Ralf Leonhard
Zentralamerika
Porträt einer Region
Porträt einer Region
Für meine Kinder Alfa Carolina und Esteban,
die die Verbindung von Europa und Zentralamerika in sich tragen.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage als E-Book, Oktober 2016
entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
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Cover und Gestaltung: Stephanie Raubach, Berlin
Abbildungsnachweis Cover: Arco de Santa Catalina in Antigua Guatemala, © picture alliance / TPGimages
Karte: Peter Palm, Berlin
Lektorat: Günther Wessel, Berlin
eISBN 978-3-86284-367-1
Einleitung
Sieben Staaten auf der Landbrücke
Guatemala – immer wieder Gewalt
Parteien als leere Hüllen
Land ohne Lächeln
Demokratischer Frühling
Drei Jahrzehnte Diktatur
Massaker als Mittel der Politik
Honduras – Inbegriff der Bananenrepublik
Politik dient der Bereicherung
Green Grabbing
Städte für den freien Markt
Archetypus der Bananenrepublik
Gefährlichstes Land der Welt
El Salvador – Fußballer und Huren
Zwanzig Jahre Krieg
Politische Wende
Exportprodukt Mensch
Nicaragua – ewige Revolution
Gelenkte Demokratie
Agrarreform
Maskenspiel und Widerstand
Aberglaube und Bigotterie
Die Wiederkehr des Daniel Ortega
Totale Kontrolle
Costa Rica – gebildet und eingebildet
Korruption und Freihandel
Die Schweiz Zentralamerikas
Ökotourismus und Wellenreiten
Panama – Kanal und Briefkästen
Patrioten und Putschisten
Operation »Gerechte Sache«
Der große Kanal und der Wirtschaftsboom
Belize – karibische Exklave
Von der Kronkolonie zur Unabhängigkeit
Ethnische Spannungen
Der junge Staat
Helden und Halunken
Tecún Umán
Lempira
Diriangén und Nicarao
Rafaela Herrera y Sotomayor
Francisco Morazán
William Walker, Juan Santamaría und Andrés Castro
Benjamín Zeledón
Augusto C. Sandino
Carlos Fonseca
Óscar Arnulfo Romero
Die Oligarchen
Vierzehn Familien in El Salvador
Turcos in Honduras
Rassismus in Guatemala
Die Familien Chamorro und Pellas in Nicaragua
Kaffeefarmen in Costa Rica
El Tío Sam – das Verhältnis zu den USA
»Züge eines Piratennestes«
Bananenrepubliken
Allianz für den Fortschritt
Rebellisches Jahrzehnt
Flucht in den Norden
Gewalt – eine Frage der Kultur?
Maschinerie des Terrors
Mordrekorde
Jugendbanden
Ein soziales Phänomen
Krise des Waffenstillstandes
Kultur der Gewalt
Folklore, Widerstand und Genozid – Zentralamerikas indigene Völker
Folklore und Ausgrenzung
Hochkultur im Urwald
Neues Selbstbewusstsein
Nachfahren der Tolteken
Lenca gegen Konzerne
Autonomie am Atlantik
Karibische Mischung, pazifische Vielfalt
Klein, aber wachsend
Indianisches Strandleben
Starke und geschundene Frauen
Keine Emanzipation in den Köpfen
Spaß am Sex?
»Kindsmörderinnen« vor Gericht
Feminismus auf leisen Pfoten
Frauenhass und Frauenmord
Fußball- und andere Kriege
Costa Ricas Sonderweg
Die neuen Bürgerkriege
Elf Jahre Krieg in El Salvador
Pfaffen und Pastoren
Eintrittskarte Erdbeben
Erste Basisgemeinden
Eine blutige Spur
Im Dienste der Revolution
»Agenten des Imperialismus«
Integration: Weg mit Hindernissen
Kriege und Bündnisse für die Einheit
Integration als Ausweg aus den Kriegen
Der Nicaraguakanal: Wahn oder Erlösung?
Megaprojekt für den Weg aus der Armut
Wer finanziert den Kanal?
Deutsches Wesen und Unwesen
Im Schwarzwald von Nicaragua
Kaffeepflanzer und Architekten
Der beste Rum der Welt
Zucker geht an die Nieren
Die Fritanga – kulinarisches Kulturgut Nicaraguas
Tortillas
Vom »Popol Vuh« zur Erotischen Linken – Literatur in Zentralamerika
Anhang
Lesetipps
Basisdaten
Karte
Über den Autor
Wenn wir über Zentralamerika sprechen, müssen wir uns zuerst einmal einigen, von welchen Staaten wir überhaupt reden. Geografisch umfasst der Begriff die Staaten Guatemala, Honduras, El Salvador, Belize, Nicaragua, Costa Rica und Panama. Manche zählen noch die westindischen Inseln in der Karibik dazu. Archäologen bezeichnen die Region als Mesoamerika und meinen damit einen Kulturraum, der von Costa Rica bis zum mexikanischen Isthmus von Tehuantepec reicht oder auch noch die mexikanischen Bundesstaaten Oaxaca und Guerrero umfasst. Historisch gesehen besteht Zentralamerika nur aus den fünf Staaten Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua und Costa Rica, die während der spanischen Kolonialherrschaft als Generalkapitanat Guatemala verwaltet wurden und nach der Unabhängigkeit 1821 noch fast zwei Jahrzehnte als Zentralamerikanische Föderation zusammenblieben. Für diesen Band haben wir uns auf die sieben Staaten geeinigt, die die Landbrücke zwischen Süd- und Nordamerika bilden. Panama und Belize sind also dabei, obwohl sie eine ganz andere Geschichte durchlebt haben. Belize ist der jüngste Staat auf amerikanischem Festland, der erst 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Seitdem ist Belize eine parlamentarische Monarchie, die zum Commonwealth of Nations gehört und daher Queen Elisabeth II. zum Staatsoberhaupt hat.
In der Wahrnehmung Europas handelt es sich bei Zentralamerika um eine Ansammlung von Klein- oder Zwergstaaten, die als Wirtschaftspartner nicht ins Gewicht fallen. Kaum jemand ist imstande, auch nur ihre Hauptstädte korrekt aufzuzählen. Wer kennt schon Belmopan? Aus Sicht der USA sind die Staaten eine Handvoll Bananenrepubliken, die geostrategisch seit jeher als Hinterhof betrachtet werden. US-Präsident Ronald Reagan rechtfertigte in den 1980er-Jahren die indirekte militärische Intervention in Nicaragua mit dem Argument, das Land liege näher an Miami als die Hauptstadt Washington. Miami, die Metropole im Süden des Bundesstaates Florida, ist für die zentralamerikanische Elite eine Art Wirtschaftsmekka. Man kann dort leben, ohne ein einziges Wort Englisch zu beherrschen und ohne die heimischen Lebensgewohnheiten aufzugeben. Wer es sich leisten kann, fliegt gern für ein Wochenende zum Shopping nach Miami. Selbst Flugverbindungen von einem zentralamerikanischen Land in ein anderes sind oft einfacher über den Knotenpunkt in den USA zu bekommen. Das widersprüchliche Verhältnis der Zentralamerikaner zu den USA, eine über Jahrhunderte aufgebaute Hassliebe, wird in einem eigenen Kapitel abgehandelt. Das Recht zur militärischen Intervention hat sich Washington im Falle von Panama sogar vertraglich absichern lassen. Aber auch ohne Vertrag werden Unruhen oder missliebige Regimes in Zentralamerika gern als Bedrohung für die Sicherheit der USA gedeutet. Vor allem Nicaragua, das im vergangenen Jahrhundert 20 Jahre lang besetzt war, kann davon ein Lied singen.
So sehr die kleinen Republiken – Belize als parlamentarische Monarchie lassen wir einmal beiseite – auch von außen als Einheit wahrgenommen werden, so sehr unterscheiden sie sich doch voneinander. Zwischen dem gebirgigen Guatemala mit seinen antiken wie lebendigen Zeugen der Maya-Kultur einerseits und dem tropischen Panama mit seinem dynamischen Bankenzentrum andererseits liegen Welten. Selbst Nachbarn wie Costa Rica und Nicaragua liegen ethnisch, historisch und wirtschaftlich weit auseinander. Man liebt einander auch nicht. Im Gegenteil: Historisch gewachsene Rivalitäten sind heute trotz aller Integrationsbemühungen noch äußerst präsent und spürbar. So ist der sogenannte Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras auch mehr als 40 Jahre später noch nicht vergessen. Und die Ticos, die Costa-Ricaner, sind überall sonst auf dem Isthmus als hochnäsig verschrien und nur mäßig beliebt.
Es liegt auf der Hand, dass ein Buch mit seinen vergleichsweise langen Produktionszeiten selbst zu seinem Erscheinen nicht ganz auf der Höhe der Zeit liegen kann. Regierungen werden abgewählt, manchmal sogar Präsidenten gestürzt wie jüngst in Guatemala. Naturkatastrophen bringen ein Land kurze Zeit in die internationalen Schlagzeilen und können das Antlitz einer Stadt oder den Charakter einer Landschaft verändern. So die großen Beben von 1972 in Managua und 1986 in San Salvador. Kriegerische Auseinandersetzungen, wie sie die Region bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts geprägt haben, dürften zum Glück der Vergangenheit angehören. Aber die Nachwirkungen der bewaffneten Konflikte, die Nicaragua ein ereignisreiches Jahrzehnt der sozialen Revolution beschert, die Bevölkerungen von El Salvador und Guatemala hunderttausende Menschenleben gekostet und Honduras in den Flugzeugträger der USA verwandelt haben, sind heute noch allgegenwärtig. Unschuldiger Tourismus ist im Land der blutgetränkten Berge und Täler nicht möglich. Jede und jeder sollte sich vor einer Reise durch diese Länder und an deren phantastische Strände zumindest mit der jüngeren Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Hinweise darauf soll dieses Buch liefern, in dem die Achtziger- und Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts immer wieder prominent vorkommen. Nicht nur, weil ich den Großteil jener zwei Jahrzehnte als Korrespondent von dort berichtet habe, also viele der geschilderten Ereignisse selbst miterleben durfte oder musste, viele der handelnden Personen kennengelernt und interviewt habe, sondern weil es ein Vorher und ein Nachher gibt, weil die Umbrüche jener Zeit eine Zäsur darstellen, wie sie beispielsweise der Zweite Weltkrieg für Europa gebracht hat.
Zahlreiche Leserinnen und Leser waren wahrscheinlich damals in Solidaritätskomitees engagiert, sind zum Brigadeeinsatz nach Nicaragua gereist oder haben zumindest in den Medien den Konflikt verfolgt, der auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges auch im Deutschen Bundestag und im österreichischen Nationalrat ausgetragen wurde. SPD und Grüne sowie die Unionsparteien nebst FDP standen auf unterschiedlichen Seiten der Fronten, die in Zentralamerika viel privater, nämlich quer durch die Familien verliefen. Die taz exponierte sich, weil sie nach einer hochkontrovers geführten Debatte ein Waffenkonto für die salvadorianische Guerillafront FMLN einrichtete, was die Arbeit in El Salvador für ihren Korrespondenten nicht gerade leichter machte. Sie setzte sich aber auch regelrechten Leserbrief-Shitstorms der Solidaritätsbewegung aus, weil sie die Politik der Sandinisten in Nicaragua einer kritischen Bewertung unterzog.
Aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit ist Zentralamerika längst verschwunden. Gelegentlich geistern Berichte über den geplanten Nicaraguakanal oder über einen ungewöhnlichen Regierungswechsel durch die Medien. Über die Menschen, die auf dem Isthmus leben, erfährt man aber nichts. Dieses Buch ist kein Reiseführer, in dem man Tipps für Übernachtungen oder Fährverbindungen erwarten darf. Es ist ein Begleiter, der vor und während der Reise über die Region und ihre Geschichte informiert.
Wien, im Sommer 2016 |
Ralf Leonhard |
Der Platz der Verfassung im Zentrum von Guatemala-Stadt hat schon viele Demonstrationen gesehen. Aber was sich am 25. April 2015 zwischen dem pistazienfarbenen Nationalpalast, der Kathedrale und der Nationalbibliothek abspielte, war etwas Neues. Es protestierten nicht nur Bauern mit ihren breitkrempigen Hüten, Studenten mit obszönen Sprüchen auf ihren Transparenten oder Gewerkschaftsaktivisten mit Parolen gegen die ausbeuterische Lohnarbeit. Was da auf der Straße stand, war ein Querschnitt der guatemaltekischen Bevölkerung, bei dem die städtische Mittelklasse augenscheinlich die Hauptrolle spielte. Mit weißen Fahnen und der blau-weiß-blauen Nationalflagge standen dort selbst biedere Ordensschwestern und Damen, die ihren blassen Teint mit einem Sonnenschirm schützten.
»Verbrecher« stand da auf säuberlich ausgedruckten Transparenten, »Rücktritt jetzt!« und »Baldetti vor Gericht!«. Roxana Baldetti, die Vizepräsidentin, stand im Verdacht, einen kriminellen Ring mit dem Namen »La Línea« anzuführen, dessen korrupte Machenschaften wenige Tage vorher aufgeflogen waren. Es ging um Schmuggel im großen Stil, der über korrupte Zollbeamte abgewickelt wurde. Baldettis Kabinettschef wurde als Kopf der Bande identifiziert. Dass sie von allem nichts wusste, konnte sich niemand vorstellen. Roxana Baldetti sah sich unter dem Druck der Beweise schon zwei Wochen später gezwungen zurückzutreten.
In der Folge nahmen mehrere Minister ihren Hut. Denn Innenministerium und die internationale Untersuchungskommission gegen die Straflosigkeit (CICIG), die auch weitere Institutionen unter die Lupe nahmen, entdeckten Korruption im Sozialversicherungsinstitut und in der Beschaffungsabteilung der National-polizei. Gegen mehrere Abgeordnete der Regierungspartei wurden Untersuchungen eingeleitet.
Dass die Vizepräsidentin nicht nur verfassungsmäßige Stellvertreterin von Präsident Otto Pérez Molina, sondern auch seine Geliebte war, galt als offenes Geheimnis. So wurden Demonstrationen, die auch seinen Rücktritt forderten, bald zum Ritual. Der ehemalige Armeegeneral bestritt zwar jede Mitwisserschaft oder gar Beteiligung an den kriminellen Geschäften, doch gab auch er dem Druck nach und erklärte am 3. September 2015, wenige Wochen vor den Wahlen im Oktober, seinen Rücktritt.
Zum Nachfolger gewählt wurde dann der Schauspieler Jimmy Morales von der Front der Nationalen Konvergenz (FCN). Damit setzte sich eine Tradition fort, die Guatemala seit der Rückkehr zur Demokratie Mitte der 1980er-Jahre geprägt hatte: Mit jedem Regierungswechsel kam auch eine neue Partei an die Macht. »In Guatemala sind die Parteien nicht mehr als leere Hüllen«, sagt Ramón Cadena von der guatemaltekischen Sektion der Internationalen Juristenkommission: »Das System ist so beschaffen, dass Parteien organisiert werden, um einen Kandidaten an die Macht zu bringen. Danach geht ihnen die Luft aus.« In der Tat sind die meisten Parteien, die seit 1986 an die Macht kamen, inzwischen aufgelöst oder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Nirgends sonst in Lateinamerika sind Parteien so kurzlebig.
Cadena führt diese Kurzlebigkeit darauf zurück, dass die traditionellen Eliten genauso wenig an stabilen politischen Strukturen interessiert sind wie das organisierte Verbrechen. Die Eliten können ihren Einfluss auf die Politik besser wahren und die mafiösen Drogenbanden, Schmugglerringe oder Menschenhändler einen schwachen Staat leichter infiltrieren.
Der Christdemokrat Vinicio Cerezo, der 1985 als erster Zivilist nach langen Jahren der Militärherrschaft ins Präsidentenamt gewählt wurde, konnte seinen Posten erst nach einem Abkommen mit der Armee antreten. Die Militärs sicherten sich nicht nur eine Amnestie für alle Verbrechen der Vergangenheit, sondern auch hohe Pensionen und andere Privilegien. Aufstandsbekämpfung, also auch die Frage, ob man mit der Guerilla verhandeln sollte, blieb Sache der Uniformierten. Die Unternehmer verhielten sich zunächst abwartend. Als die Regierung 1988 Lohnerhöhungen für den Privatsektor und die Erhöhung der lächerlich niedrigen Strompreise für die Industrie ankündigte, suchten einflussreiche Unternehmer Unterstützung in den Kasernen und planten mit hohen Offizieren einen Putsch, der zwar mangels Rückendeckung durch den Generalstab scheiterte, aber dem Präsidenten vor Augen führte, wie prekär die auf den Institutionen beruhende Macht war. Auch nachfolgende Präsidenten waren gut beraten, sich mit den Militärs gut zu stellen und die Unternehmerschaft nicht zu verärgern. Selbst der sozialdemokratische Staatschef Álvaro Colom (2008–2012) musste noch mit Putschdrohungen leben. Zu seinem Nachfolger wurde dann mit Otto Pérez Molina wieder ein pensionierter General gewählt, der die Interessen seines Standes von höchster Stelle vertreten konnte.
Die 2006 von den Vereinten Nationen für Guatemala geschaffene Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG) legte 2015 einen Bericht über Parteispenden vor, der aufschlüsselte, wie die Wirtschaftselite des Landes über verschlungene Kanäle die ihnen genehmen Kandidaten finanzierte, ohne dass das Oberste Wahltribunal davon Kenntnis bekam. Bestimmte Unternehmergruppen, aber auch das organisierte Verbrechen sichern sich dadurch Einfluss auf Postenbesetzungen, Vergabe von öffentlichen Aufträgen oder Gesetzgebung.
Auch 30 Jahre nach der Rückkehr zur formalen Demokratie und zwei Jahrzehnte nach Beendigung des bewaffneten Konfliktes traut man in Guatemala den staatlichen Institutionen nicht über den Weg.
Von den anderen zentralamerikanischen Nationen unterscheidet sich Guatemala durch seine reiche Kultur und den hohen Anteil der indigenen Bevölkerung. Die weißen und mestizischen Guatemalteken versuchen sich vor allem gegenüber den indianischen Landsleuten abzugrenzen. Schon die Chronisten der Eroberung und frühen Kolonialzeit beschrieben die Mayas als verschlossene Menschen. Außerdem galten die Indigenen als bequem und faul, weil sie ihre Arbeitskraft nicht in den Dienst der neuen Herren stellen wollten. Sie wurden entweder zur Zwangsarbeit auf den Feldern der Landherren verpflichtet oder mussten dem König Tribut leisten: in Form von Mais, Kakao und Chilipfeffer oder Webereien und geflochtenen Matten. Diese Leistungen wurden mit Peitsche und Beugehaft eingetrieben, wie der Soziologe Severo Martínez Peláez schreibt. Für die Weißen und Mestizen habe der Indio die Funktion des Dienenden, dessen Aufgabe in der sozialen Hierarchie eindeutig definiert ist. Der Chronist Antonio Fuentes y Guzmán betrachtet ihn in seiner »Recordación Florida« als selbstverständliches Zubehör des Landes. Für Martínez Peláez ist die vermeintliche Faulheit, wie er in »La Patria del Criollo« ausführt, eine Form des Widerstandes gegen Ausbeutung und Unterdrückung.
Die Mayas und deren Gedankenwelt sind in Wahrheit Rätsel für die ladinische Bevölkerung. Ihre Verschlossenheit hat ihnen die Bewahrung ihrer kulturellen Identität erlaubt. Die Ladinos ihrerseits kämpfen mit einem großen Identitätsproblem. Der Schriftsteller Luis Cardoza y Aragón, der zur demokratischen Revolution 1944 aus dem Exil zurückkehrte und zehn Jahre später, nach dem Putsch gegen Jacobo Arbenz, neuerlich fliehen musste, sieht die Einsamkeit als besonders hervorstechendes Wesensmerkmal seiner Landsleute: »Wir besaufen uns, um mehr allein zu sein. Wir besaufen uns in Gesellschaft, um die Einsamkeit zu verstärken. Es gibt kein Gespräch, nur Monologe. In den Gesprächen gibt es in Wahrheit keinen Dialog, denn jeder ist von seinen eigenen Sorgen besessen.« So heißt es in »Guatemala: Las Líneas de su mano«. Alkohol spielt beim Verdrängen eine zentrale Rolle: »Der Guatemalteke zieht es vor, seine Identität nicht im Gespräch auf die Probe zu stellen. Er pflegt sich in einem Strom von Alkohol im Stillen zu versenken.« Und an anderer Stelle: »Das Besäufnis hat nichts Soziales. Wir teilen das Lied nicht in einem Chor. Die Gewalt, die aus der Verbitterung wächst, hat wohl damit zu tun, dass jemand, der immer Fußtritte empfangen hat, glaubt, auch selbst welche austeilen zu müssen …«
Gewalt erscheint so der guatemaltekischen Bevölkerung als legitimes und manchmal vielleicht einziges Mittel der Konfliktlösung. In Dörfern, wo das Versagen der staatlichen Ordnungsmacht besonders sichtbar ist, wird mit großer Selbstverständlichkeit Lynchjustiz geübt. Guatemala ist außerdem das einzige Land der Region, in dem die Todesstrafe nicht nur mehrheitlich akzeptiert wird, sondern auch in jüngerer Zeit praktiziert wurde. Das Bewusstsein, dass mit friedlichen Mitteln nichts verändert werden kann, durchzieht die Geschichte des Landes und der durch und durch militarisierten Gesellschaft. Das militaristische Denken sei in den Köpfen verankert, meint Bischof Mario Ríos Montt, der Bruder des Generals und Diktators (1982–1983) Efraín Ríos Montt. Er muss es wissen. Und jeder unbefangene Beobachter staunt über den Stechschritt, in dem Schülerinnen und Schüler für die Parade am Unabhängigkeitstag zu martialischer Marschmusik gehen müssen.
Man kann es der guatemaltekischen Bevölkerung nicht verdenken, dass sie verschlossen und misstrauisch ist. Das Land hat fast immer unter Diktatoren gelebt. Besonders Manuel José Estrada Cabrera (Amtszeit 1898–1920), der mit seiner Willkür und Grausamkeit als Vorlage für Miguel Ángel Asturias’ Roman »El Señor Presidente« (»Der Herr Präsident«) diente, und Jorge Ubico Castañeda (Amtszeit 1931–1944) prägten das Land. Opposition war gefährlich, Wahlen wurden als Scharade mit im Vorhinein bekanntem Ausgang aufgeführt. Ubico verkleidete sich gern als Napoleon und militarisierte politische und soziale Institutionen wie das Postwesen, Schulen und selbst Symphonieorchester. Die Indigenen, die immer ein Arbeitsbuch mit sich führen mussten, verpflichtete er zu kommunaler Arbeit, wenn sie keine Beschäftigung auf den Kaffee-, Zucker- oder Baumwollplantagen der Reichen hatten. Ein flächendeckendes Spitzelwesen sorgte dafür, dass im Land nichts geschehen, ja kaum etwas gedacht werden konnte, ohne dass der General davon Kenntnis bekam.
Es war eine Volkserhebung der gebildeten Mittelkasse, unterstützt von ins Exil getriebenen, reformistischen Offizieren, die die Diktatur ins Wanken brachte. Ubico setzte am 1. Juli 1944 eine Junta ein, die seine Politik fortsetzen sollte, doch nach monatelangen Unruhen stürzte das Regime. Wesentlich zur Empörung beigetragen hatte der Tod der Volksschullehrerin María Chinchilla Recinos, die während einer friedlichen Demonstration von Soldaten erschossen wurde. Eine reformistische Junta übernahm das Ruder und setzte freie Wahlen an, die im März 1945 mit der Wahl des Lehrers Juan José Arévalo Bermejo zum Präsidenten endeten. Er erhöhte den Bildungsetat und den Mindestlohn, öffnete das Wahlrecht für alle, außer analphabetische Frauen, und reformierte die Arbeitsgesetzgebung. Für die USA, die katholische Kirche und die Großgrundbesitzer rochen diese moderaten Reformen nach Kommunismus. Mindestens 25 Putschversuche oder militärische Drohgebärden blieben erfolglos. Als dann Arévalos Nachfolger, der reformistische Armeeoberst Jacobo Arbenz Guzmán (ab 1951) eine Landreform anging und mit der Enteignung brachliegender Latifundien drohte, spitzte sich die Lage zu. Mächtigster Player in dem Drama war die United Fruit Company (UFCO), die als größter Landeigentümer ausgedehnte Brachflächen besaß. Arbenz hatte vor, den Bananenkonzern zum in der Steuererklärung deklarierten Buchwert des Landes zu entschädigen. Die Empörung in Washington war groß, zumal CIA-Chef Allen Dulles eines der größten Aktienpakete besaß. Gemeinsam mit seinem Bruder, Außenminister John Foster Dulles, inszenierte der Geheimdienstchef eine internationale Kampagne gegen Guatemala, die davor warnte, den Sowjetkommunismus in Zentralamerika Fuß fassen zu lassen. So endete der demokratische Frühling schon im Juni 1954, als eine Söldnertruppe aus Honduras einmarschierte und ein Geschwader der US-Luftwaffe bedrohlich über die Hauptstadt flog. Arbenz überschätzte offenbar die Stärke der Putschisten und floh ins Exil nach Mexiko.
Die letzten Protagonisten der demokratischen Dekade sind erst wenige Jahre tot, und die Reformzeit unter Arévalo und Arbenz bleibt Referenzpunkt für die Geschichtsschreibung wie für die kollektive Erinnerung. Landreform ist seither ein absolutes Tabu. Denn die folgenden Jahrzehnte der offenen oder durch zivile Präsidenten kaschierten Militärdiktatur haben das Land traumatisiert. Reformistische Offiziere gründeten in den 1960er-Jahren eine Guerillabewegung, die – nach dem Vorbild der kubanischen Revolution – in der östlich gelegenen Sierra de las Minas die Sympathien der Kleinbauern zu gewinnen und durch Kidnapping die Kriegskasse zu füllen versuchte. Die Fuerzas Armadas Revolucionarias (FAR) konnten jedoch keine Massenbewegung gegen die Diktatur auslösen. Einer der Anführer, Luis Augusto Turcios Lima, starb 1966 unter bis heute nicht geklärten Umständen bei einem Verkehrsunfall in der Hauptstadt, der andere, Marco Antonio Yon Sosa, bei einem Feuergefecht im Grenzgebiet 1970. Da war die Guerilla aber schon weitgehend aufgerieben durch den schonungslosen Feldzug des Generals Carlos Manuel Arana Osorio. Historiker schätzen die Zahl der Zivilisten, die dabei als vermeintliche oder tatsächliche Sympathisanten der Aufständischen getötet wurden, auf 15 000. Unter ihnen war auch der Dichter Otto René Castillo, der sich der Guerilla angeschlossen hatte. Er wurde 1967 gefoltert und lebendig verbrannt. Damals griff erstmals auch die Praxis des Verschwindenlassens systematisch Platz. Kommunistische Gewerkschafter oder protestierende Studenten tauchten nach ihrer Festnahme nie wieder auf.
Die Brutalität des Regimes war unvorstellbar. So wurde der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat Manuel Colom Argueta 1979 unter Einsatz von Hubschraubern regelrecht durch die Stadt gejagt und schließlich exekutiert. Forensiker zählten 45 Einschüsse in seinem durchsiebten Körper. Wenige Wochen vorher war schon der populäre Oppositionsführer Alberto Fuentes Mohr auf offener Straße einem Killerkommando zum Opfer gefallen.
Da zivile Opposition genauso tödlich war wie bewaffneter Widerstand, verlagerte sich die politische Aktivität von Regimegegnern zunehmend in den Untergrund. Im Laufe der 1970er-Jahre waren vier neue Guerillabewegungen entstanden, regional und ideologisch divers. EGP (Ejército Guerrillero de los Pobres, Guerilla-Armee der Armen), ORPA (Organización Revolucionaria del Pueblo en Armas, Revolutionäre Organisation des bewaffneten Volkes), FAR (Fuerzas Armadas Rebeldes, Streitkräfte bewaffneter Rebellen) und PGT (Partido Guatemalteco del Trabajo, Guatemaltekische Arbeiterpartei, der bewaffnete Arm der verbotenen Kommunistischen Partei) agierten in verschiedenen Landesteilen. Besonders erfolgreich waren EGP und ORPA im indianischen Hochland. Das ist auch der Grund, warum die Maya-Bevölkerung besonders verfolgt wurde. Die Armee, deren Elitetruppen zu blutrünstigen Tötungsmaschinen gedrillt wurden, entvölkerte ganze Dörfer. Die von den Vereinten Nationen noch vor dem offiziellen Ende des bewaffneten Konflikts eingesetzte Wahrheitskommission schätzte die Zahl der Opfer auf 200 000 Tote, 45 000 Verschwundene und annähernd 100 000 Vertriebene. Die allermeisten gehen auf das Konto der Regierungstruppen oder paramilitärischer Gruppen.
Höhepunkt der Grausamkeiten, zumindest in der internationalen Wahrnehmung, war das Massaker in der spanischen Botschaft vom 31. Januar 1980. Vicente Menchú, einer der Anführer der Bauernorganisation Comité de Unidad Campesina (CUC), hatte mit einer kleinen Gruppe von Bauern aus dem Departement Quiché und linken Studentenvertretern das Botschaftsgebäude in Guatemala-Stadt besetzt, um auf das Schicksal seiner Leute aufmerksam zu machen. Die Besetzer waren unbewaffnet und verlangten nicht mehr als die Verlesung einer Botschaft. Obwohl der Botschafter Máximo Cajal sich für sie einsetzte, gab der Innenminister Befehl zum Sturm auf die Botschaft, die dabei niedergebrannt wurde. In den Flammen starben nicht nur fast alle Besetzer, sondern auch Botschaftspersonal, ehemalige Regierungsfunktionäre und andere Unbeteiligte. Neben dem Botschafter überlebte einer der Bauern, wurde aber am folgenden Tag im Spital ermordet. Bei diesem einzigartigen Massaker überraschte nicht so sehr die Brutalität des Regimes, sondern die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, die gerne die offizielle Darstellung übernahm, eine Horde indianischer Terroristen habe die Botschaft überfallen und in Brand gesteckt. Das Ereignis schlug international höhere Wellen als in Guatemala selbst, wo Anliegen der »Indios« kaum wahrgenommen werden.
Das Regime von General Fernando Romeo Lucas García war hoffnungslos diskreditiert, trotzdem suchte es sich durch erneuten Wahlbetrug 1982 zu perpetuieren. Der Einsetzung des Militärherrschers kam aber eine Gruppe von Offizieren mit einem Putsch am 23. März 1982 zuvor. Der neue starke Mann, General Efraín Ríos Montt, galt zwar als Hoffnungsträger, war er doch selbst acht Jahre vorher um den Wahlsieg an der Spitze einer Zentrumsallianz betrogen worden. Doch der im kalifornischen Exil zum Prediger einer Pfingstsekte bekehrte Militär erwies sich als noch rücksichtsloser als seine Vorgänger. Während seiner weniger als 18 Monate dauernden Herrschaft richtete die Armee ein Blutbad im Hochland an. Indianische Bauern wurden verpflichtet, sich in »Zivilverteidigungspatrouillen« zu organisieren und ihre Dörfer von »subversiven Elementen« freizuhalten. Sie fungierten nach außen als Spitzel, nach innen als verlängerter Arm der Armee und unterste Ebene des Repressionsapparates.
Erst nach einem neuerlichen Putsch unter General Óscar Humberto Mejía Víctores im Oktober 1983 ließ die Intensität der Massaker nach. Zehntausende Mayas waren bereits nach Mexiko ins Exil oder in versteckte Widerstandsdörfer in den Bergen geflohen. Unter dem Druck der USA, die ein formal demokratisches Zentralamerika als Kontrast zum revolutionären Nicaragua präsentieren wollten, mussten die Militärs freie Wahlen und die Aktivität politischer Parteien zulassen. Der Bürgerkrieg endete dann 1996 mit der Unterzeichnung eines umfassenden Friedensabkommens.
In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 2009 holten Militärs den honduranischen Präsidenten José Manuel Zelaya aus dem Bett und ließen ihn noch im Pyjama nach Costa Rica ausfliegen. Da er keine Rücktrittserklärung unterschreiben wollte, mussten die Putschisten seine Unterschrift fälschen. Später konstruierten sie eine Art Notwehrsituation, die ein Einschreiten erzwungen hätte.
Honduras galt seit jeher selbst für zentralamerikanische Standards als politisch besonders rückständig. Es war der Inbegriff der Bananenrepublik, in der Regierungen auf Zuruf der transnationalen Konzerne ausgetauscht werden konnten und die lokalen Eliten jeden Widerstand gegen ihre Raffgier mit brutaler Gewalt beantworteten. Doch in den 1980er-Jahren erzwangen die USA einen Demokratisierungsprozess, der ein kapitalistisches Gegenmodell zum »kommunistischen« Nicaragua schaffen sollte. Dieser stieß jedoch an seine Grenzen, als Präsident José Manuel Zelaya 2008 aus dem stillschweigenden neoliberalen Konsens ausscherte, dem Wirtschaftsbündnis ALBA (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América, Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas) von Hugo Chávez beitrat und die Unternehmer durch eine Erhöhung des miserablen Mindestlohns verärgerte. Auch wurden die Privatisierungsprojekte, an denen sich gutes Geld verdienen ließ, gestoppt. Und um der Provokation die Krone aufzusetzen, strebte Zelaya eine zweite Regierungsperiode an. Die wollte er via Verfassungsreform ermöglichen. Dafür war eine Volksabstimmung nötig. In der Nacht vor der Abstimmung, ob ein solches Referendum überhaupt stattfinden sollte, gingen Zelayas Gegner auf Nummer sicher und zogen ihn aus dem Verkehr.
Honduras ist das einzige Land der Region, in dem sich das aus der Kolonialzeit stammende Zweiparteiensystem aus Konservativen (Nationale Partei) und Liberalen (Liberale Partei) erhalten hat. Die Konservativen stützen sich traditionell auf Großgrundbesitz und die katholische Kirche, während die Liberalen in den Städten zu Hause waren, auf Handel setzten und den Einfluss der Kirche zurückzudrängen trachteten. Diese ideologischen Unterschiede haben sich längst verwischt. Dennoch sah die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung in der Liberalen Partei ihren Ansprechpartner. José Manuel Zelaya war ihr Ziehkind und Hoffnungsträger, obwohl er als Großgrundbesitzer ein eher untypischer Liberaler war. Dass er sich als Präsident gegen seine Klasse stellen würde, war nicht vorherzusehen. Einmal an der Macht, dürfte er aber erkannt haben, dass die traditionelle Klientelpolitik das Land aussaugt. »Seine Analyse der Problemlage im Lande war richtig«, sagte ein unverdächtiger Zeuge, nämlich Christian Lüth, der damalige Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung, ein Jahr nach dem Putsch bei einem Interview. Zelayas Fehler sei es gewesen, »dass er nicht alle Gesellschaftsschichten eingebunden hat in seine Reformpläne. Das hat ihm das Genick gebrochen.« Lüth stellte zwar klar, »dass wir als Friedrich-Naumann-Stiftung die Phrase Putsch nicht verwenden. Das war ein verfassungsmäßiger Übergang«. Doch was die Putschisten betrifft, sei es nicht falsch, »dass es diejenigen Kräfte sind, die nach wie vor kein Interesse haben, dass Honduras sich öffnet, dass Honduras sich weiterentwickelt, erste Schritte aus der Armut tut und vor allen Dingen, dass alle gesellschaftlichen und ideologischen Schichten an der Politik dieses Landes beteiligt werden«. Lüth ist inzwischen als Pressesprecher bei der AfD gelandet.
Als Interimspräsident ließ sich mit Roberto Micheletti der Präsident des Kongresses und ein Parteifreund von Zelaya vereidigen. Er diente nicht nur als verfassungsgemäßes Feigenblatt des Putschregimes, sondern hatte auch höchstpersönliches Interesse an einem politischen Kurswechsel. Micheletti, dem in den 1980er-Jahren Verbindungen zum Drogenkartell von Medellín unter Pablo Escobar nachgesagt wurden, stand unter Beobachtung der USA. Botschafter Hugo Llorens berichtete dem State Department in einer von Wikileaks öffentlich gemachten E-Mail über eine dubiose Kraftwerkslizenz, die der De-facto-Staatschef quasi sich selbst erteilt habe. Als alle Kontrollinstanzen durch die bevorstehenden Wahlen abgelenkt waren, habe er ein großes Kraftwerksprojekt »mit geringem Nutzen für den Staat« bewilligt. An dem italienisch-honduranischen Konsortium, das die Lizenz für die Nutzung des Staudamms José Cecilio del Valle zugesprochen bekam, war Micheletti als Gesellschafter beteiligt.
Micheletti war nur das besonders sichtbare Antlitz einer Gruppe, die von Zelaya ihre persönlichen Interessen bedroht sah. Um es mit den Worten von Christian Lüth zu sagen, waren es »zehn bis zwanzig Familien, die sehr große Steuervorteile genießen und bedacht sind, sie zu behalten«. Familien, die zum Teil ihre Landtitel mit Urkunden des spanischen Königs belegen können. Land war bis vor wenigen Jahrzehnten die wichtigste Grundlage für die Anhäufung von Vermögen in Lateinamerika. Inzwischen hat die alte Landoligarchie auch in Honduras ihre Einkommensquellen diversifiziert: Banken, Import/Export, Bergbau. Um den privilegierten Zugang zu Schürflizenzen oder staatliche Großaufträge zu sichern, ist der direkte Zugang zur Macht unabdingbar. Mit dem unberechenbaren Zelaya war dieser Zugang verloren gegangen.
Die neuen alten Machthaber beeilten sich, das von Zelaya in Gang gesetzte Landumverteilungsprogramm, das die über mehr als 50 Jahre hinausgezögerte Agrarreform zumindest teilweise umsetzen sollte, zu stoppen. Die Folge waren blutige Konflikte im Gebiet des Bajo Aguán an der Atlantikküste, wo der Magnat Miguel Facussé wie ein kolonialer Feudalherrscher die meisten Ländereien unter seine Kontrolle gebracht hat und mehreren Bauerngenossenschaften ihr Land streitig macht. Wenige Tage nach dem Putsch wurden außerdem mehrere Dutzend Schürflizenzen erteilt. Ein neues Bergbaugesetz aus dem Jahr 2013 schafft ein beschleunigtes Genehmigungsverfahren für Bergbaukonzessionen. Das Gesetz nimmt keinen Bezug auf das von Honduras ratifizierte Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, das die Konsultation mit betroffenen indigenen Gemeinschaften vor einer Lizenzerteilung zwingend vorschreibt. Auch die geschützten Räume in Nationalparks, Biosphären oder archäologischen Stätten finden keine Berücksichtigung. Vielmehr wird diesem Gesetz Vorrang eingeräumt, soweit es irgendeinem anderen Gesetz widerspricht, darunter das Gemeindegesetz, das Waldschutzgesetz und das Informationsfreiheitsgesetz.
Neben metallischen Bodenschätzen werden auch die Flüsse zur Ausbeutung freigegeben. Berta Cáceres machte 2014 öffentlich, dass allein in den Departamentos Intibucá, Lempira und La Paz 17 Konzessionen für die Nutzung von Flüssen vergeben worden seien.
Am 3. Mai 2014 wurde in der Gemeinde El Níspero, Departamento Santa Bárbara der Umweltaktivist Rigoberto López brutal ermordet. Den Leichnam fand man mit durchschnittener Kehle und herausgeschnittener Zunge, also so, wie Mafiabanden ihren Gegnern signalisieren, dass Widerstand nicht geduldet wird. López hatte gegen eine Eisenerzmine in den Quita-Ganas-Bergen gekämpft, die die Trinkwasserquellen für mehrere Gemeinschaften in El Níspero verseuchen würde.
Der nationale Investitionsförderungsplan 2010–2014, der unter dem Motto »Honduras is open for business« steht, sieht Privatisierungen in fast allen Bereichen vor. Steuervorteile gelten insbesondere für die Bereiche Agrobusiness, Energiewirtschaft, Wald, Infrastruktur, Textil, globale Dienstleistungen (wie Maquilas) und Tourismus. Mit der Coalianza wurde eine Institution zur Umwandlung staatlicher in private Unternehmen oder in Private Public Partnerships geschaffen. Kritiker sehen darin ein neues Instrument zur Privatisierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Vergesellschaftung von Verlusten. Dass Angehörige und Freunde der Regierung dabei bevorzugt zum Zug kommen, darf angenommen werden.
Umwelt wird in erster Linie als Quelle privater Bereicherung gesehen. Das zeigt sich nicht nur bei der Privatisierung von Flüssen, sondern auch bei dem im August 2013 unterzeichneten Kooperationsvertrag, der eine Anzahl von Wäldern zur kommerziellen Nutzung an die Armee übergibt. Viele der Projekte werden mit einem grünen Mäntelchen verbrämt. Dazu muss man wissen, dass Honduras ein sehr waldreiches Land ist. Etwa die Hälfte des Territoriums ist mit Laub- oder Nadelwäldern bedeckt. 40 Prozent dieser Fläche befinden sich in Privatbesitz, nur fünf Prozent sind durch kollektive Titel vor allem indianischer Gemeinschaften geschützt. Allerdings liegen 70 Prozent der Regenwälder auf indigenem Territorium.
Das profitorientierte Denken der herrschenden Elite steht in schroffem Gegensatz zur Philosophie der indianischen Völker. COPINH (Consejo Cívico de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras), der von Berta Cáceres gegründete Dachverband indigener Organisationen, sieht auch das von Weltbank und Vereinten Nationen geförderte Waldschutzprogramm REDD+ (Reducing Emissions from Deforestation and Degradation) im honduranischen Kontext als neokolonialen Zugriff auf indigenes Land. Berta Cáceres wurde am 3. März 2016 in ihrem Haus in der Stadt La Esperanza ermordet. Dass von den über hundert Morden, die seit dem Putsch vom 28. Juni 2009 an Umweltaktivisten und etwa ebenso vielen Medienschaffenden begangen wurden, kein einziger aufgeklärt werden konnte, überrascht nicht. Die Regierung betrachtet diese Menschen als Feinde.
Die honduranische Regierung hat großes Vertrauen in den freien Markt. Präsident Juan Orlando Hernández will sein Land wirtschaftlich voranbringen, indem er einen Teil des Territoriums an Konzerne verkauft. Er träumt davon, das zweitärmste Land Zentralamerikas in eine Art Hongkong des Westens zu verwandeln. An der Pazifikküste im Süden des Landes, möglicherweise auf der Insel Amapala, soll die erste Charter City Lateinamerikas entstehen. Zona de Empleo y Desarrollo Económico (ZEDE) soll das neoliberale Paradies heißen, also Zone der Beschäftigung und der Wirtschaftsentwicklung. Das vom US-Ökonomen Paul Romer geborene Konzept sieht vor, dass der Staat den größten Teil der Souveränität über dieses Stück Land abgibt und den Investoren überantwortet. Die staatlichen Arbeitsgesetze, die Mindestlohn oder maximale Arbeitszeit, Verbot von Kinderarbeit oder Versicherungen regeln, wären ebenso außer Kraft gesetzt wie ökologische Auflagen. Neben dieser Sonderwirtschaftszone soll ein Tiefseehafen entstehen. Paul Romer hat sich aus dem Projekt zurückgezogen, da er bei der Planung nicht berücksichtigt wurde. Jetzt steht eine Gruppe US-amerikanischer Freihandelsideologen dahinter. Die betroffene Bevölkerung wurde nicht konsultiert.
Während sich in Honduras der Protest gegen solche Pläne formierte, wurde in Südkorea bereits anlässlich eines Arbeitsbesuches von Hernández eine Machbarkeitsstudie vorgestellt. Der Stahlkonzern Posco, der die Studie erarbeitet hat, ist allerdings mit Korruptionsvorwürfen in seinen Tochterunternehmen konfrontiert. Auch in Honduras dürfte sich die Sache schwierig gestalten. Ein ähnliches Projekt ist 2012 vom Parlament als verfassungswidrig verworfen worden.
Global Risk Insights (GRI), eine von Absolventen der renommierten London School of Economics gegründete Onlineplattform, die Investitionsrisiken analysiert, sieht das Vorhaben auch skeptisch. Mittelfristig würde die politische Stabilität des Landes bedroht. Den Wirtschaftsanalysten Doug Henwood vom Left Business Observer erinnert das Konzept der Modellstädte an das autoritär regierte Chile unter Putschistengeneral Augusto Pinochet, wo die neoliberalen Chicago Boys, eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die in Chicago bei Milton Friedman studiert hatten, ein Experimentierfeld für ihre radikalen marktliberalen Ideen vorfanden: »Zuerst braucht man einen Putsch. Dann schafft man eine Zone der Freiheit – einer besonderen Art der Freiheit. Nicht der Versammlungsfreiheit oder der Freiheit der Meinungsäußerung und Entwicklung, sondern der Freiheit einer Wirtschaftselite, unter dem Schutz des Staates nach Belieben zu fuhrwerken.« Die Folge wäre neue Gewalt statt wirtschaftlichen Wohlstands.