Emmanuelle Pirotte
Heute leben wir
Roman
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
FISCHER E-Books
Emmanuelle Pirottes erster Roman ›Heute leben wir‹ war ein großer Publikumserfolg in Frankreich und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Prix Edmée de la Rochefoucauld, außerdem war er Finaliste Meilleur premier roman 2015. Eine Verfilmung ist für Anfang 2017 geplant. Emmanuelle Pirotte lebt in einem belgischen Dorf.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Renée ist 6 oder 7, ganz genau weiß sie es nicht. Als jüdisches Mädchen ohne Eltern wird sie vor den Deutschen versteckt – bei den Nonnen, dem Pfarrer, den Bauern in den Ardennen. Und dann soll sie der SS-Offizier Matthias im Wald erschießen – aber Renées schwarze Augen treffen ihn im Innersten – und der Schuss geht daneben. Matthias versteht zum ersten Mal im Leben, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Emmanuelle Pirotte hat es gewagt, ein historisches Tabu aufzubrechen, gelungen ist ihr ein aufwühlender und schonungsloser Roman, der uns den Glauben an die Menschlichkeit zurückschenkt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Today we live‹
bei le cherche midi, Paris 2015
© le cherche midi, 2015
Vorlage für diesen Roman ist ein Spielfilm-Drehbuch von Emmanuelle Pirotte und Sylvestre Sbille
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Coverabbildung: mamita/Shutterstock
Covergestaltung: Favoritbüro, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490163-3
Wallonisch: Mädchen, Töchterchen
Wallonisch: Armes kleines Mädchen
Wallonisch: Na, was
Wallonisch: Komm her, mein kleines Kätzchen
Wallonisch: Was für’n schönes lüttes Maid, was für’n schönes Kätzchen!
Wallonisch: Nein, es geht gar nicht.
Das geschmierte Brot blieb dem Vater an den Lippen hängen. Jeder erstarrte vor seinem dampfenden Kaffee. Ein Frauenschrei von der Straße her. Weinen, Gekreische, das Wiehern eines Pferdes. Der Vater öffnete das Fenster. Schlagartig wurde es eiskalt in der kleinen Küche. Er rief einen Mann draußen. Ein paar Worte wurden gewechselt, übertönt vom Stimmengewirr der Straße. Die Mutter, Marcel und Henri, die beiden Söhne, sahen Renée schweigend an. Doch Renée biss schnell noch zweimal in ihr Butterbrot, sie hatte schließlich Hunger. Der Vater machte das Fenster wieder zu. Er schien um zwei Jahre gealtert zu sein.
»Sie kommen zurück«, sagte er mit dumpfer Stimme.
Die Mutter bekreuzigte sich.
»Wir müssen etwas tun für Renée«, setzte der Vater erneut an.
»Nein!«, entfuhr es der Mutter mit einem Schluchzen.
Sie wagte das Kind nicht mehr anzusehen. Auch Henri hatte sich abgewandt. Marcel dagegen ließ Renée nicht aus den Augen. Der Vater stand wie angewurzelt da, vollkommen verkrampft, die Gesichtszüge entstellt vor Angst. Er starrte seine Frau an.
»Weißt du, warum sie Baptiste erschossen haben? Weil er Fahnen von den Inglischmen im Keller hatte. Da ist es für eine Jüdin …«
Die Mutter bedeutete ihm, still zu sein. Eine Jüdin. Sagte man dieses Wort? Die Mutter hatte nie richtig verstanden, worin das bestehen sollte, Jude sein. Es war gefährlich, Punkt. Bald waren fünf Monate vergangen, seit Renée bei ihnen angekommen war. Ein Kind von sechs oder sieben Jahren, man wusste es nicht so genau. Etwas wild und stolz mit ihren schwarzen Augen, wie man sie nur bei Zigeunern sah. Augen, die einen auf Schritt und Tritt verfolgten, die einen verschlangen, intelligente Augen, das ja, mit Sicherheit. Gierig, immer wachsam, an allem interessiert, und die alles zu verstehen schienen … Renée machte ihnen ein bisschen Angst. Außer Marcel, der sich ganze Tage lang draußen mit ihr herumtrieb. Im September hatte man die Befreiung gefeiert, niemand war gekommen, um sie abzuholen. Und jetzt ging der Albtraum wieder los. Um Himmels willen … Mitten im Winter, auch das noch. Der Vater hatte begonnen, von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»In weniger als einer halben Stunde sind sie hier, die Boches. Und die Piersons wissen Bescheid. Die werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, zu quatschen.«
Die Mutter wusste, dass er recht hatte. Catherine Piersons hasserfüllte Blicke während der Messe sprachen Bände.
»Na los … Komm, Renée«, flüsterte der Vater.
Die Kleine stand auf, stellte sich brav neben ihn. Die Mutter spürte ihr Herz bis zum Halse schlagen. Warum wühlte es sie plötzlich derart auf, sich von Renée trennen zu müssen? Sie hatte nie das Gefühl gehabt, dieses Kind wirklich zu lieben. Sie beobachtete, wie die Kleine in den Mantel schlüpfte, mit ihren Patschhändchen an den Knöpfen fummelte. Der Vater zog ihr ruppig eine Pudelmütze über. Das Kind war ruhig, so ruhig, und doch gespannt wie ein Flitzebogen, bereit zu handeln, zu reagieren, genau das zu tun, was sein musste, wie immer. Diese Art, das war etwas, womit es die Mutter zur Weißglut bringen konnte … aber nicht heute. Abrupt stand sie auf und verschwand im Flur. Man hörte sie schniefend die Treppe hinaufsteigen, vier Stufen auf einmal.
»Kommt schon, ihr zwei, umarmt die Kleine«, sagte der Vater.
Die Jungen erhoben sich vom Tisch und kamen näher. Henri, der Ältere, berührte kaum ihre Wange. Marcel, der auf die elf zuging, hielt sie lange an sich gepresst. Schließlich stieß Renée ihn sanft zurück. Er weinte. Sie sah ihm tief in die Augen, küsste ihn auf die Wange, dann drehte sie sich um und schob ihre Hand in die des Vaters. Die Mutter kehrte in die Küche zurück, einen kleinen Koffer in der einen Hand und in der anderen ein ziemlich zerlumptes Stoffmännchen, das sie Renée reichte. Sie küsste das Kind auf die Stirn. Der Vater ergriff den Koffer, öffnete die Tür und führte Renée in die Kälte, die Schreie, die Panik, die Gefahr. Die Tür schloss sich mit einem trockenen Knall. Die Mutter verharrte lange mit verlorenem Blick, die Hände leicht erhoben und geöffnet, in einer innegehaltenen Geste, wie man sie von Bettlern kennt. Murmelnd wandte sie sich ihren Söhnen zu:
»Sie hat ihre Handschuhe nicht an.«
Der Vater rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Renée flog geradezu an seiner Seite, ihre Hand zerquetscht von dem eisernen Griff, die Wangen gepeitscht vom eisigen Wind aus dem Norden. Ringsum, im Schnee, herrschte Chaos. Die Augen der Kleinen verfingen sich kurz in denen einer Greisin, die klagend auf einem Karren saß, zwischen Matratzen und Blechschüsseln, ein wimmerndes Baby in den Armen. Etwas weiter zerrten ein Mann und eine Frau, jeder an einer Seite, unter lauten Beschimpfungen an einer Steppdecke. Eine Mutter rief weinend einen Vornamen, während sie in alle Richtungen panische Blicke warf; der Rest der Familie wartete auf einem Fuhrwerk, um das Dorf zu verlassen. Renée war verblüfft über die traurig im Leeren schaukelnden Beine, immer paarweise und seltsam ruhig inmitten dieser ganzen Aufregung. Die meisten machten sich zu Fuß auf den Weg, mit Sack und Pack, Kindern oder Alten auf dem Rücken oder in Kinderwagen.
Der Vater und Renée erreichten den Platz. Sie stürzten die Treppe zum Pfarrhaus hinauf. Der Vater betätigte die Glocke. Sekunden später öffnete sich die Tür und die hohe Gestalt des Pfarrers erschien. Er bat sie in sein Wohnzimmer. Im Kamin brannte ein großes Feuer, das unstete Schatten auf die Holztäfelungen warf, mit denen die Wände vollständig bedeckt waren. Es roch gut nach Wachs. Der Vater trug sein Anliegen vor.
»Hier ist sie auch nicht besser in Sicherheit«, sagte der Pfarrer.
»Aber sicher doch«, brummte der Vater.
Wo auch immer in diesem Moment, besser als bei ihm zu Hause. Als er Renée vor fünf Monaten bei sich aufgenommen hatte, wusste der Vater, welches Risiko er einging, für sich und für seine Familie. Aber damals glaubte man, der Krieg sei zu Ende; seit Monaten hatte man keine Deutschen mehr in der Gegend gesehen. Und heute standen diese Dreckskerle von Fritz fast vor ihrer Tür. Wer weiß, was sie im Sinn hatten? Wer weiß, ob sie nicht noch brutaler, noch grausamer sein würden als zuvor, endgültig verrückt geworden durch das Gefühl, an der Niederlage vorbeigeschrammt zu sein? Auch noch zahlreicher vielleicht, Horden von Feldgrauen, aus ihrer Asche auferstanden wie von der Hölle ausgespuckte Wiedergänger. Er hatte Visionen, sah seine beiden blutbefleckten Jungen, ihre Körper von Kugeln durchsiebt wie der des Apothekersohns, den man hinter dem Gemeindesaal gefunden hatte. Das gequälte Gesicht des Vaters wand sich in Grimassen. Er hatte wieder begonnen, von einem Fuß auf den anderen zu treten, Renée noch immer an seiner Hand.
»Schon gut, Jacques«, sagte der Pfarrer.
Der Vater wäre ihm fast zu Füßen gefallen. Stattdessen rang er sich ein blödes Lächeln ab. Er tat dem Pfarrer wirklich leid, dieser herzensgute Mann, plötzlich in einen Feigling verwandelt. Näher tretend, legte er seine breite Hand auf die Schulter des Vaters. Dieser schenkte ihm ein raues »Danke«, ehe er den Koffer und Renées Hand losließ. Dann beugte er sich hinab, fasste die Kleine bei den Schultern. Er sah sie an und fühlte sich elend. Das Kind drückte nichts aus, was er verstehen konnte; keinen Vorwurf, keine Wut, keine Traurigkeit, auch keine Angst oder Resignation, sondern etwas Stärkeres, ohne jedes klar erkennbare Gefühl. Erschüttert, am Boden zerstört vor Scham und gleichzeitig berührt von dieser Art Anmut, die es ausstrahlte, küsste der Vater es auf die Stirn und entfloh wie ein Dieb.
»Magst du Arme Ritter?«, fragte der Pfarrer.
»Oh, und wie, riesig«, antwortete Renée.
Sie hatte es »riezig« ausgesprochen. Der Pfarrer beobachtete sie. Momentan strahlte die Kleine vor Vorfreude auf den Genuss, das köstliche, in eine Mischung aus Milch, Zucker und Eiern getunkte, goldgelb geröstete Brot zu essen. Er nahm sie mit in die Küche, um die Armen Ritter zuzubereiten. Renée durfte die Eier aufschlagen. Das Kind zeigte sich ruhig, aufmerksam, als wäre es an einem schönen Friedenstag zu Besuch gekommen. Der Pfarrer machte sich daran, die Mischung zu verquirlen, unterbrach aber jäh, um zu lauschen. Ein Motorgeräusch. Er ließ den Rührbesen fallen und ging zum Wohnzimmerfenster. Auf dem Platz kam ein Kübelwagen angebraust. Nach allen Seiten schwärmten Soldaten aus, die Waffe in der Hand. Ein Offizier stieg aus dem Jeep. Der Pfarrer konnte soeben noch den goldenen Doppelblitz auf der Schirmmütze erkennen. Das verfluchte Zeichen. Die Soldaten ließen die Bewohner eines Hauses vor die Tür treten, reihten sie an der Wand auf, die Hände über dem Kopf. Der SS-Mann schritt langsam die Reihe der verschreckten Zivilisten ab. Der Pfarrer wandte sich um; Renée stand hinter ihm. Ihr war nichts von der Szene entgangen. Er packte den mitten im Wohnzimmer stehen gebliebenen Koffer. Renée spürte den Griff einer neuen Männerhand, die sich um ihre schloss. Sie verließen das Haus durch die Küchentür. Pech für die Armen Ritter.
Das klobige Schuhwerk des Pfarrers hinterließ tiefe und breite Spuren auf dem schneebedeckten Weg des Gemüsegartens. Sie gelangten vom Garten ins Freie. Der Pfarrer lief so schnell er konnte. Renée schaffte es kaum mitzuhalten, ihre kurzen Beine sanken zu tief ein. Sie fiel hin. Der Pfarrer half ihr auf, und sie liefen weiter. Man konnte nicht zwischen der Straße und den Feldern der Umgebung unterscheiden. Alles war weiß. Der ganz mit Schnee erfüllte Himmel, seit Tagen dicht, ging in die Landschaft über. Renée konnte nicht mehr; sie keuchte, unfähig, zu verschnaufen. Der Pfarrer nahm sie auf den Arm. In der Ferne begann sich etwas zu bewegen. Ein Fahrzeug. Der Pfarrer sprang in den Graben, hielt Renée fest an sich gedrückt. So warteten sie mit angehaltenem Atem. Das Motorgeräusch nahte. Der Pfarrer reckte sich am Rand des Grabens auf die Zehenspitzen. Er bekreuzigte sich und lächelte Renée zu. Es war ein amerikanischer Jeep; das Kind war gerettet. Er sprang auf die Straße, schwenkte die Arme mit großen Gebärden. Der Wagen kam in hohem Tempo auf ihn zu, bremste und hätte ihn fast erwischt bei dem rutschigen Manöver. Zwei Soldaten saßen drin.
»You take girl!«, schrie der Pfarrer.
Die Soldaten blickten sich an, perplex.
»Are you crazy?!«, gab der Fahrer zurück.
»She Jüdin! SS in Dorf! She kaputt!«
Während er sprach, hob der Pfarrer Renée hoch und setzte sie auf die Rückbank des Jeeps. Der Beifahrer-Soldat warf einen Blick über die Schulter zurück und traf den Blick des kleinen Mädchens. Der Jeep brauste davon. Renées Koffer stand mitten auf der Straße.
Renée wurde auf der Rückbank hin und her gerüttelt. Sie zog ihr Lumpenmännchen aus der Tasche. Der Fahrer begann mit seinem Nachbarn zu reden:
»Und jetzt, was machen wir?«
Deutsch. Das war Deutsch, keine Frage. Sie kannte die Sprache derer, die ihr niemals über den Weg laufen durften, genau. Sie hatte sie nur zweimal gehört, aber niemals könnte sie diese Sprache mit einer anderen verwechseln. Sie stach wie ein Strauß Brennnesseln, sie hatte die Farbe, die Konsistenz eines Eisblocks, und doch … Doch gab es etwas Klares, ein verborgenes Licht hinter den Worten, etwas, was Renée warm und vertraut in den Ohren klang, etwas Verwirrendes, das sie sich nicht erklären konnte.
Ihr war plötzlich sehr kalt. Sie klammerte sich an den Vordersitz und begann mit den Zähnen zu klappern. Die getarnten Soldaten wechselten noch ein paar Worte. Der Jeep war in einen Waldweg eingebogen. Renée wurde unruhig. Zum Glück konnten die Männer es nicht sehen, noch nicht. Das musste aufhören. Es musste. Jetzt. Die Bremsen quietschten. Der Jeep stoppte in einer Rutschpartie. Der Fahrer stieg aus und hob Renée unsanft hoch, um sie auf dem Weg, der tief in den Wald führte, abzusetzen. Er zog eine Pistole aus der Tasche und bediente sich des Knaufs, um Renée zu zwingen, vor ihm her zu gehen. Der andere Soldat bildete den Schluss des kleinen Zuges.
Man hörte nur das Knirschen ihrer Schritte auf dem gefrorenen Schnee. Die Wipfel der hohen Kiefern fegten langsam durch den Himmel, vom Nordwind geschüttelt. Renée ging weiter, immer schön aufrecht. Sie hatte schrecklichen Durst. Sie spürte den großen Körper des Deutschen hinter ihrem Rücken, spürte die Pistole, zweifellos auf sie gerichtet. Würde sie wirklich sterben in diesem Wald, nachdem sie so oft entkommen war? Sterben, was war das eigentlich genau? Sie wusste um die Endgültigkeit des Todes, sie kannte seine Symptome, und vor allem besaß sie die Gabe, seine drohende Nähe zu spüren und ihm zu entkommen … Nur diesmal war es schiefgegangen. Sie sagte sich, am Ende habe sie das Spiel nun doch verloren, dieses Spiel, das vor langer Zeit begonnen haben musste, vielleicht schon als sie noch ein Baby war. Pech für die beiden großen Kerle hinter ihr. Sie hielt es wirklich nicht mehr aus vor Durst. Ruckartig blieb sie stehen und bückte sich zum Boden. Der Soldat spannte die Pistole. Renée tat unbeirrt, was sie angefangen hatte: Sie nahm eine Handvoll Schnee und hob sie gierig an den Mund. Sie biss in das körnige Nass, das ihr in der Kehle schmolz, als sie es hinunterschluckte. Das tat gut. Sie ging weiter.
Der Deutsche am Schluss des Zuges war beim Anblick dieser Geste des Kindes wie vor den Kopf geschlagen. Es war schon eine Ewigkeit, dass er die Todeskandidaten nicht einmal mehr sah. Erwachsene, Kinder, Greise, es war alles einerlei. Gesichtslose Gestalten, zum Verschwinden bestimmt. Aber diese Kleine, die hatte er wirklich gesehen: Sie hatte Schnee gegessen. Sie würde sterben. Sie wusste es. Und trotzdem aß sie Schnee, stillte ihren Durst. Er hatte die Sicherheit ihrer Bewegung bemerkt, schnell, ohne das geringste Zögern, fast unbekümmert, eine fließende, geschmeidige, tierische Bewegung. Etwas in ihm hatte sich gerührt. Irgendwo zwischen Brust und Unterleib. Es war wie ein winziges Beben, ein zugleich sanfter und brutaler Stoß. Etwas Vertrautes. Wie damals, als er in den großen Wäldern gewesen war, in jenem anderen Leben. Der Soldat, der Renée mit der Waffe vor sich hertrieb, brüllte, dass eine aufgeschreckte Krähe ein entsetzliches Krächzen ausstieß:
»Halt!«
Renée blieb auf der Stelle stehen und ließ ihren Schmusekerl, den sie noch immer in der linken Hand hielt, fallen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Warum schrie er so, der da? Der Soldat spannte erneut, zielte auf den Kopf des Kindes. Renée sah ihren eigenen Atem in der eisigen Luft gefrieren. Sie dachte an das kleine Lumpenmännchen dort im Schnee, zu ihren Füßen, und hätte fast geweint. Armer Plopp! Bald Waise und alleingelassen in der Kälte.
Der Deutsche brachte es nicht fertig, abzudrücken. Er hatte sich versetzt aufgestellt, abseits des Weges, drei oder vier Meter von dem Mädchen entfernt, auf dessen Schläfe zielend. Der andere Soldat, der etwas weiter hinten auf dem Weg geblieben war, konnte seinen Arm zittern sehen.
»Lass mich das machen«, sagte er genervt.
Er zog seine Pistole und legte auf die Kleine an. Sie war nichts mehr, nur eine gesichtslose Gestalt, zum Verschwinden bestimmt. Er spannte den Abzug.
Renée fragte sich, was für ein Gesicht der Soldat wohl machte, der sie töten würde, der andere, der hinten geblieben war, der, dessen Augen sie im Jeep flüchtig gesehen hatte, der mit der grabestiefen Stimme. Sie wollte ihn sehen. Sie wollte, dass er sie sah. Sie begann sich um ihre eigene Achse zu drehen, ganz langsam, und ihre Augen trafen die seinen. Sie waren hell und kalt. Und plötzlich zuckte darin ein seltsames Schimmern auf, die Pupillen weiteten sich. Der Deutsche schoss. Renée schreckte zusammen. Eine Sekunde lang schloss sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, lag der andere Soldat im Schnee, mit einem verstörten Ausdruck. Renée brauchte eine Weile, ehe sie begriff, dass sie unversehrt war. Sie betrachtete den niedergestreckten Mann, dann wieder den anderen, der genauso überrascht schien wie sie selbst. Er hielt die Waffe noch immer mit gestrecktem Arm und starrte wie gebannt auf Renée, die ganz verschmiert war vom Blut des Mannes, der am Boden lag.
Der Knall schallte noch in der eisigen Luft. Der Deutsche schien sich nicht vom Blick des Kindes losreißen zu können. Schließlich wandte er die Augen ab, steckte die Pistole ein, drehte sich um und ging den Weg zurück. Renée grabschte Plopp und rannte hinter dem Soldaten her. Sie erreichten den Wagen. Der Soldat schwang sich über die Fahrertür und ließ den Motor an. Renée hatte soeben Zeit, auf den Beifahrersitz zu springen. Der Jeep stob in einer Schneewolke davon.
Was nun? Wohin? Mit diesem Mädchen, das sich umgedreht hatte? Wie kam einer auf die Idee, sich zu dem umzudrehen, der ihn erschießen wird? Das war ein Coup für Hartgesottene, wie man es in Filmen sieht. Niemand macht das im wirklichen Leben, und erst recht keine Jüdin. Und schon davor, fängt sie doch tatsächlich an, Schnee zu fressen! Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie sah stur geradeaus, das Kinn gereckt, die Augen zusammengekniffen wegen des kalten Windes. Die Blutspritzer waren auf ihrem Gesicht getrocknet, ihr lockiges schwarzes Haar flog in alle Richtungen. Sie sah aus wie eine winzige Gorgone. Verflixte Göre. Und der andere, eben im Wald, der noch immer seine Augen offen und diese verblüffte Miene haben musste. Franz? Nein, Hans. So ein Idiot. Der noch an den Sieg glaubte, ans Tausendjährige Reich, das neue Goldene Zeitalter und den ganzen Quatsch. Er hatte Hans getötet statt des kleinen Mädchens. Er war außerstande zu begreifen, warum. Im letzten Moment, bevor er schoss, war sein Arm leicht verrutscht, und es war Hans, der sich mit einer Kugel zwischen den Augen wiederfand.
Sie waren vor zwei Tagen von ihrem Stützpunkt aufgebrochen, am Morgen des 16. Dezember. Zuerst hatten sie eine Brücke gesprengt, mit ein paar Amis drauf. Die Amis waren nicht vorgesehen, aber da sie gerade ankamen … Um Munition zu sparen, hatte er unter Hans’ entsetztem Blick die blanke Waffe nehmen müssen, um die Lebenden zu töten und den Verwundeten den Rest zu geben. Anschließend hatten sie Straßen- und Hinweisschilder umgesteckt, waren Alliierten begegnet, die sie in irgendein gottverlassenes Nest anstelle eines anderen geschickt hatten. Er war derjenige, der mit den Yankees sprach. Hans’ Englisch war ein Kauderwelsch mit bayrischem Akzent, und der Kerl hatte keinen Schimmer, wer Lester Young sein mochte. Die Amerikaner waren misstrauisch und stellten Fragen; sie hatten von den Eingeschleusten in Feinduniform gehört. Unternehmen Greif, so lautete der pompöse Name dieses Sabotageunternehmens, ersonnen von Hitler und angeführt von Otto Skorzeny. Hitler hoffte, die Brücken über die Maas einzunehmen und nach Antwerpen zu gelangen, um das wichtigste Munitionslager der Alliierten in seine Gewalt zu bringen. Klar, dass dieses Unternehmen ein Selbstmordkommando war, und man musste schon ein Trottel sein wie Hans, um das Gegenteil zu glauben.
Der Soldat fühlte sich plötzlich erschöpft; auf gut Glück schlug er irgendeinen Weg ein, fuhr tiefer in den Wald hinein. Er sagte sich, er würde so weit fahren wie der Jeep mitmachte. Er wollte nur noch eins: schlafen. Danach würde ihm schon etwas einfallen. Der Weg endete unweit eines Wasserlaufs. Der Mann und das kleine Mädchen stiegen aus dem Wagen und folgten dem zugefrorenen Bach. Er ging schnell. Die Kleine trippelte neben ihm her, mied geschickt die Schneeverwehungen, die durch den bitteren Frost der letzten Tage hart und glitschig geworden waren. Sie war lebhaft, robust. Von Zeit zu Zeit blickte sie ihn an, und das bereitete ihm unbehagliche Gefühle. Hinter einer dicken Buche tauchte eine Holzhütte auf. Sie schien leer zu sein. Der Deutsche näherte sich geräuschlos. Er bewegte sich mit außergewöhnlicher Geschmeidigkeit. Er zog seine Waffe, verharrte einen Moment lauschend neben der Tür. Renée war dicht bei ihm geblieben, so leise wie möglich. Plötzlich öffnete er die Tür mit einem Fußtritt und überschritt die Schwelle, während sein gestreckter Arm mit schussbereiter Waffe in alle Richtungen des Innenraums fuhr. Niemand. Er winkte Renée herein.
Die Hütte bestand nur aus einem Raum, ausgestattet mit einem großen, in die einzige Steinwand eingelassenen Kamin. Etliche Küchengeräte und eine alte Matratze am Boden zeugten von einer menschlichen Präsenz. Der Deutsche begann, aus dem Holz, das er ums Haus herum sammelte, ein Feuer zu machen. Renée half ihm so gut sie konnte, trotz ihrer steif gefrorenen Hände. Dann ließ er sich auf die Matratze fallen und schlief unverzüglich ein, die Pistole in der Hand.
Renée setzte sich auf den Fußboden, an eine Wand gelehnt. Sie betrachtete den Schlafenden. Sie würde nicht weglaufen. Sie würde sich nicht rühren. Sie würde Wache bei ihm halten, den Geräuschen draußen lauschen und ihn warnen, wenn Gefahr im Verzuge war. Man hörte Schüsse in der Ferne. Sie blies sich in die Hände, um sie aufzuwärmen. Der Deutsche begann heftiger zu atmen; seine Hand löste sich vom Griff der Schusswaffe. Er zog die Knie an die Brust. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Er schien tief zu schlafen. Renée war noch immer genauso durstig. Aber diesmal würde sie nichts versuchen. Sie würde warten. Dass er aufwachte, dass er Wasser holen ging.
Sie fragte sich nicht, warum der Deutsche sie nicht getötet hatte. Als sie sich umdrehte, hatte sie gewusst, dass er nicht auf sie schießen würde. Und dann war der andere, der, der Angst hatte, zusammengesunken. Er war derjenige, der sterben musste, nicht sie. Alles war, wie es sein musste. Um sich blickend, musterte sie den Raum, die mit Spinnweben verhangenen Holzwände, die völlig verdreckten kleinen Fenster, die flackernden Flammen im Kamin.
Der Deutsche hatte eine etwas andere Haltung eingenommen, die rechte Schulter war zurückgezogen und entblößte seinen Hals, an dem eine Ader pochte. Er hatte die Hand auf seine Brust gelegt, die sich mit dem Atem hob und senkte. Er lag da, verletzlich und doch bereit, beim geringsten Geräusch aufzuspringen, bereit, sie zu verteidigen, dessen war sie sicher, und wieder zu töten. Den Schnee mit Blut zu bespritzen.
Er zog eine metallene Feldflasche aus seiner Jackentasche, öffnete den Verschluss und trank ausgiebig, ehe er sie dem Mädchen reichte. Es leerte die Flasche in einem Zug, fast wütend. Dann holte er ein Päckchen Hartkekse heraus, nahm sich einen und hielt Renée das Päckchen hin. Sie eroberte zwei, für jede Hand einen.
»Immer langsam«, sagte er.
Seine Stimme war wirklich etwas Besonderes, tief und abgründig, sie schien zu grollen wie ein ferner Donner; das hatte etwas Herzliches und Bedrohliches zugleich.
»Sprichst du auch Französisch?«, fragte sie.
Er antwortete nicht, sah sie nur mit einem Funken Ironie an.
Er musste eine ganze Weile geschlafen haben; es war dunkel. Die Schüsse in der Ferne waren verstummt. Er hatte sich gesagt, die Kleine würde vielleicht verschwunden sein, zumindest hatte er es gehofft. Als er aufgewacht war, hatte sie mit ihren tintenschwarzen Augen zu ihm herübergeschielt, ihr ekliges altes Spielzeug, diesen Lumpenkerl mit seiner schiefen Birne und dem verblödeten Gesicht, an sich gepresst. Sie hätte alle Zeit der Welt gehabt, ihm ernsthaft zuzusetzen, während er schlief, einen kräftigen Schlag mit einem Holzscheit oder schlimmer, mit dem Schürhaken. Kein Zweifel, dass sie die Chuzpe dazu hatte. Das hätte den Vorteil gehabt, ihnen das Leben zu erleichtern, allen beiden. Stattdessen hatte sie stundenlang in genau derselben Haltung ausgeharrt, in der er sie vor dem Einschlafen gesehen hatte, im Schneidersitz, den Hanswurst auf ihrem rechten Oberschenkel. Er konnte sich nicht erinnern, seit Jahren so gut geschlafen zu haben, genau genommen seit Kriegsbeginn. Trotzdem sah er nicht klarer als bei ihrer Ankunft in der Hütte ein paar Stunden zuvor. Was sollte er mit ihr machen? Was mit sich selber? Er gab dem Kind noch einen Keks.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
Gott, was nervte sie ihn mit ihren Fragen! Darauf hatte er wahrhaftig keine Lust, sie seinen Vornamen rufen zu hören: Matthias. »Matthias, ich hab’ Hunger«, »Matthias, mir ist kalt«, »Matthias, ich muss Pipi« und das ganze Gequengel, wie Kinder es so an sich haben. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie nicht ein einziges Mal um irgendetwas gebeten hatte. Absolut keine Klage, seit jenem Moment im Wald, als … er Hans abgeknallt hatte. Dafür konnte er enthauptet werden. Vor allem aber dafür, eine Jüdin verschont zu haben. Schwer zu sagen, welches der beiden Verbrechen schwerer wog.
Die Verfolgung der Juden hatte während der Ardennenoffensive keine Priorität mehr und gehörte nicht zu seinem Einsatz im Rahmen des Unternehmens Greif. Aber ihre Vernichtung war nach wie vor die Obsession des Führers. Transporte nach Osten gab es keine mehr. Also auch keine Möglichkeit, sich damit zu begnügen, sie zusammenzutreiben und auf eine kleine Reise mit dem Zug nach Auschwitz zu schicken. Man musste die Drecksarbeit selbst erledigen, wie am Anfang, bevor die Gaskammern erfunden wurden. Und Matthias hatte diese Sorte Arbeit nie gemocht. Lust zu töten, ja, sicher, aber nicht solche wehrlosen, geschwächten und verzweifelten armen Leute. Das hatte wirklich überhaupt keinen Reiz.
Er hatte nie viel mit der »Endlösung der Judenfrage«, wie man in den Führungskreisen sagte, zu schaffen gehabt. Nachdem er 1939 den legendären »Kommandos der Brandenburger« beigetreten war, hatte Otto Skorzeny ihn 1943 angeworben. Otto Skorzeny, wegen seiner vielen, bei Fechtduellen erworbenen Schmisse an den Wangen »das Narbengesicht« genannt. Matthias hatte sich dessen neu gebildetem SS-Sonderverband angeschlossen: der Kommandoeinheit Friedenthal, der Crème der Superhelden des Nationalsozialismus. Polyglotte Spione im Kampfeinsatz, geradewegs den Träumen eines bösen Zwölfjährigen entsprungen, der zu viele amerikanische Comics gelesen hat. Matthias hatte sich köstlich amüsiert, von der Entführung des ungarischen »Kronprinzen« bis hin zur Befreiung Mussolinis mit dem Segelflugzeug. Und während er Spion und Saboteur in Feinduniform spielte, hatte er kaum Gelegenheit gehabt, sich mit dem abzugeben, was in den Todeslagern vor sich ging.
Aber er wusste, dass jede seiner Aktionen bei den glorreichen Elitekommandos indirekt ein paar Juden, ein paar Zigeuner, ein paar Schwule mehr zu Asche werden ließ. Sein Krieg war nicht sauberer als der des Soldaten, der die alte ungarische Jüdin und ihren zerlumpten Enkelsohn von der Verladerampe in die Gaskammer trieb. Matthias war ein Rädchen der Vernichtungsmaschinerie. Ein Glied des nimmersatten Ogers. Aber das raubte ihm nicht den Schlaf. Er hatte das Beste genommen, was das System zu bieten hatte, wohlwissend, in welche Scheiße er seinen Fuß setzte. Und niemand hatte ihn gezwungen, den Tanz mitzumachen, er hatte sich selber eingeladen.
Seit einigen Monaten schlug das große makabre Fest ins Groteske um. Der Krieg war verloren, und man tat so, als wäre das genaue Gegenteil der Fall. Dieses Unternehmen Greif war so lächerlich wie sonst etwas: ein paar arme Schlucker, die kaum aus dem Mutterschoß gekrochen waren, Englisch brabbelten wie eine schwäbische Bäuerin, und die als Söhne von Uncle Sam ebenso überzeugend waren wie Goebbels als Stepptänzer. Sogar die Deckuniformen waren jämmerlich: alles nur ungefähr und ungenau zusammengeschustert, wie Festkostüme einer Armenschule. Aber schließlich hatte Matthias den Auftrag angenommen, gemeinsam mit drei oder vier der Besten aus der »Schweinebrigade« des Narbengesichts. Es war immer noch besser, den im Wald verirrten Yankee zu spielen, als in Kopenhagen Straßenbahnbenutzer in die Luft zu sprengen, wie Otto Schwerdt es gerade tat, ein Skorzeny-Getreuer und Fanatiker der ersten Stunde, der in Sachen Glanzleistung nicht denselben Geschmack hatte wie Matthias. Oder vielmehr in Sachen dessen, was an Glanz noch übrig blieb. Und das alles, um mit einer kleinen Judengöre in einer Hütte mitten im Wald zu landen! Er hätte vieles vorhersehen können, als er 1939 nach Deutschland gekommen war, aber das bestimmt nicht. Die Kleine redete zärtlich mit ihrem Lumpenkerl, wobei sie Kekskrümel an den Knopf hielt, der ihm als Mund diente. »Du hast noch Hunger? Tja, is nichts mehr da, alle, alle …«
Diese Art, es ihm zu zeigen, ihm durch die Hintertür, durch ihr Spielchen mit diesem blöden Hampelmann zu sagen, dass sie noch Hunger hatte! Matthias war es leid, er stand auf und ging hinaus. Renée versteifte sich, sobald er die Tür öffnete. Sie hatte Lust, ihm zu folgen, ihm auf den Fersen zu bleiben, doch sie spürte, dass er allein sein wollte. Sie wischte die Fensterscheibe ab, um ihn klarer erkennen zu können: Er zündete sich eine Zigarette an. Der Schein des Feuerzeugs erleuchtete flüchtig sein Gesicht. Seine kräftige Gestalt zeichnete sich deutlich im Mondlicht ab. Er hatte einen geschmeidigen, leichtfüßigen Gang. Er schien diesem Wald anzugehören, der sie umgab, der Zeuge ihres Bündnisses, ihres Pakts geworden war. Er war hier zu Hause. Renée rieb die Scheibe etwas gründlicher ab; er war noch da, an einen Baum gelehnt, sein Körper in einen Hof von diffusem, irrealem Licht getaucht.
Am nächsten Tag nahm Matthias die Kleine mit zum Schlingen stellen. Er konnte sie nicht allein in der Hütte lassen, aber es ärgerte ihn, dieses Kind am Bein zu haben. Sie bahnten sich einen Weg durch den Wald, auf der Suche nach Tierspuren. Matthias erwartete kaum mehr als irgendeinen alten, halbtauben und halbblinden Hasen. Seit Jahren hatte er nicht mehr gejagt, war sicher ein bisschen aus der Übung gekommen. Er fühlte sich seltsam wohl, trotz Renées Anwesenheit. In Wirklichkeit war sie sehr aufmerksam darauf bedacht, geräuschlos zu gehen, nicht zu sprechen, konzentriert zu beobachten, was er tat, als versuchte sie, sich jede Kleinigkeit einzuprägen. Er hatte aus einem seiner Schnürsenkel und einem Stock eine Falle gebaut. Dann hatten sie sich eine lange Weile hinter Farnkraut versteckt. Nichts als das Rascheln der Wildnis um sie her. Die Schüsse waren verstummt, wie durch ein Wunder. Die Kleine hatte Ausdauer. Das Warten schien ihr Spaß zu machen, so unbequem es war und trotz der beißenden Kälte, die ihr die Hände abfror. Endlich war ein Hase aufgetaucht. Sie hatten beobachtet, wie er die Falle umkreiste, dann in die Schlinge ging. Die Kleine hatte keinen Mucks von sich gegeben, als das Tier sich freizustrampeln suchte, langsam erwürgt vom Schnürsenkel und dem eigenen Lebenswillen.
Matthias hatte die Leiden des Hasen durch einen Hieb mit einem merkwürdig geformten Messer verkürzt. Dann hatte er ihn in einem Schwung an Ort und Stelle zerlegt. Renée sah die große Hand das Hasenfell abziehen, die nackte Haut erscheinen, rosa und stark glänzend. Der Deutsche schien das sein Leben lang gemacht zu haben, anstatt Menschen zu töten. Zweifellos hatte er beides sehr viel gemacht, Tiere und Menschen getötet. Nachdem der Hase zerlegt war, gab er ihr das Fell. Renée schob ihre erfrorenen Hände hinein, in die Wärme der noch blutigen Innenhaut.
Plötzlich sah Matthias das von Hans mit angelegter Waffe bedrohte Mädchen wieder vor sich, die Kleine, die sich nichts daraus macht, eine Handvoll Schnee zusammenzuraffen und zu essen. Dieselbe, die sich jetzt ihre Hände am Fell eines kaum verendeten Tieres wärmt und diese wohlige Wärme genießt, die Matthias wie sein Schatten durch den Wald folgt, ihn mit ihren tiefen Blicken nicht aus den Augen lässt, die seinen Schlaf bewacht und ihm etwas verschafft, was er nie erlebt hat und einfach nicht begreifen kann. Es ist noch zu konfus, in seinem Geist wie in seinem Körper. Es ist konfus, aber da, es existiert und erfüllt ihn nach und nach mit einer Art stiller Freude. Das Kind hebt die Augen zu ihm. Sie hat seine Verwirrung bemerkt, nichts könnte ihr entgehen. Er wendet sich ab und schlägt den Rückweg zur Hütte ein.
Sie kauen gewissenhaft, beide schweigend vor dem Kamin. Renée schluckt den letzten Bissen hinunter und wischt sich mit dem Ärmel über den Mund. Es ist ihr zweiter Abend in der Hütte. Am Vortag hatte sie ihm eine Geschichte erzählt. Er wollte sie nicht