Ready Player One

Ernest Cline

Ready Player One

Roman

Aus dem Amerikanischen von Hannes und Sara Riffel

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Ernest Cline

Ernest Cline ist international erfolgreicher Roman- und Drehbuchautor, Vater und Vollzeit-Geek. Er ist Verfasser der Romane »Ready Player One« und »Armada« und hat am Drehbuch für Steven Spielbergs Verfilmung von »Ready Player One« mitgearbeitet. Seine Bücher wurden in über 50 Ländern veröffentlicht und standen mehr als 100 Wochen auf der »New York Times«-Bestsellerliste, einige Wochen lang auf Platz eins. Zusammen mit seiner Familie - sowie einer großen Sammlung klassischer Videospiele und einem DeLorean mit eingebautem Fluxkompensator - lebt er in Austin, Texas.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Im Jahr 2045 ist die Welt ein hässlicher Ort: Die Erdölvorräte sind aufgebraucht, ein Großteil der Bevölkerung lebt in Armut. Einziger Lichtblick ist die OASIS, eine virtuelle Ersatzwelt, in der man leben, arbeiten, zur Schule gehen und spielen kann. Die OASIS ist ein ganzes Universum, es gibt Tausende von Welten, von denen jede ebenso einzigartig wie phantasievoll ist. Und sie hat ein Geheimnis.

Der exzentrische Schöpfer der OASIS hat tief im virtuellen Code einen Schatz vergraben, und wer ihn findet, wird seinen gesamten Besitz erben – zweihundertvierzig Milliarden Dollar. Eine Reihe von Rätseln weist den Weg, doch der Haken ist: Niemand weiß, wo die Fährte beginnt. Bis Wade Watts, ein ganz normaler Junge, der am Stadtrand von Oklahoma City in einem Wohnwagen lebt, den ersten wirklich brauchbaren Hinweis findet. Die Jagd ist eröffnet …

 

»Originell und äußerst einfallsreich.« Entertainment Weekly

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel ›Ready Player One‹ bei The Crown Publishing Group.

 

© 2015 by Dark All Day, Inc.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einer Idee von Christopher Brand

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490194-7

Fußnoten

Eine sorgfältige Analyse dieser Szene zeigt, dass sämtliche Teenager hinter Halliday in Wirklichkeit Statisten aus verschiedenen Teeniefilmen von John Hughes sind, die digital ausgeschnitten und in das Video eingepasst wurden.

Seine Umgebung entstammt einer Szene aus dem Film Heathers. Offenbar hat Halliday die Kulisse des Bestattungsinstituts digital nachgebaut und sich selbst hineinmontiert.

Betrachtet man die Münzen mit hoher Auflösung, kann man erkennen, dass beide 1984 geprägt wurden.

Bei den Trauergästen handelt es sich um Schauspieler und Statisten aus der in ebendiesem Bestattungsinstitut spielenden Szene aus Heathers. Winona Ryder und Christian Slater sind deutlich zu erkennen – sie sitzen weiter hinten im Raum.

Halliday sieht jetzt genauso aus wie auf einem Schulfoto, das 1980 aufgenommen wurde, als er acht Jahre alt war.

Genaue Analysen haben gezeigt, dass sich unter den Schatzhaufen Dutzende der seltsamsten Gegenstände verbergen, zum Beispiel mehrere frühe Heimcomputer (ein Apple IIe, ein Commodore 64, ein Atari 800XL und ein TRS-80 Color Computer 2), eine Reihe von Controllern für die unterschiedlichsten Systeme und Hunderte von vielflächigen Würfeln, wie sie bei den alten Strategie- und Rollenspielen verwendet wurden.

Das Standbild dieser Szene sieht dem von Jeff Easley gemalten Titelbild des Dungeon Master’s Guide – einem Dungeons-&-Dragons-Regelwerk aus dem Jahr 1983 – zum Verwechseln ähnlich.

 

Denn für den Ort,

an den wir gehen,

gibt es keine Karte

Jeder in meinem Alter erinnert sich daran, wo er war und was er gerade getan hat, als er zum ersten Mal von dem Wettbewerb hörte. Ich saß in meinem Versteck und schaute Zeichentrickfilme, als mir der Newsfeed dazwischenfunkte: In der vergangenen Nacht war James Halliday gestorben.

Natürlich wusste ich, wer Halliday war. Jeder wusste das. Er hatte das Massively Multiplayer Online Game OASIS entwickelt, ein Computerspiel, aus dem nach und nach eine global vernetzte Virtuelle Realität hervorgegangen war, die von den meisten Menschen tagtäglich genutzt wurde. Der beispiellose Erfolg der OASIS hatte Halliday zu einem der reichsten Menschen der Welt gemacht.

Anfangs verstand ich nicht, warum die Medien ein solches Theater um den Tod des Milliardärs machten. Schließlich hatten die Bewohner des Planeten Erde andere Sorgen. Die anhaltende Energiekrise. Der katastrophale Klimawandel. Hungersnöte, Armut und Krankheit. Ein halbes Dutzend Kriege. Sie wissen schon: »Vierzig Jahre Dunkelheit, Erdbeben, Vulkanausbrüche. Die Toten erheben sich. Menschenopfer. Hunde und Katzen leben miteinander. Massenhysterie!« Normalerweise werden die Leute in Ruhe gelassen, wenn sie vor ihren interaktiven Sitcoms oder Soaps sitzen, außer es ist wirklich etwas Wichtiges passiert. Wenn zum Beispiel ein neuer Killervirus entdeckt wurde oder sich wieder eine Großstadt unter einem Atompilz in Asche verwandelt hat. Schwerwiegende Dinge eben. Halliday war zwar berühmt gewesen, aber sein

Aber genau hier wurde es spannend. James Halliday hatte keine Erben.

Bei seinem Tod war er siebenundsechzig Jahre alt gewesen und Junggeselle, ohne lebende Verwandte und, dem Vernehmen nach, auch ohne Freunde. Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens hatte er in völliger Zurückgezogenheit verbracht, und wenn man den Gerüchten glauben konnte, war er in dieser Zeit völlig verrückt geworden.

Kein Wunder also, dass den Leuten an jenem Januarmorgen von Toronto bis Tokio die Kinnlade runterklappte, als bekanntwurde, was Halliday in seinem Testament verfügt hatte!

Halliday hatte eine kurze Videobotschaft vorbereitet, die nach seinem Tod auf der ganzen Welt ausgestrahlt werden sollte. Außerdem hatte er dafür gesorgt, dass jedem OASIS-Nutzer an ebendiesem Morgen per Mail eine Kopie dieses Videos zugestellt wurde. Ich kann mich noch gut an den wohlvertrauten Klingelton erinnern, als die Mail in meinem Posteingang landete, nur wenige Sekunden, nachdem ich die Nachricht im Fernsehen gesehen hatte.

Bei der Videobotschaft handelte es sich genau genommen um einen unglaublich raffinierten Kurzfilm mit dem Titel Anoraks Einladung. Exzentrisch, wie Halliday war, hatte er sein ganzes Leben lang eine Obsession für die 1980er gehegt, jenes Jahrzehnt, in dem er ein Teenager gewesen war, und in Anoraks Einladung wimmelte es nur so von obskuren popkulturellen Anspielungen, die ich zum Großteil gar nicht mitbekam, als ich den Film zum ersten Mal sah.

 

Anoraks Einladung beginnt mit Trompetenstößen, den ersten Takten eines alten Songs mit dem Titel »Dead Man’s Party«.

Während der ersten Sekunden ist nur die Musik zu hören, der Bildschirm bleibt noch schwarz, bis die Gitarren einsetzen. Dann taucht Halliday auf. Aber er ist kein siebenundsechzigjähriger Mann und auch nicht krank. Er sieht genauso aus wie auf dem Time-Cover, damals, im Jahr 2014 – ein großgewachsener, schlanker, gesunder Mann Anfang vierzig, mit zerzaustem Haar und der für ihn typischen Hornbrille. Er trägt sogar dieselben Kleider wie auf dem Time-Foto: ausgeblichene Jeans und ein klassisches Space-Invaders-T-Shirt.

Halliday befindet sich auf einer Highschoolparty, die in einer großen Turnhalle stattfindet, umgeben von Teenagern, deren Kleider, Frisuren und Bewegungen nahelegen, dass die Aufnahmen in den späten 1980ern gemacht wurden.[1] Auch Halliday tanzt – dabei hatte niemand ihn je tanzen sehen. Mit einem manischen Grinsen dreht er sich rasant im Kreis, schlenkert mit den Armen und wackelt mit dem Kopf, immer im Takt der Musik. Er hat es drauf und vollführt einige für die

In der linken unteren Ecke erscheinen wie bei einem alten MTV-Video kurz ein paar Textzeilen – der Name der Band, der Songtitel, die Plattenfirma und das Erscheinungsjahr: Oingo Boingo, »Dead Man’s Party«, MCA Records, 1985.

Als der Gesang einsetzt, bewegt Halliday synchron dazu die Lippen, wobei er sich weiter um die eigene Achse dreht: »All dressed up with nowhere to go. Walking with a dead man over my shoulder. Don’t run away, it’s only me …«

Unvermittelt hört Halliday auf zu tanzen, und als er mit der rechten Handkante durch die Luft fährt, bricht auch die Musik ab. Im selben Moment verschwinden die Tänzer und die Turnhalle hinter ihm, und die Kulisse wechselt schlagartig.

Jetzt steht Halliday in einem Bestattungsinstitut, unmittelbar neben einem offenen Sarg.[2] Darin liegt ein zweiter, weit älterer Halliday. Der Leichnam ist ausgemergelt und vom Krebs gezeichnet. Auf seinen Augen liegen blanke Vierteldollarmünzen.[3]

Der jüngere Halliday blickt mit gespielter Traurigkeit auf den Leichnam seines älteren Ichs hinab und wendet sich dann den versammelten Trauergästen zu.[4] Er schnippt mit den Fingern, und plötzlich hält er eine Schriftrolle in der rechten Hand. Mit

»Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und aus freiem Willen erkläre ich, James Donovan Halliday, hiermit vor Zeugen, dass dies mein Testament und Letzter Wille ist, womit sämtliche Testamente und Nachträge, die bereits existieren mögen, ihre Wirkung verlieren …« Er liest weiter, immer schneller und schneller, ackert sich durch mehrere Absätze Juristenjargon, bis er so schnell spricht, dass man ihn nicht mehr versteht. Dann verstummt er unvermittelt. »Vergessen wir das«, sagt er. »Sogar bei diesem Tempo würde es einen Monat dauern, das Ding komplett vorzulesen. Bedauerlicherweise habe ich nicht so viel Zeit.« Er lässt die Schriftrolle fallen, und sie verschwindet in einer Wolke aus Goldstaub. »Beschränken wir uns auf das Wesentliche.«

Das Bestattungsinstitut verschwindet, und es erscheint eine neue Kulisse. Jetzt steht Halliday vor einer gewaltigen Tresortür. »Mein gesamter Besitz, einschließlich einer Mehrheitsbeteiligung an meiner Firma, Gregarious Simulation Systems, wird unter Treuhandverwaltung gestellt, bis eine bestimmte Bedingung erfüllt ist, die ich in meinem Testament genau definiert habe. Die erste Person, die diese Bedingung erfüllt, wird mein gesamtes Vermögen erben, das derzeit auf über zweihundertvierzig Milliarden Dollar veranschlagt wird.«

Die Tresortür schwingt auf, und Halliday tritt hindurch. Der Tresorraum ist riesig. In seinem Inneren türmen sich Goldbarren zu einem Block von der Größe eines Mehrfamilienhauses. »Hier ist die Kohle, um die es geht«, sagt Halliday mit einem breiten Grinsen. »Was soll’s? Schließlich kann ich nichts davon mitnehmen, oder?«

Halliday schnippt wieder mit den Fingern, und der Tresorraum verschwindet. Im selben Augenblick schrumpft Halliday und verwandelt sich in einen kleinen Jungen, der braune Cordhosen und ein Muppet-Show-T-Shirt trägt.[5] Der junge Halliday steht in einem unaufgeräumten Wohnzimmer mit einem leuchtend orangefarbenen Teppich, holzvertäfelten Wänden und einem kitschigen 70er-Jahre-Dekor. Neben ihm steht ein 21 Zoll großer Zenith-Fernseher, an den ein Atari 2600 angeschlossen ist.

»Das war meine erste Spielekonsole«, sagt Halliday mit Kinderstimme. »Ein Atari 2600. Den habe ich 1979 zu Weihnachten bekommen.« Er hockt sich vor den Atari, greift nach dem Joystick und beginnt zu spielen. »Und das war mein Lieblingsspiel«, sagt er und weist mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm, wo sich ein kleines Quadrat durch eine Folge einfacher Labyrinthe bewegt. »Es hieß Adventure. Wie viele frühe Videospiele wurde Adventure von einer einzigen Person entwickelt und programmiert. Damals nannte Atari seine Programmierer jedoch nicht, so dass der Name des Spieleerfinders nirgendwo auf der Verpackung erscheint.« Auf dem Fernsehschirm sehen wir, wie Halliday mit Hilfe eines Schwerts einen roten Drachen tötet; was aufgrund der primitiven Graphik und der niedrigen

»Also hat der Typ, der Adventure erfunden hat, ein Mann namens Warren Robinett, sich in dem Spiel selbst verewigt. In eines der Labyrinthe des Spiels hat er einen Schlüssel eingeschmuggelt. Wenn man diesen Schlüssel entdeckte – einen kleinen grauen Punkt von der Größe eines einzigen Pixels –, konnte man damit in einen geheimen Raum gelangen, in dem Robinett seinen Namen versteckt hatte.« Auf dem Bildschirm steuert Halliday seinen quadratischen Protagonisten in diesen geheimen Raum. In der Mitte des Bildschirms erscheinen die Wörter CREATED BY WARREN ROBINETT.

»Das«, sagt Halliday und deutet ehrfürchtig auf den Bildschirm, »war das allererste Easter Egg in einem Videospiel. Robinett versteckte es im Quellcode des Spiels, ohne einer Menschenseele davon zu erzählen. Und Atari produzierte Adventure und verschickte es in die ganze Welt, ohne von diesem geheimen Raum zu wissen. Erst Monate später fanden sie heraus, dass dieses Easter Egg überhaupt existierte, gleichzeitig mit den Kids, die das Spiel spielten. Ich war eins dieser Kinder, und als ich Robinetts Osterei das erste Mal entdeckte, war das eines der coolsten Videospiel-Erlebnisse meines ganzen Lebens.«

Der junge Halliday lässt den Joystick los und steht auf. Während er das tut, verblasst das Wohnzimmer, und die Kulisse verändert sich erneut. Halliday steht jetzt im Halbdunkel einer Höhle; das flackernde Licht von Fackeln, die sich außerhalb des Blickfeldes befinden, wird von den feuchten Wänden zurückgeworfen. Im selben Augenblick nimmt auch Halliday wieder eine andere Gestalt an – er verwandelt sich in seinen berühmten OASIS-Avatar Anorak, einen hochgewachsenen Zauberer. Sein Gesicht ist das von Halliday, wenn auch ein

»Vor meinem Tod«, sagt Anorak mit einer viel tieferen Stimme, »habe ich selbst ein Easter Egg in meinem beliebtesten Videospiel versteckt – in der OASIS. Wer mein Osterei als Erster findet, erbt mein ganzes Vermögen.«

Eine weitere dramatische Pause.

»Das Ei ist allerdings gut versteckt. Ich habe es nicht einfach unter irgendeinen Stein gelegt. Man könnte sogar sagen, es ist in einem Tresor eingeschlossen, der in einem geheimen Raum vergraben ist, der wiederum mitten in einem Labyrinth verborgen ist, das sich irgendwo« – er tippte sich gegen die rechte Schläfe – »hier befindet. Aber keine Sorge. Ich habe ein paar Hinweise hinterlassen, damit jeder weiß, wo’s losgeht. Und hier ist der erste.«

Anorak macht mit der rechten Hand eine theatralische Geste. Drei Schlüssel erscheinen und drehen sich langsam vor ihm in der Luft. Allem Anschein nach bestehen sie aus Kupfer, Jade und durchsichtigem Kristall. Während die Schlüssel sich drehen, sagt Anorak ein paar Gedichtzeilen auf, die jeweils kurz als flammende Untertitel am unteren Rand des Bildschirms sichtbar werden:

Drei Schlüssel öffnen der Tore drei,

Und wer sich als würdig erweist dabei,

Muss alsbald auf sein Geschick sich besinnen,

Will er das »Ende« erreichen und den Preis gewinnen.

Die beiden Schlüssel aus Jade und Kristall verschwinden, und nur der Kupferschlüssel bleibt zurück – Anorak trägt ihn nun an einer Kette um den Hals.

Anorak stößt die beiden Türen auf. Dahinter kommt eine riesige Schatzkammer zum Vorschein, in der sich ganze Berge funkelnder Goldmünzen und mit Edelsteinen besetzter Kelche auftürmen.[6] Dann tritt er in den offenen Durchgang, wendet sich dem Zuschauer zu und streckt die Arme aus, um die beiden riesigen Türflügel aufzuhalten.[7]

»Lange Rede, kurzer Sinn«, ruft Anorak aus. »Möge die Jagd auf Hallidays Easter Egg beginnen!« Ein Blitz zuckt herab, und er verschwindet. Durch die Tür sind noch eine Weile die funkelnden Schätze zu sehen.

Dann wird der Bildschirm schwarz.

 

Es folgte ein Link auf seine private Internetseite, die sich am Morgen seines Todes drastisch verändert hatte. Seit über

Doch diese Animation war nun verschwunden, und an ihrer Stelle befand sich eine Highscore-Liste, wie sie früher bei den Automatenspielen in den Spielhallen üblich gewesen war. Die Liste umfasste zehn nummerierte Plätze, und auf jedem standen die Initialen JDH – James Donovan Halliday – und dahinter eine Punktzahl mit sechs Nullen. Die Liste wurde bald als »Scoreboard« bekannt.

Direkt unter dem Scoreboard befand sich ein Icon, das wie ein kleines, in Leder gebundenes Buch aussah. Von dort führte ein Link zu Anoraks Almanach, den man kostenlos herunterladen konnte – einer Sammlung Hunderter undatierter Tagebucheinträge Hallidays. Der Almanach bestand aus über tausend Seiten Text, aber er verriet so gut wie nichts über Hallidays Privatleben. Die meisten Einträge waren hingeworfene Bemerkungen über verschiedene Videospielklassiker, Science-Fiction- und Fantasy-Romane, Filme, Comicserien und die Popkultur der 80er Jahre oder gelegentlich eingestreute humorvolle Tiraden, die sich mit allem Möglichen beschäftigten, von organisierter Religion bis zu Diätlimonade.

Die »Jagd«, wie der Wettbewerb schließlich genannt wurde, wurde innerhalb kürzester Zeit ein fester Bestandteil der globalen Kultur. Hatten Erwachsene und Kinder früher davon geträumt, in der Lotterie zu gewinnen, träumten sie jetzt davon, Hallidays Easter Egg zu finden. An diesem Spiel konnte sich

Eine neue Subkultur war geboren, bestehend aus Millionen von Menschen, die ihre gesamte Freizeit darauf verwendeten, nach Hallidays Osterei zu suchen. Anfangs wurden diese Leute einfach als »Egg-Hunter« – Eijäger – bezeichnet, später wurden sie jedoch fast nur noch »Jäger« genannt.

Im ersten Jahr der Jagd war es schick, ein Jäger zu sein, und fast jeder OASIS-Nutzer nahm das für sich in Anspruch.

Doch als sich Hallidays Tod das erste Mal jährte, begann sich die Leidenschaft, mit der die Leute dem Easter Egg nachjagten, allmählich zu legen. Ein ganzes Jahr war vergangen, und niemand hatte etwas gefunden. Keinen einzigen Schlüssel, keine einzige Tür. Ein Teil des Problems war die schiere Größe der OASIS. Die Schlüssel konnten in Tausenden simulierter Welten verborgen sein, und ein Jäger konnte Jahre damit zubringen, auch nur eine von ihnen zu durchsuchen.

Obwohl einige »professionelle« Jäger auf ihren Blogs behaupteten, sie kämen dem Durchbruch mit jedem Tag näher, ließ sich die Wahrheit auf Dauer nicht verleugnen: Niemand

Ein weiteres Jahr verstrich.

Und ein weiteres.

Und noch eines.

Die Allgemeinheit verlor das Interesse an dem Wettbewerb. Manche Leute kamen zu dem Schluss, dass sich irgendein verrückter Reicher einen Jux erlaubt hatte. Andere glaubten, dass niemand das Ei jemals finden würde, selbst wenn es wirklich existierte. Unterdessen entwickelte sich die OASIS immer weiter und wurde immer beliebter. Gegen Übernahmeversuche und juristische Anfechtungen wurde sie durch Hallidays hieb- und stichfestes Testament und eine Armee fanatischer Anwälte geschützt, die er mit der Aufgabe betraut hatte, sein Vermögen zu verwalten.

Hallidays Easter Egg wurde mit der Zeit zu so etwas wie einer urbanen Legende, und die schwindende Zahl der Jäger war zunehmend der Lächerlichkeit preisgegeben. Wenn sich Hallidays Todesjahr wieder einmal jährte, berichteten Nachrichtensprecher spöttisch, dass niemand auch nur einen Schritt weitergekommen sei. Und jedes Jahr schmissen mehr Jäger ihre Tastatur hin, weil sie zu dem Schluss gekommen waren, dass Hallidays Ei tatsächlich unauffindbar war.

Ein weiteres Jahr verstrich.

Und noch eines.

Und dann, am Abend des 11. Februar 2045, erschien der Name eines Avatars auf dem ersten Platz des Scoreboards, und die ganze Welt konnte ihn lesen. Nach fünf langen Jahren war der Kupferschlüssel endlich gefunden worden, und zwar von einem achtzehn Jahre alten Jungen, der am Stadtrand von Oklahoma City in einem Trailerpark lebte.

Dieser Junge war ich.

Es ist wirklich ätzend, ein Mensch zu sein,

meistens jedenfalls.

Videospiele sind das Einzige,

was das Leben erträglich macht.

ANORAKS ALMANACH, KAPITEL 91, VERSE 12

Ich wurde von Schüssen aus dem Schlaf gerissen. Irgendwer da draußen rief etwas, ein paar gedämpfte Schreie ertönten, und dann herrschte wieder Stille.

Hier in den Stacks war das nichts Ungewöhnliches, aber mir setzte das trotzdem ziemlich zu. Ich wusste, dass ich wahrscheinlich nicht mehr würde einschlafen können, also beschloss ich, mir die Zeit mit ein paar Spielhallen-Klassikern zu vertreiben. Galaga, Defender, Asteroids. Digitale Dinosaurier, die schon lange vor meiner Geburt museumsreif gewesen waren. Aber ich war ein Jäger, also waren sie für mich keine Kuriositäten aus grauer Vorzeit, sondern geheiligte Artefakte, tragende Säulen meines Pantheons. Wenn ich die Klassiker spielte, tat ich das voller Ehrfurcht.

Ich hatte mich in einer Ecke der winzigen Wäschekammer des Wohnwagens, eingekeilt zwischen Wand und Trockner, in einem alten Schlafsack zusammengerollt. Im Zimmer meiner Tante auf der anderen Seite des Flurs war ich nicht willkommen, doch das war mir nur recht. Ich schlief sowieso lieber in der Wäschekammer. Hier war es warm, ich war einigermaßen für mich, und der Empfang war ganz in Ordnung. Außerdem roch es angenehm nach Flüssigwaschmittel und Weichspüler. Ansonsten stank es in dem Wohnwagen überall nach Katzenpisse und bitterer Armut.

Die meiste Zeit schlief ich in meinem Versteck. Aber in den letzten Nächten war die Temperatur unter null Grad gesunken, und sosehr es mir zuwider war, mich im Trailer meiner

Hier lebten insgesamt fünfzehn Leute. Tante Alice schlief im kleinsten der drei Zimmer. Die Depperts wohnten direkt neben ihr, und die Millers hatten das größte Zimmer am Ende des Flurs. Sie waren zu sechst, und sie bezahlten den größten Teil der Miete. Unser Wohnwagen war nicht so überfüllt wie manche andere. Immerhin handelte es sich um ein übergroßes Modell, es gab genug Platz für alle.

Ich kramte meinen Laptop hervor und fuhr ihn hoch – ein ziemlich unhandliches, schweres Teil, fast zehn Jahre alt. Ich hatte ihn in einem Müllcontainer hinter einem verlassenen Einkaufszentrum auf der anderen Seite der Autobahn gefunden. Um ihn wieder zum Laufen zu bringen, hatte ich bloß den Arbeitsspeicher austauschen und das steinzeitliche Betriebssystem neu draufspielen müssen. Nach heutigen Standards war der Prozessor langsamer als ein Faultier, aber für meine Bedürfnisse reichte es. Der Laptop diente mir als tragbare Bibliothek, Spielhalle und Heimkino. Die Festplatte war randvoll mit alten Büchern, Filmen, Fernsehserien und Musikdateien. Außerdem besaß ich fast jedes Computerspiel, das im 20. Jahrhundert geschrieben worden war.

Ich startete den Emulator und klickte Robotron: 2084 an, eines meiner absoluten Lieblingsspiele. Das hektische Tempo und die brutale Schlichtheit hatten mir schon immer gefallen. Bei Robotron ging es fast nur um Instinkt und Reflexe. Wenn ich mich in ein altes Videospiel vertiefte, bekam ich immer einen klaren Kopf. Wenn ich deprimiert war, musste ich nur auf Player One drücken, und sobald ich mich auf das unerbittliche Bombardement der Pixel auf dem Bildschirm vor mir konzentrierte, lösten sich all meine Sorgen augenblicklich in Luft auf. Hier, in dem zweidimensionalen Universum der

Ich verbrachte einige Stunden damit, böse Roboter zu killen, schließlich musste ich unbedingt »die letzte Menschenfamilie retten«. Irgendwann bekam ich jedoch einen Krampf in den Fingern und geriet aus dem Takt. Wenn einem das in den höheren Leveln passiert, ging alles ratzfatz den Bach runter. Innerhalb von wenigen Minuten fackelte ich meine sämtlichen Leben ab, und dann erschienen die beiden Worte auf dem Bildschirm, die mir am meisten zuwider waren: GAME OVER.

Ich klickte den Emulator weg und stöberte in meinen Videodateien herum. Im Laufe der letzten fünf Jahre hatte ich jeden einzelnen Film, jede Fernsehserie und jeden Zeichentrickfilm runtergeladen, der in Anoraks Almanach erwähnt wird. Natürlich hatte ich mir noch nicht alles angeschaut. Dafür würde ich wahrscheinlich Jahrzehnte brauchen.

Ich wählte eine Folge von Familienbande aus, einer Sitcom aus den 80er Jahren über eine bürgerliche Familie, die in Ohio wohnt. Ich hatte mir die Serie besorgt, weil Halliday von ihr begeistert gewesen war – vielleicht war in einer der Folgen ja ein Hinweis versteckt, der etwas mit der Jagd zu tun hatte. Ich war sofort süchtig geworden, und inzwischen hatte ich mir alle 180 Folgen mehrmals angesehen. Irgendwie wurden sie mir nie langweilig.

Wenn ich so im Dunkeln saß und mir die Serie auf meinem Laptop anschaute, stellte ich mir oft vor, ich würde in diesem hell erleuchteten Haus wohnen und diese lächelnden, verständnisvollen Menschen seien meine Familie. Es gab kein Problem, das sich nicht innerhalb von einer halbstündigen Folge lösen ließ (oder innerhalb von einer Doppelfolge, wenn es mal wirklich ernst wurde).

Meine Mutter Loretta hat mich alleine großgezogen. Gewohnt haben wir in einem kleinen Wohnwagen in einem anderen Teil der Stacks. Sie hatte zwei Ganztagsjobs in der OASIS, einen als Telefonverkäuferin und einen als Hostess in einem Bordell. Deshalb musste ich auch immer Ohrenstöpsel tragen, damit ich nicht hörte, wie sie im Zimmer nebenan mit Freiern in anderen Zeitzonen redete. Allerdings taugten die Ohrenstöpsel nicht viel, also sah ich mir ständig alte Filme an, die Lautstärke voll aufgedreht.

Die OASIS kenne ich, solange ich denken kann, denn meine Mutter benutzte die virtuelle Welt als Babysitter. Kaum war ich alt genug, eine Videobrille und haptische Handschuhe zu tragen, half mir meine Mama, meinen ersten Avatar zu erschaffen. Dann setzte sie mich in irgendeine Ecke und wandte sich

Von da an wurde ich mehr oder minder von dem interaktiven Erziehungsprogramm der OASIS großgezogen, auf das jedes Kind kostenlosen Zugriff hatte. Einen großen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in einer Simulation der Sesamstraße, sang zusammen mit liebenswerten Muppets Lieder, spielte interaktive Spiele und lernte so laufen, reden, rechnen, lesen und schreiben sowie mit anderen zu teilen. Nachdem ich das alles konnte, brauchte ich nicht lange, bis ich herausfand, dass die OASIS außerdem die größte öffentliche Bibliothek der Welt war, wo sogar ein Kind, das keinen Cent besaß, Zugriff auf jedes Buch hatte, das je geschrieben worden war, und auch auf jeden Song, jeden Film, jede Fernsehserie, jedes Gemälde. Ob Wissen, Kunst oder Unterhaltung – mir stand alles zur Verfügung. Allerdings war das nicht immer nur ein Segen. Denn langsam öffnete mir die Lektüre die Augen, und ich begriff, was Sache war.

 

Natürlich macht nicht jeder die gleichen Erfahrungen. Aber für mich kam es einem Tritt in die Fresse gleich, im 21. Jahrhundert auf dem Planeten Erde aufzuwachsen. Existentiell gesprochen.

Das Schlimmste war, dass mir niemand erklärte, was wirklich los war. Im Gegenteil. Und natürlich glaubte ich jedes Wort, schließlich war ich nur ein Kind und wusste es nicht besser. Ich meine ja nur – mein Gehirn war noch im Wachstum begriffen, wie sollte ich da merken, dass ich von vorne bis hinten verarscht wurde?

Also schluckte ich den ganzen Schwachsinn. Jedenfalls für eine Weile. Als ich älter wurde, bekam ich langsam aber sicher

Eine äußerst beunruhigende Feststellung.

Mein Grundvertrauen in die Welt war von diesem Moment an, nun ja, angekratzt.

Die hässliche Wahrheit dämmerte mir allmählich, als ich begann, mich in den kostenlosen OASIS-Bibliotheken umzusehen. Ich las die alten Bücher, die von Leuten geschrieben worden waren, die keine Angst davor hatten, die Wahrheit auszusprechen. Künstler und Wissenschaftler, Philosophen und Dichter, viele von ihnen schon lange tot. Während ich ihre Worte verschlang, wurde mir nach und nach klar, was eigentlich los war. Was mit mir los war. Mit uns. Heilige Scheiße!

Ich wünschte, jemand hätte mich irgendwann beiseitegenommen und mir klar und deutlich die Wahrheit gesagt:

»Hör mal zu, Wade. Du bist das, was man als ›menschliches Wesen‹ bezeichnet. Das ist ein ziemlich kluges Tier. Wie alle anderen Tiere auf diesem Planeten stammen wir von einzelligen Organismen ab, die vor Millionen von Jahren lebten. Diesen Vorgang nennt man ›Evolution‹, und darüber wirst du später mehr erfahren. Aber glaub mir, das ist der Grund, weshalb wir jetzt hier sind. Beweise dafür gibt es jede Menge, meist in versteinerter Form, tief in der Erde vergraben. Diese andere Geschichte? Von wegen, irgend so ein allmächtiger Typ namens Gott, der oben im Himmel lebt, hätte uns erschaffen? Völliger Quatsch. Ein uraltes Märchen, das die Leute einander seit Tausenden von Jahren erzählen. Das haben wir erfunden. Wie den Weihnachtsmann und den Osterhasen. Tut mir leid, mein Junge, ist halt so. Musst du mit klarkommen.

Wahrscheinlich fragst du dich, was passiert ist, bevor du hier aufgetaucht bist. Ziemlich lange Geschichte. Nachdem wir uns erst mal zu Menschen entwickelt hatten, wurde es richtig

Tja, aber so glatt lief es dann doch nicht. Für unsere globale Zivilisation haben wir einen enorm hohen Preis bezahlt. Wir brauchten unglaublich viel Energie, und dafür haben wir jede Menge fossile Brennstoffe abgefackelt, die tief in der Erde vergraben waren. Der größte Teil davon war schon vor deiner Geburt aufgebraucht, und jetzt ist so ziemlich alles futsch. Weshalb wir nicht mehr genug Energie haben, um die Zivilisation auf dem bisherigen Niveau am Laufen zu halten. Also mussten wir uns einschränken. Und zwar nicht zu knapp. Das Ganze nennt sich ›Globale Energiekrise‹, und damit schlagen wir uns jetzt schon eine ganze Weile herum.

Wie sich herausstellte, hatte der exzessive Energieverbrauch auch ein paar unangenehme Nebenwirkungen. Die Temperatur auf unserem Planeten ist angestiegen, und die Natur hat darunter gelitten. Die Polkappen schmelzen, der

Um es kurz zu machen: Das Leben ist ein ganzes Stück härter geworden als früher, in der ›guten alten Zeit‹, bevor du auf die Welt gekommen bist. Da ging es uns wirklich verdammt gut, doch davon können wir heute nur noch träumen. Wenn ich ehrlich bin, sieht die Zukunft nicht eben vielversprechend aus. Du bist in eine ziemlich beschissene Zeit hineingeboren worden. Und ich vermute, alles wird noch schlimmer. Die menschliche Zivilisation befindet sich auf dem absteigenden Ast. Manche Leute reden sogar von einem Kollaps.

Wahrscheinlich fragst du dich, was dir bevorsteht. Das ist einfach. Das Gleiche wie allen anderen Menschen, die je gelebt haben. Du wirst sterben. Wir sterben alle. Das ist der Lauf der Dinge.

Was nach dem Tod kommt? Nun ja, so genau wissen wir das nicht. Aber alles spricht dafür, dass dann alles vorbei ist. Du bist tot, in deinem Gehirn wird’s zappenduster, und du hörst auf, nervige Fragen zu stellen. Die Geschichten, von wegen da gäbe es einen wundervollen Ort, der ›Himmel‹ heißt, wo kein Schmerz und kein Tod existieren und wo man in ewiger Glückseligkeit lebt? Völliger Quatsch. Wie der ganze andere Kram über Gott. Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass es so etwas wie einen Himmel geben könnte. Wir haben ihn einfach erfunden. Reines Wunschdenken. Du hast den ganzen Rest deines Lebens Zeit, dich damit abzufinden, dass du eines Tages sterben wirst und nichts von dir übrig bleibt.

Tut mir leid.«

 

Glücklicherweise hatte ich Zugang zur OASIS, was in etwa einer Rettungsluke in eine andere Welt gleichkam. Die OASIS hat mich davor bewahrt, den Verstand zu verlieren. Sie war mein Spielplatz und meine Vorschule, ein magischer Ort, an dem alles möglich war.

Die OASIS ist der Schauplatz meiner glücklichsten Kindheitserinnerungen. Wenn meine Mama nicht arbeiten musste, loggten wir uns gleichzeitig ein, spielten gemeinsam dasselbe Spiel oder liefen durch ein interaktives Bilderbuchabenteuer. Abends musste sie mich zwingen auszuloggen, denn ich wollte nicht in die Realität zurückkehren. Die Realität war ätzend.

Ich habe meiner Mutter nie für irgendetwas die Schuld gegeben. Sie war ein Opfer des Schicksals und grausamer Umstände, wie alle anderen auch. Ihre Generation traf es am härtesten. Sie war in eine Welt des Überflusses hineingeboren worden und musste dann mit ansehen, wie alles den Bach runterging. Mir ist vor allem im Gedächtnis geblieben, wie leid sie mir tat. Sie hatte beständig Depressionen, und das Einzige, was sie glücklich machen konnte, waren ebendiese Drogen. Das hat sie dann natürlich umgebracht. Als ich elf Jahre alt war, hat sie sich irgendwelchen Scheiß in den Arm gejagt und ist auf unserem schäbigen Schlafsofa verreckt, während sie auf einem alten MP3-Player, den ich repariert und ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, Musik hörte.

In dem Jahr nach dem Tod meiner Mutter suhlte ich mich in Selbstmitleid. Aber ich versuchte auch, meinem Leben etwas Positives abzugewinnen, mir vor Augen zu führen, dass es mir, obwohl ich ein Waisenkind war, besser ging als den meisten Kindern in Afrika. Und in Asien. Oder auch in Nordamerika. Ich hatte immer ein Dach über dem Kopf gehabt und mehr als genug zu essen. Und ich hatte OASIS. So mies war mein Leben gar nicht. Zumindest redete ich mir das ein, in dem vergeblichen Versuch, die entsetzliche Einsamkeit zu lindern, die ich jetzt empfand.

Dann begann die Jagd auf Hallidays Easter Egg. Ich glaube, das hat mich gerettet. Plötzlich hatte ich etwas, für das ich mich begeistern konnte, einen Traum, dem ich nachjagen konnte. Während der letzten fünf Jahre hatte mein Leben einen Sinn. Ich begab mich auf Schatzsuche und hatte damit jeden Morgen einen Grund aufzustehen.

Von dem Moment an, als ich anfing, nach dem Ei zu suchen, schien die Zukunft nicht mehr ganz so trostlos zu sein.

 

Ich war etwa bei der Hälfte der vierten Folge von Familienbande angekommen, als sich die Tür der Wäschekammer mit

Sie warf mir wie üblich einen verächtlichen Blick zu und fing an, Wäsche in die Maschine zu stopfen. Dann veränderte sich ihre Miene, und sie sah noch einmal hinter den Trockner, um mich eingehender zu betrachten. Als sie meinen Laptop sah, wurden ihre Augen groß. Ich klappte ihn rasch zu und wollte ihn in meinen Rucksack schieben, aber dafür war es bereits zu spät.

»Her damit, Wade«, sagte sie im Befehlston und griff nach dem Laptop. »Den kann ich verpfänden und damit die Miete bezahlen.«

»Nein!«, schrie ich und riss ihn ihr aus der Hand. »Den brauch ich doch für die Schule!«

»Was du brauchst, ist eine Tracht Prügel!«, fauchte sie. »Damit du endlich etwas mehr Dankbarkeit lernst! Hier muss jeder Miete bezahlen. Ich habe es satt, dich die ganze Zeit durchzufüttern!«

»Du behältst doch schon alle meine Essensgutscheine. Das ist mehr als genug, um meinen Anteil an der Miete abzudecken.«

»Von wegen!« Sie versuchte, mir den Laptop zu entreißen, aber ich ließ ihn einfach nicht los. Also drehte sie sich auf dem Absatz um und stapfte hinaus. Ich wusste, was jetzt kommen würde, deshalb tippte ich rasch einen Befehl in den Laptop, mit dem die Tastatur gesperrt und die Festplatte gelöscht wurde.

Kurz darauf kam Tante Alice zusammen mit ihrem Freund Rick zurück, der sich noch im Halbschlaf zu befinden schien. Rick rannte grundsätzlich mit nacktem Oberkörper herum,

Den Laptop zu verlieren war keine große Sache. In meinem Versteck hatte ich noch zwei weitere. Aber sie waren bei weitem nicht so schnell, und ich würde alle meine Dateien vom Sicherungslaufwerk rüberspielen müssen. Schöne Scheiße. Allerdings war ich selbst schuld. Ich wusste, wie riskant es war, irgendetwas von Wert hierher mitzunehmen.

Durch das Fenster der Wäschekammer sah ich, dass es draußen allmählich hell wurde. Vielleicht sollte ich heute einfach etwas früher zur Schule gehen.

Ich zog mich so schnell und so leise wie möglich an. Eine abgetragene Cordhose, ein weites Sweatshirt und eine Jacke, die mir viel zu groß war, bildeten meine gesamte Wintergarderobe. Dann schulterte ich meinen Rucksack und kletterte auf die Waschmaschine. Nachdem ich mir meine Handschuhe übergestülpt hatte, öffnete ich das mit Frost bedeckte Fenster. Der arktische Morgen brannte auf den Wangen, während ich über das Meer von Wohnwagendächern hinwegblickte.

Der Trailer meiner Tante war die oberste Wohneinheit in einem Stapel, der zweiundzwanzig Wagen hoch war, womit er eine oder zwei Ebenen höher lag als die meisten anderen in der unmittelbaren Umgebung. Die Wohnwagen der untersten Ebene standen auf der Erde oder auf einem Betonfundament, aber die Einheiten über ihnen hingen an einem Gerüst, das im Laufe der Jahre stückweise und aufs Geratewohl weitergewachsen war.

Wir wohnten in den Portland Avenue Stacks, einem riesigen

Die oberste Ebene, das »Dach« der Stacks, war mit einem Flickwerk aus alten Sonnenkollektoren bedeckt, die die Wohneinheiten mit Energie versorgten. Ein Bündel aus Schläuchen und geriffelten Rohrleitungen schlängelte sich an den Seiten der Stapel hinauf, versorgte die Trailer mit Wasser und diente der Abwasserbeseitigung (ein Luxus, den sich nicht alle Stacks in der Stadt leisten konnten). Bis zu den unteren Ebenen, dem Bodensatz, gelangte nur wenig Sonnenlicht. In den dunklen, schmalen Streifen Erde zwischen den Stapeln standen zahllose Autowracks, deren Benzintanks geleert worden waren und die sich nicht mehr von der Stelle bewegten.

Einer unserer Nachbarn, Mr Miller, hatte mir einmal erklärt, dass in Trailerparks wie dem unseren früher nur einige Dutzend Wohnwagen in ordentlichen Reihen nebeneinandergestanden hatten. Nach dem Ölcrash und dem Ausbruch der Energiekrise waren die großen Städte mit Flüchtlingen aus den umliegenden Vororten und den ländlichen Gegenden überschwemmt worden, was zu einem enormen Wohnraummangel geführt hatte. Grundbesitz im Umkreis einer der großen Städte wurde viel zu wertvoll, um nur ein paar Wohnwagen darauf abzustellen, und so war jemand auf die brillante Idee verfallen, die, wie sich Mr Miller ausdrückte, »Scheißteile einfach übereinanderzustapeln«, um die Flächennutzung zu

Die meisten Stapel in unserer Siedlung – gelegentlich hatte sich ein altes Wohnmobil, ein Container oder ein VW-Bus zwischen die Trailer verirrt – waren mindestens fünfzehn Einheiten hoch. In den letzten Jahren waren manche sogar bis zu einer Höhe von zwanzig Einheiten oder mehr angewachsen. Das machte eine Menge Leute nervös. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Stapel einstürzte, und wenn die Gerüststützen im falschen Winkel nachgaben, konnte der Dominoeffekt vier oder fünf benachbarte Stapel mit sich zu Boden reißen.

Unser Trailer befand sich am nördlichen Rand der Stacks in der Nähe einer baufälligen Autobahnüberführung. Von meinem Aussichtspunkt am Fenster der Wäschekammer aus konnte ich einen spärlichen Strom von Elektrofahrzeugen sehen, die über den rissigen Asphalt krochen und Waren oder Arbeiter in die Stadt beförderten. Während ich auf die trostlose Skyline blickte, schob sich allmählich die Sonne über den Horizont. Wie immer, wenn ich sie aufgehen sah, dachte ich daran, dass es sich um einen Stern handelte – einen von einer Milliarde Sterne in unserer Galaxis. Die ebenfalls nur eine von Milliarden von Galaxien im Universum war. Dieses kleine Ritual half mir, die Dinge in einem größeren Zusammenhang zu

Stacks