Mary Beard
Kleopatras Nase
Neue Begegnungen mit der Alten Geschichte
Aus dem Englischen
von Ursula Blank-Sangmeister
unter Mitarbeit von Anna Raupach
FISCHER E-Books
Die international bekannte Althistorikerin Mary Beard hat uns schon in »SPQR«, der großen Geschichte des Römischen Reichs, die Welt der Antike so nah gebracht wie nie zuvor. Auch in »Kleopatras Nase« unterhält sie mit erstaunlichen Geschichten aus dem alten Griechenland und Rom, deckt Irrtümer auf und zerstört Mythen. In kurzweiligen und unterhaltsamen Essays schildert sie unbekannte Details aus dem Alltagsleben von Sklaven, Soldaten, Frauen und Kindern. Wir erfahren, worüber die Griechen lachten und wie groß Alexander wirklich war, warum die Asterix-Comics so erfolgreich sind und die Ruinen Pompejis zum Hotspot für Touristen wurden. An Beispielen von Sappho bis zu Julius Cäsar, von der unbekannten griechischen Sklavin bis zum römischen Senator behandelt Mary Beard grundlegende Fragen und zentrale Momente der Alten Geschichte. So zeigt sie, wie gegenwärtig die Antike immer noch ist.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe ist 2013 unter dem Titel »Confronting the Classics. Traditions, Adventures and Innovations« bei Profile Books, London, erschienen.
© Mary Beard Publications Ltd. 2013
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490187-9
Der englische Begriff »Classics« umfasst die Fächer Alte Geschichte, Klassische Philologie und Klassische Archäologie und ist die übergreifende Bezeichnung für die klassischen Altertumswissenschaften. Zur Vermeidung umständlicher Umschreibungen greife ich im Folgenden manchmal auf das englische »Classics« zurück (Anm.d.Übers.).
Ivy League ist der Name für eine Gruppe von acht amerikanischen – mit Efeu (ivy) berankten – Elite-Universitäten an der Ostküste, zu denen neben Harvard unter anderen auch Yale, Columbia und Princeton gehören. – Oxbridge ist die Bezeichnung für die Universitäten Oxford und Cambridge (Anm.d.Übers.).
Hier wurde Mary Beards englische Fassung ins Deutsche übersetzt (Anm.d.Übers.).
Aus dem Englischen übersetzt (Anm.d.Übers.).
Bei der Pulververschwörung (engl. Gunpowder Plot) versuchten britische Katholiken, während der Parlamentseröffnung am 5. November 1605 den protestantischen König von England, Jakob I., seine Familie, die Regierung und alle Parlamentarier umzubringen (Anm.d.Übers.).
Die Marmorskulpturen und -fragmente, die Lord Elgin im Jahr 1801 von der Akropolis abtransportieren ließ und später an das British Museum in London verkaufte (Anm.d.Übers.).
Als »Wit and Wisdom« werden im Englischen Sammlungen von Bonmots und Aphorismen berühmter Persönlichkeiten bezeichnet (Anm. d. Übers.).
Eine Figur aus Dorothy Sayers’ Kriminalromanen, die einmal wegen Mordes an ihrem früheren Geliebten vor Gericht steht (Anm.d.Übers.).
Lykaion: Name eines Zeus-Heiligtums auf der Peloponnes; Akademie: Platons Philosophenschule in Athen; Prytanaion: Amts- und Kultgebäude in Ephesos; (Stoa) Poikile: Säulenhalle in Athen; Tempe: Tal im griechischen Thessalien mit Apollon-Heiligtum (Anm.d.Übers.).
John Reith war der erste Generaldirektor der 1922 gegründeten BBC. Für ihn war das Radio ein Medium zur Erziehung der breiten Bevölkerung (Anm.d.Übers.).
Schloss Brideshead ist ein Schauplatz in »Brideshead Revisited« (dt.: »Wiedersehen mit Brideshead«), einem Roman des englischen Autors Evelyn Waugh (Anm.d.Übers.).
So heißt ein (anfangs) auf strenge Disziplin achtender Lehrer in James Hiltons Roman »Good-bye, Mr Chips« von 1934 (Anm.d.Übers.).
Ben Jonson (1572–1637) war neben Shakespeare der bedeutendste Dramatiker der Renaissance, Samuel Johnson (1709–1784) ein für seine Gelehrsamkeit berühmter Lexikograph und Schriftsteller, John Evelyn (1620–1702) ein Gartenarchitekt, der vor allem für sein umfassendes Tagebuch berühmt wurde, John Milton (1608–1674) war Dichter und politischer Denker und Stuart Mill (1806–1873) Philosoph und Ökonom (Anm.d.Übers.).
Marcel Pagnol (1895–1974) schrieb »Marius« (dt. »Der goldene Anker«) 1929. Es wurde 1931 verfilmt. Pagnol war bekannt für seine einfühlsame Darstellung der Welt der kleinen Leute (Anm.d.Übers.).
1066 and All That. A Memorable History of England, comprising all the parts you can remember, including 103 Good Things, 5 Bad Kings and 2 Genuine dates ist eine Parodie des britischen Geschichtsunterrichts und erschien zuerst 1930 (Anm.d.Übers.).
Für Peter Carson
Dieses Buch bietet einen Rundgang durch die klassische Welt, vom prähistorischen Palast im kretischen Knossos bis zu jenem fiktiven Dorf in Gallien, wo Asterix und seine Freunde den Römern noch immer Widerstand leisten. Dabei begegnen wir einigen der berühmtesten oder berüchtigtsten Charaktere der antiken Geschichte: Sappho, Alexander dem Großen, Hannibal, Julius Caesar, Kleopatra, Caligula, Nero, Boudicca und Tacitus (und das ist nur eine kleine Auswahl). Doch wir erhalten auch einen Einblick in das Leben der großen Mehrheit ganz normaler Griechen und Römer – zu ihnen gehören auch die Sklaven, die einfachen Heeressoldaten, die Millionen von Menschen, die überall im Römischen Reich unter militärischer Besatzung lebten (ganz abgesehen von meinem besonderen Favoriten, Eurysaces, dem römischen Bäcker aus Kapitel 19). Was brachte diese Menschen zum Lachen? Putzten sie sich die Zähne? Wohin wandten sie sich, wenn sie Hilfe oder Rat brauchten – wenn sie Eheprobleme hatten oder pleite waren? Ich hoffe, dass »Kleopatras Nase« die Leser mit einigen der spannendsten Kapitel der antiken Geschichte und einigen ihrer denkwürdigsten Charaktere aus vielen Lebensbereichen bekannt machen wird oder sie ihnen wieder nahebringt; und ich hoffe, dass das Buch auf manche jener faszinierenden Fragen eine Antwort geben wird.
Doch ich verfolge ein noch ehrgeizigeres Ziel. Der englische Titel dieses Buches, »Confronting the Classics«, bedeutet, was er sagt. So handelt dieses Buch auch davon, wie wir mit der klassischen Tradition in Dialog treten oder sie in Frage stellen können und wieso es selbst im 21. Jahrhundert in den Altertumswissenschaften noch immer so vieles gibt, worüber man sich streitet; kurzum, es handelt davon, wieso das Thema noch immer nicht »abgeschlossen« und nicht »erledigt« ist (oder wieso wir es bei der Antike und den Wissenschaften, die sich mit ihr beschäftigen, sowohl mit einem »Abenteuer« als auch mit einer »Innovation« ebenso wie mit einer »Tradition« zu tun haben). Dies wird, wie ich hoffe, in den folgenden Abschnitten klar und deutlich zutage treten. Man sollte sich auf einige Überraschungen gefasst machen sowie auf etliche heftige Kontroversen, alte und neue. Klassische Philologen und Althistoriker mühen sich noch immer damit ab, die genaue Bedeutung des überaus schwierigen Griechisch des Thukydides zu entschlüsseln (wir machen Fortschritte, sind aber noch nicht am Ziel), und wir sind weiterhin unterschiedlicher Meinung darüber, wie wichtig Kleopatra für die Geschichte Roms tatsächlich war oder ob der Kaiser Caligula als schlichtweg verrückt abgeschrieben werden kann. Gleichzeitig finden moderne Beobachter ständig Möglichkeiten, neue Fragen aufzuwerfen – und manchmal neue Antworten zu finden. Ich habe die Hoffnung, dass es mir mit diesem Buch gelingt, einige unserer aktuellen Debatten für ein deutlich breiteres Publikum lebendig werden zu lassen – angefangen mit der Frage, welchen Beitrag die persischen Quellen für unser Verständnis von Alexander dem Großen liefern können, bis zu dem Problem, wie um alles in der Welt es die Römer fertigbrachten, sich ausreichend Sklaven zu beschaffen, um ihren Bedarf zu decken.
Debatte ist das Schlüsselwort. Wie ich in der Einführung noch einmal herausstellen werde, ist die Beschäftigung mit den Altertumswissenschaften der Eintritt in ein Gespräch – nicht nur mit der Literatur und den materiellen Überresten der Antike, sondern auch mit jenen, die in den Jahrhunderten vor uns versucht haben, die Griechen und Römer, die sie zitiert oder zu neuem Leben erweckt haben, zu verstehen. Darum werden in diesem Buch auch – da sie ebenfalls an dem Gespräch beteiligt sind – die Wissenschaftler und Archäologen früherer Generationen, die Reisenden, Künstler und Altertumsliebhaber angemessen berücksichtigt. Und deshalb kommt der unbezwingbare Asterix ebenfalls zum Zuge, weil – seien wir ehrlich – seine Bande tapferer Gallier sehr viele von uns zum ersten Mal dazu gebracht hat, über die Probleme des römischen Imperialismus nachzudenken.
Es sei noch erwähnt, dass alle Kapitel dieses Buches Adaptationen und Aktualisierungen von Rezensionen und Aufsätzen sind, die in den letzten Jahrzehnten in der London Review of Books, der New York Review of Books oder dem Times Literary Supplement erschienen sind. Im Nachwort werde ich noch ausführlicher auf das Handwerk des Rezensierens eingehen. Jetzt will ich einfach nur festhalten, dass Rezensionen seit langem zu den wichtigsten Orten gehören, an denen altertumswissenschaftliche Debatten ausgetragen werden. Ich hoffe, dass die nachfolgenden Aufsätze einen Eindruck davon vermitteln, warum die klassische Antike ein Thema ist, über das es sich noch immer lohnt, mit all der uns zu Gebote stehenden Ernsthaftigkeit zu sprechen – ganz abgesehen davon, dass die Beschäftigung mit ihr Vergnügen macht und für gute Laune sorgt.
»Kleopatras Nase« beginnt mit einer Robert B. Silvers Lecture. Ich hatte die große Ehre, diesen Vortrag im November 2011 in der New York Public Library zu halten. Der Titel »Haben die Klassischen Altertumswissenschaften eine Zukunft?« trifft den Nagel auf den Kopf. Es ist, wenn Sie so wollen, mein Manifest.
2011 war für den (zu der Zeit längst) verstorbenen Terence Rattigan ein ungewöhnlich gutes Jahr: In seinem Stück »Man and Boy« (eine aktuelle Geschichte über den Zusammenbruch eines Bankiers) spielte Frank Langella am Broadway die Hauptrolle – es war die erste Inszenierung in New York seit den 1960er Jahren. Außerdem gab es eine Verfilmung von »The Deep Blue Sea«, in der Rachel Weisz die Frau eines Richters spielt, die mit einem Piloten durchbrennt. Die Premiere war Ende November 2011 im Vereinigten Königreich, und im Dezember lief der Film in den USA an. Es war Rattigans 100. Geburtstag (er starb 1977), deshalb kam es zu jener Art von Neubewertung, die Hundertjahrfeiern häufig mit sich bringen. Lange Zeit konnten – in den Augen von Kritikern, wenn auch nicht des Publikums des Londoner West Ends – seine kunstvollen Geschichten von den verdrängten Qualen der privilegierten Klassen es nicht mit dem Realismus der Arbeiterklasse eines John Osborne und der anderen zornigen jungen Dramatiker aufnehmen. Aber wir haben gelernt, uns auf neue Weise mit ihnen zu befassen.
Ich habe mir ein anderes Stück von Rattigan noch einmal angeschaut, »The Browning Version«, uraufgeführt im Jahr 1948. Es handelt von Andrew Crocker-Harris, einem Lehrer in den Vierzigern an einer englischen Privatschule – ein altmodischer Zuchtmeister, der wegen eines schweren Herzleidens in den vorzeitigen Ruhestand gehen muss. Das andere Unglück Crocks (bei den Kindern heißt er nur »the Crock«) besteht darin, dass er mit einer wirklich boshaften Frau namens Millie verheiratet ist, die ihre Zeit aufteilt zwischen einer On-off-Affäre mit dem Naturwissenschaftslehrer und dem Austüfteln immer neuer Varianten von häuslichem Sadismus, um ihren Ehemann zugrunde zu richten.
Der Titel des Werks versetzt uns jedoch zurück in die klassische Antike. Crock unterrichtet, wie Sie es wohl schon erahnt haben, Griechisch und Latein (was sonst könnte er mit einem Namen wie Crocker-Harris unterrichten?), und »Browning Version«, der Titel des Stücks, bezieht sich auf Robert Brownings berühmte Übersetzung von Aischylos’ Drama »Agamemnon« aus dem Jahr 1877. Verfasst in den 450er Jahren v. Chr., erzählt das griechische Original von der tragischen Rückkehr König Agamemnons aus dem Trojanischen Krieg und seiner anschließenden Ermordung durch seine Frau Klytaimnestra und deren Liebhaber, den sie sich während Agamemnons Abwesenheit genommen hatte.
Dieser Klassiker ist in gewisser Weise der eigentliche Star in Rattigans Drama. John Taplow, ein Schüler, der Griechisch-Nachhilfestunden bei ihm genommen und den griesgrämigen alten Schulmeister immer mehr in sein Herz geschlossen hat, schenkt Crock das Buch zu dessen Pensionierung. Die Geschenkübergabe ist die Schlüsselszene der Handlung, fast der Moment der Erlösung. Zum ersten Mal lässt Crocker-Harris seine Maske fallen: Als er die »Browning Version« aufschlägt, bricht er in Tränen aus. Warum? Zunächst einmal, weil er der Tatsache ins Gesicht sehen muss, dass er, so wie Agamemnon, von einer ehebrecherischen Frau vernichtet wird (es handelt sich nicht eben um ein feministisches Stück). Aber er weint auch über das, was der junge Taplow auf das Titelblatt geschrieben hat. Es ist eine – sorgfältig auf Griechisch wiedergegebene – Zeile aus dem Stück, die Crock für sich so übersetzt: »Gott schaut aus der Ferne gnädig auf einen sanften Herrn.« Er wertet dies als Kommentar zu seinem eigenen Berufsleben: Er hat alles daran gesetzt, kein sanfter Lehrmeister zu sein, und Gott hat nicht gnädig auf ihn geschaut.
Rattigan begnügt sich hier nicht damit, die gequälte Psyche der britischen oberen Mittelschicht zu analysieren (und es ist auch nicht nur eine weitere »Schulgeschichte«, jene schrullige Marotte einiger britischer Autoren). Als jemand, der selbst eine solide klassische Ausbildung genossen hat, befasst er sich auch mit zentralen Fragen der klassischen Altertumswissenschaft, der klassischen Tradition und unserer modernen Beschäftigung mit ihr. Inwieweit kann die antike Welt uns helfen, unsere eigene zu verstehen? Welche Grenzen sollten wir unserer Neuinterpretation und Wiederaneignung setzen? Als Aischylos schrieb: »Gott schaut aus der Ferne gnädig auf einen sanften Herrn«, dachte er gewiss nicht an einen Lehrer, sondern an einen militärischen Eroberer. Tatsächlich war der Satz – und auch darauf kam es, wie ich vermute, Rattigan an – einer der letzten, den Agamemnon zu Klytaimnestra sprach, bevor sie ihn ins Haus führte, um ihn umzubringen.
Anders gesagt: Was können wir tun, um die antike Welt zu verstehen? Wie interpretieren wir sie? Der junge Taplow hat keine sehr hohe Meinung von Brownings Aischylos-Übersetzung, und sie ist – nach unserem Geschmack – auch wirklich in einer grässlichen poetischen Sprache des 19. Jahrhunderts verfasst (»Who conquers mildly, God, from afar, benignantly regardeth« – Brownings Übersetzung der Schlüsselzeile ist kaum dazu angetan, dass man sich auf den Rest des Stückes stürzt). Doch als Taplow sich im Unterricht für Aischylos’ Griechisch begeistert und eine erstaunlich geistreiche, aber leicht ungenaue Übersetzung von einer der blutrünstigsten Stellen vorlegt, wird er von Crock zurechtgewiesen: »Sie sollen das Griechische analysieren« – das heißt, den Text wortwörtlich übersetzen –, »nicht mit Aischylos zusammenarbeiten.«
Wenn man überzeugt ist, dass die klassische Tradition etwas ist, womit man sich beschäftigen und auseinandersetzen muss und das nicht nur reproduziert und nachgeplappert werden sollte, steht man auf der Seite derer, die mit Aischylos zusammenarbeiten. Hier kann ich nicht umhin, an die auf eklatante Weise modernen Übersetzungen von Teilen aus Homers »Ilias« zu erinnern, die der im Dezember 2011 verstorbene englische Dichter Christopher Logue verfasst hat – »Kings«, »War Music« und andere –, »die beste Übersetzung Homers seit der von [Alexander] Pope«, wie Garry Wills sie einmal bezeichnete. Das war, glaube ich, ein sowohl aufrichtiger als auch leicht ironischer Kommentar. Denn der Witz ist, dass Logue, der wichtigste Mitarbeiter Homers, kein Wort Griechisch konnte.
Viele der von Rattigan gestellten Fragen liegen auch den Thesen zugrunde, die ich hier vorbringen möchte. Ich versuche nicht, jeden davon zu überzeugen, dass die klassische Literatur, Kultur oder Kunst es verdienen, ernst genommen zu werden. Damit dürfte man in den meisten Fällen offene Türen einrennen. Stattdessen möchte ich darauf hinweisen, dass die Sprache der klassischen Autoren und der klassischen Literatur eine Kultursprache und damit noch immer eine essentielle und unauslöschliche Ausprägung der »westlichen Kultur« darstellt, die in Rattigans Drama ebenso Eingang gefunden hat wie in die Dichtung von Ted Hughes oder die Romane von Margaret Atwood oder Donna Tarrt. »Die geheime Geschichte« hätte jedenfalls nicht an einer Fakultät für Geographie angesiedelt werden können. Doch ich möchte auch etwas genauer auf den Umstand eingehen, dass wir heute so sehr auf den Niedergang der humanistischen Bildung fixiert sind. Auch hier liefern Rattigans »Browning Version« und seine Nachfolger eine interessante Perspektive.
Das Stück ist bei unter Geldknappheit leidenden Theatern und TV-Gesellschaften bis heute beliebt, teils aus dem einfachen Grund, dass Rattigan als Schauplatz für das gesamte Geschehen Crocker-Harris’ Wohnzimmer wählte, was die Inszenierung äußerst kostengünstig macht. Doch es gibt auch zwei Verfilmungen von »The Browning Version«, die sich aus Crocker-Harris’ Wohnung herauswagten, um das filmische Potential der englischen Privatschule von ihren malerischen holzgetäfelten Klassenräumen bis hin zum Grün ihrer hügeligen Cricket-Felder ganz auszuschöpfen. Rattigan höchstpersönlich verfasste das Drehbuch zum ersten Film, in dem Michael Redgrave 1951 die Hauptrolle spielte. Der Autor nutzte das Format des Films, um sich ausführlich über Erziehungsphilosophie zu verbreiten und den naturwissenschaftlichen Unterricht (für den Millies Liebhaber steht) dem klassischen Sprachenunterricht (repräsentiert durch Crock) gegenüberzustellen. Außerdem wies er Crocks Nachfolger als Latein- und Griechischlehrer, Mr Gilbert, eine größere Rolle zu – womit er klarstellte, dass er sich vom sturen Pauken lateinischer und griechischer Grammatik distanzierte und sich dem zuwandte, was wir heute einen »schülerzentrierten« Ansatz nennen.
1994 kam es, diesmal mit Albert Finney als Hauptdarsteller, zu einer modernisierten Neuverfilmung: Millie wurde in Laura umbenannt, und ihr Naturwissenschaftslehrer und Liebhaber war nun ein ausgesprochen adretter Amerikaner. In mancherlei Hinsicht ähnelte diese Version noch immer der alten Geschichte: Finney zog seine Klasse in Bann, wenn er den Schülern einige Zeilen aus Aischylos vorlas, und über das Geschenk der »Browning Version« weinte er sogar noch ergreifender, als Redgrave es getan hatte. Aber das Ganze nimmt eine markante Wendung, indem ein neues Narrativ eingeführt wird: das eines Niedergangs. Crocks Nachfolger nämlich gibt in dieser Fassung den Latein- und Griechisch-Unterricht vollständig auf. »Meine Aufgabe ist es«, sagt er im Film, »eine neue Sprachenabteilung zu organisieren: moderne Sprachen, Deutsch, Französisch, Spanisch. Schließlich leben wir in einer multikulturellen Gesellschaft.« Crock erscheint nun als der allerletzte Vertreter seiner Spezies.
Der Film sagt den Tod der humanistischen Bildung jedoch nicht nur voraus, er trägt dazu auch selber bei, ohne dass dies beabsichtigt gewesen wäre. In einer Szene bespricht Crock mit seiner Klasse einen Abschnitt von Aischylos, offensichtlich anhand des griechischen Originals, doch die Schüler haben große Schwierigkeiten, den Text zu lesen. Jeder scharfsichtige Altphilologe wird den Grund dafür leicht erkennen: Die Jungen haben Aischylos in der Penguin-Übersetzung (mit dem sofort erkennbaren typischen Cover) vor sich liegen; sie haben gar keinen griechischen Text. Vermutlich sollte jemand aus der Requisite 20 Exemplare des »Agamemnon« beschaffen und besorgte das Werk, weil er es nicht besser wusste, auf Englisch.
Das Schreckgespenst vom Ende der humanistischen Bildung ist den meisten Lesern wahrscheinlich vertraut. Ich möchte – aus einer gewissen Besorgnis heraus – versuchen, die Frage aus einer anderen Perspektive zu betrachten, über die üblichen negativen Klischees hinauszugehen und (zum Teil mit Terence Rattigans Hilfe) einen neuen Blick auf das zu werfen, was wir als Alte Geschichte, Altphilologie und Klassische Archäologie oder im Englischen als »Classics« bezeichnen. Doch vergegenwärtigen wir uns zuerst einmal, was in der neueren Debatte über den gegenwärtigen Stand der klassischen Sprachen, ganz zu schweigen von ihrer Zukunft, immer wieder hervorgehoben wird.
Die Grundbotschaft ist bedrückend. In den letzten etwa zehn Jahren sind buchstäblich Hunderte von Büchern, Artikeln, Zeitschriften und Kommentaren erschienen mit Titeln wie »Die alten Sprachen in der Krise«, »Können die alten Sprachen überleben?«, »Wer hat Homer umgebracht?«, »Warum Amerika die klassische Tradition braucht« und »Die Rettung der alten Sprachen vor den Konservativen«. Sie alle beklagen auf unterschiedliche Weise den Tod der alten Sprachen, unterziehen sie einer Autopsie oder empfehlen einige ziemlich verspätete Lebensrettungsmaßnahmen. Die endlose Aufzählung düsterer Fakten und Zahlen in diesen Beiträgen und der Ton dieser Litanei sind allgemein bekannt. Aufhänger sind zumeist der Niedergang der lateinischen und altgriechischen Sprache an den Schulen oder die Schließung altphilologischer Institute überall auf der Welt.
Angesichts der zunehmenden Marginalisierung der klassischen Sprachen wurde im November 2011 eine internationale Petition an die UNESCO gerichtet mit dem Ersuchen, Latein und Griechisch zum besonders geschützten »immateriellen Kulturerbe der Menschheit« zu erklären. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, wenn man die klassischen Sprachen wie eine gefährdete Spezies oder wie eine wertvolle Ruine behandelt. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass der in der Petition formulierte Vorschlag, für ihre Erhaltung solle die italienische Regierung zuständig sein (als ob sie nicht schon genug am Hals hätte), damals keine kluge Politik war.
Für den Niedergang der klassischen Sprachen werden vielfältige Gründe angeführt. Manche behaupten, dass deren Anhänger die alleinige Schuld dafür trügen. Es gehe eben um »tote weiße Europäer« und deren Sache, die viel zu oft als wohlfeile Legitimation für eine ganze Reihe von kulturellen und politischen Sünden hergehalten habe, angefangen beim Imperialismus und Eurozentrismus bis hin zu gesellschaftlichem Snobismus und todlangweiliger Pädagogik. Die Briten herrschten über ihr Empire mit Cicero in der Hand; Goebbels wählte griechische Tragödien als Bettlektüre (und wenn man Martin Bernal glauben kann, fand er seine verrückten Ansichten über die arische Überlegenheit in den Traditionen der klassischen Altertumswissenschaft bestätigt). In der neuen multikulturellen Welt, so heißt es bisweilen, müssten die klassischen Sprachen all dies nun ausbaden. Ganz abgesehen davon, dass zumindest in England das Lateinische lange Zeit als Torhüter diente, um rigide Klassenprivilegien und gesellschaftliche Exklusivität zu wahren – auch wenn die offenkundigen Nutznießer einen hohen Preis dafür zu zahlen hatten. Zwar erhielt man Zutritt zu einer kleinen Elite, gewiss, aber man war während seiner Kinderjahre auf einen äußerst beschränkten Lehrplan festgelegt: Es ging fast nur um Übersetzungen ins und aus dem Lateinischen (und wenn man etwas älter war, dem Griechischen). Im Film The Browning Version lässt Crocker-Harris seine Schüler die ersten vier Strophen von Tennysons »The Lady of Shalott« ins Lateinische übersetzen: eine ebenso sinnlose wie prestigeträchtige Übung.
Andere behaupten, die Altertumswissenschaften seien an der Politik der modernen Universität gescheitert. Nach Aussage von Victor David Hanson und seinen Kollegen liegt die Schuld für den allgemeinen Niedergang des Fachs bei der karriereorientierten Ivy League, natürlich auch bei Oxbridge,[2] bei Professoren, die sich (im Streben nach hohen Gehältern und langen Forschungsfreistellungen) mit ihrer Selbstbezogenheit in eine postmoderne Sackgasse begeben haben, während gewöhnliche Studenten und die »Leute da draußen« wirklich etwas über Homer und die anderen großen Vorbilder Griechenlands und Roms hören wollen. Die Antwort darauf ist: Wahrscheinlich ist es gerade der Umstand, dass Professoren der Altertumswissenschaften es ablehnen, sich mit moderner Theorie zu befassen, und die antike Welt weiterhin (als ob sie eine bewundernswerte Kultur sei) durch eine rosarote Brille betrachten, der aus dem Fach ein verschlafenes, rückständiges Nest zu machen droht.
Die Stimmen, die betonen, dass wir uns mit dem Elend, der Sklaverei, der Frauenfeindlichkeit und der Irrationalität der Antike befassen müssen, gehen über Moses Finley und den irischen Dichter und Altphilologen Louis MacNeice zurück auf meine eigene berühmte Vorgängerin Jane Ellen Harrison, die im 19. Jahrhundert in Cambridge lehrte. »Immer wenn ich mich an Griechenlands Herrlichkeit erinnern soll«, hielt MacNeice auf unvergessliche Weise in seinem »Autumn Journal« fest,
»Denke ich stattdessen
An die Gauner, die Abenteurer, die Opportunisten,
Die sorglosen Athleten und die schrillen Knaben (…)
(…) an den Lärm
Der Demagogen und der Quacksalber; und an die Frauen, die
Trankopfer über Gräbern ausgießen,
Und an die Trimmer in Delphi und die Strohmänner in Sparta und zuletzt
Denke ich an die Sklaven.«
Natürlich ist nicht alles, was über den gegenwärtigen Stand der »Classics« geschrieben wird, hoffnungslos düster. Einige unbeschwerte Optimisten verweisen beispielsweise auf das neue öffentliche Interesse an der antiken Welt. Davon zeugen die Erfolge von Filmen wie Gladiator, von Stacy Schiffs Kleopatra-Biographie oder der anhaltende Strom von literarischen Beiträgen zur klassischen Antike oder der Beschäftigung mit ihr (dazu gehören mindestens drei bedeutende fiktionale oder poetische Bearbeitungen von Homer allein im Jahr 2011). Und gegen die unheilvollen Beispiele eines Goebbels und des britischen Imperialismus lässt sich eine Liste entschiedenerer Helden der klassischen Tradition anführen – so unterschiedliche Personen wie Sigmund Freud, Karl Marx (dessen Doktorarbeit der klassischen Philosophie gewidmet war) und die amerikanischen Gründerväter.
Was das Lateinische betrifft, werden in der Post-Crocker-Harris-Welt etliche unterschiedliche Geschichten erzählt. Wo der Unterricht der Sprache noch nicht gänzlich abgeschafft ist, kann man jetzt häufig lesen, welch enorme Wirkung Latein – nun befreit von der altmodischen Grammatikpaukerei – auf die intellektuelle und sprachliche Entwicklung ausüben kann. Dies basiert entweder auf Studien in Schulen in der Bronx, nach denen sich der IQ von Kindern durch das Lernen von Latein erhöht, oder auf jenen allgemein verbreiteten Behauptungen, wonach Lateinkenntnisse beim Erlernen von Französisch, Italienisch, Spanisch oder jeder x-beliebigen anderen indoeuropäischen Sprache außerordentlich hilfreich sind.
Hier gibt es allerdings ein Problem. Manche Einwände der Optimisten treffen zwar durchaus ins Schwarze. Die klassische Vergangenheit wurde niemals nur von einer politischen Richtung vereinnahmt: Mit Hilfe antiker Autoren wurden wahrscheinlich ebenso viele Revolutionen wie konservative Diktaturen legitimiert, und im Laufe der Jahre stand Aischylos sowohl im Dienst der Nazipropaganda als auch von Befreiungsbewegungen im Afrika südlich der Sahara. Einige der Gegenargumente sind jedoch schlichtweg irreführend. Der Erfolg von Gladiator war absolut nichts Neues; man denke nur an Ben Hur, Spartacus, Im Zeichen des Kreuzes und die zahlreichen Versionen von Die letzten Tage von Pompeji, die bis auf die Anfangsjahre des Kinos zurückgehen. Dasselbe gilt auch für den Erfolg populärer Biographien über antike Persönlichkeiten; unzählige Leute meiner Generation wurden durch die – jetzt weitgehend vergessenen – Biographien von Michael Grant in die Antike eingeführt.
Und viele der Argumente, mit denen jetzt das Lateinlernen gerechtfertigt wird, sind, fürchte ich, auch gefährlich. Sicherlich lernt man durch Latein etwas über Sprache und darüber, wie sie funktioniert, und die Tatsache, dass es sich um eine »tote« Sprache handelt, kann durchaus befreiend sein: Ich bin für immer dankbar, dass man im Lateinunterricht nicht lernen muss, wie man eine Pizza bestellt oder sich nach dem Weg zur Kathedrale erkundigt. Aber ganz im Ernst: Wenn man Französisch lernen will, tut man, ehrlich gesagt, besser daran, dies gleich zu tun, ohne den Umweg über eine andere Sprache. Es gibt wirklich nur einen guten Grund, Latein zu lernen – wenn man nämlich auf Lateinisch verfasste Texte lesen möchte.
Dennoch entspricht das nicht ganz dem, was ich sagen will. Mehr beschäftigt mich die folgende Frage: Was treibt uns dazu, so beharrlich den »Zustand« der alten Sprachen zu untersuchen und Bücher zu kaufen, die ihren Niedergang beklagen? Wenn man sich eine Meinung nach der anderen vor Augen führt, kann man bisweilen den Eindruck gewinnen, dass man einem seltsamen Krankenhaus-Drama in einer Art akademischer Notaufnahmestation beiwohnt: Ein offenkundig kranker Patient (»alte Sprachen«) ist umringt von verschiedenen Ärzten, die sich weder über die Diagnose noch über die Prognose recht einigen können. Täuscht der Patient eine Krankheit nur vor und ist in Wirklichkeit kerngesund? Ist eine allmähliche Besserung wahrscheinlich, wenn auch vielleicht keine völlige Wiedergenesung? Oder ist die Krankheit unheilbar, und es geht nur noch um eine Palliativbehandlung oder verdeckte Euthanasie?
Was vielleicht noch wichtiger ist: Warum interessieren wir uns so stark für das Schicksal der alten Sprachen, und warum diskutieren wir gerade in dieser Weise darüber und füllen so viele Seiten mit den konkurrierenden Antworten? Die Debatte über ihren Niedergang ist ebenso paradox wie die Annahme, dass der Mini-Verlagsbuchhandel davon abhängt, dass eine große Zahl maßgeblicher Verfechter der alten Sprachen Bücher kauft, die sich mit ihrem Untergang befassen. Was ich damit sagen will: Wenn einem Latein, Griechisch und die klassische Tradition völlig gleichgültig sind, liest man kein Buch darüber, warum sich niemand mehr dafür interessiert.
Natürlich liegen den verschiedenen Debatten über den Gesundheitszustand der »Klassischen Altertumswissenschaften« unterschiedliche Annahmen zugrunde über das, was darunter zu verstehen ist: Diese Annahmen reichen vom Studium des Lateinischen und Griechischen an einer Universität bis hin zu – am anderen Ende des Spektrums – einem im weiteren Sinne allgemeinen Interesse an der antiken Welt in all ihren Formen. Darin dass, wenn im Englischen von »Classics« oder (wie in Amerika häufiger) von »the classics« die Rede ist, nicht dasselbe gemeint ist, liegt einer der Gründe für die unterschiedlichen Ansichten über die Situation, in der sie sich befinden. Ich habe nicht vor, hier eine einfache Neudefinition anzubieten. Aber ich werde einige der Themen aufgreifen, die in Terence Rattigans Stück vorkommen, um darauf hinzuweisen, dass die antiken Klassiker in die Art und Weise, wie wir über uns und unsere eigene Geschichte denken, eingegangen sind, und dies in einer weit komplexeren Form, als wir normalerweise zugestehen. Sie entstammen nicht nur einer fernen Vergangenheit oder haben nicht nur diese zum Thema. Sie sind auch eine Kultursprache, die wir, im Dialog mit einer Vorstellung von der Antike, zu sprechen gelernt haben. Und um etwas Offensichtliches zu konstatieren: In gewisser Weise handeln die klassischen Werke, wenn es überhaupt um jemanden geht, ebenso von uns wie von den Griechen und Römern.
Doch zurück zur Rhetorik des Niedergangs – und hier möchte ich Ihnen einen weiteren düsteren Text vorstellen:
»Von vielen Seiten hören wir Behauptungen, vorgetragen im Brustton der Überzeugung, (…) dass die Arbeit im Bereich des Griechischen und Lateinischen erledigt – dass die Zeit dieser Sprachen vorbei sei. Wenn ihre Abschaffung als wirksames Erziehungsmittel ein Opfer ist, das der Fortschritt der Zivilisation unerbittlich fordert, dann ist alles Bedauern müßig, und wir müssen uns der Notwendigkeit beugen. Doch wie wir aus der Geschichte wissen, liegen die Gründe für den Untergang bedeutender Suprematsmächte nicht zuletzt in der Trägheit und Kurzsichtigkeit ihrer Verteidiger. Diejenigen, die daran glauben (…), dass das Griechische und Lateinische, so wie in der Vergangenheit auch in Zukunft weiterhin von unschätzbarem Nutzen für jede höhere menschliche Bildung sein können, haben daher die Pflicht, nachzuprüfen, ob die genannten Gründe existieren und wie sie sich umgehend beseitigen lassen. Denn wenn diese Fächer untergehen, gehen sie unter wie Luzifer. Auf eine zweite Renaissance können wir mit Sicherheit nicht hoffen.«
Wie Sie anhand des rhetorischen Stils schon gemerkt haben dürften, wurde der Text nicht erst gestern geschrieben (auch wenn man gestern in etwa dasselbe gehört haben könnte). Tatsächlich stammt er aus der Feder des Cambridger Latinisten J.P. Postgate, der im Jahr 1902 den Niedergang des Lateinischen und Griechischen beklagte – eine berühmte Klage, die in einer einflussreichen Londoner Zeitschrift (The Fortnightly Review) veröffentlicht wurde und einen so starken Eindruck hinterließ, dass im Vereinigten Königreich sogleich die Classical Association gegründet wurde, deren Absicht es war, Gleichgesinnte mit dem erklärten Ziel zusammenzubringen, die klassischen Sprachen zu retten.
Der springende Punkt ist, dass man solche Klagen oder Befürchtungen fast überall in der Geschichte der klassischen Tradition finden kann. Wie allgemein bekannt, rechtfertigte Thomas Jefferson im Jahr 1782 die große Bedeutung der klassischen Sprachen in seinem eigenen Erziehungscurriculum unter anderem mit den damaligen Verhältnissen in Europa: »Wie ich höre, kommt das Erlernen des Lateinischen und Griechischen in Europa außer Gebrauch. Ich weiß nicht, was ihre Sitten und Beschäftigungen erfordern: Aber es wäre von uns sehr unklug, ihrem Beispiel in diesem Punkt zu folgen.«
Das alles erscheint uns fast absurd, denn für uns sind dies Stimmen aus dem Goldenen Zeitalter des Studiums und der Kenntnis der klassischen Antike, der Epoche, die für uns verloren ist. Diese Stimmen erinnern jedoch eindrucksvoll an einen der wichtigsten Aspekte der Beschäftigung mit der Antike auf der symbolischen Ebene: jenes Bewusstsein vom drohenden Verlust und von der erschreckenden Fragilität unserer Verbindung mit der fernen Vergangenheit (die jederzeit abreißen kann). Wir fürchten die Barbaren vor den Toren und dass wir schlichtweg nicht in der Lage sind, das zu erhalten, was wir wertschätzen. Das heißt, Traktate über den Niedergang der alten Sprachen sind keine Kommentare zu diesem Verfall, sondern Debatten innerhalb dieser Entwicklung: Sie sind teilweise Ausdruck des Verlusts, der Sehnsucht und der Nostalgie, Gefühle, die beim Studium der klassischen Antike stets mitschwingen. Wie so häufig erfassen Schriftsteller dieses Gefühl deutlich genauer als die professionellen Altphilologen. Das Gefühl des Dahinschwindens, der Abwesenheit, des verlorenen Ruhms und einer vergangenen Ära ist eine sehr klare Botschaft von »The Browning Version«.
Ein anderer Aspekt der Zerbrechlichkeit wiederum ist ein wichtiges Thema in Tony Harrisons ungewöhnlichem Stück »The Trackers of Oxyrhynchus«, uraufgeführt im Jahr 1988. Gezeigt werden (in einem Teil der komplexen Handlung, in der Antikes und Modernes vermischt werden) zwei britische Altertumsforscher, die in den Müllhalden der ägyptischen Stadt Oxyrhynchos nach Papyrusfetzen graben, die womöglich »neue« Puzzleteile der klassischen Literatur enthalten oder wertvolle Einblicke in das alltägliche, ungeordnete, reale Leben der Antike ermöglichen. Doch alles, was man je findet, sind, wie Harrison betont, Fragmente aus antiken Papierkörben – und die Frustration und Enttäuschungen der Ausgrabung treiben einen der Archäologen in den Wahnsinn.
Die Wahrheit ist, dass die humanistische Bildung qua Definition dem Untergang geweiht ist. Selbst in der Epoche, die wir jetzt als Renaissance bezeichnen, feierten die Humanisten nicht die »Wiedergeburt« der antiken Kultur. Eher Harrisons »Spurensuchern« gleichend, unternahmen sie meist einen letzten verzweifelten Versuch, deren flüchtige und fragile Spuren vor dem Vergessen zu bewahren. Zumindest seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. gab es keine Generation mehr, die davon ausgegangen ist, dass sie die klassische Tradition mehr fördere als ihre Vorgänger. Aber hier gibt es natürlich auch eine positive Seite. Das Gefühl des drohenden Verlusts, die immerwährende Befürchtung, dass wir gerade dabei sein könnten, die antike Kultur vollständig zu verlieren, ist ausschlaggebend dafür, dass ihr – ob beim professionellen Studium oder bei der kreativen Wiederaneignung – die Energie und Spannung verliehen wird, die sie meiner Meinung nach noch immer besitzt.
Ich bin mir nicht sicher, ob uns das bei den Voraussagen über die Zukunft der alten Sprachen sehr viel weiterhilft, aber ich vermute, dass sich die Menschen im Jahr 2111 noch immer mit ihnen befassen werden, intensiv und kreativ, dass sie weiterhin über ihren Niedergang klagen und wahrscheinlich auf uns als ein Goldenes Zeitalter der klassischen Studien zurückschauen werden.
Aber die Frage bleibt: Was verstehen wir unter »Classics«? Ich bin mir bewusst, dass ich fast ebenso inkonsequent bin wie diejenigen, die ich kritisiert habe. Manchmal habe ich mich auf Latein und Griechisch bezogen, manchmal auf ein Fach, das von Leuten studiert wird, die sich selbst als Altertumswissenschaftler oder Althistoriker bezeichnen, manchmal auf ein allgemeineres Kulturgut (den Stoff von Filmen, Romanen und Gedichten). Nun sind Definitionen jedoch häufig »falsche Freunde«. Die elegantesten und ansprechendsten neigen oft dazu, zu viel auszuschließen; die gescheitesten und umfassendsten sind so gescheit, dass sie auf nicht eben hilfreiche Weise fade sind (ein neuerer Versuch, »Classics« zu definieren, lautet: »das Studium der – im weitesten Sinne verstandenen – Kultur jedes Volkes, das Griechisch und Latein verwendet, von ihrem Beginn bis [sagen wir mal] zu den islamischen Invasionen des 7. Jahrhunderts n. Chr.«. Schon richtig, aber …).
Ich werde keine Alternative entwerfen. Doch ich möchte sehr wohl über mögliche Koordinaten einer Definition reflektieren – über eine Schablone, die beim Nachdenken über die Bedeutung von »Classics« hilfreich sein könnte, und darüber, worin ihre Zukunft bestehen mag. Meines Erachtens müssen wir, um es ganz einfach auszudrücken, über die oberflächlich gesehen plausible Vorstellung (die der gerade zitierten Definition zugrunde liegt) hinausgehen, dass die »Classics« die Literatur, Kunst, Kultur, Geschichte, Philosophie und Sprache der antiken Welt sind oder sich damit befassen. Natürlich trifft das in Teilen zu. Das von mir beschriebene Gefühl von Verlust und Sehnsucht bezieht sich bis zu einem gewissen Grad auf die Kultur der fernen Vergangenheit, auf die Papyrusfragmente aus den Papierkörben von Oxyrhynchos. Aber das ist nicht alles. Wie die nostalgische Rhetorik unmissverständlich klarmacht, gilt das Gefühl von Verlust und Sehnsucht auch unseren Vorgängern, deren Verbindungen mit der antiken Welt, die, wie wir oft glauben, so viel enger waren als die unseren.
Um es so knapp wie möglich auszudrücken: Das Studium der Antike beschäftigt sich mit dem, was im Zeitraum zwischen der Antike und uns heute geschieht. Es ist nicht nur der Dialog, den wir mit der Kultur der klassischen Welt führen. Es ist auch der Dialog mit denen, die uns vorausgegangen sind, die selbst im Dialog mit der klassischen Welt gestanden haben (seien es Dante, Raffael, William Shakespeare, Edward Gibbon, Pablo Picasso, Eugene O’Neill oder Terence Rattigan). Die Beschäftigung mit der Antike bedeutet (wie Autoren des 2. Jahrhunderts n. Chr. bereits erkannt hatten) eine Folge von »Dialogen mit den Toten«. Doch zu den Toten gehören nicht nur diejenigen, die vor 2000 Jahren gestorben sind. Dieser Gedanke kommt in einem anderen Artikel in The Fortnightly Review treffend zur Sprache, nämlich in einer 1888 erschienenen Satire, einem in der Unterwelt spielenden Sketch, bei dem ein Trio namhafter Altertumswissenschaftler (die seit langem toten Bentley und Porson sowie ihr kürzlich verstorbener dänischer Kollege Madvig) frei und offen mit Euripides und Shakespeare diskutiert. Die kleine Satire erinnert uns daran, dass die einzigen Sprecher in diesem Dialog wir selbst sind; wir sind es, die als Bauchredner auftreten und den Alten eingeben, was sie sagen sollen: Tatsächlich beklagen sich die Altertumsforscher über die schreckliche Zeit, die sie im Hades verbringen; wo sie ständig von den antiken Schatten beschimpft werden, die sich darüber beschweren, dass sie von den Altphilologen falsch verstanden werden.
Daraus folgen zwei ganz einfache Dinge. Erstens, dass wir mit Behauptungen über die klassische Welt viel vorsichtiger sein sollten, als wir es häufig sind – oder zumindest dass wir uns deutlicher bewusst sein sollten, um wessen Behauptungen es sich dabei handelt. Nehmen wir beispielsweise die gängige Feststellung »Die alten Athener haben die Demokratie erfunden«. So formuliert ist sie schlichtweg falsch. Soweit wir wissen, hat kein alter Grieche jemals so etwas behauptet; und in jedem Fall ist Demokratie nicht etwas, das man wie einen Kolbenmotor »erfindet«. Unser Wort »Demokratie« kommt aus dem Griechischen, das ist richtig. Ansonsten haben wir den Athenern des 5. Jahrhunderts den Status »Erfinder der Demokratie« verliehen; wir haben unseren Wunsch nach einem Ursprung auf sie projiziert. (Und vor 200 Jahren hätte diese Projektion unsere Vorgänger in Erstaunen versetzt – denn für die meisten von ihnen war die Politik Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. der Prototyp einer verheerenden Herrschaft des Pöbels.)
Der zweite Punkt ist das unauslöschliche Eingewobensein der klassischen Tradition in die westliche Kultur. Ich will damit nicht sagen, dass klassisches Altertum und westliche Kultur Synonyme sind. Natürlich gibt es viele andere, multikulturelle Stränge und Traditionen, auf die wir unser Augenmerk richten müssen, die definieren, wer wir sind, und ohne die unsere heutige Welt unermesslich ärmer wäre. Tatsache jedoch ist, dass Dante Vergils »Aeneis« gelesen hat, nicht das Gilgamesch-Epos. Was ich hier bislang herausgestellt habe, ist, dass wir uns mit unseren Vorgängern beschäftigen auf Grundlage von deren Beschäftigung mit den antiken Autoren. Das Ganze bekäme einen leicht anderen Akzent, wenn man sagte, dass es unmöglich wäre, heute Dante zu verstehen ohne Vergil, John Stuart Mill ohne Platon, Donna Tarrt ohne Euripides und Rattigan ohne Aischylos. Ich bin nicht sicher, ob dies so sein wird. Aber wenn wir die Klassiker von der modernen Welt amputieren sollten, würde dies, glaube ich, mehr bedeuten als einige Universitätsinstitute zu schließen und die lateinische Grammatik auf den Schrotthaufen zu werfen. Es würde blutige Wunden reißen im Zentrum der westlichen Kultur – und zu einer dunklen Zukunft voller Missverständnisse führen. Ich habe Bedenken, diesen Weg zu gehen.
Mit zwei Dingen möchte ich schließen: mit einer etwas nüchternen Bemerkung über Kenntnisse und Kompetenzen und mit einer, die eher etwas feierlicher ist.
Zunächst zu den Kenntnissen: Ich habe mehrmals darauf hingewiesen, dass wir die alten Griechen und Römer zum Sprechen bringen und ihre Schriften und die von ihnen hinterlassenen materiellen Spuren zum Leben erwecken müssen. Unser Dialog mit ihnen ist nicht gleichberechtigt. Wir haben die Kontrolle. Wenn es jedoch ein nützlicher und konstruktiver Dialog werden soll, kein unverständliches und letztlich sinnloses babylonisches Sprachengewirr, dann muss er auf sehr gute Kenntnisse der antiken Welt und der antiken Sprachen gegründet sein. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass alle Latein und Griechisch lernen sollten (so wie ich auch nicht sagen will, dass man von Dante nichts hat, wenn man Vergil nicht gelesen hat). Kulturelles Verständnis ist glücklicherweise ein gemeinschaftliches und soziales Unterfangen.
In kultureller Hinsicht ist es wichtig, dass zumindest einige Leute Vergil und Dante gelesen haben. Anders gesagt: Die allgemeine Stärke der humanistischen Bildung sollte man nicht an der genauen Zahl der Jugendlichen messen, die in der Schule oder an der Universität Latein und Griechisch gelernt haben. Sie lässt sich besser an der Frage messen, wie viele Leute davon überzeugt sind, dass es auf der Welt Menschen geben sollte, die Latein und Griechisch können, und wie viele Leute denken, dass solche Kompetenzen ernst genommen werden sollten – und letztlich lohnenswert sind.
Was mich besorgt, ist, dass es zwar noch immer eine enorme und breite Begeisterung für die antike Kultur gibt, die vorhandenen Kenntnisse in dem von mir beschriebenen Sinn aber eher zu wünschen übrig lassen. Christopher Logue konnte kein Griechisch, als er die »Ilias« in Angriff nahm. Er war jedoch sehr gut bekannt mit einem Mann, der es beherrschte – Donald Carne-Ross, der später Professor für Altertumswissenschaften an der Universität von Boston wurde. Wenn man jene Zusammenarbeit damit vergleicht, wie selbst in wichtigen Publikationen in an die Altertumswissenschaften angrenzenden akademischen Fächern (etwa in Kunstgeschichte oder Englisch) verfahren wird, findet man immer wieder von Druckfehlern wimmelndes, konfuses und falsch übersetztes Latein und Griechisch. Ich werfe den Autoren ihre fehlenden Sprachkenntnisse nicht vor; das ist nicht das Problem. Was ich ihnen allerdings vorwerfe, ist, dass sie nicht auf die Idee kommen, sich von jemandem, der kompetent ist, helfen und korrigieren zu lassen. Die vielleicht größte Ironie dabei ist, dass in meiner eigenen Neuausgabe von Rattigans »Browning Version« die für das Stück zentralen griechischen Passagen so viele Druckfehler enthalten, dass sie kaum einen Sinn ergeben. Crock würde sich im Grabe umdrehen. Oder mit meinen Worten: Mit Unsinn kann man keinen Dialog führen.
2000