Heike Baldauf
Vietnam
Ein Länderporträt
Ein Länderporträt
Für meine Kinder
Editorische Notiz
Vietnamesisch ist eine Tonsprache, die durch diakritische Zeichen zum Ausdruck kommt. Diese Zeichen werden im Buch bei jedem vietnamesischen Wort verwendet, dessen Übersetzung Sie im Glossar finden. Dabei gibt es fünf Ausnahmen: Anstelle von Thành phố Hồ Chí Minh schreiben wir die eingedeutschte Version Ho-Chi-Minh-Stadt. Das gilt ebenso für Vietnam, Hanoi, Saigon und den Hoan-Kiem-See.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage als E-Book, Oktober 2016
entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover und Gestaltung: Stephanie Raubach, Berlin
Abbildungsnachweis Cover: Junge Frau im traditionellen áo dài am Eingang eines Restaurants; Hội An, Zentralvietnam, © Heike Baldauf
Karte: Peter Palm, Berlin
Lektorat: Günther Wessel, Berlin
eISBN 978-3-86284-366-4
Vorwort
Auf ex – der Krieg als Cocktail
Leben mit der Vergangenheit
Kriegsberichterstatter
Land- und Stadtleben
Trần Đăng – Spaziergang durch ein Dorf
Hanoi – Liebeserklärung an eine Stadt
Der See des zurückgegebenen Schwertes
Die 36 Gassen
Hanoi schaut in eine Himmelsrichtung – nach Westen
Grenzen verschwimmen – die Stadt kommt ins Dorf
Lieblingsorte – Hanoi zum Genießen
Feste, Bräuche, Kalender und Ahnenkult
Tết Nguyên Đán – vier Anlässe zum Feiern
Der Ahnenaltar – Schmuckstück voller Symbolkraft
Politik, Wirtschaft, Gesundheit, Bildung und Kultur
Onkel Hồ und seine Erben
Machtspiele hinter den Kulissen
Korruption – das Geld kommt im Briefumschlag
Vietnam – der beste Ort für Investitionen in der ASEAN
Turbokapitalismus auf Kosten von Mensch und Natur
Zweiklassengesellschaft – Gesundheit kostet
Soziale Gerechtigkeit – 800 Streiks im Jahr
Bildung für alle – eine Erfolgsgeschichte
Kunst und Kultur – trotz Zensur sehr lebendig
Tourismus – ein stotternder Wirtschaftsmotor
Bunte Vielfalt – zu Gast bei einigen der 54 Ethnien
Der Fremdenverkehr – ein wichtiger Devisenbringer
Deutsche in Vietnam, Vietnamesen in Deutschland
Wie Vietnamesen denken und fühlen
Sprache geht durch den Magen
Auf keinen Fall Einsamkeit
Vietnamesen sind (Ausnahmen bestätigen die Regel) …
Gute und schlechte Sitten – aus westlicher Sicht
Im Straßenverkehr
Unter der Sonne
Für die Gesundheit
Am Tisch
Für das Glück
Für den Umsatz
Zu Hause
Eine Reise in die Zukunft
Nachwort
Anhang
Dank
Abkürzungen
Wichtige Medien
Literaturempfehlungen
Vietnamesisch-deutsches Glossar
Basisdaten
Karte
Über die Autorin
B 52 ist heute kein Flugzeug mehr, das Bomben auf Hanoi wirft, sondern ein Cocktail in angesagten Bars der Hauptstadt. Dennoch muss ich mit dem Krieg beginnen.
Ich war sechs Jahre alt, als ich im Radio immer wieder ein und dasselbe vietnamesische Kinderlied hörte: »Bé bé bằng bông, hai má hồng hồng …« Es handelte von einem Mädchen, das seine Eltern und sein Zuhause verlassen musste, um mit anderen Kindern Schutz vor dem Terror aus der Luft zu suchen. Die Geschosse der Amerikaner fielen wie Regen vom Himmel. Die DDR, in der ich aufwuchs, stand solidarisch zu ihrem damaligen sozialistischen Bruderstaat in Südostasien. Bald schon konnte ich das Lied singen, ohne jedoch seinen Inhalt zu verstehen. Die Melodie gefiel mir, auch die Sprache. Ein auf und ab von sechs Tönen. So begann meine Liebe zu diesem fernen Land und seinen Menschen.
Über 40 Jahre sind seit dem Abzug der US-Truppen vergangen. Dennoch besteht für viele Deutsche die Assoziation Krieg und Vietnam fort. Grauenhafte Bilder von Zerstörung und Leid haben sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Bekannte fragen mich: »Kann man da eigentlich hinfahren? Gibt es denn überhaupt Hotels nach unserem Standard? Und was ist mit dem Gift Agent Orange, das die Wälder entlaubte? Ist es nicht gefährlich, dort überhaupt etwas zu essen, wenn das Zeug noch im Boden ist?«
Ich habe das Land kurz nach dem Krieg erlebt. Als eine der wenigen Ostdeutschen konnte ich 1979 drei Wochen vom Norden in den Süden reisen, in einer kleinen Gruppe mit Jugendtourist, dem Reisebüro der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Die Begegnungen und Eindrücke, die ich hatte, bestimmten meinen weiteren Lebensweg, der bis heute mit dem Land verbunden ist. Sie bereichern meine Erfahrungen mit den Vietnamesen, die zäh und sparsam, mutig, sehr abergläubisch, fleißig, geschäftstüchtig, überaus kinderlieb, herzlich und humorvoll sind. Und reich an Entbehrungen.
Weiß waren die Blusen der zierlichen Mädchen und Frauen, die an der Seite ihrer Männer in den Nachkriegsjahren auf den Feldern schufteten, Braun oder Schwarz die Farbe ihrer weiten Hosen. Es gab nur wenig zum Anziehen, nicht genug zu essen. Das Hauptnahrungsmittel Reis musste importiert werden. Vietnam hungerte. Oft fiel der Strom aus. Die Hauptstadt lag im Dunkeln. Asphaltierte Straßen waren, wenn überhaupt vorhanden, von Schlaglöchern übersät. Mit Fahrrädern der Marke Diamant aus der DDR wurde mangels Lastwagen fast alles per Muskelkraft transportiert. Doch vor allem bestimmte Pessimismus den Alltag. Zu lange ließ ein besseres Leben auf sich warten. Das Vertrauen in die kommunistische Führung schwand. Mit đổi mới, Erneuerung, steuerte 1986 die kommunistische Partei (KP) gegen. Sie liberalisierte den Markt. Wie ein asiatischer Tiger mit knurrendem Magen setzte Vietnam nun zum Sprung in eine tatsächlich bessere Zukunft an.
Bei meinem nächsten Besuch, 1997, hatte sich das Land verändert. Als hätte jemand mit Photoshop aus einer Schwarz-Weiß-Aufnahme ein Farbfoto gemacht, waren die Märkte bunt. Die Bauern konnten ihren Überschuss an Gemüse und Obst verkaufen. Der Handel mit Waren aller Art blühte. Das, was die Menschen hier gern tun – feilschen, und dabei nicht das Gesicht verlieren –, machte wieder Spaß. Nach und nach kehrte die Lebensfreude zurück. Aus dem Land mit unzähligen Bombenkratern wurde ein Land mit unzähligen Baustellen. Bis heute.
Wer zum ersten Mal mit dem Flugzeug nach Vietnam kommt, landet entweder in der Hauptstadt Hà Nội (Hanoi) im Norden oder in Thành Phố Hồ Chí Minh (TP. HCM), Ho-Chi-Minh-Stadt, im Süden. Die beiden Millionenmetropolen könnten unterschiedlicher nicht sein. Oft wird von den zwei ungleichen Schwestern gesprochen. Der alten, schönen, kulturvollen am Sông Hồng, dem Roten Fluss. Und der jungen, geschäftstüchtigen, mode- und selbstbewussten am Fluss Sài Gòn. Das Bild stimmt. Eine faszinierende Altstadt im grünen, beschaulichen Hanoi steht der Skyline mit glitzernden Fassaden im Zentrum von Ho-Chi-Minh-Stadt gegenüber. Beide Städte wetteifern um das höchste Gebäude, das zurzeit mit dem 336 Meter in den Himmel gewachsenen Keangnam Landmark Tower und 70 Stockwerken in der Hauptstadt steht. 7,5 Millionen Menschen leben hier, etwa 400 000 mehr als in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemaligen Saigon. Genau weiß das wegen der Landflucht keiner. Alle träumen vom Wohlstand. Mein Haus, mein Auto, mein Hund – der übrigens viel seltener im Kochtopf landet, als dass er als Tier zum Schmusen da ist.
In nur zehn Jahren ist das Land vom Fahrrad auf das Moped umgestiegen. Über 100 000 Neuanmeldungen verzeichnet die Statistik – pro Monat. Über vier Millionen rollen allein auf Hanois Straßen, 40 Millionen im ganzen Land. Zwei Millionen Menschen, meistens Städter, besitzen ein Auto. Es ist eine Horrorvorstellung nicht nur für Verkehrsexperten, dass sich dieser Prozess beschleunigen könnte. Viele Straßen gleichen einem nie versiegenden Fluss aus Menschen und Maschinen. Fußgänger, die von einer Straßenseite zur anderen wollen, müssen sprichwörtlich mit dem Strom schwimmen, um dort heil anzukommen. Mit einem Skytrain in der Hauptstadt und einer U-Bahn in Ho-Chi-Minh-Stadt werden die beiden größten Städte des Landes infrastrukturell Anschluss an das 21. Jahrhundert finden – so die Hoffnung in den Chefetagen der Ministerien. Der Bau von fünfspurigen Autobahnen ist teils abgeschlossen, teils in Planung. Auch Tiefseehäfen, weitere internationale Flughäfen und Industrieparks sind bereits fertig oder im Entstehen.
Bis 2020 will Vietnam ein Industrieland sein. Damit werden, wie überall auf der Welt, die Umweltprobleme größer. Die zunehmende Luftverschmutzung und die wachsenden Müllberge sind Themen, über die offen in den staatlichen Medien diskutiert wird. Der ungestillte Hunger nach Energie, der Fachkräftemangel und fehlendes technisches Know-how stellt die Volkswirtschaft vor immense Probleme.
Auch wenn China Vietnams größter Handelspartner ist, trauen viele Vietnamesen Menschen aus dem Reich der Mitte nicht über den Weg. Mehr als tausend Jahre stand Vietnam als Provinz unter dem chinesischen Einflussbereich und musste sich zuletzt 1979 im Grenzkrieg gegen den übermächtigen Nachbarn aus dem Norden verteidigen. Die negativ unterschwellige Stimmung im Land ist jedoch nicht nur historisch bedingt. Nachrichten über Nahrungsmittelskandale wie vergiftete Milchprodukte und Spielzeug aus China lassen Eltern in Vietnam sorgenvoll auf ihre Kinder schauen. Entführungen junger vietnamesischer Frauen im Grenzgebiet zu Nordvietnam auf chinesisches Territorium und neuerliche territoriale Besitzansprüche von Peking im Südchinesischen Meer verunsichern die Bevölkerung.
Bauern gehen trotz Demonstrationsverbot gegen die Enteignung ihres Landes, auf dem der Staat Industrie- und Neubaugebiete errichten will, auf die Straße. Damit riskieren sie wie regierungskritische Blogger und Umweltaktivisten auch ein brutales Vorgehen der Polizei und lange Haftstrafen. Minderheiten in den Bergregionen von Nordwest- und Zentralvietnam sehen sich durch einen wachsenden Zuzug aus der Ebene ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Korruption, allgegenwärtig unter den Augen der Genossen, macht einige Leute zu Königen. Die mäßigen Erfolge, sie zu bekämpfen, stellen die Glaubwürdigkeit der Kommunistischen Partei infrage.
Seit April 2016 ereilte Vietnam eine Umweltkatastrophe, deren Ausmaße bei Drucklegung des Buches noch nicht abzusehen sind. Auf einer Küstenlänge von 200 Kilometern in Vietnams Armenhaus Zentralvietnam starb das Meer. Millionen toter Fische und Seebewohner wurden an Land gespült. Tausende Fischer sind in ihrer Existenz bedroht. Das nahe gelegene taiwanesische Stahlunternehmen Formosa Ha Tinh Steel Company (FHS) geriet unter Verdacht, giftige Abwässer ungeklärt entsorgt zu haben. Trotz massiver öffentlicher Proteste in den großen Städten und betroffenen vier Provinzen hatten über Monate hinweg weder das Unternehmen noch Hanoi eine Erklärung dafür. Die Antwort der Regierung bestand darin, Demonstranten durch Sicherheitskräfte in Zivil schlagen und verhaften zu lassen, darunter auch Parteimitglieder der Volkskomitees. Erst am 30. Juni 2016 hatte die Regierung auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben, dass FHS für die Katastrophe verantwortlich war. Ihre lange Sprachlosigkeit erschütterte das Vertrauen der Bevölkerung in die Führung des Landes nachhaltig, meinen Beobachter.
Wirtschaftlich rechnet Vietnam fest mit Investitionen aus dem Ausland, auch aus Deutschland. Deutschland ist Vietnams größter Handelspartner in der EU. Doch im internationalen Vergleich auf Platz 24 bewegen wir uns weit abgeschlagen von den Top-Ten, die von Südkorea, Taiwan, China und Singapur angeführt werden. Neben Leuchttürmen wie Siemens, Daimler, Adidas und dem Hemdenhersteller van Laack, die seit Jahren in Vietnam produzieren, sind viele deutsche Firmen nur mit einer Repräsentanz vertreten. Das könnte sich mit dem EU-Freihandelsabkommen, das 2018 in Kraft treten soll, ändern.
»Ihr Deutschen würdet uns die offenen Türen einrennen, aber ihr kommt nicht«, höre ich immer wieder auf Kongressen und Messen von vietnamesischer Seite. Diejenigen, die sich mir gegenüber so äußern, gehören zur Elite des Landes. Sie sagen mir das auf Deutsch. Etwa 100 000 Vietnamesen haben in Ostdeutschland ihre Jugend verbracht. Sie haben hier gelernt, studiert, gearbeitet. Bis heute halten damals von beiden Regierungen untersagte Freundschaften, Liebesbeziehungen, später geschlossene Ehen. Einige meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen schwärmen heute noch von der Thüringer Bratwurst, die es inzwischen auch bei ihnen im Supermarkt in Hanoi zu kaufen gibt. Ordnung, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Disziplin sind Tugenden, die den Deutschen angeblich in die Wiege gelegt werden. Diese Generation der Vietnamesen hat sie verinnerlicht. Es würde ihnen nicht im Traum einfallen, einen deutschen Gesprächspartner warten zu lassen.
Sie alle sind Brückenbauer zwischen unseren beiden Kulturen. Einer davon ist mein Freund Lý Trực Dũng. Zu DDR-Zeiten studierte er Architektur in Weimar. Obwohl er längst im Rentenalter ist, sind die Auftragsbücher seines Büros voll mit Projekten von deutschen Firmen oder Institutionen wie der Deutschen Botschaft und des Goethe-Instituts. Dũng ist ein Kulturversteher, der beiden Seiten gerecht wird. Und ein Künstler. Er ist einer der bekanntesten Karikaturisten des Landes. Seine mit dem feinen vietnamesischen Witz entworfenen Zeichnungen erschienen im Eulenspiegel. Sie begeistern ein Millionenpublikum in Vietnam. Bei einem der staatlichen Sender thematisiert er vor laufender Kamera Probleme wie Korruption und Misswirtschaft.
Seine Tochter studierte in Mannheim. Sie gehört zu den zwei Dritteln der jungen Menschen unter 30, bei 92,64 Millionen Einwohnern. Jung sein in Vietnam heißt: den Eltern gehorchen, fleißig lernen, hart arbeiten, eine Familie gründen, die Alten und die Ahnen verehren. Es heißt auch nach westlichen Werten streben, einen gute bezahlten Job finden, die Freundin zu McDonald’s ausführen, auf den neuesten Mopeds durch die nächtlichen Straßen der Städte kurven. Zu Prüfungszeiten im Sommer ruft die Partei zu gegenseitiger Rücksichtnahme auf. Lärm am Abend durch laute Musik ist dann tabu. Rund um das Thema Heiraten ist ein riesiger Markt entstanden. Fotografen, Friseure, Hoteliers, Catering-Firmen, Vermieter von Festkleidung und Festzelten sowie Taxiunternehmen verzeichnen lange Wartelisten. Ohne Haus keine Ehe. Ohne Kinder kein Glück. Bei all dem verwundert, dass es im Stadtzentrum und in Neubaugebieten, wo es junge Familien hinzieht, nur wenige öffentliche Spielplätze gibt. Dafür ist die Straße da, und die stolze Großmutter, die immer ein wachsames Auge auf den Nachwuchs hat.
Das geht so weit, dass Touristen in der quirligen Altstadt von Hanoi für das Fotografieren eines spielenden Kindes von der zahnlosen Oma zur Kasse gebeten werden. Vor einigen Jahren noch unvorstellbar, heute eine Geschäftsidee. Diese haben mittlerweile auch einige Bäuerinnen, die mit ihren zwei Bambuskörben an einem Tragholz, đòn gánh, frisches Brot, Gemüse, Obst und Blumen bis vor die Haustür der Bewohner bringen. Statt den beschwerlichen Weg durch die Gassen auf sich zu nehmen, lassen sie neugierige Ausländer ihren fliegenden Händlerstand auf den Schultern in die Höhe heben. Oder tun es selbst für ein Foto. Einmal lächeln: một, hai, ba (eins zwei drei; in Vietnam wird immer gezählt, bevor man den Auslöser drückt). Klick! Einen Dollar, bitte! Mancher zahlt gern für diesen Spaß, den übrigens oft beide Seiten dabei haben. Asiaten sind erfinderisch, und die Vietnamesen Meister im Überleben.
Vietnam ist längst kein unentdecktes Land mehr. Allein in den ersten zwei Monaten 2016 kamen 1,5 Millionen Besucher. 7,8 Millionen waren es laut dem Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus im Jahr zuvor. Sie alle wollen in die vịnh Hạ Long, in die Bucht des herabsteigenden Drachen, im Norden. Die 2000 Karstfelsen im Golf von Tongking sind UNESCO-Weltnaturerbe und man sagt: Wer diese Inselwelt nicht gesehen hat, war auch nicht in Vietnam. Dabei bietet dieses Land mit seiner 3400 Kilometer langen Küste viele weitere Naturschätze. Weiße Strände, geheimnisvolle Urwälder, tatsächlich atemberaubende Berglandschaften, breite Flüsse und im Jahr in allen Farben des Waldes schimmernde Reisfelder. Tausende Inseln entlang der Küste. Die 54 Ethnien, die in den Dörfern der Bergregion zu China und Laos sowie ganz im Süden leben, pflegen ihre eigene Kultur. Nicht nur ihre Sprache ist verschieden, auch ihr Hausbau, ihre Kleidung, ihre Musik und ihre Tänze. Anders als das Delta des Roten Flusses, die Reiskammer im Norden, erwartet das Mekongdelta, die weitaus vollere Reiskammer im Süden, die Urlauber mit einer Vielfalt von tropischen Früchten und schwimmenden Märkten. Es ist ein Land mit einem unersättlichen Appetit und einer Küche, die ihresgleichen sucht.
Aus der Luft gesehen spiegelt die Form Vietnams das đòn gánh wider: Zwei Deltas – zwei Körbe, verbunden durch eine in der Mitte nur schmale Landfläche – die Tragestange. Es könnte auch die Silhouette einer schönen, jungen Frau sein, im áo dài, der Nationaltracht. Das ist ein bis fast unter die Achseln hochgeschlitztes, tailliertes, die weibliche Figur unterstreichendes Gewand aus Seide über weiten Hosen. Es betont die Anmut seiner Trägerin.
Für mich ist Vietnam zur zweiten Heimat geworden. Mein letzter Pass zählt 22 Stempel der Einreisebehörden. Nur 1979 kam ich als Touristin. Seitdem immer als Journalistin, als Freundin, als Frau und Mutter von zwei Kindern, die vietnamesische Väter haben. Der Liebe wegen.
Ich nehme Sie mit auf eine Zeitreise, von der jüngeren Geschichte Vietnams bis in das Hier und Jetzt. Es wird eine Begegnung auf Augenhöhe.
Leipzig, im Sommer 2016 |
Heike Baldauf |
Meine Freundin Minh wohnt mit ihrem Mann in der Lý-Nam-Đế-Straße in Hanoi. Die Straße grenzt mit ihren Mehrfamilienhäusern in Plattenbauweise, Verwaltungsgebäuden, mehrstöckigen Einfamilienhäusern und einer großen, lang gestreckten Kaserne direkt an das historische 36-Gassen-Viertel. Die Lý Nam Đế, benannt nach dem ersten Kaiser von Vietnam und Gründer der frühen Lý-Dynastie, ist gerade wie ein Lineal. Sie gehört zu den vielen Einbahnstraßen in der Innenstadt. Kleine Geschäfte und familiäre Werkstätten liegen hier, dazu einige Cafés, in die sich selten Touristen verirren. Das Blätterdach von alten Baumriesen spendet den Menschen unter ihnen Schatten. Hanoier wissen: Hier wohnen die, die in der Armee gedient haben.
Mit 58 Jahren kann Minh den Ruhestand genießen und sich um die drei Kinder ihrer zwei Töchter kümmern. Das Rentenalter in Vietnam liegt für Frauen bei 55 Jahren, Männer müssen bis 60 arbeiten. Minh genießt ihre bezahlte Freizeit. Sie lacht gern, lässt ihr glattes Haar beim Friseur in Locken verwandeln und geht einmal in der Woche zum Yoga. Ihre Wohnung hat sie erst von der Armee mieten und dann kaufen können. Viele Jahrzehnte arbeitete sie in einem Druckbetrieb, der zur Armeezeitung Quận đối Nhân dân gehört. Anfangs bestand ihre hauptsächliche Aufgabe darin, belichtete Negative passgenau so zusammenzufügen, dass Bilder und Texte in einer hohen Druckqualität die Leser erreichten. Das Handwerk der Montage erlernte sie als junge Frau in Leipzig, der Stadt, in der wir uns 1976 zum ersten Mal begegnet waren. Sie gehörte zu den Tausenden Vertragsarbeitern, die von 1975 an – dem Kriegsende in Vietnam – bis in die 1980er Jahre hinein ausgebildet und beschäftigt wurden. Wir waren damals Kolleginnen im Graphischen Großbetrieb Interdruck.
Minhs in meinen Augen seltsam aufgeteilte Wohnung ist für Europäer wie mich eine Zumutung. Der Plattenbau besteht hauptsächlich aus vielen Einraumwohnungen, die durch eine eingezogene, halbierte Zwischendecke, erreichbar über eine Holzstiege, aufgeteilt sind. So können die Menschen unten essen, fernsehen und Besuch empfangen, während sie oben schlafen. Aufrecht stehen unter der Decke kann dort nur ein Kleinkind. Ein Holzgitter schützt es vor dem Herunterfallen. Zur Wohnung gehören Toilette und Dusche. Der fensterlose Raum dafür ist nicht größer als ein Badehandtuch. Hinter einer dünnen Wand liegt Minhs Lieblingsarbeitsplatz – eine schmale Küche mit einem vergitterten Fenster zum nächsten Haus. Kühlschrank, ein in Deutschland produzierter Induktionsherd, Spüle, eine lange Arbeitsplatte und einige Schränke mit Kochgeschirr machen Minh zu einer glücklichen Hausfrau. Mittags und abends, wenn ihr Mann, ein Lehrer, nach Hause kommt, verwöhnt sie ihn gern mit frisch zubereiteten Speisen.
Tageslicht fällt nur wenig durch das einzige, auch vergitterte Fenster im Wohnzimmer. So bleibt die Deckenbeleuchtung aus Neonröhren oft eingeschaltet und die Wohnungstür in den nicht zu kalten und nicht zu heißen Monaten einen Spalt breit offen. Doch auch diese Tür, vor der sich ein etwa 20 Meter langer Gemeinschaftsbalkon zur Straße hin erstreckt, wird wie üblich in Vietnams moderneren, mehrstöckigen Bauten durch ein separates Gitter vor Einbrüchen geschützt. Auf dem Balkon kann die Familie Wäsche trocknen, Blumen in Töpfen ziehen und einigen, wenig wertvollen Hausrat abstellen, der in der Wohnung selbst keinen Platz findet. Wie überall, so stehen auch hier vor dem Eingang die ausgezogenen Schuhe der Bewohner und Gäste. Niemand im Land, außer ein unwissender Tourist oder Geschäftsmann, betritt in Straßenschuhen einen Wohnraum oder gar eine Pagode. Denn auf dem Boden wird gesessen und gegessen, wenn der Platz für Stühle nicht ausreicht. Das gilt für die Stadt.
Minh erlebte den Vietnamkrieg (1964–1975) als Kind und junges Mädchen in Hanoi. Zur Weihnachtszeit 1972, kurz vor dem Pariser Abkommen vom 27. Januar 1973, überzog die U.S. Air Force auf Befehl von Präsident Richard Nixon die Hauptstadt mit einem Flächenbombardement. Anders als in Deutschland haben die Wohnhäuser in Vietnam keine Keller, in denen die Bevölkerung hätte Zuflucht suchen können. In den Erdboden der Fußwege eingelassene Betonrohre, in die sich gerade ein Mensch flüchten konnte, schützten mit ihrem über den Kopf zu ziehenden Betondeckeln nur vor Splittern, aber nicht vor der Zerstörungskraft aus den Langstreckenbombern B 52. Binnen weniger Tage verwandelten sie ganze Straßenzüge der Innenstadt in ein Trümmerfeld. Das Bạch-Mai-Krankenhaus, eine der größten Kliniken der Hauptstadt, wurde gezielt und schwer getroffen, ebenso Wohnviertel, Märkte, Fabriken, Schulen, Kindergärten, Universitäten. Die Zerstörungswut der US-Armee kannte keine Grenzen.
»Wir werden Vietnam in die Steinzeit zurückbomben«, hatte der amerikanische Luftwaffengeneral Curtis LeMay angekündigt. Bereits in den ersten drei Kriegsjahren fielen 2,5 Millionen Tonnen Bomben auf das Land, und noch einmal so viel bis 1975, mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Auch Napalm, das selbst im Wasser weiterbrennt, wurde flächendeckend eingesetzt.
Als ich 1979 das erste Mal nach Vietnam kam, sah ich vom Flugzeug aus tatsächlich eine Mondlandschaft. Krater an Krater, manche bis zu 30 Metern Durchmesser, gefüllt mit Grundwasser. Im Schein der Morgensonne hatte diese Szenerie aus glitzernden Tümpeln und Teichen dennoch etwas Friedvolles an sich. Der Frieden war noch jung, wie der Reis, der auf den Feldern zwischen und um die Krater herum wuchs.
Heute sind diese Narben des Krieges kaum mehr offensichtlich. Aus den nicht zugeschütteten Bombentrichtern haben die findigen Bauern Teiche für die Entenzucht angelegt. Oder sie nutzen sie zum Anpflanzen von Lotos, der so vielfältig in der Verwendung ist wie Bambus, von dem es über 1000 Arten gibt. Grün in allen Varianten ist die dominante Farbe in Vietnam. Die üppige Natur der Subtropen im Norden und der Tropen im Süden überwucherte schnell die Spuren des Krieges. Dabei fordert er heute noch, in der vierten Generation, viele Opfer, vor allem Kinder.
Der 17. Breitengrad ist der Ort in Vietnam, an dem am härtesten gekämpft wurde. Gleichzeitig trägt dieser Landstrich den Namen Demilitarisierte Zone (DMZ) – eine irreführende Bezeichnung. Es ist ein schmaler Gürtel von der Grenze zu Laos bis zum Südchinesischen Meer, der den Norden vom Süden Vietnams abtrennte. Bei Kriegsende 1975 existierten in dem Landstrich südlich des Sông Bến Hải, des Ben-Hai-Flusses, der als natürliche Grenze zwischen Nord- und Südvietnam diente, von ehemals 1000 Dörfern nur noch drei.
1954 hatte die Kolonialmacht Frankreich mit der Niederlage in Điện Biên Phủ kapituliert. Die darauf nach der Genfer Indochina-Konferenz in Paris als Provisorium eingerichtete Grenze am 17. Breitengrad sollte das Land eigentlich nur bis zu den Wahlen 1956 teilen. Da aber weder Südvietnam noch die USA das Abkommen unterzeichneten, blieb es dabei, 21 lange Jahre.
Im Juli 2008 ereignete sich hier eine Tragödie – eine von Tausenden, die sich seit dem Kriegsende von vor 40 Jahren an vielen Orten Vietnams sowie den damals in die Kampfhandlungen involvierten Nachbarländern Laos und Kambodscha fast unbemerkt vor der Weltöffentlichkeit immer wieder abspielen.
Ich war mit einem deutschen Kameramann und dem Frontsänger der Musikgruppe Die Prinzen, Sebastian Krumbiegel, unterwegs zu einem Minenräumteam. Dessen lebensgefährliche Arbeit wurde mit Geldern aus Deutschland finanziert. SODI, Solidaritätsdienst International, ein Berliner Verein, hervorgegangen aus dem Solidaritätskomitee der DDR, managte seit 1998 die Arbeit vor Ort gemeinsam mit vietnamesischen Fachleuten. Sebastian engagiert sich seit Langem gegen die Produktion, Verbreitung und den Einsatz von Streumunition. Es war das Jahr, indem in Oslo eine Konvention gegen das Verbot von Streumunition auf dem Tisch lag. Mehr als 100 Staaten beabsichtigten, sie zu unterzeichnen, auch Deutschland.
Wir wollten mit eigenen Augen sehen, wie Kampfmittelberäumung funktioniert. Ob das Geld auch dort ankommt, wo es gebraucht wird, für Schulungen beispielsweise. Darauf vertrauend, dass unsere Gastgeber auf unser Wohl bedacht sind, nahmen wir an, dass wir in ein entmintes Gebiet gebracht werden. An einen Ort, an dem wir von weitem zusehen können, wie Menschen in Schutzanzügen mit Detektoren scharfe Munition aufspüren. Kaum waren wir angekommen, an einem mit Totenkopf-Schildern und Plastikbändern abgesperrten, unscheinbaren Gelände, bewachsen mit hohem Gras, erhielt unser vietnamesischer Begleiter einen Anruf. In einem Dorf ganz in unserer Nähe waren drei Jungen zerfetzt worden. Die Jungen waren beim Büffelhüten im nahen Wald auf mehrere Metallkugeln gestoßen, groß wie Tennisbälle. Sie mussten damit gespielt haben. Es waren Streubomben.
So kam an einem Sommermorgen der Krieg zurück ins Dorf Câu Nhi, ohne Vorwarnung, ohne Sirenengeheul. Drei Jungen im Alter von 12, 13 und 14 Jahren starben durch Munition eines Krieges, der weit vor ihrer Geburt lag. Sie wohnten in einem Dorf wie aus dem Bilderbuch, mit tiefgrünen Reisfeldern, exotischen Blumen und Teesträuchern vor geordneten Gehöften. Mit Scharen schnatternder Enten am plätschernden Bach, und Bäumen, deren Äste sich biegen unter der Last reifer Mangos. Ein friedlicher Ort. Ein Dorf, aus dem lautes Wehklagen zu hören war, bei der Beerdigung der Kinder.
Während der Rekonstruktion des Unfalls hatte unser Kameramann Mühe, dem Aufklärungstrupp zu folgen. Er wollte mitgehen, an den Ort des Geschehens. Doch für die Filmsequenzen musste er manchmal stehen bleiben, um die vor ihm laufenden Männer zu fokussieren. Nach wenigen Augenblicken verschluckte sie der Wald. Wo waren sie jetzt langgegangen? Hatte der Truppenführer nicht gesagt, dass jeder auf dem Weg bleiben soll? Dass links und rechts davon überall scharfe Munition liegen könnte? Wo war der Weg im Wasser, und wo verlief der zwischen den Bäumen?
Was es heißt, auf vermintem Land leben zu müssen, erfuhren wir hier. Jeder Schritt konnte der letzte sein. Die Farbe der Streubomben hat die des Erdbodens – braun. Auch ein geschultes Auge kann so ein Bombi, wie die Einheimischen die Sprengkörper salopp nennen, kaum unterscheiden. Sebastian meinte, er laufe wie auf Eiern.
Anders als wir scheinen sich die Bewohner der Dörfer um Quảng Trị an die potentielle Gefahr gewöhnt zu haben. Seit dem Krieg finden sie fast jeden Tag Bombis bei der Feldarbeit. Um weiter pflügen zu können, den jungen Reis umzusetzen, die mannshohen Pfefferpflanzen zu pflegen – die Provinz ist bekannt für ihre gute Qualität, Vietnam ist weltweit größter Pfefferproduzent –, legen sie die Funde einfach vorsichtig beiseite und kümmern sich nicht weiter darum. So ein Haufen Bombis, aufgeschichtet einige Meter entfernt vom Feldrand, wurde den Kindern zum Verhängnis.
SODI hat eine Art Feuerwehr in den Dörfern von Quảng Trị eingerichtet. Das sind fünf junge, im Umgang mit Streumunition und nicht explodierten Bomben jedweder Größe geschulte Männer um die 30. Alle haben ein Testament unterschrieben. Ihre Familien müssen jeden Tag damit rechnen, dass der Ehemann, der Vater, der Bruder am Abend nicht mehr nach Hause kommt. Gruppenführer Ly, ein drahtiger Mann mit Stolz und Trotz in den Augen, schärft den Dorfältesten und Bürgermeistern immer wieder ein, dass sie ihn anrufen sollen, wenn sie Hinterlassenschaften des Krieges entdecken. Dann eilen er und sein Räumteam herbei, um die Fundstücke zu entschärfen oder in die Luft zu sprengen.
Kinder lernen anhand einer durch explodierte Minen abgerissenen Schweinepfote anschaulich in der Schule, was Streumunition anrichten kann. Doch manchmal siegt die Neugier über die Angst, das etwas passieren könnte. Schließlich suchen nicht selten die eigenen Eltern, die Erwachsenen, mit selbst gebastelten Detektoren nach Kriegsschrott. Das sieht dann in etwa so aus, als würde jemand mit der Wünschelrute über die Felder gehen. Der Metallschrott ist wertvoll. Die Bomben der Amerikaner sind aus Edelstahl. Man kann ihn gut verkaufen. So sichern sich die Menschen einen Nebenverdienst. Die Gefahr, der sie sich dabei aussetzen, ist für sie zweitrangig. Quảng Trị und die angrenzenden Provinzen sind das Armenhaus Vietnams.
Die Ressource Kriegsschrott wird den Bewohnern dort nicht ausgehen. Sie werden noch Jahrhunderte so weitermachen können. Laut Auswärtigem Amt, das zwischen 2008 und 2013 über fünf Millionen Euro in die Kampfmittelräumung investierte, liegen auf 20 Prozent der Landfläche Vietnams Blindgänger. Das sind etwa 66 000 Quadratkilometer, ein Territorium fast so groß wie Bayern.
Viel sandigen Boden gibt es hier, in der Nähe zum Meer, auf dem wenig wächst. Dazu verdirbt oft das Wetter den Bauern die Ernte. In der Monsunzeit, im Sommer bis in den Herbst hinein, peinigen tropische Wirbelstürme, Starkregen und Überschwemmungen die Menschen in Mittelvietnam. Sie sind hungrig nach höher gelegenem Land, besseren Böden und vor allem einem Terrain ohne Explosionsgefahren. SODI hat von Anfang an nachhaltig gedacht. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) verband das Minenräumprogramm mit wirksamer Entwicklungshilfe, finanziert aus Spenden und Geldern des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ganze Dörfer entstanden neu, mit befestigten Straßen, Strom- und Wasserleitungen, Brunnen, Kindergärten, Schulen und einem Gesundheitszentrum.
Natürlich hatten wir Termine mit Bürgermeistern, Parteisekretären und dem örtlichen Volkskomitee. Die Bevölkerung nahm uns als eine Delegation aus Deutschland wahr. Anders als 1979, als wir ein FDJ-Hemd tragen mussten und die Staatssicherheit beider Seiten uns nicht aus den Augen ließ, konnten wir uns frei bewegen. Sebastian spielte mit Dorfjungen Fußball. Mitgebrachte Luftballons verwandelte er unter dem Gejohle der Kinder zu Musikinstrumenten. Alle wollten pusten, um dann quietschend die Luft herauszulassen, mit dem dicken großen Mann, der so viel Spaß machte. Ein Mädchen lieh mir ihr Fahrrad, rannte mit ihren Freunden neben mir her und war stolz darauf, dass eine »Westlerin«, eine Tây, mit ihm fuhr. Andere wollten mir einen kleinen Vogel schenken, den sie gefangen hatten. Viele der Kinder trugen zerrissene Kleidung, einige waren barfuß. Doch alle waren fröhlich. Damals dachte ich: So fühlt sich also eine Kindheit an ohne Minen.
Dann begegnete ich einem Menschen, der mich sehr beeindruckte. Bauer Lê Văn Cū, damals 38 Jahre alt, ist ein fröhlicher Mensch. Bei jeder Gelegenheit huscht ein Lächeln über sein gebräuntes Gesicht. Er ist von kleinem Wuchs, aber muskulös. Seine Augen leuchten, wenn er über seine Arbeit spricht. Ihm fehlt der linke Unterarm.
Mit seiner schüchternen, jungen Frau und seinem kleinen Sohn, dessen Hose ihm beim Laufen immer wieder nach unten rutschte, bewohnt er vier nackte Wände. Die hat er selbst hochgezogen und grau verputzt. Als Schutz vor Sonne und Regen dient ihnen ein Wellblechdach. Wenn es heiß ist, staut sich darunter die Hitze, wie unter einem Kochtopf. Wenn es regnet, prasseln die Tropfen darauf wie Hammerschläge auf einen Amboss. Auf dem Steinboden zwischen den Wänden steht ein einfacher Tisch und zwei Bänke aus Holz. Darüber verbreitet eine einsame Neonröhre kaltes Licht. Im hinteren Teil führt ein Ausgang ohne Tür ins Freie, zu einem offenen Feuer. Wasser kommt aus einem Rohr im Erdboden. Hinter einem Verschlag steht ein Holzbett – ohne Füße. Es ruht auf vier Ziegelsteinen. Das ist sein Haus, auf das er stolz ist. Eine Tafel über dem Eingang verweist auf den Spender: Waldemar Cierpinski. Ein Name, den Cu weder aussprechen kann, noch mit dem er ein Bild verbindet. Der einstige Doppel-Olympiasieger der DDR im Marathonlauf ist für ihn ein Fremder aus einem Land weit weg, dem er durch SODI ein besseres Leben verdankt. Seine alte Hütte aus Bambus steht noch auf vermintem Grund.
Er war elf, als er ein Bombi fand und es gegen einen Baum schleudern wollte. Der Fund aus dem Krieg kostete ihm die linke Hand und den Unterarm. Er ging dennoch zur Schule. Heute krault er beim Behindertensport im Schwimmen den anderen davon. Er bestellt sein Reisfeld, hilft seiner Frau im Gemüsebeet. Als überaus geschickter Tischler verdient er sich etwas dazu. Reichere Bewohner in der Gegend bezahlen ihn manchmal für seine professionellen Dienste. Jeder Nagel sitzt. Dafür nimmt er Mund und Armstumpf zu Hilfe. Beim Klettern auf dem Bambusgerüst, mit dem seit Jahrhunderten in Stadt und Land gebaut wird, balanciert Cū die Bretter wie ein Artist. Er ist geschickt, präzise, genau und schnell. Ein Mensch, der sich trotz Behinderung nie aufgab. Ein Kämpfer ohne Orden. Sein Verdienst reicht gerade so zum Überleben der Familie.
Wer in Vietnam das Wort Quảng Trị hört, denkt an die Kämpfe, an die Millionen Opfer durch Bomben, Blindgänger und an Agent Orange. Das dioxinhaltige Gift, benannt nach der farbigen Banderole der Fässer, in dem das Herbizid aufbewahrt wurde, gehörte zur chemischen Kriegsführung. Tief fliegende Flugzeuge versprühten es flächendeckend über Wäldern und ganzen Landstrichen. Kurze Zeit später fielen die Blätter von den Bäumen, ein künstlicher Herbsteinbruch. Von Palmen blieben nur die Stämme stehen. Danach abgeworfene Napalmbomben erledigten den Rest menschlicher Zivilisation. Taktik der verbrannten Erde, nannten das die Amerikaner. Ziel war immer wieder der legendäre Hồ-Chí-Minh-Pfad, Đường mòn Hồ Chí Minh.
Ausländer und nicht die eigenen Landsleute gaben ihm den Namen des bekanntesten Vietnamesen. Hồ Chí Minh ist der Gründer der Kommunistischen Partei Vietnams (1930) und Präsident der Demokratischen Republik Vietnam (1954 bis 1969). Im Volk wird er weiterhin hoch verehrt. Das Bildnis von Onkel Hồ hängt in jedem Büro. Die Vietnamesen sprechen nicht vom Hồ-Chí-Minh-Pfad, sondern von der Trường-Sơn-Straße, Đường Trường-Sơn, benannt nach dem Gebirge im Grenzgebiet von Vietnam, Laos und Kambodscha, durch das er größtenteils führt. Ein Weg von 700 Kilometern Länge, der vom Norden bis nach Südvietnam reicht. Einer Arterie gleich, mit 21 Querverbindungen, war dieser Pfad die Lebensader für die Nationale Befreiungsfront Südvietnams (FNL), auch Việt Cộng genannt. Deren Kämpfer griffen die Stellungen der US-Armee im Mekongdelta an, in Saigon, nördlich der Stadt bis nach Đà Nẵng. Überraschungsangriffe auf Militärbasen brachten die Militärstrategen der Amerikaner zur Verzweiflung. Während sie ihre Militärcamps mit Waffen, Stacheldraht, Flutlicht und rund um die Uhr wachsamen und bewaffneten Soldaten oberirdisch sicherten, kam der Việt Cộng aus dem Nichts. Der Erdboden gab ihn frei und verschluckte ihn genauso schnell, wie er gekommen war. Schon im Kampf gegen die Franzosen hatte sich diese Guerillatechnik bewährt. Das Leben spielte sich unter dem Dschungel, Reisfeldern, Straßen, Siedlungen der Bauern ab. Die Infrastruktur eines Dorfes, mit Wohn- und Schlafräumen, Küchen, Krankenstationen, Schulklassen und Kindergärten, Fabriken, Werkstätten und Versammlungsräumen erstreckte sich bis zu 20 Meter tief im Erdinneren. Eingänge, durch die gerade ein Mensch von der Statur eines Vietnamesen passte, und von denen es ähnlich Maulwurfhügeln unzählige gab – echte und unechte, wurden mit umliegenden Pflanzenmaterial getarnt.
Vietnamesen sind Meister der Tarnung, gut zu sehen bei der Besichtigung unterirdischer Tunnelsysteme wie dem von Củ Chi in der Nähe von Ho-Chi-Minh-Stadt. Ehemalige Kämpfer der Befreiungsfront weihen Besucher in die Geheimnisse der taktischen Kriegsführung ein. Sie erzählen den staunenden Gästen auch, wie Soldaten der nordvietnamesischen Befreiungsarmee Việt Minh – einer der Gründer und ihr politischer Führer war Hồ Chí Minh – sie mit allem für den Kampf Notwendigen versorgten: Russische Panzer, Waffen, Munition, Sprengstoff, Medizin, Lebensmittel, Kleidung, Unterrichtsmaterial und die Feldpost gelangten über das Verkehrs- und Wegenetz des Hồ-Chí-Minh-Pfades vom Norden in den Süden. Und natürlich menschlicher Nachschub – Truppen aus dem Norden. Zwei Transportmittel bewährten sich auf dem schwierigen Boden besonders: Die robusten Diamant-Fahrräder und Lastkraftwagen W50 aus der DDR, zum größten Teil gespendet. Grün gestrichen und wie ein Sandwich eingepackt in Palmenwedel, waren sie aus der Luft kaum von den Farben des Dschungels zu unterscheiden.
Genau das wollten die USA mit dem Einsatz chemischer Entlaubungsmittel ändern. Agent Orange war das Zaubermittel, das ihnen freie Sicht auf das schlagende Herz des Gegners verschaffen sollte. Ein Angriff auf die Versorgungsadern des Việt Cộng, mit dem Ziel eines Hồ-Chí-Minh-Pfades ohne Deckung. Das den Gegner so weit schwächt, dass er aufgibt. Soweit das Kalkül, das schon deshalb nicht aufging, weil der Wille nach Unabhängigkeit und Freiheit dieses Volk einte, ihm Stärke verlieh und ungeahnte Kräfte freisetzte. Mobile Einheiten, oft nur Frauen, reparierten innerhalb weniger Stunden zerbombte Straßen und Brücken. Ohne Übertreibungen kämpften hier Seite an Seite mehrere Generationen, vom Schulkind bis zum Greis, gegen eine Übermacht, die oft kopflos wirkte und deren Soldaten vor allem eines im Gegensatz zu der ihre Heimat verteidigenden Vietnamesen nicht wussten: Wofür sie ihr Leben geben sollten.
Was einige wenige Menschen Millionen anderen Menschen antun, um ihre Macht zu behaupten und politische sowie wirtschaftliche Interessen zu verfolgen, dafür steht dieser Stellvertreterkrieg. In Vietnam standen sich zwei Großmächte gegenüber: die UdSSR und die USA. Für die einen, die UdSSR, ging es um den Erhalt des Kommunismus in Südostasien, für die anderen, den USA, um dessen Vernichtung.
Dafür ließ die damalige US-Regierung unter John F. Kennedy ihre Landsleute ins Messer laufen. 2,4 Millionen ehemalige GIs wurden Opfer der chemischen Kriegsführung, ohne dass sie es auch nur ahnten. Der Inhalt der Fässer mit den orangefarbenen Banderolen, mit dem sie auf ihren Militärbasen hantierten und den sie über weite Landstriche aus ihren Flugzeugen versprühten – auch um die Ernten zu vernichten, den Feind auszuhungern – machte sie und ihre nachfolgenden Generationen krank.
Dioxin ist eine der giftigsten Substanzen auf diesem Planeten. Ein Langzeitkiller, der seine Wirkung erst Jahre später entfaltet und dabei auch mal eine Generation überspringt. Ein Chemiecocktail aus 210 verschiedenen chlorierten Kohlenwasserstoffverbindungen, die bei Verbrennungsprozessen entstehen. Das ist generell der Fall bei Metallrecycling und Müllverbrennung, aber auch bei Waldbränden. Das toxischste Dioxin ist das 2,3,7,8 Tetrachlor-Dibenzo-p-Dioxin (2,3,7,8 TCDD). Nach Angaben des deutschen Umweltbundesamtes beträgt seine Halbwertszeit im Körperfett des Menschen etwa sieben Jahre. TCCD schädigt nachhaltig die Zellen, das Erbgut. Es gilt als Ursache vieler Krankheiten, beispielsweise für Tumore bei jungen Frauen. Es kommt hauptsächlich über die Nahrungskette, durch Fleisch, Milch, Fische, in den Körper des Menschen und reichert sich dort wie bei den Tieren im Fett an. Babys nehmen es über die Muttermilch auf. Mit einer Halbwertszeit von mehreren Jahrzehnten ist Dioxin im Boden sehr langlebig und wird kaum verlagert, teilt das Umweltbundesamt auf seiner Webseite weiter mit. In einer Studie der Universität Wien aus dem Jahr 2007 wurde in Mã Đà, einer im Krieg sehr umkämpften Region nördlich von Saigon, Dioxin im Grundwasser nachgewiesen.
Dem Weißen Haus sei durchaus bekannt gewesen, dass bei der Herstellung von Agent Orange als Nebenprodukt Dioxin anfiel, schreibt die Süddeutsche Zeitung in einem am 29. Juni 2015 veröffentlichten Artikel zum Thema »Giftiges Erbe«. Wie viele Millionen Liter dioxinhaltige Herbizide in Vietnam versprüht wurden, darüber gibt es in vielen Medien unterschiedliche Angaben (zwischen 72 und über 90 Millionen Litern). Einigkeit herrscht bei der Aussage, dass bereits ein Milliardstel Gramm Dioxin als krebserregend gilt. Das Blatt beruft sich dabei auf Angaben des amerikanischen Aspen Instituts. Danach wurde Agent Orange in einer 50 Mal höheren Konzentration versprüht als für die Zerstörung von Pflanzen empfohlen. Nach vietnamesischen Schätzungen haben drei bis vier Millionen Menschen Folgeschäden davongetragen. Eine halbe Million Kinder wurden bisher mit Behinderungen geboren.
Zahlen. Das sind nur Zahlen. Sie sagen nichts aus über das Leid der Menschen, über den schweren Alltag mit geistig oder körperlich behinderten Kindern, über die physisch wie psychisch und natürlich auch finanziell anstrengenden Pflegeleistungen. Darüber, dass sich diese Familien oft von den Ahnen bestraft fühlen, für ein früheres Vergehen. Dass sie nach zwei behindert geborenen Kindern auf ein drittes gesundes hoffen – und wieder furchtbar enttäuscht werden. Dass sie sich mit dem Misstrauen der Nachbarn konfrontiert sehen. In Vietnam, wo die Familie über allem steht und die Dorfgemeinschaft die Familie ist, stellt das ein großes soziales Problem dar. Mit der Folge, dass Familien diese Kinder vor den Augen der Gemeinschaft zu verstecken versuchen.