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Josef Zwi Guggenheim, Michael Hampe, Peter Schneider, Daniel Strassberg

Im Medium des Unbewussten

Zur Theorie der Psychoanalyse

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031282-1

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-031283-8

epub:  ISBN 978-3-17-031284-5

mobi:  ISBN 978-3-17-031285-2

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Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Wissenschaften und ihre Grenzen
  3. 2 Wissen und Medienwechsel
  4. 3 Implizites Wissen und epistemischer Abfall
  5. 4 Bilder und Wörter
  6. 5 Couch und Scanner
  7. 6 Leid und Wahrheit
  8. 7 Paradigma und Erschöpfung
  9. Literatur
  10. Stichwortverzeichnis
  11. Personenverzeichnis

 

Vorwort

 

 

Dieses Buch handelt von der Theorie der Psychoanalyse als einer Wissenschaft sui generis. Es ist das Resultat einer Kollaboration von Psychoanalytikern und Philosophen. Zwei von uns vereinigen die Kompetenzen beider Metiers in einer Person (Peter Schneider und Daniel Strassberg). Der Vorteil einer solchen Zusammenarbeit liegt darin, dass viel Kompetenz versammelt wird. Der Nachteil besteht in den vielen gedanklichen und stilistischen Abstimmungen, die in einem Autorenkollektiv notwendig sind, wenn es sich nicht nur gegenseitig anregen, sondern ein gemeinsames »Produkt« hervorbringen will.

Wir haben die Nachteile, die zu einer ziemlich langen Entstehungszeit dieses Buches geführt haben, in Kauf genommen, weil wir überzeugt waren, dass trotz etlicher Studien zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse, die in den letzten Jahren erschienen sind, ein neuer Zugang zu dieser Disziplin möglich ist, der sowohl für Psychoanalytiker als auch für Philosophen von Interesse ist. Man könnte die geteilten Mentalitäten und Interessen, welche diesen Zugang eröffnen, durch die folgenden Stichworte charakterisieren: ein grundsätzliches Wohlwollen für intellektuelle Außenseiterpositionen, das ebenjene nicht von vornherein unter den Verdacht der Scharlatanerie stellt, ein Interesse an der Geschichte des Wissens, das von der Hoffnung getragen wird, dass man Institutionen und Personen sehr viel besser versteht, wenn man ihre Entwicklung kennt, und schließlich ein Misstrauen gegenüber einer richterlich aburteilenden normativen Haltung in Erkenntnistheorie und Moralphilosophie – eine Einstellung, die zu einer gewissen normativen Zurückhaltung führt. Der Kontext von »entresol«, einer Vereinigung von an den Wissenschaften und der Philosophie der Psyche Interessierten, und des »Zentrums für Geschichte des Wissens« der ETH und der Universität Zürich war für die institutionelle Förderung dieses Projektes sehr hilfreich.

Wir wollten einen Text schreiben, der die Psychoanalyse im Licht der neueren Entwicklungen in Philosophie, Wissenschaftsphilosophie und science studies beleuchtet. Seit den Zeiten von Popper und Grünbaum, als die Psychoanalyse zu einem beliebten Watschenmann der Wissenschaftsphilosophie wurde, ist viel geschehen. Das Bewusstsein für die Diversität und die Relevanz von Praktiken für das Verständnis der »Funktionsweise« verschiedener Wissenschaften hat stark zugenommen. Autoren wie Paul Feyerabend, Ian Hacking, Hans-Jörg Rheinberger oder Peter Galison haben unser Verständnis von Wissenschaft grundsätzlich verändert. Die Psychoanalyse kann vor dem Hintergrund dieses neuen Nachdenkens über die Wissenschaften in ihren historischen, verfahrenstechnischen und praktisch-therapeutischen Eigenheiten sehr viel genauer wahrgenommen werden, als das früher möglich war. Alte Sortierungen wie die in erklärende Natur- und verstehende Geisteswissenschaften (bei Habermas, 1973, S. 332–364) oder in rationale, weil falsifizierbare Wissenschaften, und irrationale, weil immune Pseudowissenschaften (bei Popper, 1935, Kap. 20, Methodologische Regeln), sind obsolet geworden, weil sie zu oberflächlich sind.

Andererseits hat sich auch die Psychoanalyse durch die Entwicklung der Einzelwissenschaften, allen voran der Hirnforschung, verändert. Eine Neuropsychoanalyse etwa, wie sie Mark Solms in Südafrika betreibt (Solms & Kaplan-Solms, 2003), wäre zu den Zeiten von Popper und Grünbaum undenkbar gewesen. Ferner hat sich die Landschaft der psychotherapeutischen Ansätze enorm diversifiziert, und tiefe Gräben wie die zwischen behavioristischen und psychoanalytischen Ansätzen sind, wenn nicht zugeschüttet, so zumindest flacher geworden. Auch diese Entwicklungen ließen eine Neubetrachtung der Psychoanalyse angebracht erscheinen. Aus dieser Neubetrachtung ergeben sich gelegentlich Einblicke in die nicht psychoanalytische wissenschaftliche Praxis, die auch für Leser, die sich nicht professionell mit Wissenschaftsphilosophie und science studies befassen, von Interesse sein sollten.

Wir sind sehr ambitiös gestartet mit einer relativ großen Forschungsgruppe zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse, die sich monatlich seit dem Jahr 2009 in den Räumen der ETH Zürich traf. Weil uns schnell klar wurde, dass unser Unternehmen historisch und systematisch sehr anspruchsvoll ist, dachten wir zwischenzeitlich, dass wir unsere Überlegungen in einem Sammelband vorlegen müssten, welcher Beiträge von Wissenschaftshistorikern, Wissenschaftsphilosophen, Psychoanalytikern, Erkenntnistheoretikern und Philosophen des Geistes vereinigt und kommentiert. Flankiert werden sollte dieser Sammelband von Dissertationen zu Geschichte und Theorie der Psychoanalyse. Zu diesem Zweck veranstalteten wir an der ETH mehrere Seminare zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse, zu denen wir Gastvortragende einluden. Andreas Cremonini, Rifka Feldhay, Johannes Fehr, Michael Guggenheim, Olaf Knellessen, Hans-Jörg Rheinberger und andere haben in jenem Kontext vorgetragen und mit uns und unseren Studierenden diskutiert. Sehr viele Gedanken im vorliegenden Buch haben in diesem Zusammenhang ihre erste Gestalt gefunden.

Nach der Anhäufung von viel Material und zahlreichen Ideen haben sich die vier Autoren im Jahr 2011 zusammengetan, um an einer Monographie zu arbeiten. Sie sollte kurz sein und geringere Ansprüche erfüllen als unser ursprüngliches Vorhaben. Doch ihre Realisierung sollte im Unterschied zu den anderen oben genannten Projekten absehbar sein. Zumindest einiges von dem, was wir herausgefunden hatten und was uns in den Arbeitsgruppen- und Seminarsitzungen eingefallen war, sollte endlich einmal »endgültig« festgehalten und der kritischen Öffentlichkeit vorgelegt werden. Das Resultat ist dieser Band.

Allen, die uns auf diesem doch relativ langen Weg begleitet haben, vor allem den Mitgliedern der Forschungsgruppe und den Studierenden unserer Seminare, danken wir für ihre Anregungen.

Wir danken Timon Boehm dafür, dass er in der gewohnten Gründlichkeit den Text redaktionell betreut und die Indices angefertigt hat.

Zürich, Frühjahr 2016

Josef Zwi Guggenheim, Michael Hampe, Peter Schneider,
Daniel Strassberg

 

1          Wissenschaften und ihre Grenzen

 

 

Wissenschaften sind keine natürlichen Arten, und sie handeln auch nicht nur von solchen. » Die Physik«, » die Chemie«, » die Biologie« gibt es nicht wirklich. Ernst Mayr hat behauptet, dass die Biologie seit Darwin die einzige Naturwissenschaft sei, die ohne natürliche Arten operiere, im Unterschied zur Physik, die die Klasse der Elementarteilchen als unveränderbare Arten kennt, und der Chemie mit ihrem Periodensystem (Mayr, 1982, S. 45 f.). Für die Jurisprudenz und die Geschichte liegt auf der Hand, dass sie sich mit Einzelnem und nicht mit natürlichen Arten befassen.

Erst recht gibt es nicht » die Wissenschaft«, außer als wissenschaftsphilosophische Fiktion. Vielmehr handelt es sich bei den universitär gelehrten Disziplinen um Komplexe von Überzeugungen und Praktiken, die historisch entstanden sind und die nicht auf eine einzige zentrale Theorie oder Praxis »zurückgeführt« oder »reduziert« werden können.

In den Entstehungsprozessen dieser Disziplinen werden manche Überzeugungen und Praktiken weitergeführt, andere fallengelassen. Kein Chemiker versucht heute noch, Stoffe auf die aristotelische prima materia zu reduzieren, wie einst die Alchemisten. Doch viele Praktiken der Alchemie, wie hermetische Versiegelung von Reaktionsgefäßen oder Metallproben, werden bis heute weiterhin durchgeführt. Die moderne Chemie wäre ohne die in der Alchemie entwickelten Techniken der Reinigung und Isolation von Substanzen nie entstanden. Die Gründungsväter der Astronomie, Ptolemäus und Kepler, erstellten auch astrologische Gutachten (North, 1965). Die Genauigkeit von Konstellationsprognosen, etwa einer Sonnenfinsternis, war von enormer astrologischer Bedeutung – so wollte beispielsweise kein Feldherr einen Krieg zum Zeitpunkt einer ungünstigen Konstellation beginnen. Das Bedürfnis nach astrologischen Prognosen war eine wesentliche Triebkraft der Herstellung von präzisen Beobachtungen und Berechnungen in der Astronomie, wie sie bis heute, etwa wenn ein Satellit ins All geschickt wird, mit Hilfe der Newton’schen Gravitationstheorie durchgeführt werden. Doch heutige Chemiker und Astronomen würden die damalige Suche nach der prima materia oder der Quintessenz und den Glauben an die Abhängigkeit des Handlungserfolges von Menschen vom Stand der Himmelskörper als irregeleitet und die mit diesen Überzeugungen verbundenen Praktiken als pseudowissenschaftlich kennzeichnen, erst recht, wenn sie auch in der Gegenwart mit neuen Mitteln, aber denselben Grundannahmen (wie etwa im Falle der computerisierten Astrologie) verfolgt werden. Das ändert freilich nichts daran, dass weiterhin mit Horoskopen Geld verdient wird und im Sinne einer banalisierten Alchemie der Handel mit »heilenden« und »schützenden« Mineralien und Metallen in Form von Arm- und Fingerreifen oder Amuletten in esoterischen Kreisen blüht.

Man kann nun mit Blick auf die Geschichte der universitären Disziplinen negativ induktiv schließen, dass auch die heutigen Wissenschaften Konglomerate aus in Zukunft weiterführbaren und historisch nicht überlebensfähigen Überzeugungen und Praktiken darstellen. Mit Blick auf die Welt nicht-universitärer Wissenspraktiken wie der Alchemie und Astrologie ist festzustellen, dass es womöglich keine Überzeugung der Vergangenheit gibt, die, wenn sie es in irgendeiner Form geschafft hat, in unsere Gegenwart überliefert zu werden, in ihr nicht auch Anhänger findet.

In der Wissenschaftsphilosophie hat sich aus dieser Tatsache das sogenannte Demarkationsproblem ergeben, das man wie folgt formulieren kann: Wie unterscheiden wir intellektuelle Projekte, die es vermeintlich zu Recht geschafft haben, sich bis in die Gegenwart fortzusetzen, von solchen, bei denen sich lediglich ein Irrtum perpetuiert; wie unterscheiden wir rationale von irrationalen Unternehmungen oder kurz: Was trennt (wirkliche) Wissenschaften von Pseudowissenschaften? Karl Popper nahm mit dieser Fragestellung einst die Psychoanalyse und den Marxismus ins Fadenkreuz seiner normativen Wissenschaftsphilosophie.1 Dabei schien er jedoch nicht nur davon auszugehen, dass einzelne wissenschaftliche Disziplinen homogene Gebilde sind, von denen als solchen festgestellt werden kann, ob sie wissenschaftlich (weil fallibel, wenn wir das Popper’sche Kriterium anwenden) oder pseudowissenschaftlich sind, sondern auch, dass es so etwas wie »die Rationalität«, »die Wissenschaft überhaupt« gibt.

Eine historisch reflektierte Wissenschaftsphilosophie, welche die Einsichten von Ludwik Fleck, Georges Canguilhem, Gaston Bachelard, Thomas Kuhn und Paul Feyerabend ernst nimmt, kann die Probleme nicht mehr so eindimensional sehen und auch die Psychoanalyse nicht als ein homogenes Gebilde betrachten, das als solches entweder als eine Wissenschaft oder als pseudowissenschaftlich einzustufen ist. Eine historische Epistemologie wird vielmehr sowohl das Prädikat »wissenschaftlich« wie »pseudowissenschaftlich« zeitlich indexikalisieren: Die Astrologie war im 16. Jahrhundert eine an den Höfen Europas – nicht jedoch an den christlichen Hochschulen – betriebene Wissenschaft. Sie ist in ihren Exaktheitsansprüchen und ihrem Empirismus die historische Voraussetzung der bis heute betriebenen mathematischen Konstellationsprognose. In der Gegenwart sind das astrologische Überzeugungssystem sowie die astrologischen Praktiken jedoch zu einer Pseudowissenschaft geworden. Die Alchemie war ebenfalls nie eine universitäre, sondern eine höfische Disziplin mit Wissenschaftsanspruch. Doch ihre Praktiken sind eine der wichtigsten Voraussetzungen der heute universitär anerkannten Chemie und Pharmazie.

Die normative Wissenschaftsphilosophie, die glaubte, auf der Grundlage von philosophischen Rationalitäts- und Methodenkonzepten zwischen Wissenschaften und Pseudowissenschaften unterscheiden zu können, ist der Idee des Fortschritts verpflichtet. Seit Hegel existiert der Gedanke, dass die geistige Entwicklung der Menschheit eine Richtung habe. Eine normative Wissenschaftsphilosophie vom Typ Poppers (auch wenn der sich nicht in einer Linie mit Hegel sehen mochte) wollte dem Fortschritt dienen, indem sie vermeintlich irrationale intellektuelle Projekte als in Zukunft nicht fortsetzbare schon jetzt kritisiert und sich so als Agent der Progression (durch Selektion und Exklusion) der Vernunft und der sukzessiven Wahrheitsannäherung betätigt. Auch die Psychoanalyse sollte in diesem Zusammenhang als nicht zukunftsträchtig antizipierend ausgemerzt werden. Nun ist es mit dem Fortschritt so eine Sache; er scheint selbst wenig Zukunft zu haben. Die mythischen Politikkonzepte der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts (wie Ernst Cassirer in The Myth of the State analysiert hat [Cassirer, 1946]) widersprechen der Hegel’schen Vorstellung eines Fortschritts der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit. Die Rückkehr der Religionen als Lebensformen bestimmende Überzeugungssysteme und die damit seit der Romantik ablaufenden Revolten gegen die Aufklärung – ehemals sentimentalisch rückwärtsgewandt, jetzt fundamentalistisch gewalttätig – lassen ebenso wie die Urstände des Aberglaubens in der Esoterikbewegung an der historischen Notwendigkeit einer Entwicklung der Menschheit hin zu einem bestimmten Rationalitätstyp zweifeln. Die lineare Ordnung der Zeit, in der sich »die Wahrheit«, »die Wissenschaft« und »das Vernünftige« durchsetzen und »das Irrationale« ausstirbt, scheint entweder eine vereinfachende Vergangenheitsdeutung zu sein (die Welt war immer schon komplexer, als ihre Diagnostiker meinten), oder eine Gleichzeitigkeit inkompatibler Denk- und Lebensformen ist an Stelle der Fortschrittsideologie Bestandteil der Selbstdeutung der Gegenwart geworden.

Ist vielleicht deshalb auch die Psychoanalyse lediglich »übrig geblieben«? Hat sie sich analog zur Astrologie fortgesetzt? Auch der Marxismus, von Popper als »die andere Pseudowissenschaft« bekämpft, feiert neuerdings ja muntere Renaissancen, seit »der Markt« als Inkarnation der kollektiven Vernunft durch die Finanzkrise ausgedient hat. Durch Hinweise auf diese historischen und rezenten Erscheinungen kann freilich auch eine normative Wissenschaftsphilosophie, die an einen bestimmten Vernunftbegriff als pacemaker der Geistesgeschichte glaubt, nicht zum Verschwinden gebracht werden. Niemand kann daran gehindert werden, eine bestimmte Form des Denkens und der wissenschaftlichen Praxis als die einzig legitime anzusehen, auch wenn er keine legislative Gewalt über das menschliche Denken und Handeln besitzt und kein Copyright auf bestimmte Rationalitäts- und Rechtfertigungsbegriffe anmelden kann. Dass die Psychoanalyse sich als eine Denk- und Therapieform einfach immer weiter fortsetzt, auch wenn sie von einigen Vertretern der naturwissenschaftlichen Medizin und von dem Fortschritt verpflichteten Wissenschaftsphilosophen als irrational und unhaltbar kritisiert wird, kann Poppersch gesehen entweder nur als historisches Wunder bestaunt oder mit dem Hegel’schen Kommentar »umso schlimmer für die Wirklichkeit« aktiv ignoriert werden. Wir glauben jedoch, dass die Psychoanalyse sich fortgesetzt hat, weil sie ein vernünftiges Projekt der Erkenntnis und Heilung von psychischem Leiden sui generis ist. Es ist philosophisch bisher noch nicht ausreichend gelungen, dieses Projekt zu erkennen, weil die falschen Fragen über die Psychoanalyse gestellt wurden, wie die, ob sie eine Wissenschaft oder eine Pseudowissenschaft, eine Natur- oder hermeneutische Wissenschaft sei. Stattdessen ist im Anschluss an John Forrester zu erwägen, ob und wie die Psychoanalyse eine eigene Form des »Denkens in Fällen« entwickelt hat (Forrester, 1996). Vielleicht kann das Denken in Fällen, wenn man seine Muster und seine Früchte einmal erfasst hat, sich sehr wohl als »rational« erweisen. Auch ein britischer Jurist denkt in Fällen und nicht deduktiv mathematisch. Auch er macht keine Experimente. Vielleicht falsifiziert er Annahmen. Doch das könnte auch bei der Psychoanalyse so sein. Wenn wir der Tätigkeit des britischen Juristen, der Fallbeispiele wälzt und aufeinander bezieht, das Adjektiv »rational« gönnen, vielleicht sollten wir es dann auch der Psychoanalyse nicht vorenthalten. Man muss nicht, aber man kann die Jurisprudenz, auch die nach dem angloamerikanischen case-law, eine Wissenschaft nennen (auf Deutsch spricht man ja von den »Rechtswissenschaften« und nicht von den »Rechtskünsten«), denn dieses Denken weist eine Systematik auf.2 Vielleicht gibt es so etwas auch in der Psychoanalyse – wir werden sehen. Dann könnte das systematische Denken in Fällen, das juristische wie das psychoanalytische, anders als Popper und seine Anhänger dachten, sowohl rational als auch wissenschaftlich sein. Bevor wir uns dieser Einsicht nähern, ist jedoch einiges wissenschaftsphilosophisches Geröll aus dem Weg zu räumen.

Eine Besonderheit der Psychoanalyse besteht darin, dass sie die Bühne der Wissenschaft (freilich nicht die der Universität) mit einer expliziten Bezugnahme auf vor-, un- und pseudowissenschaftliche Praktiken und Anschauungen betritt. Allein der Titel von Freuds Die Traumdeutung belegt das, indem der Volksglaube, dass Träume einen Sinn haben, rehabilitiert wird und der kontextbezogenen Deutungspraxis eines Artemidorus als brauchbare Ur-Idee, ein Ausdruck Ludwik Flecks, ihre Reverenz erwiesen wird (Fleck, 1994). Durch auf antike Mythen bezogene Begriffsbildungen wie »Ödipuskomplex« und »Narzissmus« unterstreicht Die Traumdeutung die Kontinuität zwischen neuem wissenschaftlich-psychoanalytischem und außerwissenschaftlichem Wissen. Sie etabliert sich, äußerlich betrachtet, somit zunächst nicht als ein antimythologisches aufklärerisches Wissen, sondern (zumindest partiell) als »close reading« des Mythos (Winter, 1999). Und in der Schreber-Analyse Freuds finden wir den Ansatz zu einer Kritik der wissenschaftlichen Systemrationalität, die immer Gefahr laufen kann, die Züge eines paranoiden Wahnsystems anzunehmen, wenn sie es mit ihrer Systematisierung übertreibt.

Während der Fortschritt der Psychoanalyse zunächst darin bestand, sich neue Gegenstände wie sprachliche Fehlleistungen, Witze, die Tabus der Wilden, die Kriegsneurosen und -traumata, die Religionsrituale usw. einzuverleiben, wird er heutzutage vor allem in Annäherung an zeitgemäße technische Verfahren, wie etwa der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI), gesucht. Dabei sucht man den Anschluss einerseits an alte Experimente aus dem Umkreis der Psychoanalyse (wie z. B. Pötzls Konzept der psychischen »Nachentwicklung« subliminal dargebotener Reize im Traum [Pötzl, 1917]), welche innerhalb neuer Versuchsanordnungen bestätigt werden; andererseits unternimmt man eine Verschiebung des Gegenstandsbereichs, der den Anforderungen des neuen technischen Equipments besser genügt als die alten epistemischen Gegenstände (Leuschner, 2002). An die Stelle des Interesses am verdrängten Unbewussten oder gar am Urverdrängten tritt z. B. die Erforschung vorbewusster Wahrnehmung. Damit werden nicht nur manche Teile der Psychoanalyse zur Vor-Wissenschaft (sofern sie mit den neuen Methoden nicht bestätigt werden können), sondern es erscheinen auch gewisse ehemals psychoanalytische Gegenstände als nicht mehr wissenschaftlich, weil die Art ihrer Präparation nicht mehr als wissenschaftlich angesehen wird.

Die Historisierung der Wissenschaftstheorie – durch Autoren wie Fleck, Kuhn und Bachelard – hat zwar mit dem alten cartesischen Traum einer mathesis universalis als allgemeingültigem Rationalitätsstandard aufgeräumt, mit dem sich pseudo-, außer- und vorwissenschaftliches Wissen eindeutig vom wissenschaftlichen unterscheiden lässt, sie hat aber gleichzeitig das Demarkationsproblem unlösbar gemacht. Wenn jede Beobachtung theoriegeladen ist und durch einen Denkstil, ein Paradigma, eine episteme oder ein konzeptuelles Schema (»conceptual scheme«) vorgespurt wird, so gibt es keinen außerbegrifflichen archimedischen Punkt mehr, von dem aus entschieden werden kann, ob ein Paradigma wahr ist oder nicht, ob es die Wirklichkeit besser »abbildet« als ein anderes, ob es wissenschaftlich ist oder nicht (Lacewing, 2014).

So sympathisch Paul Feyerabends Polemik des anything goes als das Resultat des gegen Popper’sche Demarkationsbemühungen gewandten historischen Denkens auch erscheinen mag, so kontraintuitiv ist sie geblieben. Irgendetwas sagt uns, dass Homöopathie oder Scientology nicht den gleichen Wissenschaftsstatus beanspruchen können wie Bakteriologie oder Teilchenphysik und dass auch die Psychoanalyse nicht mit Kartenlegen und Engelskunde in einen Topf gehört. Den Unterschied darauf zu reduzieren, dass die einen Unternehmungen an Universitäten betrieben und gelehrt werden und dafür öffentliche Gelder erhalten und die anderen nicht, sondern sich auf Esoterikmessen präsentieren und sich privat finanzieren, befriedigt nicht. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft lässt sich nicht an der institutionellen Praxis allein festmachen. Erstens wird psychoanalytische Theorie, wenn auch selten, sehr wohl an Universitäten gelehrt (wie übrigens inzwischen auch die Homöopathie) und in den Geisteswissenschaften breit rezipiert. Zweitens funktionieren psychoanalytische Kongresse anders als Esoterikmessen und orientieren sich am traditionellen Wissenschaftsbetrieb, in dem Forschungsergebnisse vorgetragen, die Standesorganisation verwaltet, aber nicht für Produkte geworben wird. Es ist deshalb nötig, das Demarkationsproblem nicht einfach beiseitezuschieben, sondern es neu aufzurollen, und das heißt, sich noch einmal genauer aus einer wissenschaftsphilosophischen Perspektive mit dem Begriff der Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu befassen.

Der logische Empirismus verfolgte bekanntlich eine Bottom-up-Strategie: Den Boden der Erkenntnis bildeten in dessen Rekonstruktion des Wissens reine Beobachtungen, die in Protokoll- oder Basissätzen aufgezeichnet werden, aus denen sich Hypothesen ergeben, die experimentell geprüft und zu allgemeinen Theorien zusammengefügt werden können. Veränderungen der Theorie ergeben sich dann, wenn Beobachtungen der Theorie widersprechen. Die historische Wissenschaftstheorie hingegen geht von einem Top-down-Verfahren aus: Beobachtungen spezifischer Phänomene sind erst auf Basis eines ausgebildeten Paradigmas oder Denkstils möglich. Veränderungen des Paradigmas ergeben sich entweder aus externen oder aus internen Gründen. Dem logischen Empirismus und der historisch orientierten Top-down-Strategie ist freilich die Vorstellung gemeinsam, dass

•  sich Theorien als Ganzes verändern und auf einen Schlag verändern,

•  dass zwischen Beobachtungen und Theorien eine enge und starre Verbindung herrscht.

In anderen Worten: Beide Sichtweisen hängen einem gängigen Dualismus von Theorie und Empirie an.

Peter Galison hat allerdings anhand akribischer Untersuchungen der modernen Physik gezeigt, dass sich dieser Dualismus nicht halten lässt (Galison, 1997). Die Physik bildet keinen einheitlichen theoretischen Block, und Veränderungen erfolgen auch nicht auf einen Schlag durch neue Erkenntnisse aus dem Labor. Denn einerseits existieren in der Physik zwei relativ unabhängige epistemische Traditionen, von denen die eine ihre Beweise aus Bildern, aus dem Sichtbarmachen von Einzelereignissen (golden events) bezieht, die andere aber auf statistisch ausgewertete Zählverfahren baut. Zum anderen bilden theoretische Physiker, Experimentatoren und Ingenieure, die die Apparaturen entwickeln, unabhängige Subkulturen, die über eigene Publikationsorgane und Konferenzen und auch über je eigene Theorien verfügen, und zwischen denen bei Theorieentwicklungen in sogenannten »trading zones«, wie Galison es nennt, Verhandlungen über terminologische Entscheidungen stattfinden.

Da der Fortschritt der Physik aber auf alle Subkulturen angewiesen ist, sind die jeweiligen Subkulturen gezwungen, zusammenzuarbeiten, indem sie sich auf lokale und zeitlich begrenzte Sprachen (Pidgin oder Kreolen) einigen. Diese temporären und lokalen Sprachen ermöglichen es, Probleme zu lösen, ohne dass dabei eine der Unterdisziplinen ganz auf ihre eigene Sprache verzichten muss. Gerade dann, wenn sich eine disziplinäre Subkultur verändert, ist sie darauf angewiesen, dass eine andere relativ stabil bleibt. Eine neue Theorie kann sich an alten Experimenten und Apparaturen bewähren, während eine neue Apparatur ein altes Experiment verbessern kann.

Stephen Toulmin hat vor Galison gezeigt, dass weder der radikale Absolutismus, der sich am cartesischen Kalkül als Wissenschafts- und Vernunftideal orientiert, noch ein historischer Relativismus, der die Veränderungen der Wissenschaften auf das Kommen und Gehen jeweils absolut gesetzter Voraussetzungen zurückführt, den tatsächlichen Entwicklungen des Denkens und der wissenschaftlichen Praxis gerecht werden. Beide, kalkülisierender Absolutismus wie historischer Relativismus, betreiben einen »Kult der Systematik«, wie es Toulmin nennt (Toulmin, 1983, Ch. I, 2.). Sie übersehen, dass Ideenwandel nicht dadurch zustande kommt, dass man an einem einzigen und endgültigen Wissenschaftssystem zu bauen versucht oder abrupt von einem System zum nächsten wechselt. Nur unter dieser Perspektive erscheint die Geschichte des Denkens von »Umstürzen« und »Revolutionen« geprägt. Toulmin möchte sie stattdessen als eine Evolution begreifen, in der sich »Ideenpopulationen« (ebd.) verändern. So wie in einer Population von Organismen viele Möglichkeiten der organischen Existenz realisiert sind und keine einzige Variante »die Art an sich« darstellt, werden in einer von »trading zones« im Galison’schen Sinne durchzogenen Wissenschaftslandschaft unterschiedliche disziplinäre Konstellationen realisiert, die mal zur Dominanz der einen Terminologie und Theorie und zum Verblassen anderer führen, mal zum Entstehen einer neuen Disziplin, mal zum Verschwinden einer anderen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte beispielsweise in der Biologie zuerst der Aufstieg einer mit den Begriffen »Instinkt«, »Auslöser«, »Appetenzverhalten« etc. operierenden Verhaltenswissenschaft beobachtet werden (angeführt von Forschern wie Konrad Lorenz und Niklas Tinbergen), die dann einer Verhaltensphysiologie und Verhaltensgenetik weichen musste, während neuerdings, durch Arbeiten wie die von Michael Tomasello und Julia Fischer, die Verhaltensforschung innerhalb der evolutionären Anthropologie eine Auferstehung erfährt (Tomasello, 2006; Fischer, 2012). Würden Wissenschaften immer feste deduktive Systeme bilden, Gebäude mit stabilen Fundamenten, die im Sinne einer Kantischen Vernunftarchitektonik Stockwerk für Stockwerk errichtet wurden, so wären kontinuierliche Veränderungen wie die eben geschilderten innerhalb der Wissenschaftslandschaft der Biologie gar nicht nachvollziehbar. Man könnte dann vielmehr nur von der Zerstörung und Neuerrichtung von ganzen Denkgebäuden sprechen, nicht aber von der Entwicklung von Disziplinen (ebd., S. 157). Die Geschichte des Denkens und der Einzelwissenschaften, in der beispielsweise aus der außeruniversitären Randerscheinung der cartesischen und leibnizschen mathesis universalis das Paradigma für Rationalität überhaupt wird, Rhetorik und Grammatik als ehemals zentrale Hochschuldisziplinen aber ganz verschwinden beziehungsweise an den Rand der akademischen Welt verdrängt werden, ist also mehr als eine »Drift« von mehr oder weniger eng miteinander verbundenen Überzeugungen und Praktiken zu begreifen, die auch außeruniversitäre Ideenpopulationen betrifft. Diese Drift findet in Ideenlandschaften statt, in denen manche Ideenkomplexe riesige Gebirge bilden (wie die Ideen der Mathematik) und andere kleine Wälder oder Teiche, wie die der Mineralogie oder die der Ornithologie. In diesen Landschaften tauchen auch Ideen zuerst einmal in einem Gebiet auf, das nachträglich als Pseudowissenschaft kartographiert wird, wie die Alchemie, und wiederholen sich dann in einem anderen Komplex, der nicht so bezeichnet wird, wie beispielsweise in der Pharmazie.

Auch die Psychoanalyse ist in einer solchen Landschaft situiert, einer Landschaft des Wissens und des therapeutischen Handelns. Sie kommuniziert mit medizinischen und psychologischen Praktiken der Therapie und mit Ideenkomplexen der Natur- und Kulturwissenschaften. Sie tut dies seit ihren Freud’schen Anfängen. Dabei steht sie weder ganz außerhalb noch ganz innerhalb eines bestimmten disziplinären Gebäudes. Ebenso wenig wie die Ornithologie oder die Elektrotechnik eine Wissenschaft bilden, in deren Zentrum eine bestimmte Theorie stünde, die durch für sie allein charakteristische empirische Verfahren geprüft werden sollen, speist sich auch die Psychoanalyse nicht von einem solchen eigenen Zentrum. In der Psychoanalyse wird eine therapeutische Praxis mit verschiedenen Theorien auf eine sehr spezifische Weise verknüpft, so dass das Individuelle nicht einfach unter eine allgemeine Gesetzesannahme subsumiert wird, sondern die Heilung der einzelnen Person Motor einer allgemeinen Theoriedynamik ist. Und umgekehrt werden neue allgemeine theoretische Annahmen in therapeutische Praktiken übersetzt, so dass es weder ein Primat des Allgemeinen vor dem Individuellen noch die gegenorientierte Priorisierung in der Psychoanalyse gibt.

Auf die Neuformulierung des Demarkationsproblems angewandt, lässt sich allgemein über den Begriff der Grenze in der Wissenschaftsphilosophie das Folgende festhalten: Es gibt nicht nur Grenzen zwischen einzelnen Disziplinen oder zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft, sondern es existieren auch vielfältige lokale und temporale Grenzen innerhalb von Wissenschaften sowie Grenzen zwischen Populärkultur und Wissenschaften und zwischen geldgebenden Institutionen und den Wissenschaften. Der über diese Grenzen stattfindende Austausch von Ideen, Erkenntnissen und Rechtfertigungsstrategien ist ein wesentlicher Motor der Entwicklung von Disziplinen und Theorien.

Diese Grenzen sind keine scharfen Linien, die zwei Gebiete scheiden und von Popper’schen Wachhunden beschützt würden, sondern sie sind Zonen, in denen verhandelt wird, ob etwas eher so oder anders gesehen und beschrieben werden sollte. Manchmal, in glücklichen Phasen, entstehen dabei neue Terminologien. Die Grenzen müssen – aus der Perspektive einer historischen Erkenntnistheorie – nun nicht danach beurteilt werden, wie scharf sie Gebiete und Bereiche separieren, sondern wie fruchtbar sie bei der Erzeugung neuer Erkenntnisse sind, das heißt, wie groß der Verhandlungsspielraum ist, der an ihnen erzeugt werden kann, und wie viel Veränderungen sie den Verhandlungspartnern gestatten. Gerade eine klare Grenze, die ein intellektuelles Projekt um sich zieht, wäre in diesem Sinne ein »Kriterium« für eine Pseudowissenschaft, die Veränderungen als Bedrohungen einer Dogmatik fürchtet.

In diesem Sinne wären dann Scientology und Astrologie als Pseudowissenschaften einzustufen, sofern sie bei bestimmten Themen eine absolute Hegemonie der Theorie anstreben und durch eine spezifische Undurchlässigkeit ihrer Grenzen gekennzeichnet sind. Die Theorie einer Pseudowissenschaft wird nicht verhandelt, sondern absorbiert bloß: Experimente werden nicht dazu verwendet, neues Wissen zu generieren oder altes in Frage zu stellen, sondern bloß dazu, altetabliertes Wissen zu illustrieren und zu bestätigen. Mit anderen Disziplinen wird nicht verhandelt, sondern sie werden ausgebeutet, Apparaturen, wie der E-Meter der Scientologen, dienen der Rechtfertigung und nicht der Infragestellung.

Diese Bestimmung der Pseudowissenschaft als eines intellektuellen Gebietes, das sich durch semipermeable Grenzen abschließt, erlaubt es, sich nicht mit der Unterscheidung von Pseudowissenschaften von Wissenschaften begnügen zu müssen, sondern auch innerhalb von etablierten Wissenschaften pseudowissenschaftliche Praktiken identifizieren zu können. Wenn zum Beispiel, wie es heute gang und gäbe ist, die Heisenberg’sche Unschärferelation herangezogen wird, um Unklarheiten oder Ambiguitäten in irgendeinem Gebiet zu rechtfertigen, das mit der subatomaren Welt gar nichts zu tun hat, so kann man darin eine pseudowissenschaftliche Praxis sehen. Man kann vermuten, dass gewisse pseudowissenschaftliche Immunisierungsstrategien – Bereiche, die nicht verhandelbar sind – durchaus notwendig sind, um die Konsistenz wissenschaftlicher Disziplinen zu sichern.

Welches Licht werfen diese Überlegungen nun auf die Psychoanalyse? Gewiss zeigt die Psychoanalyse in ihrer Tendenz zu Schulbildungen, zu Ausschlüssen, zur theoretischen Selbstimmunisierung, zur bloß legitimatorischen Verwendung von Experimenten und Apparaturen (wenn man den psychoanalytischen Kernkonflikt oder das Trauma beispielsweise im fMRI darstellen will) bisweilen pseudowissenschaftliche Züge, vielleicht aus Gründen eines Legitimationsdefizits sogar mehr als andere universitär etablierte Wissenschaften. Ganz unrecht hatte Popper wohl nicht. Aber gleichzeitig lassen sich auch unzählige Grenzbereiche (innerhalb der Psychoanalyse wie auch nach außen) identifizieren, in denen Verhandlungen stattfanden und noch immer stattfinden. Zweifellos ist die Neuropsychoanalyse, die Mark Solms mit Schlaganfallpatienten durchführt, ein Beispiel für eine solche terminologisch und therapeutisch fruchtbare »trading zone«. Die Verhandlungsgebiete zwischen der Psychoanalyse und der Ethnologie, der Literaturwissenschaft oder der Existenzphilosophie sind andere bekannte Beispiele aus der Vergangenheit der Entwicklung der Psychoanalyse.

Ein anderes Beispiel der Dialektik von Grenzziehungen ist hingegen der Ausschluss Jacques Lacans aus der französischen psychoanalytischen Gesellschaft 1953. Die Protagonisten waren Sascha Nacht, Daniel Lagache und Jacques Lacan. Nacht wollte die Psychoanalyse in der medizinischen Fakultät etablieren, Lacan strebte einen Anschluss an die zeitgenössische Philosophie an. Lagache wurde zwischen ihnen aufgerieben, weil er die Psychoanalyse als Psychologie verstand und sie dort verankern wollte. Nacht stieß sich an der Lacan’schen Praxis der verkürzten Sitzungen, weil diese dem medizinischen Ethos widersprach. Um überhaupt mit der Medizin verhandeln zu können, musste er eine innere Grenze schließen und Lacan ausschließen. Lagache versuchte bis zuletzt, die Grenzen offen zu halten, musste schlussendlich aber nachgeben und sich auf die Seite von Sascha Nacht schlagen (Roudinesco, 1996, S. 305 ff.).

Eine der Schwierigkeiten für das Verständnis des »boundary work«, wie Thomas F. Gieryn es genannt hat, besteht also darin, das Demarkationsproblem nicht als (normatives) erkenntnistheoretisches Problem, sondern als (faktisches) Moment der Wissenserzeugung, -stabilisierung, -erweiterung und -veränderung selbst zu betrachten. Die meisten (wenn nicht alle) Wissenschaften sind föderal organisiert (Gieryn, 1983). Grenzziehungen und Verschiebungen bedeuten nicht automatisch Ausschlüsse, sondern begründen Territorien mit einer mehr oder weniger weitreichenden Teilautonomie (man denke etwa an die Etablierung der Molekularbiologie als einem von der Genetik, der organischen Chemie und der Zytologie unabhängigen disziplinären Territorium in der Biologie). In der Psychoanalyse sind dies etwa die Kinderpsychoanalyse, die Traumaforschung oder die Bindungstheorie. Angesichts solcher Territoriumsbildungen kommt dann häufig die Frage auf: Was ist aber überhaupt die »eigentliche« Psychoanalyse? Diese Frage ist mit Verweis auf das Unbewusste scheinbar leicht zu beantworten (vgl. etwa Leuzinger-Bohleber & Weiß, 2014.). Doch enttäuscht diese Antwort sofort, weil man ja nach einer zentralen Theorie, wie der der Evolution oder der Gravitation gefragt hatte. Eine solche Theorie des Unbewussten gibt es jedoch nicht, sondern verschiedene dezentrale Konzepte des Unbewussten, die bei Freud später unter Zuhilfenahme des Ödipuskomplexes vereinheitlicht werden sollten (vgl. Schneider, 2011 und Schneider, 2012a). Aus der lokalen klinischen Empirie und ihrer verallgemeinernden Rückbindung an die mythische Ödipuserzählung wurde so die »Zentraltheorie« bzw. der Zentralfall oder die Zentralerzählung des Ödipuskomplexes geformt.

Die Ödipuserzählung verlor ihre vereinheitlichende Macht in der Psychoanalyse mit dem »widening scope« (Stone, 1954). Mit ihm sollte die psychoanalytische Praxis nicht nur auf Neurosen, sondern auch auf Psychosen, Grenzfälle, Verwahrlosung, Süchte, kurz: frühe (also präödipale) Störungen angewandt werden. Dies entspricht in gewisser Hinsicht der Entwicklung der Physik im 19. und der Biologie im 20. Jahrhundert. Der lokale Determinismus der Newton’schen Mechanik verlor im 19. Jahrhundert durch die Entwicklung der Feldtheorie im Elektromagnetismus (Maxwell) und der statistischen Thermodynamik (Boltzmann) seine vereinheitlichende Macht, die jetzt in einer subsumierenden Feldtheorie wieder gesucht wird, die die Gravitationstheorie und die Quantenfeldtheorie zusammenführen soll. Die Darwin’sche Evolutionstheorie wurde im 20. Jahrhundert durch die Entdeckung mitochondrialer Vererbung und der Epigenetik als zentrales Dogma der Biologie eingeschränkt. So wie jemand, der die Newton’sche Physik im Bereich mittelgroßer Objekte und Geschwindigkeiten anzweifelt, Schwierigkeiten in der physikalischen community bekäme oder jemand, der die Prozesse der Mutation und Selektion durch einen Kreationismus ersetzen wollte, nicht als Biologe akzeptiert würde, wäre ein Theoretiker, der die Existenz des Unbewussten überhaupt bestreitet, kein Psychoanalytiker. Die Ödipuserzählung hat in der Psychoanalyse inzwischen dagegen eher die Position der Newton’schen Mechanik inne: Sie findet in bestimmten eingeschränkten Bereichen der psychoanalytischen Praxis (und Theorie) noch ihre Anwendung. Wer sich auf dieses Modell jedoch nicht bezieht, kann Psychoanalytiker bleiben, sofern er die Annahme eines dynamischen Unbewussten weiterhin akzeptiert. Der Ödipuskomplex ist also nicht mehr in der Lage, alle psychoanalytischen Subterritorien zusammenzuhalten.

Das »boundary work« kann auch innerwissenschaftlich die Verhältnisse umkehren: Ausgegrenztes erhält im Zuge der Entwissenschaftlichung des Territoriums innerhalb der alten Grenzen die Chance, sich in eine zentralere Position zu begeben und wieder als Wissenschaft etabliert zu werden. Wie die astrologischen Ideen Keplers, von denen die brauchbaren an anderer Stelle wiederaufgetaucht sind, da sie sich als wissenschaftlich anschlussfähig erwiesen haben. Wissenschaft grenzt also nicht nur aus, sie kann auch emigrieren. Was freilich den Emigranten als Aufbruch in eine neue, bessere Welt erscheint und manchen Fachvertretern als ein zu stoppender brain drain, erweist sich in den Augen jener des Mutterlandes als Landesverrat, z. B. als legitimatorische Wissenschaftssimulation.

Doch zurück zum eigentlichen Demarkationsproblem. Es besteht Einigkeit darüber, dass es für viele Wissenschaften charakteristisch ist, allgemeine Sätze mit Wahrheitsanspruch aufzustellen. Freilich ist dieses Charakteristikum nicht hinreichend. Sobald sich allgemeine Sätze – wie in den Experimentalwissenschaften im Unterschied zur Mathematik üblich – auf Erfahrungstatsachen beziehen, braucht es Überprüfungsverfahren, welche den Zusammenhang zwischen singulärer empirischer Tatsache und dem allgemeinen Satz sichern. Solche allgemeinen Prämissen formulieren häufig kausal interpretierbare Abhängigkeitsverhältnisse, die in Erklärungsprozeduren Verwendung finden. Zwei Verfahren sind allgemein akzeptiert, die den Zusammenhang zwischen allgemeinem Satz und einzelnem Sachverhalt garantieren: die Statistik sowie der »golden event« im Sinne Galisons (Galison, 1997, S. 234–236). Das statistische Verfahren zählt eine große Zahl von einzelnen Ereignissen unter festgelegten Bedingungen. Ergibt diese Zählung mit einem validierten und reliablen Verfahren ein signifikantes Übergewicht auf der einen Seite, wird eine Kausalität angenommen, welche das Übergewicht erklärt. Eine starke Theorie verlangt zugleich eine statistische Bestätigung und eine theoretisch plausible Kausalitätshypothese.

Dem gegenüber steht der golden event. Hier wird ein Ereignis gesucht, das aufgrund von Symmetriebedingungen zu erwarten ist. Wird es gefunden, wie zum Beispiel das Higgs-Boson oder das missing link in der Evolutionstheorie, gilt die Theorie als bestätigt. In beiden Fällen bestätigen (oder falsifizieren) singuläre Ereignisse die allgemeine Theorie und die ihr zugrunde liegende Kausalität, im einen Fall durch die große Zahl standardisierter Beobachtungen, im anderen durch das bildliche Festhalten des golden event.

Das Paradebeispiel für solche allgemeinen Sätze sind Symmetriegleichungen, wie man sie in der Physik findet, in denen funktionale Abhängigkeiten zwischen messbaren Größen behauptet werden. Solche funktionalen Abhängigkeiten werden meist als Kausalrelationen betrachtet, und statistische Verfahren haben den Sinn, Abweichungen von angenommenen Symmetriebedingungen festzustellen und diese einer Kausalität zuzuordnen. Eine Theorie entsteht dann, wenn eine Anzahl statistisch ermittelter Kausalrelationen in einen widerspruchsfreien Begründungszusammenhang gebracht werden kann.

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