Pankaj Mishra
Das Zeitalter des Zorns
Eine kurze Geschichte der Gegenwart
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff
FISCHER E-Books
Pankaj Mishra, geboren 1969 in Nordindien, schreibt seit über zehn Jahren regelmäßig für die New York Review of Books, den New Yorker und den Guardian über den indischen Subkontinent, über Afghanistan und China. Er gehört zu den großen Intellektuellen des modernen Asien
und hat zahlreiche Essays in Lettre International und Cicero veröffentlicht; auf Deutsch sind darüber hinaus der Roman Benares oder Eine Erziehung des Herzens und der Essayband Lockruf des Westens. Modernes Indien erschienen. Pankaj Mishra war u.¿a. Gastprofessor am Wellesley College und am University College London. Für sein Buch Aus den Ruinen des Empires, das 2013 bei S.Fischer erschien, erhielt er 2014 den Leipziger Buchpreis zur
Europäischen Verständigung. Er lebt abwechselnd in London und in Mashobra, einem Dorf am Rande des Himalaya.
Ein globaler Intellektueller.
Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Islamistischer Terror, ein neuer Nationalismus in Asien, Europa, den USA, Gewalt und Flucht- die aktuelle Weltlage ist desaströs. Wie konnte es dazu kommen? Der indisch-britische Intellektuelle Pankaj Mishra bietet in seinem neuen Buch Das Zeitalter des Zorns. Eine kurze Geschichte der Gegenwart von Rousseau bis zum IS eine ebenso überraschende wie -aus westlicher Sicht- bestürzende Erklärung: Es geht weniger um Islamismus als um eine Entwicklung, bei der weite Teile der Welt nun die Erfahrungen der Europäer im 19.Jahrhundert nachholen . Die Spätankommlinge der Moderne, die schon vor anderthalb Jahrhunderten ihr Heil in Anarchismus und Terror suchten, sind auch jetzt diejenigen, deren Enttäuschung über nicht eingelöste Versprechen und neue Ungleicheit in Gewalt mündet. Mishra rekonstruiert das geistige Klima einer Kritik an der Moderne, von Rousseau bis zum IS, von den deutschen Romantikern bis zu den zornigen Wählern Trumps, von Frankreich bis Indien und China: Ein ungewöhnlicher historischer Blick auf die Gegenwart, der erklärt, warum der Zorn zur zentralen Kategorie geworden ist.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel Age of Anger. A History of the Present bei Allen Lane/Penguin Random House, London, erschienen.
© Pankaj Mishra 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Coverdesign: buxdesign, München
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490412-2
Für meine Schwestern Ritu und Poonam und deren Kinder Aniruddh, Siddhartha und Sudhanshu
Über dieses Buch dachte ich erstmals nach, als 2014 die indischen Wähler, darunter auch eigene Freunde und Verwandte, Verfechter einer angeblichen Überlegenheit der Hindus an die Macht wählten und der Islamische Staat zum Magneten für junge Männer und Frauen in westlichen Demokratien wurde. Ich beendete 2016 meine Arbeit an diesem Buch in der Woche, als die Briten sich dafür entschieden, die Europäische Union zu verlassen. Und es ging in Druck in der Woche, als Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Diese beiden Erdbeben enthüllten Verwerfungen, die meines Erachtens über die Jahre kaum bemerkt worden waren und quer durch das Innenleben von Individuen wie auch von Nationen, Gemeinschaften und Familien liefen. Auf den folgenden Seiten versuche ich, verwirrende und oft schmerzhafte Erfahrungen zu verstehen, indem ich eine gespaltene Welt erneut in den Blick nehme, diesmal aus der Sicht derer, die erst spät in diese Welt eintraten und – wie so viele heute – das Gefühl hatten, zurückgelassen oder zurückgestoßen zu werden.
Vergessene Konstellationen
Überall gibt es das Warten auf Propheten, die Luft ist voll von kleinen und großen Propheten …; für jeden von uns ist das sein Schicksal, daß wir den Dingen mehr Liebe und hauptsächlich mehr Sehnsucht entgegengebracht haben, als die heutige Welt erfüllen könnte. Wir sind zu etwas reif geworden, und niemand ist da, die Früchte einzubringen …
Karl Mannheim (1922)
Im September 1919 besetzte der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio, begleitet von zweitausend italienischen Meuterern, die an der Adria gelegene Stadt Fiume. Der Schriftsteller und Kriegsheld, einer der berühmtesten Europäer seiner Zeit, hatte bereits seit langem alle Gebiete einnehmen wollen, die in seinen Augen immer schon Teil von »Mutter Italien« waren. 1911 hatte er voll Eifer die italienische Invasion in Libyen unterstützt, eine Expedition, deren brutale Grausamkeit in der gesamten muslimischen Welt Empörung auslöste. Angesichts der chaotischen Zustände am Ende des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der früheren Herrscher dieser Region witterte D’Annunzio eine Chance, seinen Traum von der Erneuerung italienischer Männlichkeit durch Gewalt zu verwirklichen.
Als »Duce« des »Freistaats Fiume« entfaltete D’Annunzio eine von reißerischen Reden und großspurigen Gesten geprägte Politik. Er erfand den Gruß mit dem ausgestreckten rechten Arm, den später die Nazis übernahmen, und entwarf unter anderem schwarze Uniformen mit Totenkopf und gekreuzten Knochen. Wie besessen sprach er über Märtyrertum, Opfer und Tod. Benito Mussolini und Adolf Hitler, damals noch unbekannte Leute, studierten eifrig die pseudoreligiösen Reden, die dieser kahlgeschorene Mann tagtäglich auf seinem Balkon vor seinen in schwarze Hemden gekleideten »Legionären« hielt (bevor er sich zu seinen jeweiligen Sexualpartnern zurückzog).
Eifrige Anhänger – testosterongesteuerte Teenager ebenso wie dogmatische Sozialisten – strömten aus so fernen Ländern wie Irland, Indien und Ägypten herbei, um sich dem erotisch-militaristischen Karneval in Fiume anzuschließen. In ihren Augen schien das Leben, von seinen alten Regeln befreit, ganz neu zu beginnen: ein reineres, schöneres und echteres Dasein.
Mit der Zeit, wachsenden sexuellen Begierden und zunehmendem Größenwahn begann D’Annunzio, sich als Führer einer internationalen Erhebung aller Unterdrückten zu fühlen. Doch in der Realität war dieser aus einfachen provinziellen Verhältnissen stammende Mann – ein Parvenü von kleiner Statur, der sich den Anstrich eines Aristokraten gab – nicht mehr als der opportunistische Prophet einiger zorniger Außenseiter in Europa. Diese nahmen sich als bedeutungslos wahr in einer Gesellschaft, in der das Wirtschaftswachstum nur einer Minderheit zugutekam und die Demokratie lediglich ein Spiel war, das die Mächtigen manipulierten.
Schon seit der Französischen Revolution hatten frustrierte Männer gänzlich neue Formen der Politik entwickelt – vom Nationalismus bis hin zum Terrorismus. In Frankreich selbst fühlten viele sich abgestoßen von dem widerwärtigen Kontrast zwischen den glanzvollen Zeiten der Revolution oder Napoleons und jenen armseligen Kompromissen, die aus wirtschaftlichem Liberalismus und politischem Konservatismus resultierten. Alexis de Tocqueville hatte wiederholt zu einem großen Abenteuer aufgerufen: der »Beherrschung und Unterwerfung« des algerischen Volkes und der Errichtung eines französischen Kolonialreichs in Nordafrika. Als das Jahrhundert endete, stieg ein großmäuliger Demagoge namens General Georges Boulanger auf einer Welle massenhafter Empörung über moralische Skandale, wirtschaftliche Rückschläge und militärische Niederlagen rasch empor und kam einer Machtergreifung gefährlich nahe.
Als die erste Phase wirtschaftlicher Globalisierung sich in den 1890er Jahren beschleunigte, forderten fremdenfeindliche Politiker in Frankreich protektionistische Maßnahmen und attackierten ausländische Arbeitskräfte – 1893 massakrierten wütende Franzosen Dutzende italienische Arbeitsimmigranten. In den Vereinigten Staaten hatten Verfechter der weißen Vorherrschaft bereits chinesische Arbeiter durch explizit rassistische Gesetze und Reden stigmatisiert. Diese sollten zusammen mit der Rassentrennungspolitik gegenüber den Afroamerikanern die Würde einer wachsenden Zahl weißer »Lohnsklaven« wiederherstellen. In Österreich-Ungarn machten Demagogen die Juden zu Sündenböcken für das durch die anonymen Kräfte des globalen Kapitalismus massenhaft zugefügte Leid und versuchten, die in Amerika gegen die Einwanderung erlassenen Gesetze zu kopieren. Der Wettlauf des Westens nach Asien und Afrika im späten 19. Jahrhundert machte deutlich, dass die von Cecil Rhodes empfohlene politische Therapie – »Wer den Bürgerkrieg vermeiden will, muss Imperialist werden« – immer mehr Anhänger fand, vor allem in Deutschland, das durch eine erfolgreiche Industrialisierung zwar wohlhabend geworden war, doch hatte sie auch zahlreiche zornige Unzufriedene und Protoimperialisten hervorgebracht. Als das 20. Jahrhundert heraufdämmerte und die Welt die ersten großen Krisen des globalen Kapitalismus, zugleich aber auch die größte internationale Wanderungsbewegung der Geschichte erlebte, entfesselten Anarchisten und Nihilisten, die den Willen des Individuums von alten und neuen Fesseln befreien wollten, eine Welle terroristischer Gewalt. Sie ermordeten zahlreiche Staatsoberhäupter einschließlich eines amerikanischen Präsidenten (William McKinley) und unzählige Zivilisten auf belebten öffentlichen Plätzen.
D’Annunzio war nur einer von vielen Manipulatoren innerhalb einer politischen Kultur, die durch den Übergang des Westens zum Industriekapitalismus und zur Massenpolitik bestimmt war – der indische Dichter Rabindranath Tagore sprach auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten 1916 von einer »dichten, vergifteten Atmosphäre weltweiten Misstrauens, des Neides und der Angst«. In Italien machten die alles durchdringende Bürokratie des neuen Staates und seine schamlose Nachgiebigkeit gegenüber einer reichen Minderheit vor allem die Jüngeren anfällig für gewalttätige Rachephantasien. Der Dichter Filippo Marinetti, ein Bewunderer D’Annunzios, proklamierte 1909 in seinem Manifest des Futurismus:
»Wir wollen den Krieg preisen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörende Geste der Anarchisten, die schönen Gedanken, die töten, und die Verachtung des Weibes. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken zerstören …«
Fünfzehn Monate erging D’Annunzio sich in seinem aufrührerischen Experiment der »schönen Ideen« und der geringschätzigen Missachtung aller großen Militärmächte der Welt. Seine Besetzung Fiumes nahm ein harmloses Ende, als die italienische Kriegsmarine die Stadt im Dezember 1920 unter Beschuss nahm und D’Annunzio zur Aufgabe zwang. Doch eine ganze Massenbewegung – Mussolinis Faschismus – setzte dort an, wo er aufgehört hatte. Der Imperialist und Dichter starb 1938, drei Jahre nachdem Italien in Äthiopien eingedrungen war – ein brutaler Angriff, den er wie zu erwarten beifällig begrüßte. Heute, da entwurzelte Radikale aus aller Welt sich gewalttätigen, frauenfeindlichen und sexuell übergriffigen Bewegungen anschließen, während die politische Kultur den Attacken von Demagogen ausgesetzt ist, erscheint D’Annunzios – moralische, intellektuelle, ästhetische wie auch militärische – Abkehr von einer offenbar unverbesserlichen Gesellschaft als eine Wende in der Geschichte unserer Gegenwart: als eine von vielen aufschlussreichen Situationen, die wir vergessen haben.
In den letzten Jahren kam es an vielen Orten zu Ausbrüchen roher Gewalt: Kriege in der Ukraine wie auch im Nahen und Mittleren Osten, Selbstmordanschläge in Belgien, in Xinjiang, in Nigeria und der Türkei, Aufstände vom Jemen bis nach Thailand, Blutbäder in Paris, Tunesien, Florida, Dhaka und Nizza. Konventionelle Kriege zwischen Staaten werden inzwischen in den Schatten gestellt von Kriegen zwischen Terroristen und Terrorbekämpfern, zwischen Aufständischen und denen, die sie bekämpfen; außerdem gibt es Finanzkriege und Cyberwars, Kriege um und durch Information, Kriege um die Kontrolle des Drogenhandels und der Migration wie auch Kriege zwischen städtischen Milizen und Mafiagruppen. Zukünftige Historiker werden dereinst vielleicht in diesem unkoordinierten Durcheinander den Beginn des dritten – längsten und seltsamsten – aller Weltkriege erblicken: eines Krieges, der wegen seiner Allgegenwart einem globalen Bürgerkrieg nahekommt.
Zweifellos sind hier komplexere Kräfte am Werk als in den beiden früheren Weltkriegen. Die Gewalt, die sich nun nicht mehr auf Schlachtfelder oder Frontlinien beschränkt, erscheint endemisch und unkontrollierbar. Noch ungewöhnlicher ist die Tatsache, dass die auffälligsten Kombattanten dieses Krieges – die Terroristen – sich nur schwer identifizieren lassen.
Anschläge in Städten des Westens werfen seit dem 11. September 2001 immer wieder die Frage auf: »Warum hassen sie uns?« Oder auch: »Wer sind sie?« Bevor Donald Trump sein Amt antrat, hatte der Islamische Staat (IS) – mit seinen schnellen militärischen Siegen, seiner zur Schau gestellten Brutalität und seiner erfolgreichen Verführung junger Menschen aus Städten Europas und Amerikas – im Westen das Gefühl einer außergewöhnlichen Krise noch vertieft.
Der IS scheint für viele noch verwirrendere Fragen aufzuwerfen als Al-Qaida. Warum zum Beispiel stammt das größte Kontingent unter den aus neunzig Ländern kommenden ausländischen Dschihadisten im Irak und in Syrien ausgerechnet aus Tunesien, dem Ursprungsland des »Arabischen Frühlings« und der am stärksten verwestlichten muslimischen Gesellschaft? Warum haben sich Dutzende britische Frauen, darunter Schülerinnen mit ausgezeichneten Leistungen, dem IS angeschlossen, obwohl Männer des IS bereits zehnjährige Mädchen versklaven und vergewaltigen und zudem bestimmt haben, dass muslimische Mädchen im Alter zwischen neun und siebzehn Jahren heiraten und in völliger Abschließung leben sollen?
In The New York Review of Books, einer der wichtigen intellektuellen Zeitschriften des angloamerikanischen Raums, schreibt ein anonymer Autor, wir sollten »zugeben, dass wir nicht nur entsetzt, sondern auch ratlos sind« und dass »seit dem Sieg der Vandalen im römischen Nordafrika nichts so plötzlich, so unverständlich und so schwer zu revidieren« erscheine.
Einige den Islam in den Mittelpunkt stellende Erklärungen für den Terrorismus haben zu dem endlosen »Krieg gegen den Terror« geführt, während eine nicht weniger energische – und weltfremde – Politik die »gemäßigten« Muslime auffordert, »extremistische Ideologien« zu »verhindern« und den Islam zu »reformieren«. Dabei hat sich immer deutlicher gezeigt, dass politische Eliten im Westen sich nicht von ihrer Sucht befreien können, Linien in den Sand zu zeichnen, Regimewechsel anzustreben und die Sitten der einheimischen Bevölkerung umzubauen. Sie wissen offenbar nicht, was sie da tun und welche Folgen ihr Tun haben wird.
Angesichts der politischen Herausforderung durch den Terrorismus verlieren sie die Nerven und lassen sich zu Überreaktionen verleiten. Sie intervenieren mit militärischen Mitteln, meist ohne sich um die Zustimmung einer verängstigten Bevölkerung zu kümmern, und während sie Despoten unterstützen, reden sie unablässig von ihren überlegenen »Werten« – eine Rhetorik, die sich inzwischen, von Trump gewinnbringend ausgeschlachtet, mit einem von weißen Überlegenheitsphantasien geprägten Hass auf Immigranten, Flüchtlinge und Muslime mischt (oder auf Menschen, die wie Muslime »aussehen«). Zugleich verblüffen auf Selfies erpichte junge Mörder allerorten die schwerfälligen Verfolger »extremistischer Ideologien«, indem sie die Bomben aus der Luft mit genau choreographierten Blutbädern am Boden vergelten.
Wie sind wir in die Falle dieses Totentanzes geraten? Viele Leser dürften sich noch an die hoffnungsvolle Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 erinnern. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus schien der weltweite Sieg des liberalen Kapitalismus und der Demokratie gesichert. Es schien, als wären freie Märkte und Menschenrechte die passende Formel für Milliarden von Menschen, die versuchten, entwürdigende Armut und politische Unterdrückung zu überwinden. Die Worte »Globalisierung« und »Internet« lösten in dieser Zeit der Unschuld mehr Hoffnung als Ängste aus, während sie Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fanden.
Amerikanische Berater eilten nach Moskau, um den Übergang Russlands zu einer liberalen Demokratie zu erleichtern. China und Indien begannen, ihre Wirtschaft für Handel und Investitionen zu öffnen. Neue Nationalstaaten und Demokratien erblühten in weiten Teilen Europas, Asiens und Afrikas. Die Europäische Union erweiterte sich nach Osten, in Nordirland wurde Frieden geschlossen, Nelson Mandela beendete erfolgreich seinen langen Marsch zur Freiheit, der Dalai Lama trat in der »Think-Different«-Werbung von Apple auf, und es schien nur noch eine Frage der Zeit, dass auch Tibet seine Freiheit erlangte.
In den letzten zwei Jahrzehnten propagierten Eliten selbst in vielen ehemals sozialistischen Ländern das Ideal eines kosmopolitischen Liberalismus – die universelle kommerzielle Gesellschaft aus eigennützigen rationalen Individuen, für die sich erstmals im 18. Jahrhundert Aufklärungsdenker wie Montesquieu, Adam Smith, Voltaire und Kant einsetzten. Tatsächlich leben wir heute in einem riesigen homogenen Weltmarkt, in dem die Menschen darauf programmiert sind, ihre eigenen Interessen über alles zu stellen, und in dem alle dieselben Dinge haben wollen, unabhängig von Unterschieden im kulturellen Hintergrund und individuellen Temperament. Die Welt scheint besser gebildet, stärker vernetzt und wohlhabender zu sein als jemals zuvor in der Geschichte. Der durchschnittliche Wohlstand ist gestiegen – wenn auch nicht gleichmäßig und gerecht –, und in Indien und China ist die wirtschaftliche Not zurückgegangen. Eine neue wissenschaftliche Revolution hat stattgefunden, ihre Kennzeichen sind: »künstliche« Intelligenz, Robotik, Drohnen, die Kartierung des menschlichen Genoms, Gentechnik und Klonen, eine tiefere Erkundung des Weltraums und durch Fracking gewonnene fossile Brennstoffe. Aber die versprochene universelle Zivilisation – die für Harmonie sorgt durch eine Kombination aus universellem Wahlrecht, breiten Bildungschancen, stetigem Wirtschaftswachstum, individueller Initiative und persönlichem Fortkommen – ist nicht Wirklichkeit geworden.
Die Globalisierung – mit ihren Merkmalen des hochmobilen Kapitals, der beschleunigten Kommunikation und der raschen Mobilisierung – hat überall zu einer Schwächung älterer Regierungsformen geführt, in den sozialen Demokratien Europas ebenso wie in arabischen Despotien. Eine ganze Reihe unberechenbarer neuer internationaler Akteure sind hervorgetreten, von englischen und chinesischen Nationalisten über somalische Piraten, Menschenhändler und anonyme Cyberhacker bis hin zu Boko Haram. Die von der ersten Finanzkrise 2008 ausgegangenen Schockwellen und der Brexit wie auch die Wahl des amerikanischen Präsidenten 2016 bestätigen, was Hannah Arendt 1968 schrieb: dass nun »zum ersten Mal in der Geschichte alle Völker der Erde eine gemeinsame Gegenwart« hätten. Im Zeitalter der Globalisierung sei jedes Volk »der unmittelbare Nachbar jedes anderen geworden, und Erschütterungen auf der einen Seite des Erdballs teilen sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit der gesamten Erdoberfläche mit«.
Die bösartigen Köpfe des IS nutzen die wechselseitige Abhängigkeit in der Welt besonders entschlossen für ihre Zwecke. In ihren Händen verwandelt sich das Internet in ein verheerend effektives Propagandainstrument im Dienste des globalen Dschihad. Aber auch Demagogen jeglicher Couleur, von Recep Tayyip Erdogan in der Türkei über Narendra Modi in Indien bis hin zu Marine Le Pen in Frankreich und Donald Trump in den USA, nutzen die aufgestaute Mischung aus Zynismus, Langeweile und Unzufriedenheit.
China, obwohl marktfreundlich, scheint weiter von demokratischen Zuständen entfernt zu sein als zuvor, aber näher an einem expansionistischen Nationalismus. Das Experiment mit dem Marktkapitalismus in Russland hat ein kleptokratisches und messianisches Regime entstehen lassen. In Polen und Ungarn hat es offen antisemitische Regime an die Macht gebracht. Eine Revolte gegen die Globalisierung und deren Nutznießer hat zur Abkehr Großbritanniens von der Europäischen Union geführt, was diese in noch größere Probleme gestürzt hat, vielleicht sogar ihren Tod bedeutet. Autoritäre Führer, antidemokratische Bewegungen und Rechtsextremismus bestimmen die Politik in Österreich, Frankreich und den Vereinigten Staaten wie auch in Indien, Israel, Thailand und der Türkei.
Das Schüren von Hass gegen Immigranten, Minderheiten und diverse als »Andere« definierte Menschen hat Eingang in den Mainstream gefunden – und das selbst in Deutschland, dessen Politik und Kultur nach dem Ende des Nationalsozialismus in der Forderung »Niemals wieder!« gründeten. Leute, die mit Schaum vor dem Mund ihren Hass und ihre Boshaftigkeit versprühen – wie der neugewählte amerikanische Präsident, der im Vorwahlkampf der Republikanischen Partei mexikanische Einwanderer als »Vergewaltiger« beschimpfte und syrische Flüchtlinge mit »tollwütigen Hunden« verglich –, sind zu einem alltäglichen Anblick in den alten wie den neuen Medien geworden. In der immer länger werdenden Spirale der ethnischen und subethnischen Massaker und Meutereien finden sich so absonderliche Anachronismen wie maoistische Guerillas in Indien, sich selbst verbrennende Mönche in Tibet und buddhistische Kämpfer für ethnische Säuberungen in Sri Lanka und Myanmar.
In diesem Zeitalter des Zorns bedrängen uns ständig grausige Bilder und Töne. Die Schwelle der Grausamkeit ist immer niedriger geworden seit der ersten auf Video aufgenommenen Enthauptung einer in den aus Guantanamo bekannten orangefarbenen Overall gekleideten westlichen Geisel im Irak (das war 2004, als das Breitbandinternet gerade die Wohnzimmer der Mittelschicht zu erobern begann). Doch der Rassismus und die Frauenfeindlichkeit, die in den sozialen Medien so weit verbreitet sind, und die Demagogie im politischen Diskurs zeigen heute, was Nietzsche im Blick auf die »Menschen des Ressentiments« einst »ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache« nannte, »unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen«.
Es findet sich eine weitverbreitete Angst, die nicht mit der zentralisierten Furcht vergleichbar ist, wie sie von despotischer Macht ausgeht. Es handelt sich vielmehr um das von den Nachrichtenmedien erzeugte und von den sozialen Medien verstärkte Gefühl, dass jedem überall und jederzeit alles passieren kann. Der Eindruck einer aus den Fugen geratenen Welt wird noch verschärft durch den Klimawandel, der das Gefühl aufkommen lässt, der ganze Planet stünde unter Belagerung, und zwar durch uns selbst.
In diesem Buch wird die universelle Krise aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet und dabei die schwere, aber fälschlich aufgebürdete Last der Erklärung verschoben, weg vom Islam und dem religiösen Extremismus. Ich vertrete hier die These, dass die beispiellose politische, ökonomische und soziale Unordnung, die den Aufstieg der industriekapitalistischen Wirtschaft im Europa des 19. Jahrhunderts begleitete und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Weltkriegen, totalitären Regimen und Völkermorden führte, heute weitaus größere Regionen und Bevölkerungen befallen hat; dass weite Teile Asiens und Afrikas, die durch den europäischen Imperialismus einst erstmals der Moderne ausgesetzt wurden, heute tiefer in die schicksalhafte westliche Erfahrung dieser Moderne eintauchen.
Diese universelle Krise reicht sehr viel weiter als die Probleme des Terrorismus oder der Gewalt. Diejenigen, die reflexhaft behaupten, es handle sich um einen »clash of civilisations«, einen Konflikt oder gar Kampf der Kulturen, in dem der Islam und der Westen, Religion und Vernunft einander gegenüberstehen, vermögen zahlreiche politische, soziale und ökologische Übel nicht zu erklären. Selbst die überzeugtesten Vertreter dieser These finden es womöglich erhellend, wenn sie unter der Schicht quasireligiöser Rhetorik die tieferen geistigen und psychologischen Affinitäten erkennen, welche die bunte Schar der islamischen Anhänger des IS-Kalifats mit D’Annunzio und vielen anderen, ebenso extravaganten, aber weltlich ausgerichteten Radikalen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts teilen: mit den Ästheten, die Krieg, Frauenverachtung und Pyromanie verherrlichten; mit den Nationalisten, die Juden und Liberale als entwurzelte Kosmopoliten beschimpften und irrationale Gewalt feierten; mit den Nihilisten, Anarchisten und Terroristen, die vor dem Hintergrund enger Allianzen zwischen Geld und Politik, verheerender Wirtschaftskrisen und obszöner Ungleichheit auf fast allen Kontinenten gediehen.
Wir müssen auf die Erschütterungen dieser Zeit zurückblicken, um unser eigenes Zeitalter des Zorns zu verstehen. Im späten 19. Jahrhundert verübten Franzosen Bombenattentate auf Varietétheater, Cafés und die Pariser Börse, und ein französisches Anarchistenblatt rief dazu auf, das »Bellecour« zu zerstören, ein Varietétheater in Lyon, in dem »die Crème der Bourgeoisie und des Kommerzes« nach Mitternacht zusammenkam. Diese Attentäter und Schreiberlinge haben mehr gemeinsam mit den vom IS inspirierten jungen EU-Bürgern, die im November 2015 auf einem Rockkonzert, in Bars und Restaurants in Paris nahezu zweihundert Menschen massakrierten, als wir glauben.
Viel von unserer heutigen Erfahrung erinnert an das 19. Jahrhundert. Deutsche und dann auch italienische Nationalisten riefen gut ein Jahrhundert, bevor der Ausdruck »Dschihad« Eingang in die Alltagssprache fand, zu einem »heiligen Krieg« auf, und während des gesamten 19. Jahrhunderts schlossen sich junge Europäer in fernen Ländern politischen Kreuzzügen an, die unter der Losung »Freiheit oder Tod« standen. Der revolutionäre Messianismus – der Drang nach einer endgültigen globalen Lösung samt der Vorstellung, dass die eigene Partei aus den wahren Gläubigen bestehe und der revolutionäre Führer ein Held von nahezu göttlicher Statur sei – blühte unter russischen Studenten, die sich von der Grausamkeit und Heuchelei ihrer Herrscher, der Romanows, abgestoßen fühlten. Damals wie heute war das Gefühl, von arroganten und betrügerischen Eliten gedemütigt zu werden, weit verbreitet, und zwar quer über nationale, religiöse und rassische Trennlinien hinweg.
Die Geschichte aber wiederholt sich nicht, trotz zahlreicher Kontinuitäten mit der Vergangenheit. Unser Dilemma in diesem globalen Zeitalter eines übersteigerten Individualismus ist einzigartig und reicht tiefer, seine Gefahren sind diffuser und weniger vorhersehbar.
Massenbewegungen wie Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus, die behaupteten, sie würden in bahnbrechender Weise kollektive Kräfte mobilisieren, führten zu den Kriegen, Völkermorden und Tyranneien des frühen 20. Jahrhunderts. Der Drang jedoch, durch gemeinsame Anstrengungen und staatliche Macht eine perfekte Gesellschaft zu erschaffen, hat sich im Westen und in Russland offensichtlich verbraucht. Wichtiger noch, dieses Ideal ist äußerst schwach ausgeprägt in »aufstrebenden« Mächten wie China und Indien und wird selbst bei den fanatischen Schöpfern eines Kalifats im Nahen und Mittleren Osten durch den Selfie-Individualismus unterminiert.
Aufgrund eines massiven und allgemein unterschätzten weltweiten Wandels verstehen die Menschen sich im öffentlichen Leben vornehmlich als Individuen mit Rechten, Wünschen und Interessen, auch wenn sie nicht so weit gehen wie Margaret Thatcher, die meinte, dass es »so etwas wie die Gesellschaft« gar nicht gebe. Im größten Teil der Welt war seit 1945 ein innerhalb der Grenzen souveräner Nationalstaaten geplantes und beschütztes Wirtschaftswachstum das Mittel der Wahl, um breiten Wohlstand und spezifischere Ziele wie die Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu verwirklichen. Im Zeitalter der Globalisierung, das nach dem Fall der Berliner Mauer heraufzog, wurden Forderungen nach unbegrenzter individueller Freiheit und Befriedigung immer lauter.
Zu Beginn der 1990er Jahre fegte eine demokratische Revolution der Ansprüche – deren zahlreiche Vorboten Tocqueville im frühen 19. Jahrhundert in Amerika beobachtete – durch die ganze Welt und weckte noch unter den aussichtslosesten Umständen neben dem einfachen Wunsch nach Stabilität und Zufriedenheit auch die Sehnsucht nach Wohlstand, gesellschaftlichem Status und Macht. Egalitäre Ambitionen führten zum Losreißen von alten sozialen Hierarchien, der Kaste in Indien ebenso wie der Klasse in Großbritannien. Die Kultur des Individualismus fand eine universelle Verbreitung, wie Tocqueville sie kaum vorhersah, und auch nicht Adam Smith, der erstmals theoretisch über eine »kommerzielle Gesellschaft« selbstsüchtiger Individuen nachdachte.
Die Betonung individueller Rechte hat das Bewusstsein für soziale Diskriminierung und die Ungleichheit der Geschlechter geschärft. Heute findet sich in vielen Ländern eine beachtlich höhere Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen. Die weiterreichenden politischen Implikationen dieses revolutionären Individualismus sind allerdings weitaus zwiespältiger. Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Ideale endlosen Wirtschaftswachstums und privaten Vermögenszuwachses auf ebenso breiter Front gescheitert sind. Die meisten neuen »Individuen« rackern sich ab in schwach konzipierten sozialen und politischen Gemeinschaften und/oder in Staaten mit ständig schwindender Souveränität. Sie leiden nicht nur unter der Tatsache, dass alte Gewissheiten über ihren Platz in der Welt und damit zugleich alle Bindungen an traditionelle Gemeinschaften und andere Zusammenhänge, die Hilfe und Unterstützung zu leisten vermögen, verloren gegangen sind. Ihre Isolation wird noch verschärft durch den Nieder- oder Untergang postkolonialer Nation-building-Ideologien und den Abbau des demokratischen Sozialstaats durch globalisierte technokratische Eliten.
So finden sich denn Individuen mit höchst unterschiedlicher Vergangenheit durch Kapitalismus und Technologie in eine gemeinsame Gegenwart versetzt, in der eine äußerst ungleiche Verteilung von Reichtum und Macht demütigende neue Hierarchien geschaffen hat. Die Nähe oder die »negative Solidarität«, wie Hannah Arendt dies nannte, wird noch beengender durch die digitale Kommunikation, die erhöhte Fähigkeit zu neidischem und missgünstigem Vergleich und das generelle, dadurch aber auch erschwert umzusetzende Streben nach Besonderheit und Einzigartigkeit.
Zugleich treten weltweit die verheerenden Widersprüche eines dynamischen Wirtschaftssystems zutage, die sich erstmals im Europa des 19. Jahrhunderts zeigten – Schübe technologischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums, verbunden mit systematischer Ausbeutung und verbreiteter Verelendung. Viele dieser Schocks der Moderne wurden einst von überkommenen Sozialstrukturen der Familie und der Gemeinschaft und dem Sicherheitsnetz des Sozialstaats aufgefangen. Heute ist das Individuum ihnen ganz unmittelbar ausgesetzt – in einer Zeit beschleunigten Wettbewerbs auf ungleichen Spielfeldern, in der man leicht das Gefühl hat, dass es so etwas wie Gesellschaft und Staat gar nicht mehr gibt, sondern nur noch einen Krieg aller gegen alle.
Das offenkundige, aber durch tiefverwurzelte Ungleichheit bereits in Frage gestellte Naturrecht auf Leben, Freiheit und Sicherheit wird zusätzlich bedroht durch politisches Versagen und wirtschaftliche Stagnation. In bereits vom Klimawandel betroffenen Gebieten kommen Knappheit und Not hinzu, wie sie für das vormoderne Wirtschaftsleben typisch waren. Die Folge ist möglicherweise, wie Hannah Arendt befürchtete, ein »gewaltiger Zuwachs an gegenseitigem Haß und ein gewissermaßen universales Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-fallen«, also Ressentiment. Ein existentielles Ressentiment hinsichtlich des Seins anderer Menschen, ausgelöst durch ein intensives Gemisch aus Neid und dem Gefühl der Erniedrigung und der Ohnmacht; ein Ressentiment, das immer da ist und immer stärker wird, das die Zivilgesellschaft vergiftet und die politische Freiheit untergräbt und das gegenwärtig weltweit eine Wende hin zu Autoritarismus und gefährlichen Formen von Chauvinismus herbeiführt.
Unsere Ratlosigkeit als zugleich globalisierte und übersozialisierte Individuen ist umso größer, als das Versprechen einer besseren Welt in der hoffnungsfrohen Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer ganz ohne die obligatorischen Warnhinweise daherkam. So erleben wir, dass Gesellschaften, deren Organisation auf das Zusammenspiel individueller Interessen ausgerichtet war, in einen manischen Tribalismus verfallen oder gar in nihilistischer Gewalt versinken. Wenn der Sozialismus erst tot und begraben sei, so hatten die Mächtigen und Einflussreichen unter uns angenommen, würden einfallsreiche Unternehmer auf freien Märkten für rasches Wirtschaftswachstum und weltweiten Wohlstand sorgen, und mit beschleunigtem wirtschaftlichen Wachstum würden auch asiatische, lateinamerikanische und afrikanische Gesellschaften säkularer und rationaler werden.
Gemäß einer weitverbreiteten Ideologie, die sich nach der endgültigen Diskreditierung der kommunistischen Regime 1989 verfestigte, brauche der Staat nur den individuellen Unternehmern freie Hand zu lassen und aufzuhören, Arme und Faule zu subventionieren. Die langen und vielschichtigen Erfahrungen der starken europäischen und amerikanischen sowie teils auch ostasiatischen Volkswirtschaften – aktive staatliche Eingriffe in Märkte und Unterstützung strategischer Industriezweige, lange Phasen eines ökonomischen Nationalismus, Investitionen in Gesundheitssystem und Bildungswesen – fanden in der neuen, triumphalen Geschichte freien Unternehmertums keinen Platz. Nichtstaatliche Organisationen und die Weltbank gingen davon aus, dass die große sich abmühende Mehrheit der Weltbevölkerung sich dem Lebensstandard Westeuropas und Amerikas annähern werde, wenn ihre Volkswirtschaften mehr Freiheit zuließen und ihr Weltbild weniger ablehnend gegenüber dem individuellen Streben nach Glück wäre. V.S. Naipaul fasste seinen Glauben an eine Verwestlichung der ganzen Welt zusammen, als er 1990 in einer Rede vor Mitgliedern und Gästen eines New Yorker Thinktanks das »Streben nach Glück« durch individuelles Unternehmertum als letzte und größte Aufgabe der Menschheit pries. »Ich finde es wunderbar«, sagte er, »nach zwei Jahrhunderten und der schrecklichen Geschichte der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu erleben, dass die Idee – eine bloße Wendung in der Präambel der amerikanischen Verfassung – weltweit Früchte trägt.« Die leidenschaftliche Liebe der Amerikaner zum Glück »kann keinen Faschismus hervorbringen«, versicherte er seinem America-First-Publikum, und »andere, rigidere Systeme, selbst solche religiöser Art, gehen letztlich zugrunde«.
Während des »langen Kampfes« gegen die Sowjetunion bildete die Vorstellung einer Konvergenz der außerwestlichen Welt hin zum freiheitlich-demokratischen Westen einen nützlichen Gegenentwurf zum kommunistischen Programm einer gewaltsamen Revolution. Wie Naipauls Zuversicht verrät, schien dies selbst ein paar Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs noch realisierbar. Doch die Projekte einer weltweiten Konvergenz hin zum westlichen Modell ließen unberücksichtigt, was der außerordentlich brutale Eintritt in die politische und ökonomische Moderne einst für den Westen selbst bedeutet hatte.
Ausufernde Gewalt, Entwurzelung und Zerstörung begleiteten die erste Phase eines beispiellosen menschlichen Experiments in Europa und Amerika. Marx und Engels charakterisierten die durch einen entfesselten Weltmarkt revolutionierte Moderne 1848 im Kommunistischen Manifest eher begeistert als besorgt mit den Worten: »Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst … Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht.« Die empfindsamsten Geister des 19. Jahrhunderts, von Kierkegaard bis Ruskin, schreckten vor solch einer Modernisierung zurück, auch wenn sie nicht immer deren dunklere Seiten zur Kenntnis nahmen: raubgierigen Kolonialismus und schmutzige Kriege in Asien und Afrika, die Institutionalisierung von Vorurteilen, wie sie etwa im Antisemitismus zum Ausdruck kamen, und die weitverbreitete, von Pseudowissenschaften verstärkte Angst vor einem »Rassenselbstmord«, wie Theodore Roosevelt dies nannte.
Im späten 19. Jahrhundert begannen die herrschenden Klassen Europas und Japans auf die Schädigungen und Störungen durch den Weltmarkt zu reagieren, indem sie angesichts innerer und äußerer Bedrohungen zur Einheit mahnten, neue Märchen von ethnischer und religiöser Solidarität erfanden und in ihrem, wie sie behaupteten, Kampf ums Dasein einen militaristischen Nationalismus entwickelten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernahmen nicht nur Nazis und Faschisten in ihrem Modernisierungsrausch die Theorien des Sozialdarwinismus. Diese Theorien fanden in ganz Europa und Amerika Zuspruch wie auch bei den gebildeten und aufsteigenden Klassen in der Türkei, in Indien und in China.
In den 1940er Jahren dann verwickelten sich die konkurrierenden Nationalismen Europas in die barbarischsten Kriege und Verbrechen gegen religiöse und ethnische Minderheiten in der Geschichte der Menschheit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die europäischen Staaten – weitgehend durch die wirtschaftliche und militärische Macht Amerikas – gezwungen, weniger antagonistische politische Beziehungen zu entwickeln, was letztlich zur Dekolonisierung und zur Europäischen Gemeinschaft führte.
Doch nur sehr selten in den letzten Jahrzehnten findet sich das Eingeständnis, dass die Geschichte der Modernisierung in weiten Teilen eher eine Geschichte der Blutbäder und Turbulenzen als der friedlichen Konvergenz war und die Politik der Gewalt, Hysterie und Verzweiflung sich keineswegs auf das nationalsozialistische Deutschland, das faschistische Italien oder das kommunistische Russland beschränkte. Die außergewöhnliche Erfahrung eines anhaltenden Wirtschaftswachstums im Rahmen eines demokratischen Sozialstaats, die Europa nach 1945 machte, verdeckt tiefere Verwerfungen und länger andauernde Traumata. Die bereinigten Geschichtsdarstellungen, die priesen, wie die Aufklärung oder Großbritannien oder der Westen die moderne Welt hervorbrachten, platzierten die beiden Weltkriege in einem gesonderten Quarantänebereich und isolierten Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus als monströse Verirrungen innerhalb des Hauptstroms der europäischen Geschichte.
Der »Totalitarismus« mit seinen vielen Millionen Opfern wurde als bösartige Reaktion auf die segensreiche Tradition aus Rationalismus, Humanismus, Universalismus und liberaler Demokratie interpretiert – eine Tradition, die als eine unproblematische Norm galt. Es war offensichtlich allzu irritierend, einzugestehen, dass in der totalitären Politik jene ideologischen Strömungen ihren Ausdruck fanden, die im späten 19. Jahrhundert ganz Europa erfassten (wissenschaftlicher Rassismus, hurrapatriotischer Nationalismus, Technikbegeisterung, ästhetisierte Politik, utopisches Denken, Sozialtechnologie und gewalttätiger Kampf ums Dasein).
Die sonderbare Gleichgültigkeit gegenüber einer facettenreichen Vergangenheit, die Kalte-Kriegs-Fixierung auf den Totalitarismus und ein seit dem 11. September noch öfter beschworenes »Der Westen gegen den Rest der Welt«-Denken erklären, warum unser Zeitalter des Zorns eine derart absurde und extreme Angst und Verunsicherung ausgelöst hat. Dies fasst ein anonymer Beitrag in der New York Review of Books zusammen, in dem es heißt, der Westen könne »niemals genug Wissen, Präzision, Phantasie und Demut entwickeln, um das Phänomen Islamischer Staat zu begreifen«.
Das Versagen demokratischer Institutionen, Wirtschaftskrisen und der Zulauf benachteiligter und verängstigter Bürger zu einer rassistischen Politik in Westeuropa und Amerika zeigen heute, wie unsicher und außergewöhnlich das Gleichgewicht nach 1945 in Wirklichkeit war. Auch zeigt sich nun deutlicher, dass die von Liberalen der Linken, der Rechten oder der Mitte und von Technokraten angebotenen Programme menschlicher Entwicklung und Vervollkommnung nur selten einschränkende Faktoren berücksichtigten: etwa den begrenzten geographischen Raum, die abnehmenden natürlichen Ressourcen und fragile Ökosysteme. Bis vor kurzem nahmen Politiker diese Beschränkungen nicht im Geringsten ernst, sie gingen darüber hinweg, und erst recht sahen sie Folgen des industriellen Wachstums und ständig wachsenden Konsums wie die globale Erwärmung nicht voraus.
So kann es denn kaum verwundern, dass die modernen Religionen eines weltlichen Heils ihre eigene Hauptannahme untergraben haben, wonach es den Menschen in der Zukunft materiell bessergehen werde als in der Gegenwart. Gerade diese für das moderne politische und ökonomische Denken zentrale Erwartung ist verlorengegangen, vor allem bei jenen, die es selbst niemals so gut hatten.
Plötzlich scheint die Geschichte schwindelerregend offen zu sein, geradeso, wie Henry James es empfand, als 1914 der Krieg ausbrach und er sich mit der Möglichkeit konfrontiert sah, dass der vielgelobte Fortschritt des 19. Jahrhunderts nur eine unheilvolle Illusion war und »die Flutwelle, die uns trug, sich die ganze Zeit diesem Punkt als ihren großen Niagarafällen näherte«.
Es wird indessen nicht leicht sein, ideologische Überzeugungen – den modernen Ersatz für religiösen Glauben – oder das Freund-Feind-Denken aufzugeben. Die Islamexperten, die nach dem 11. September ihr Geschäft eröffneten, bieten ihre Waren nach jedem Anschlag noch lautstärker an. Unterstützt werden sie dabei von den Theoretikern eines »clash of civilizations« und anderen intellektuellen Robotern des Kalten Kriegs, die darauf programmiert waren, in binären Gegensätzen zu denken (freie gegen unfreie Welt, Westen gegen Islam) und ihren Wortschatz auf Ausdrücke wie »Ideologie«, »Bedrohung« und »langwieriger Kampf« zu beschränken. Die Flut an Pseudoerklärungen – islamischer Faschismus, islamischer Extremismus, islamischer Fundamentalismus, islamische Theologie, islamischer Irrationalismus – wird ohne Zweifel dazu führen, dass der »Islam« mehr denn je als ein Begriff auf der Suche nach einem Inhalt erscheint und eine spektakulär vielgestaltige Gruppe von 1,6 Milliarden Menschen in den Augen der Übrigen als verdächtig gilt.
In den letzten Jahren drehen die Mühlen der Islamfeindlichkeit immer schneller, weil Demagogen die diffuse Wut und Frustration von Bürgern, die sich in von extremer Ungleichheit geprägten Gesellschaften abgehängt oder zurückgestoßen fühlen, auf die Muslime lenken. Viele Menschen sind von beständiger Angst gequält in einer Welt, in der alle sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die ihr Leben bestimmen, undurchsichtig erscheinen. Während globalisierte und volatile Märkte die Handlungsautonomie der Nationalstaaten einschränken und Flüchtlinge wie auch Immigranten die herrschenden Vorstellungen von Staatsbürgerschaft, nationaler Kultur und nationaler Tradition in Frage stellen, breitet sich der Sumpf der Angst und Unsicherheit aus. In einen fieberhaften Konkurrenzkampf verstrickt und von der Angst gequält, möglicherweise demnächst zu den Verlierern zu gehören, neigen selbst relativ Wohlhabende dazu, Feinde zu erfinden – Sozialisten, Liberale, einen dunkelhäutigen Alien im Weißen Haus, Muslime – und ihnen dann die Schuld an der eigenen inneren Pein zu geben.
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