5 Vorwort

Die Digitalisierung bringt uns in eine spannende neue Zeit.

Vieles wird sich ändern: Vieles zum Guten, Manches wird aber auch mit Risiken verbunden sein. Jedenfalls kommt einiges an Neuem auf uns zu. Um diese Veränderungen geht es in diesem Buch. Es geht um Muster, die sich herauskristallisieren, es geht um disruptive Brüche und es geht um Strategien, damit erfolgreich umzugehen. Prognosen wie „50 Prozent der Jobs werden verschwinden“ oder „40 Prozent der heutigen Unternehmen werden in einigen Jahren nicht mehr existieren“ sind alarmierend. Bei manchen lösen sie Angst aus, andere sehen die Zukunft als große Chance. Noch nie war es so einfach, eine große Idee zu entwickeln, ein Unternehmen zu gründen und gleich die ganze Welt als potenziellen Markt zu erobern. Noch nie waren aber auch die Gefahren so groß, von neuen, disruptiven Geschäftsmodellen und Konkurrenten vom Markt gedrängt zu werden. Disruption ist, um mit Schumpeter zu sprechen, „kreative Zerstörung“. Altes wird zerstört, Neues – Besseres oder Anderes – entsteht.

Der erste Teil dieses Buches beschäftigt sich mit einzelnen Technologien und Entwicklungen. Es zeigt unterschiedliche Muster der digitalen Transformation auf und zeigt, welche Herausforderungen diese mit sich bringen. Im zweiten Teil beschreiben wir, wie Unternehmen sich auf die digitale Transformation einstellen können und wie Strategie-, Innovations- und Führungsprozesse sich ändern müssen.

Der holländische Schachmeister Jan Hein Donner wurde einmal gefragt, was denn seine Strategie wäre, wenn er gegen IBM Deep Blue antreten müsste (1996 wurde Gary Kasparov von IBM Deep Blue geschlagen). Er dachte kurz nach und sagte: „Ich würde einen Hammer mitbringen …“.

So kann man mit der digitalen Transformation natürlich auch umgehen. Kurzfristig mag es vielleicht helfen, langfristig sicher nicht. Mittlerweile weiß man aber auch, dass der beste Schachspieler 6weder der Mensch noch der Computer ist. Es ist die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine.

Dabei sind es insbesondere drei Aspekte, die uns bei der Auseinandersetzung mit dem Thema leiten – und uns wichtig sind:

  1. Wir wollen Impulse setzen! Uns geht es weniger um detaillierte (oder gar abschließende) Würdigung, als vielmehr darum, erkennbare Entwicklungen aufzuzeigen, an Beispielen greifbar zu machen, um das Ganze vor seinen Teilen zu sehen.
  2. Die Erfahrung zeigt: Noch verharren viele Unternehmen in Bezug auf Digitalisierung in der Risikobetrachtung. Und dabei steht die Absicherung des Bestehenden im Vordergrund. Wir plädieren dafür, Digitalisierung stärker mit der Chancenbrille zu betrachten. Nicht selten verlaufen die Gräben zwischen den „Risiko-Sehern“ und den „Chancen-Suchenden“ mitten durch die Führungsgremien eines einzelnen Unternehmens. Und vielfach, auch das lehrt die Erfahrung, braucht es das Risikobewusstsein, um sich überhaupt dem Thema zu öffnen. Die Kunst liegt einmal mehr darin, in der Veränderung die (eigene) Chance zu finden und konsequent „beim Schopf“ zu packen.
  3. Digitalisierung – so lässt sich zeigen – ist nicht das wirkliche Problem. Digitalisierung für eine Disruption zu nutzen schon eher. Die Königsdisziplin sehen wir darin, für die von der Digitalisierung getriebene Disruption ein tragfähiges Geschäftsmodell zu formen, oder wie wir es nennen: Eine einzigartige, stimmige und zukunftsfähige Geschäftslogik. Selbst dort, wo man dies als Herausforderung erkannt hat, tut man sich damit recht schwer.

Wir hoffen, dem Leser mit diesem Buch etwas an die Hand zu geben, das inspiriert und hilft, mit einer der größten Herausforderungen der Wirtschaftsgeschichte erfolgreich umzugehen.

Ohne die Unterstützung zahlreicher Personen wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Wir bedanken uns bei vielen Diskussionspartnern, Interviewpartnern und Projektpartnern: Thomas Sattelberger & Prof. Dr. Manfred Broy (Zentrum Digitalisierung.Bayern) für Anregungen in Richtung digitale 7Transformation; Peter Gerstmann, Wolfgang Hahnenberg und Sören Ladig (Zeppelin Gruppe) für intensive Diskussionen rund um „gelebte digitale Disruption“; Gerd Manz (adidas) für gewährte Einblicke in die „speedfactory“; Prof. Dr. Jörg Freiling (Universität Bremen, LEMEX) für Impulse in Gründungsmanagement und Entrepreneurship; Gerald Zapp für authentische Berichte aus der digitalen Gründer- und VC-Szene; Dr. Jürgen Müller (SAP) für geteilte Erfahrungen in Corporate (disruptive) Intrapreneurship; Pascal Finette (Singularity University) für latest news aus dem Silicon Valley; Dr. Marianne Janik (Microsoft Schweiz), Klaus Bachstein (Heidelberger Druck/ Gallus), Dr. Mario Löbbus (Aurubis AG) und Prof. Dr. Krüger (Fraunhofer IPK) für gemeinsame Projekterfahrungen in digitaler Zukunftsarbeit. Besonders erwähnen möchten wir auch Reinhold Karner, der uns immer wieder Impulse für dieses Buch gegeben hat. Wir bedanken uns auch bei Felix und Maximilian Matzler, bei Andrea Mayr und bei allen anderen Personen, die uns bei der Fertigstellung des Manuskripts geholfen haben.

Bozen, Innsbruck und München im September 20168

69 Kapitel 4:
Warum Industrie 4.0 nicht reichen wird

Industrie 4.0, wie gerade eben definiert, wird Unternehmen effizienter machen. Eine Studie der Boston Consulting Group prognostiziert, dass Produktionssysteme bis zu 30 Prozent schneller und 25 Prozent effizienter werden168. Das sind deutliche Kostenvorteile und sie sind auch wichtig. Sie werden dazu beitragen, dass Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben und sie werden auch dazu beitragen, dass Teile der Produktion von Niedriglohnländern wieder zurück in Industrieländer verlagert werden – was bereits in vollem Gange ist. Tatsächlich konzentriert sich in Deutschland die Digitalisierungsdiskussion sehr stark auf das Thema Industrie 4.0. Über 40 Prozent der Vorstände und Geschäftsführer sehen in der Kostensenkung die vorrangige Bedeutung der Digitalisierung169. Digitale Transformation ist aber sehr viel mehr. Das Thema lediglich auf Effizienzsteigerung zu reduzieren, halten wir für einen Fehler. Unsere Meinung lässt sich mit einer Theorie abstützen, die Harvard-Professor Clayton Christensen170 verwendet, um makroökonomisches Wachstum (bzw. Stagnation) zu erklären. Er unterscheidet drei Arten von Innovationslogiken, die unterschiedlich mit Wachstum zusammenhängen:

  1. Innovationen, die neue Nachfrage generieren: Sie schaffen entweder neue Märkte oder transformieren teure, komplexe Lösungen in einfache, günstige Varianten, um sie damit einer großen Zahl von Konsumenten überhaupt erst zugänglich zu machen. Tablets sind ein Beispiel für die erstgenannte Kategorie. Das Model T von Ford, das Transistor-Radio, der PC, usw. sind Beispiele für Zweiteres. Diese Innovationen erfordern hohe Investments. Sie schaffen neue Arbeitsplätze und generieren Wachstum. Die Digitalisierung von Produkten und Dienstleistungen zählen für uns in diese Innovationskategorie, vorausgesetzt man findet dafür tragfähige Geschäftsmodelle.
  2. Evolutionäre Innovationen: Bestehende Produkte werden durch neue, d. h. verbesserte oder weiterentwickelte Modelle 70ersetzt. Das iPhone 6 ist ein Beispiel dafür. Kommt das neue Smartphone auf den Markt, ersetzt es das alte. Wer das iPhone 6 kauft, kauft nicht mehr das iPhone 5 und auch kein Samsung. Für das einzelne Unternehmen sind diese Innovationen zwar notwendig, um die Marktposition zu halten – oder gar leicht zu steigern –, aber gesamtwirtschaftlich wirken sie sich nicht auf Beschäftigung und Wachstum aus. Zu dieser Kategorie zählen für uns Innovationen, die einen digitalen Zusatznutzen schaffen, um damit Produkte oder Dienstleistungen vom Wettbewerb zu differenzieren.
  3. Schließlich Effizienzinnovationen: Diese Innovationen reduzieren den Bedarf an Ressourcen im Zuge der Herstellung. Sie eliminieren Arbeitsplätze, weil sie Prozesse effizienter machen, helfen aber auch, Arbeitsplätze zu sichern, etwa im Wettbewerb gegen Konkurrenten aus Niedriglohnländern. In diese Innovationskategorie fallen effizienzsteigernde Maßnahmen wie Automatisierung, Robotik usw. Und eben hier lässt sich das einsortieren, was hierzulande unter Industrie 4.0 diskutiert und umgesetzt wird.

Innovationen, die neue Märkte schaffen, generieren Arbeitsplätze und induzieren Wachstum. Evolutionäre Innovationen sind ein Nullsummenspiel. Und Effizienzinnovationen vernichten Arbeitsplätze. Branchen durchlaufen typischerweise einen Zyklus: Von der marktgenerierenden Innovation, über die evolutionäre Innovation hin zur Effizienzinnovation. Jede dieser Innovationsarten ist wichtig. Und jede verfolgt ihren Zweck. Der erste Typus schafft Märkte. Evolutionäre Innovationen und Effizienzinnovationen helfen Marktpositionen abzusichern. Einsparungen, die durch Effizienzinnovationen möglich werden, stehen für evolutionäre Innovationen und New-Market-Innovationen zur Verfügung. So bleiben Unternehmen (und auf übergeordneter Ebene ganze Volkswirtschaften) im Gleichgewicht und lebensfähig.

71

img

Abbildung 4.1: Innovation und Wachstum 171

Solange mehr Arbeitsplätze durch marktgenerierende Innovationen geschaffen, als durch Effizienzinnovationen vernichtet werden, gibt es Wachstum. Fließen aber Ersparnisse, die durch Effizienzinnovationen erzielt werden, nicht in die Entwicklung neuer Produkte oder Geschäftsmodelle, sondern nur noch in die inkrementellen Weiterentwicklungen oder gar in Effizienzinnovationen, kommen Unternehmen (und auch ganze Volkswirtschaften) in einen Circulus Vitiosus: Effizienzinnovationen setzen Arbeitskräfte frei. Weniger Beschäftigung heißt weniger Nachfrage. Weniger Nachfrage erhöht den Druck auf die Preise. Mehr Druck auf Preise erfordert mehr Effizienzinnovationen. Mehr Effizienzinnovationen setzen mehr Arbeitskräfte frei usw.

Als Ford in den 1950er Jahren ein hochautomatisiertes Werk in Cleveland, Ohio eröffnete, führte ein hochrangiger Manager den Gewerkschaftsboss Walter Reuther durch die Hallen und fragte ihn in sehr ironischem Ton: „Ich bin gespannt, wie Sie diese Maschinen dazu bringen werden, Gewerkschaftsbeiträge zu bezahlen?“ Walter Reuther antwortete – ebenfalls in ironischem Ton: „Und ich bin gespannt, wie Sie diese Maschinen dazu bringen werden, Ihre Produkte zu kaufen!“

Industrie 4.0 ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Digitalisierung aber nur auf Effizienzsteigerung auszurichten – so wie es im Moment vielerorts der Fall ist – greift zu kurz. Die Effizienzgewinne nehmen uns in eine kreative Pflicht. Um das Beschäftigungsvakuum zu füllen, das durch Automatisierung, Robotik, künstliche Intelligenz usw. entstehen wird, müssen wir mehr über neue digitale 72Produkte und Dienstleistungen nachdenken. Am Ende geht es um das (Er-)Finden neuer Wachstumsräume und das Kreieren digitaler Geschäftsmodelle. Nur so können wir Wachstum erzielen.

89 Kapitel 6:
Management im Zeitalter der digitalen Transformation

Die Tragweite des Themas „Digitalisierung“ passt (noch) nicht zu der Art und Weise wie Führungskräfte mit dem Thema umgehen. Das zeigt sich etwa

Nicht selten wird das Thema an einen „Ausschuss“ delegiert – oder besser geparkt – weit ab der Beachtung vom Top-Management und in „sicherer“ Entfernung von Umsetzungshandlungen. Dabei ist das Thema nicht nur wichtig, sondern auch dringlich. Eine BCG-Studie195 schätzt, dass eine Digitalisierung im Sinne von Industrie 4.0 durchaus zwanzig Jahre in Anspruch nimmt. Diese Studie kommt allerdings auch zu dem Schluss, dass die nächsten fünf bis zehn Jahre über Gewinner und Verlierer entscheiden.

Das Thema ringt mit verschiedenen Barrieren: Bewusstseinsbarrieren, Strategiebarrieren, Strukturbarrieren und Prozessbarrieren196. Mehrere Studien weisen darauf hin, dass sich längst nicht alle Unternehmen mit diesem Thema auseinandersetzen197. Vielfach fehlt der Sinn für Dringlichkeit. Führungsteams sind nicht selten weit von einem gemeinsamen Verständnis entfernt, was Digitalisierung tatsächlich für ihr heutiges Geschäftsmodell bedeuten kann. Anderen fehlt der Fahrplan – bzw. die Strategie – wie man die erkannten Herausforderungen meistert; sei es das Absichern von Risiken, sei es das Nutzen von Chancen. Soweit die Strategiebarriere. Die Prozessbarriere steht für die Tatsache, dass Innovationsprozesse heutiger Prägung digital-disruptive Innovationen nicht verarbeiten können. Und die Strukturbarriere zeigt sich 90schließlich darin, dass digitale Themen mitunter „quer“ zu den Unternehmensstrukturen liegen – und sich mithin als schwer verdaulich erweisen198. Das folgende Kapitel zeigt diese Barrieren auf und liefert anhand von sechs Handlungsfeldern erste Hilfestellungen, wie Führungskräfte und Unternehmen sich auf die digitale Transformation einstellen können:

  1. Das richtige Bewusstsein entwickeln
  2. In Geschäftslogiken denken
  3. Den Strategieprozess öffnen
  4. Den Umgang mit Innovationen beschleunigen
  5. Mit Start-ups kooperieren
  6. Das Führungsverständnis erneuern

Das richtige Bewusstsein entwickeln

Der Grund, warum etablierte Unternehmen geradezu regelmäßig disruptive Entwicklungen verschlafen, liegt nicht in der Technologie selbst. Vielfach haben Unternehmen, die später scheitern, früh an der Technologie gearbeitet, bisweilen sogar selbst Prototypen vorgelegt. Kodak und die Digitalfotografie lassen grüßen. Sie beschäftigten kompetente Manager, verfügten über stattliche F&E-Budgets, Marketingressourcen und satte „Kriegskassen“. Der Grund, warum sie scheiterten, liegt darin, dass sie das verbleibende Potenzial der reifen Technologie überschätzen und die Dynamik des Neuen zugleich unterschätzen. Und der Grund liegt darin, dass sie Gefahren und Chancen falsch bewerten. Und der Grund liegt darin, dass ihnen damit die Motivation fehlt, das eigene Geschäftsmodell zu verändern.

Selbst wenn einige Manager in einem großen Unternehmen die Lage richtig einschätzen und disruptive Chancen erkennen, heißt das noch lange nicht, dass auch in der Chefetage Aufmerksamkeit, geschweige denn die nötigen Ressourcen zu bekommen sind. Jeffrey Immelt, CEO von General Electric, beschreibt das am Beispiel von Venkatraman Raja, seines Zeichens Chef von GE Healthcare, Indien. Einmal angenommen, Raja erkennt die Chance einer disruptiven Innovation: ein einfach zu bedienendes, ein deutlich günstigeres, da 91auf die Kernfunktion reduziertes, Röntgengerät. Die Idee zu haben, ist oftmals nicht das Problem. Das Problem ist, das Unternehmen im Sinne der Idee zu mobilisieren und die Idee schließlich umzusetzen. Dazu Jeffrey Immelt: „Zum offiziellen Aufgabenbereich gehören weder die Geschäftsführung noch die Produktion. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, die für den globalen Markt entwickelten GE-Produkte auf lokaler Ebene zu verkaufen und zu warten. Zudem sollen Erkenntnisse über die Bedürfnisse der Kunden gewonnen werden (…) Man erwartet Umsatzsteigerungen von 15 bis 20 Prozent pro Jahr (…) Allein die Zeit zu finden, um jenseits Ihrer planmäßigen Tätigkeit einen Vorschlag für ein Produkt auszuarbeiten, das auf den lokalen Markt zugeschnitten ist, ist für Sie eine Herausforderung. Verglichen mit der Schwierigkeit des nächsten Schrittes ist das jedoch gar nichts. Nun nämlich gilt es zu erwirken, dass der Vorschlag intern akzeptiert wird“199. Es geht darum, die Aufmerksamkeit des Geschäftsführers in der US-Zentrale zu gewinnen. Der dortige Geschäftsführer ist mit den Bedingungen in Bangalore nicht vertraut. Was er aber weiß: Indiens Anteil an den Einnahmen von GE betragen gerade einmal 1 Prozent. D. h. viel Zeit wird er dem Thema nicht widmen. Der Marketingleiter befürchtet eine Kannibalisierung. Der Finanzchef erwartet niedrige Margen. Der F&E-Leiter müsste Kapazitäten von anderen, finanziell aussichtsreicheren Projekten abziehen. Insgesamt konkurriert die Idee mit vielen anderen „wichtigeren“ Projekten um Ressourcen. Ein aussichtsloses Unterfangen.

Haben digitale Entwicklungen evolutionären Charakter, d. h. helfen sie dem Unternehmen Mehrwert für bestehende Kunden zu schaffen, besteht kaum Anlass zur Annahme, dass sie nicht rechtzeitig und ausreichend mit Ressourcen versorgt werden. Dann reicht es, die Antennen auszufahren, Trends zu beobachten und die folgende Fragen bezüglich der einzelnen Dimensionen einer Geschäftslogik200 zu stellen:

  1. Welchen Mehrwert liefern digitale Technologien meinem Kunden?
  2. (Wie) führt die Digitalisierung meiner Produkte/ Dienstleistungen zu einem Differenzierungsvorteil?
  3. 92Wie kann ich via Digitalisierung meine Wertschöpfungslogik effektiver und effizienter gestalten?
  4. Welche neuen Kundensegmente lassen sich erschließen?
  5. Wie verbessert/verändert Digitalisierung meinen Marktangang?
  6. Ergeben sich neue Wege für meine Ertragslogik durch Digitalisierung?

Ungleich schwieriger ist die Situation bei disruptiven Innovationen. Die Barrieren machen ihrem Namen alle Ehre. Anders als bei evolutionären Innovationen reicht der Blick durch die Chancen-Brille selten aus, um Organisationen zu mobilisieren. Das vermag erst der Blick durch die Risiko-Brille zu leisten. Stellen wir uns ein Unternehmen vor, das hochwertige Maschinen für den Druck von Etiketten produziert. Was aber, wenn ein Spieler, vielleicht sogar branchenfremd, eine Fähigkeit entwickelt, ganz ohne Etikett Dinge auf das Medium (etwa die Glas- oder PET-Flasche) aufzubringen? Dann laufen evolutionäre Entwicklungsprojekte mit einem Schlag ins Leere und das Bewusstsein wächst, in ganz andere Richtungen denken und handeln zu müssen.

In Deutschland sollen bis 2050 mindestens 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen. Fragt man Energieversorgungsunternehmen, ob sie in den erneuerbaren Energien Chancen sehen, so heißt die Antwort einhellig JA. So ergibt eine PWC-Studie unter den großen europäischen Energieversorgungsunternehmen im Jahre 2013, dass über 80 Prozent der Befragten in der dezentralen Energieversorgung (die in der Regel erneuerbare Energien verwendet) Chancen sehen. Lediglich 18 Prozent sehen hier eine Gefahr. Und genau das ist das Problem. 2013 wurden in Deutschland ca. 23 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen produziert. Davon aber nur 11,9 Prozent durch Energieversorgungsunternehmen201. 88,1 Prozent des Marktes gehören Privatpersonen, Landwirten, Fonds und Banken, Projektierern, Gewerben usw. Wie kann es sein, dass die großen Energieversorger nicht in diesen Markt investieren, obwohl sie darin Chancen sehen? Die Chancen disruptiver Innovationen sind anfangs klein. Im Vergleich dazu ist es verlockender, da ertragreicher, das bestehende Geschäft zu entwickeln. Die Argumente sind genauso 93bekannt wie fatal, warum sich Energieversorger nicht in der dezentralen Energiegewinnung engagieren202: „Das liegt außerhalb unserer Kernkompetenzen“, „Wir kannibalisieren uns doch selbst!“, „Wir brauchen die Auslastung unserer Kraftwerke, ansonsten sind diese nicht mehr profitabel“, „Es gibt kein funktionierendes Geschäftsmodell“, „Das ist nur ein Nischenmarkt“, „Es gibt keine substantielle Nachfrage“. Betrachtet man aber die disruptiven Innovationen als eine Dynamik, die das heutige Kerngeschäft zerstören kann, ändert sich das Bild. Man erkennt, dass das Verlustpotenzial riesig, ja existenzbedrohend sein kann, wenn nicht gehandelt wird.

Die Frage, die sich etablierte Unternehmen stellen sollten, lautet also: „What could totally disrupt our business model?”. Viele Vorstandchefs reisen zurzeit ins Silicon Valley, um sich dieser Frage zu stellen. So auch Gisbert Rühl, CEO von Klöckner, Europas größtem Stahlhändler. „Wie würden sie den Stahlhandel zerstören, wenn sie es wollten“?203 fragte er sich und dachte dabei an Start-ups. Nach einigen Firmenbesuchen und Gesprächen mit Internet-Gründern war die Antwort klar: Eine elektronische Plattform könnte den Todesstoß geben: „Der Produzent wusste bisher nicht, was der Kunde wollte. Diese Ineffizienz auszugleichen, war unser Geschäftsmodell. Doch von diesem Modell können wir auf Dauer nicht leben. Das ist kein Weg in die Zukunft. Unsere Aufgabe ist dann nicht mehr, riesige Lagerbestände vorzuhalten, sondern den Warenfluss über eine Plattform zu organisieren. Wir haben uns entschlossen, selbst Motor dieser Entwicklung zu werden.”204 So wird das Ziel ausgegeben, Amazon der Stahlindustrie zu sein. Innerhalb von fünf Jahren sollen 50 Prozent der Umsätze online abgewickelt werden. Der gesamte Ablauf der Lieferkette wird ein anderer sein: Hersteller können zielgerichtet produzieren, Kunden haben einen besseren Überblick über das Angebot, Lagerbestände können drastisch – bis zu einem Drittel – reduziert werden205. Angenommen, die Teile sind mit Sensoren bestückt, melden diese den Baufortschritt und lösen voll automatisiert Bestellungen aus, wobei Stahlwerke entsprechend ihrer Kapazitätsplanung Aufträge an Land ziehen, können im „Internet der Dinge“ dann die letzten Ineffizienzen der Lieferkette eliminiert werden.206

94Um all das anzuschieben, hat Klöckner mit Klöckner.i ein eigenes Start-up in Berlin gegründet. Innerhalb der bestehenden Organisation räumt man dem Neuen kaum Umsetzungschancen ein. Dazu Gisbert Rühl: „Ich würde es immer wieder über eine separate Einheit machen. Mit Leuten von außen, die zunächst unabhängig arbeiten. In einem zweiten Schritt müssen Sie dafür sorgen, dass eine solche Einheit auf die übrige Organisation ausstrahlt und sich nicht als unabhängiger Satellit am Rande des Konzern-Orbits bewegt. Was wir versuchen, ist, die Start-up-Mentalität zu übertragen …“207.

Ohne Zweifel bergen solche Projekte Risiken. Das größte Risiko, um mit Marc Zuckerberg zu sprechen, ist aber kein Risiko einzugehen: „Disrupt or be disrupted!“. Um sich selbst zu erneuern – und zwar rechtzeitig – müssen Unternehmen Bereitschaft zeigen, sich selbst zu zerstören, zumindest gedanklich, bevor es andere dann physisch tun. Das schließt die Bereitschaft mit ein, eigene Produkte, eigene Dienstleistungen oder gar das eigene Geschäftsmodell zu kannibalisieren208. Damit tun sich aber viele schwer und wir sind wieder bei der zuvor beschriebenen Tatsache, dass es oftmals die Risiko-Betrachtung braucht, um entsprechendes Denken und Handeln zu induzieren. Hier haben wir mit dem „Nightmare Competitor“-Ansatz gute Erfahrungen gemacht. Setzen Sie sich mit einem konstruierten Wettberwerber auseinander, der sich bestens mit der Zukunft arrangiert, alle Hebel der Digitalisierung zieht und das Geschäft nach ganz neuen Regeln betreibt und Ihnen so wirklich gefährlich werden kann. Diese Auseinandersetzung hilft, die Energie der kreativen Verzweiflung zu bündeln, zeigt Gefährdungspotenziale auf, hilft aber vor allem, rechtzeitig neue Geschäftslogiken zu finden. Ein Blick von außen nach innen, d. h. die Einbindung Externer, ist dabei nicht nur hilfreich, sondern dringend zu empfehlen.

In Geschäftslogiken denken

Als Jorge Cauz, Präsident der Encyclopaedia Britannica Inc., am 14. März 2012 die Einstellung der Printversion der Enzyklopädie ankündigt, feiern die Mitarbeiter im Chicago Office ausgelassen. Ein Kuchen stellt die 32 Bände umfassende und 95etwa 60 Kilo schwere Enzyklopädie dar. 244 Luftballons stehen für jedes einzelne Jahr seit der ersten Ausgabe im Jahre 1768209. Und es gibt guten Grund zum Feiern: Zwei Disruptionen hatte man überlebt und dank der Digitalisierung ein neues, profitables Geschäftsmodell gefunden. Die erste Disruption war die Enzyklopädie auf CD. Diese hatte man 1994 sogar selbst am Markt eingeführt. Mit einem Preis von 1.200 Dollar kostete sie fast genau so viel wie die Printversion. Das war deutlich zu viel, vor allem, weil Microsoft mit Encarta etwa zur gleichen Zeit mit einem wesentlich billigeren Konkurrenzprodukt auf den Markt kam. Später gab es die Encarta als Zugabe beim Kauf eines PCs sogar gratis. Auch das traditionelle Vertriebsmodell – Verkauf an der Haustüre – war ziemlich ungeeignet. Noch im Jahre 1990 brachte man via Haustürverkauf mehr als 100.000 Ausgaben der Encyclopaedia Britannica an den Mann. Sechs Jahre später waren es gerade noch 3.000. Der Vertriebsweg wurde eingestellt210. Die zweite digitale Disruption kam mit Wikipedia. Die Spielregeln am Markt hatten sich nun vollkommen verändert. Einträge werden von unzähligen freiwilligen Autoren verfasst und nach dem Prinzip des kollaborativen Schreibens fortwährend bearbeitet und diskutiert. Eine Studie, publiziert in der Zeitschrift Nature, bescheinigt Wikipedia gute Qualität: Es gab hinsichtlich der Korrektheit und Vollständigkeit kaum Unterschiede zwischen dem Online-Lexikon und einer Enzyklopädie211!

Die Encyclopaedia Britannica brauchte nun dringend ein neues Geschäftsmodell. Die Positionierung war wirkungslos. Es gab keinen Grund mehr für den Kunden, die 32 Bände zu kaufen. Der Redaktionsbetrieb dauerte viel zu lange. Das Vertriebsmodell funktionierte nicht mehr und die Ertragslogik brach zusammen. Mit anderen Worten: Das alte Geschäftsmodell hatte ausgedient. Es mussten neue Wege gefunden werden, Wert für Kunden zu generieren und diesen Wert zu kapitalisieren.

Zielgruppe und Positionierung

96212213