondine beinahe laut auflachen. Aber ihre Mutter war so ernst, dass ihr klar wurde, welche Verantwortung sie trug.
»In Ordnung, Maman«, antwortete sie, obwohl sie ihre Neugier kaum noch bezähmen konnte.
»Nimm die Narzissen aus dem Speisesaal mit. Auf dem Heimweg kannst du neue für uns auf dem Markt besorgen«, fügte Madame Belange leise hinzu und kramte in ihrer Schürze nach ein paar Münzen. »Hier.« Dann stieß sie ihre Tochter mit dem Ellbogen an. »Geh schon!«
Ondine ging brav durch die Schwingtüren ins Speisezimmer, das dem Abendessen vorbehalten war. Frühstück und Mittagessen gab es täglich auf der Terrasse vor dem Café, da die robuste weiß-graue Markise so gut wie jedem Wetter trotzte.
Das Café Paradis befand sich im Erdgeschoss eines honigfarbenen Kalksteinhauses. Ondine und ihre Familie bewohnten die oberen Stockwerke. Der erste Stock bot ein Schlafzimmer für ihre Eltern sowie ein zweites für gelegentliche Übernachtungsgäste. Früher hatten ihre beiden großen Brüder darin gewohnt, doch beide waren im Großen Krieg gefallen und ruhten nun auf dem örtlichen Friedhof, ganz in der Nähe ihrer jüngeren Geschwister, die vor Ondines Geburt dem Scharlach erlegen waren. Der zweite Stock bestand aus einer Dachbodenkammer, die ursprünglich für Bedienstete vorgesehen war. Dort hatte Ondine ihr ganzes Leben lang geschlafen.
Jetzt durchquerte sie das stille Speisezimmer mit den polierten Dielen, Stühlen und Tischen aus Mahagoni und dunkel vertäfelten Wänden. Gegenüber der Theke hingen ein goldgerahmter Spiegel sowie eine Kopie eines Rembrandt-Gemäldes aus dem Jahr 1645 mit dem Titel Junges Mädchen am Fenster.
»Bonjour«, grüßte Ondine das Bild. Seit sie klein war, tat sie dies, weil sie hoffte, das würde ihr Glück bringen.
Das Mädchen wirkte so mysteriös wie die Mona Lisa, und tatsächlich stritten sich zahlreiche Experten – darunter einige Stammgäste des Cafés – um dessen Identität. Handelte es sich um eine Adlige, was die zweireihige Halskette und die kunstvoll besetzte Bluse nahelegten? Um eine Bedienstete, worauf die geröteten Wangen und hochgekrempelten Ärmel hinweisen könnten? Oder gar um eine Prostituierte, weil sie sich unbekümmert aus dem Fenster lehnte und dabei ihren Busen hervorblitzen ließ?
Ondine hatte das Bild schon immer geliebt. Die leuchtenden runden Augen des Mädchens schienen alles zu sehen, beinahe so, als hätte man selbst ihr Interesse geweckt, während man unten auf der Straße an ihr vorbeiging. Jetzt schien sie allerdings listig zu raunen: Ich weiß, wovon du träumst. Meinst du wirklich, du kannst die große, weite Welt erobern?
Ondine kontrollierte rasch ihr Spiegelbild. Sie selbst wirkte nur wenig mysteriös, wenn auch recht ansehnlich. Ihre Haut war blassgolden, die Augen kastanienbraun, und die morgendliche Arbeit hatte ihr die Röte in Wangen und Lippen getrieben. Am auffälligsten war jedoch ihr langes schwarzes Haar, das in üppigen, seidenen Wellen an ihr hinabfiel. Einmal hatte ein Junge zu ihr gesagt, die wogenden Locken und Wirbel seien Fragezeichen für all die schlauen Fragen und wilden Ideen, die in ihrem Kopf umhertanzten.
Der Junge hieß Luc, und sie waren Hals über Kopf ineinander verliebt – die erste große Liebe für beide. Lucs Eltern waren gestorben, als er vierzehn war, woraufhin er die Schulausbildung abbrechen musste und bei einem Fischer anheuerte. Wenn Luc eine Kiste fein säuberlich angeordneter, silbrig glänzender Fische im Café ablieferte, brachte er oft ein Geschenk für Ondine mit – eine Muschel, einen Walderdbeersetzling oder eine bemalte Halskette aus einem weit entfernten, exotischen Land, die er einem Matrosen abgekauft hatte.
Im Gegenzug schmuggelte Ondine Essen für ihn aus der Küche, meistens herzhafte Tartelettes aus ihrem besten Teig, gefüllt mit kräftigenden Fleisch- und Gemüseresten. Luc hatte immer Hunger und zeigte seine Dankbarkeit, indem er die Mahlzeiten nicht hinunterschlang, sondern sie langsam, bewusst und ehrfürchtig verspeiste. Ondine genoss es, ihm Essen in die starken, selbstsicheren Hände zu legen.
Dennoch stand die Liebe der beiden unter keinem guten Stern. Ondines Vater beharrte darauf, dass ein Mann genügend Geld auf der Bank haben müsse, bevor er ein Mädchen zur Braut nehmen könne. Also heuerte Luc auf einem der Handelsschiffe an, die im Hafen von Antibes ein- und ausliefen. Er wollte nun Geld ansparen.
Am Abend vor seiner Abreise war Luc wagemutig an den schmiedeeisernen Balkonen des Cafés emporgeklettert und für eine Abschiedsnacht in ihre Dachkammer geschlichen. Bis dahin hatten Ondine und Luc auf langen Spaziergängen durch die Wiesen des Parc de Vaugrenier lediglich Küsse und Streicheleinheiten ausgetauscht. Doch in dieser letzten Nacht, in dem schmerzhaften Wissen, dass Luc etwas zustoßen könnte, hatten sie sich aneinandergeklammert, und Ondine fand endlich heraus, was es mit dem Geheimnis der Liebe auf sich hatte.
Nach dem ersten Schreck über die Intensität des Erlebnisses hatte es sich unschuldig, natürlich und schön angefühlt. Anschließend hatten sie fest und innig umarmt geschlafen, bis die Vögel sie vor Sonnenaufgang weckten. Lucs Anblick neben ihr auf dem Kissen war für Ondine wie ein Weihnachtsgeschenk gewesen.
»Ich komme zu dir zurück«, hatte Luc mit einem zärtlichen Kuss versprochen, bevor er das Zimmer wieder durch das Fenster verließ. »Wenn ich erst mal das große Geld gemacht habe, wird dein Vater mich mit Handkuss zum Schwiegersohn nehmen!«, fügte er noch kühn hinzu, um sich selbst und ihr Mut zuzureden.
Das war zwei Jahre her. Anfangs waren Lucs Briefe spärlich und voll alter Neuigkeiten gewesen, da nicht jeder Hafen ein Postamt hatte. Dann kamen überhaupt keine Briefe mehr. Kaum jemand in Juan-les-Pins glaubte daran, dass Luc noch am Leben war, geschweige denn je zurückkommen würde.
Ondine konnte nicht fassen, dass sie ihn wirklich verloren haben sollte. Sie wurde so schwermütig, dass ihr Vater ihr befahl, Luc zu vergessen und sich auf nützliche Dinge zu konzentrieren: Kochen, Nähen und, am allerwichtigsten, Bedienen. Er war davon ausgegangen, die Nonnen würden seine Tochter Gehorsam lehren anstatt Kunst, Musik und Fremdsprachen.
»Wenn wir tatsächlich einen Mann für dich finden«, sagte er streng, »wirst du alles daransetzen, ihn glücklich zu machen. Haben wir uns verstanden?«
Ondine konnte sich keinen anderen Ehemann vorstellen als Luc. Doch inzwischen hatte sie die bescheidene Kunst der falschen Folgsamkeit gelernt. Mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen, ganz Bildnis der Mutter Gottes, murmelte sie: »Ja, Papa.«
Aber ihre Gedanken gehörten ihr allein.
Ondine wandte sich vom Spiegel ab, nahm die Narzissen aus der Vase und wickelte sie für den Transport in eine Stoffserviette.
»À tout à l’heure, Papa!«
Sonnenlicht fiel in schmalen, rechteckigen Streifen durch die hohen Fenster in den vorderen Teil des Speisezimmers, wo ihr Vater allein an einem Ecktisch saß und die Kasse vom Vorabend zählte, um das Geld später zur Bank zu bringen. Selbst in ihren Kindheitserinnerungen hatte er so schon dagesessen und mit Hilfe seiner altmodischen Addiermaschine abgerechnet. Ondines Vater war ein gutaussehender, umgänglicher Mann, der sich an seinen Nachbarn, Gästen und dem geschäftigen Alltagstrubel erfreute. Wenn er jedoch im Café von Tisch zu Tisch ging, behielt er dabei stets im Blick, welcher Gast ihm am meisten Geld in die Kasse spülen würde.
Die Kundschaft bestand hauptsächlich aus Einwohnern des Städtchens, da es in einer ruhigen Ecke abseits der Hauptstraße und der Geschäfte lag. Das hielt allerdings vereinzelte Touristen, deren ortskundige Freunde oder Hotelconcierges ihnen den entsprechenden Hinweis gegeben hatten, nicht davon ab, das Café Paradis zu »entdecken«. Das Café blieb dadurch ein kleines verstecktes Juwel.
Ondines Vater, Monsieur Belange, wartete, bis seine Tochter direkt vor ihm stand, bevor er aufsah. »Heute muss alles perfekt sein. Ich will keine Beschwerde von diesem Mann hören. Verstanden?«
Ondine nickte brav. »Wer ist er?«, flüsterte sie.
Ihr Vater zuckte in gespielter Gleichgültigkeit mit den Achseln. »Irgendein wichtiger Künstler, der hier ungestört arbeiten will, bevor die Sommergäste eintreffen.«
»Wie heißt er?«, beharrte sie.
»Er nennt sich Ruiz.«
Ondine fiel der seltsame Unterton ihres Vaters auf, und sie sah ihn argwöhnisch an.
Monsieur Belange lächelte. Seiner Tochter entging wirklich nichts. »In der Kunstszene ist er als Picasso bekannt. Möglich, dass du diesen Namen in seinem Haus hörst, aber du darfst niemandem davon erzählen. Niemand soll wissen, dass er hier ist. Er legt Wert auf seine Ruhe und zahlt gut, und wir werden die Sache diskret behandeln«, warnte er mit einem gewissen Stolz. »Vor allem darfst du nicht über die Dinge plaudern, die du in dem Haus siehst. Wir wollen unter keinen Umständen Klatsch verbreiten.«
»Oui, Papa.« Sie war beeindruckt. Der Name Picasso war skandalbehaftet; sogar die Nonne im Kunstunterricht hatte sich geweigert, ihn zu behandeln. Gedankenverloren trat Ondine auf die dreieckige Terrasse.
»Bonjour, Ondine!«, schallte es ihr entgegen. Drei Männer hatten sich gerade an ihren Lieblingstisch gesetzt, wo sie die Zeitung zu lesen und Aperitifs zu trinken gedachten, bis wie immer um Punkt zwölf Uhr das Mittagessen serviert würde. Oft tauchten sie früher auf, um über die eintreffenden Gäste zu diskutieren.
Ondine lächelte ihnen zu. Hier sind sie wieder, die drei Weisen. Luc hatte den drei Stützen der Gemeinschaft diesen Spitznamen verpasst. Der grauhaarige Doktor Charlot rauchte lange, beißende Zigarren, der Bäcker Renard, der einen getrimmten Schnurrbart trug und mit dreißig immer noch Junggeselle war, stand so früh morgens auf, dass der Hunger ihn schon lange vor der Mittagszeit quälte, und der bärtige Bankdirektor Jaubert war bleich wie ein Vampir und aß sein Fleisch am liebsten bleu.
Da alle drei es zu größerem Wohlstand gebracht hatten, verließ das gesamte Städtchen sich auf sie; nicht nur im Hinblick auf die jeweilige Expertise, sondern ganz grundsätzlich auf ihren vernünftigen und scharfsinnigen Rat. Die altmodischen Ansichten der drei waren zwar unverrückbar, doch sie waren gutherzig und nahmen sich die Zeit, ihre Nachbarn in kleinen und großen Angelegenheiten zu beraten.
Als Ondine an ihnen vorbeiging, glucksten sie kehlig und hoben die Augenbrauen, um einander zu bestätigen, wie wohlproportioniert und begehrenswert sie in den letzten Jahren geworden war. Sie spürte die Blicke immer noch, als sie sich den Rock zwischen die Beine klemmte, auf ihr Fahrrad stieg und davonradelte.
Mit der schweren Metallkiste auf dem Gepäckträger musste sie so langsam anfahren, dass sie ins Schlenkern geriet. Sie biss die Zähne entschlossen zusammen, trat fester in die Pedale und radelte schließlich mit Schwung auf die Hauptstraße mit den Geschäften und Hotels.
Der feine Herr hat wohl genug von seinen Pariser Freunden, dachte sie, während ihr der Schweiß von der Anstrengung auf die Stirn trat. Für die meisten wohlhabenden Touristen galt das Frühjahr als tote Saison. Im Winter spielten amerikanische Witwen Karten und Roulette mit hochmütigen russischen Émigrés, bärtigen deutschen Bankiers und englischen Prinzen. Mit dem Sommer fielen jüngere, lautere Gäste aus Amerika und England ein, die am liebsten schwammen, in der Sonne brieten, sich betranken. Sie flirteten unverfroren mit anderer Leute Ehefrauen und scherten sich keinen Deut um die staubigen Regeln und Traditionen der älteren Generation.
»Bonjour, Ondine!« Der Postbote tippte sich an die Kappe, als sie vorbeiradelte.
Und wieder kein Brief von Luc, dachte sie und winkte zurück. Seit Luc in See gestochen war, bewahrte sie einen kleinen Koffer unter ihrem Bett auf, um bei seiner Rückkehr mit ihm davonlaufen zu können, falls nötig. Doch inzwischen spielte Ondine mit dem Gedanken, vielleicht einfach allein zu verschwinden, irgendwohin, wo die Klatschweiber sie nicht als sitzengelassenes Mädchen betrachteten. Der Koffer enthielt ihre persönlichen Schätze und einen kleinen Geldbeutel, in dem aber nicht annähernd genug Geld war. Noch nicht.
Sie warf einen Blick auf die elegante Kurve des Hafens, in dessen salzigem Algenduft hungrig schreiende Möwen umhersegelten. Die Fischer kehrten gerade zurück, die Netze ausgebeult von Fischen, deren feuchte Schuppen in allen Farben des Regenbogens schillerten. Noch hatte sie die Angewohnheit nicht abgelegt, die Menschen auf dem Dock nach Lucs unverwechselbarem wuscheligen braunen Haar und seinem schlanken, aber starken Körper abzusuchen. Die zwielichtigen Kneipen und Hotels jedoch, wo Prostituierte und Diebe die Matrosen anlockten, um ihnen die Heuer aus der Tasche zu ziehen, bevor die Männer sie nach Hause zu Mädchen wie Ondine bringen konnten, inspizierte sie lieber nicht.
»Wenn ich wirklich alleine weggehe und auch nur eine falsche Entscheidung treffe, ende ich vermutlich wie diese schäbigen Weiber in den Hafenkneipen«, murmelte sie. Mit Luc an ihrer Seite hatte sie keine Angst gehabt.
»Wir alle haben einen hellen Schicksalsstern, der nach uns ruft. Aber wenn wir nicht auf ihn hören, wird die Stimme immer schwächer, bis sie irgendwann ganz versiegt.« Er hatte in den Himmel gedeutet, wo zwei Sterne einander so nahe waren, dass sie beinahe miteinander verschmolzen. »Das da sind unsere«, hatte er gesagt, und sie hatte es gespürt und daran geglaubt. Doch jetzt war sie allein, lebte immer noch bei ihren Eltern und fühlte sich mittlerweile eher wie ein Blechstern, den jemand an einem alten Weihnachtsbaum vergessen hatte.
Sie bog von der Hafenstraße ab und radelte einen steilen Hügel hinauf. Fast fürchtete sie, nach hintenüber zu kippen. Normalerweise kam Ondine nie in diese noble Gegend; auf beiden Seiten standen Villen, deren Ummauerungen so hoch waren, dass man kaum den ersten Stock oder das Ziegeldach sehen konnte. Es war, als gleite sie durch einen geheimnisvollen Tunnel.
Auf dem Hügel angekommen, hielt sie an und staunte über den Ausblick auf den Hafen, den sie noch nie aus dieser Perspektive gesehen hatte. Das glitzernde, saphirblaue Meer wirkte von hier aus offener und verlockender, der blassblaue, von hermelinweichen Wölkchen gesprenkelte Himmel verhieß eine weite, unbegrenzte Welt.
Seufzend bog sie auf einen unbefestigten Weg ab und stand schließlich vor einem von cremefarbenen Mauern eingefassten Holztor.
»Da wären wir«, keuchte Ondine.
Sie sprang vom Fahrrad und schob es zum Tor, das mit pfeilförmigen Eisenspitzen besetzt war. Es war zwar eingerastet, aber nicht abgeschlossen, und sie konnte den Metallriegel problemlos öffnen. Sie lehnte das Fahrrad dahinter kurz an einen Baum, um das Tor schnell wieder zu schließen. Dann schob sie es hinauf zur Villa, einem ausladenden zweistöckigen Haus mit hohen Fenstern, hellblauen Läden und terrakottafarbenen Dachziegeln. Im Erdgeschoss waren die Läden geschlossen, oben jedoch standen sie weit offen, um die Brise hereinzulassen. Ein Vorhang flatterte gespenstisch aus einem Fenster.
Ondine lehnte das Fahrrad an die Hauswand. Von dort führte ein unregelmäßiger Schieferpfad zur Hintertür. Sie hakte die Kiste aus, ging den Pfad entlang und erklomm ein paar Steinstufen zur Küche. Dort drehte sie den Türgriff aus Messing. Auch hier war nicht abgeschlossen. Mit einer seltsamen Mischung aus Aufregung und Anspannung stieß Ondine die Tür auf.
Dann trat sie über die Schwelle.
Im Haus war es still und kühl. Stein und Lehmputz hatten die feuchte Frühlingsluft der vergangenen Nacht eingefangen. Die Küche wirkte auf den ersten Blick recht rustikal. Breite, ungleichmäßige Holzbohlen knarzten unter Ondines Füßen, als sie die schwere Metallkiste vorsichtig auf den runden Holztisch in der Mitte bugsierte. »Zut!« Die Anreise war wirklich mühsam gewesen. Sie sah sich schnaufend um.
In einer Ecke stand ein schmaler schwarzer Ofen, dessen Rohr in schiefem Winkel zum Kamin führte. Gegenüber stand ein Eisschrank an der Wand. Sie öffnete ihre Kiste. In weiser Voraussicht hatte ihre Mutter eine Schürze obenauf gelegt. Ondine zog sie über und fachte den Ofen an. Sie trug den abgedeckten Topf mit der Bouillabaisse direkt zum Herd, um die Suppe dort auf kleiner Flamme warm zu halten. Dann packte sie die anderen Behälter sowie den gestreiften Krug aus.
Bisher hatte Ondine keinen einzigen Mucks aus der Villa vernommen.
Vielleicht war der Herr spazieren gegangen oder besuchte jemanden. Auf den Gedanken, jemand könne den Sonnenaufgang, geschweige denn die Mittagszeit verschlafen, kam sie gar nicht erst. Sie sah sich in der Küche um und entdeckte eine Schwingtür, die zum Rest des Hauses führte. Sie beschloss, einen Blick zu riskieren.
In einem schummrigen Speisezimmer stand ein ovaler Tisch, umringt von hohen Lehnstühlen. Darauf befand sich eine einsame Vase mit staubigen, verdorrten Blumen. Eine Kommode mit einem langen Spitzenläufer diente als Anrichte.
»Hier hat doch seit tausend Jahren niemand mehr gegessen«, entfuhr es Ondine. Sie spürte einen Anflug von Panik. Wo sollte sie das Mittagessen servieren? Ihre Mutter hatte darüber kein Wort verloren. Sie konnte doch nicht einfach annehmen, dass ihr neuer Gast sich zu einem Essen in der Küche herablassen würde, auch wenn es dort gemütlicher war.
Hinter dem Speisezimmer lag ein kleiner Raum mit Polstermöbeln und einem niedrigen Tisch vor einem Kamin. Während Ondine durch den dunklen Raum flitzte, fühlte sie sich wie ein Tiefseefisch, der neugierig ein Schiffswrack erkundete. Am anderen Ende befand sich ein offener Durchgangsbogen, der ins Foyer und zur Treppe führte.
Sie schlich zum Treppenabsatz und neigte den Kopf. Immer noch kein Geräusch von oben. War etwa niemand zu Hause? Hatte er die Abmachung vergessen?
Ein schmaler Flur führte an der Treppe vorbei in den hinteren Teil der Villa, wo eine Tür auf einen eingezäunten Garten hinausging, hinter dem sich Blumenfelder im Wind wiegten. Eine Tür zu einem weiteren Zimmer stand offen, und Ondine trat ein, um es auf Speisetauglichkeit zu überprüfen.
In diesem engen Arbeitszimmer standen Schreibtisch, Stuhl, Telefon und Lampe. Auf dem Tisch lagen eine Pariser Zeitung sowie ein großer brauner Umschlag, der an M. Ruiz adressiert war. Mehrere kleine Umschläge ragten daraus hervor, alle an Picasso adressiert und offenbar von Paris weitergeleitet
Plötzlich verstand Ondine. Er will nicht, dass der Postbote seinen Namen sieht. Da hat er schön recht, der Postbote ist das größte Klatschmaul von allen. Ihr Pinselschwinger hatte sich anscheinend alle Mühe gegeben, seine Identität zu verschleiern. Warum? Wer war dieser Picasso? Außerdem lag ein Schreibblock auf dem Tisch, wo jemand in dicken, dramatisch geschwungenen Linien eine Botschaft notiert hatte. Daneben lag ein Stift. Der Brief trug keine Unterschrift – weder Picasso noch Ruiz – und wirkte unvollendet, so als wäre er ihm auf einmal zu langweilig geworden. Außerdem war er auf Spanisch verfasst. Ondine dachte an den Kommentar ihrer Mutter zu ihrer Klostererziehung und konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Niedergeschriebene zu übersetzen.
Der Brief war an einen gewissen Jaime Sabartés gerichtet und enthielt eine Art Fortschrittsbericht:
Endlich kann ich mich entspannen, ich schlafe zwölf Stunden am Tag. Sag Fräulein Gertrude Stein Bescheid, dass ich nicht mehr dichte. Stattdessen singe ich, was viel befriedigender ist als all die anderen Künste. Olga und ihre elenden Scheidungsanwälte können mir schließlich nicht die Hälfte aller Töne nehmen, die ich singe, oder?
Die Lappen sind übrigens angekommen, hurra! Jetzt kann ich meine Pinsel waschen, sollte ich sie je wieder zur Hand nehmen. Was meinst Du dazu? Vielleicht gebe ich das Malen für meine Gesangskarriere auf und werde der Caruso Spaniens.
Wieso lässt er sich Lappen aus Paris schicken?, wunderte sich Ondine. Warum kauft er sich nicht selbst welche hier? Oder warum nimmt er nicht einfach ein altes Hemd? Offensichtlich hatte er keine Frau, die sich um ihn kümmerte. Mehr noch, die Rede war von Scheidungsanwälten. Ondine kannte niemanden, der sich je hatte scheiden lassen; Scheidung war eine Todsünde.
Schnüffelei war allerdings bestimmt auch eine Sünde. Schnell ging sie zurück ins Speisezimmer und merkte, dass es nur aufgrund der geschlossenen Läden so dunkel und abweisend wirkte. Sie stieß alle Läden auf, so dass die helle Frühlingssonne den Raum erleuchtete. Im Nu verjagte der Duft des Vorgartens die abgestandene Luft, und das Zimmer zeigte sich in all seinem provenzalischen Charme.
»Gleich viel besser«, befand Ondine. Sie nahm die alten Blumen aus der Vase, füllte sie mit Wasser und stellte den frischen Bund Narzissen hinein. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Die Blumen belebten das Zimmer enorm.
Da hörte sie einen dumpfen Schlag von oben und zuckte zusammen. Der Zauber war gebrochen – sie war kein Fisch mehr, der durch ein gesunkenes Schiff schwamm, sondern eine Lieferantin, die zum Arbeiten hier war. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Über ihr knarzte es. Ja, jemand war dort. Sie wartete darauf, Schritte auf der Treppe zu hören, doch nichts geschah. Vielleicht hatte der Herr sie gehört und den verlockenden Essensduft gerochen, der durch das Haus strömte.
Sie lief schnell zurück in die Küche und goss den Wein vom Beutel in den großen Krug. Eine gute Idee ihrer Mutter. Die leuchtend rosa-blauen Streifen machten sich gut in dem einfachen Speisezimmer.
Ondine ging zum Herd, hob den Deckel, um nach der Bouillabaisse zu sehen, und trug den Topf anschließend ins Speisezimmer, wo sie ihn auf einem Dreifuß abstellte, den sie in der Anrichte gefunden hatte. Da Brühe und Fisch getrennt gegessen wurden, stellte sie einen Suppenteller auf den Tisch, in dem getrocknete Brotscheiben lagen, über die er die Brühe geben konnte; die Meeresfrüchte wurden auf einem separaten Teller serviert.
Mit der Anweisung ihres Vaters im Kopf, Monsieur Picasso oder Ruiz oder wie auch immer unter allen Umständen zufriedenzustellen, arrangierte Ondine die Teller in einem hübschen Halbkreis um den Suppenteller, damit alles in Reichweite war. In der Küche fand sie einen Nussknacker und einen kleinen Korb, in den sie ein paar Nüsse und frisches Obst legte.
Nun sollte sie vermutlich verschwinden und den Mann in Ruhe zu Mittag essen lassen. Doch sein kleiner Brief war so lustig gewesen, dass er sie angesteckt hatte. Als sie einen leeren Notizblock und einen Bleistift auf der Küchentheke entdeckte, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, selbst eine Botschaft zu hinterlassen, auf Französisch, da er offensichtlich Pariser Zeitungen las. Außerdem war sie sich ihrer spanischen Grammatik nicht allzu sicher:
Wir hoffen, das Mittagessen findet Ihr Gefallen. Bitte sagen Sie uns Bescheid, falls wir irgendetwas verbessern können. Wir holen das Geschirr später ab und kümmern uns um den Abwasch. Bon appétit.
Ondine lehnte den Zettel an den Obstkorb. Dann schlüpfte sie aus der Küche, stieg auf ihr Fahrrad und radelte rasch davon, ohne sich noch einmal umzusehen.