cover
cover

Einleitung: Der Seiltanz

Im Auf und Ab des Lebens … zwischen Zirmsee und Everest

In diesem Buch geht es um Rätsel, Glück und Fluch der Berge – aber nicht nur darum, es ist auch der Seiltanz meines Lebens, den ich skizziere. Ich sage: skizziere – mehr erlaubt der knappe Raum nicht. Da sind Streiflichter aus den Anfängen in den Alpen, auch entscheidende Erlebnisse, die mich verstehen ließen, wohin der oft gefährliche Weg führt, Höhepunkte und Krisen an den Gipfeln des Himalaya, lockende Rätsel in der Ferne, im Urwald bei den Indios, in Tibet im Winter – und das Daheim, das Leben mit den Deinen, mit Freunden und dem Seiltanz des Alltags.

Als Seiltänzer gehst du zwischen den Spitzen der Berge einen luftigen Weg, vielleicht um das manchem schwer verständliche Hochgefühl zu empfinden, nicht abzustürzen! Das gilt auch fürs Leben selbst, und da wissen wir es doch alle: Schaffst du es, oder schaffst du es nicht? Du schaffst es – und das ist das Ziel, die Freude, die Genugtuung! Doch das ist nur die eine Seite.

Immer wieder zieht es mich hinauf, dieses Dasein dort oben ist so voll wunderbarer Erkenntnisse; inmitten der Kräfte, die empordrängen, und denen, die nach unten ziehen, ist alles stärker … die Freude, die Liebe, die Angst – die Berge sind wie große Freunde, Beschützer. Sie geben dir Gleichgewicht und erheben dich über so manches kleinliche Geschwätz und Feilschen in den Tälern.

Allerdings nicht immer: Der Alpinismus bringt heute leider auch das hinauf. Oder es sind Außenseiter, die schlicht und einfach ein Geschäft wittern – oder Taktiker, für die der Alpinismus nur ein Hilfsmittel ist, um aufs Podium zu gelangen. Ruhm, Ehre, Anerkennung – die bislang versagt blieb –, auch sie treiben empor und manchmal in schreckliche Tragödien hinein. Aber der Berg entblößt. Berge sind große Prüfsteine – und was man als den Fluch der Berge bezeichnet, ist oft nichts als die Konsequenz der Natur. Die Berge selbst wollen uns kein Übel!

Glück spielt bei alledem eine Rolle: Meist wissen wir es garnicht, was geschehen wäre, wenn wir nur eine Stunde später oder fünf Minuten früher losgegangen wären – du wärst vielleicht schon nicht mehr da. Dasselbe gilt für die Wahl des »richtigen« Tages bei einem Aufstieg im Himalaya – oder bei einer Wanddurchsteigung in den Alpen; es braucht Gespür, so wie einst mein Freund Wolfi es bewiesen hat, als er sich in der Eigerwand zur Umkehr entschloß, weil plötzlich noch andere Seilschaften auf der Route waren – sie überlebten nicht. Er hatte im letzten Augenblick das Vorhandensein einer Gruppe in der Riesenwand als böses Omen erkannt.

Seiltanz? Es wäre falsch zu meinen, hier nur Geschichten über Situationen zu finden, in denen es »knapp vorbei« ging – wo man also noch einmal davongekommen ist. Es sind vielmehr die großen und kleinen Geschichten des Lebens, dieses bunte Auf und Ab, das einem begegnet; sie erstehen wieder, wenn ich so vor mich hindenke … In diesem Buch bin ich der Schmetterling, der von Blüte zu Blüte streift, so wie sie ihm begegnen – aber der da und dort, wo es von großer Bedeutung ist, auch verharrt und »der Sache« auf den Grund geht – dort, wo es wichtig ist. So und nicht anders soll dieses Buch verstanden sein.

BolognaKurt Diemberger

IN DEN ALPEN

Der Glockner, Gold, Kristalle … und eine Handvoll Glühwürmchen

Es ist niemals ausgeschlossen, daß es noch weitergeht. raute Das beste Zeichen vor einem großen Fund ist völlig taubes Gestein. raute Ich muß doch noch einmal in die ganz hinterste Ecke schauen! raute Fündig zu werden – ist wie ein Kuß der Unendlichkeit.

Sucher-Weisheiten

»Da taucht weit hinten oben ein weißer Spitz auf. Das muß der Glockner sein! Aber es dauert nicht lange, dann erhebt sich ein höherer Gipfel, höher in dem Maße, als wir aufwärtskommen. Wir schwören, daß das jetzt der Glockner ist. Nochmals geht’s uns so, aber dann sehen wir ihn wirklich, schlank und spitz, hoch emporragend über alles, ins blendende Weiß des Neuschnees gehüllt. Und ich juble bei seinem Anblick. Wenn ich doch nur raufkönnte. Ganz leise, fast noch unbewußt regt sich der Wunsch in mir, um gleich wieder zu verschwinden gegenüber dem Verstand, der sagt: Laß doch das, so was kommt ja für dich garnicht in Frage, wie du nur überhaupt auf die lächerliche Idee kommen kannst.«

Tagebuchnotizen auf dem Weg nach Heiligenblut; die Straße ist meist so steil, daß wir unsere mit Dreigang ausgerüsteten Räder schieben müssen.

Drei Tage später: Ich habe mir Steigeisen ausgeborgt, trainiere mit Walter, einem Wiener Studenten, der auch den Glockner vorhat, an einem grasigen Steilhang. »Breitbeinig gehen! Der schlimmste Fehler ist, mit den Zacken des rechten Eisens im linken Wadelstutzen oder Hosenbein hängenzubleiben – und umgekehrt!« belehrt mich der Wiener – verglichen mit mir 17jährigem Anfänger ist er, alpinistisch gesehen, ein Experte. Prompt aber verhakle ich mich und falle zwei Meter – verdammt, geht das schnell! schießt es mir durch den Kopf, während ich mich zwischen blühenden Alpenrosen am Rande des Absatzes festkralle. Ich schwöre mir, dort droben besser aufzupassen! Ob wir überhaupt hinaufkommen? »Wunderbar schimmert der Johannisberg herüber. Hoch droben am Glockner sieht man die Adlersruh, und ihn selber stolz und gerade aufragen.« Keine Frage: Wir versuchen es! Auch wenn ich nur die kurze Lederhose und Kniestrümpfe dabei habe! Bin doch vom Kristallsuchen in den Hohen Tauern gegen die Kälte abgehärtet.

Zwei Tage später, im Aufstieg mit Walter – ohne Seil – am luftigen, dem Hauptgipfel vorgelagerten Kleinglockner. »Vor uns sind mehrere Partien, alle schwer angeseilt. Wir überholen sie leicht, aber es geht schon verflucht steil rauf … angesichts der abschüssigen Tiefe paßt man eben doch gut auf. Die Eisen halten schlecht, der Schnee ist zu tief. Schließlich sind wir aber doch oben am Kleinglockner. Längst sind wir im Nebel, und so sehen wir auch nicht, wie grausig tief es nach Norden runtergeht. Ein kurzes Gratstück, dann folgt die Glocknerscharte über der Pallavicinirinne (gar nicht so arg, schwindlig darf man halt nicht sein). Da ist über uns schon das Kreuz … ist schon toll, hätt ich mir auch nicht gedacht, daß man so einfach hier raufkann. Sehen tun wir freilich nichts«, erzählt mein Tagebuch. Wir warten eine halbe Stunde, aber der eisige, wallende Nebel hört nicht auf – er umwallt auch meine bloßen Knie, und je mehr Zeit vergeht, desto einleuchtender wird mir, warum alle, die hier heraufkommen, Bundhosen haben.

»Gerade geht einer mit weichen Knien über den kurzen Schneegrat zwischen Klein- und Großglockner.« Doch Spaß beiseite: Beim Abstieg in der steilen Schneeflanke verhakle ich mich einmal trotz aller Aufmerksamkeit mit einem Steigeisen an den Stutzen, kann aber eingedenk Walters Warnung das Gleichgewicht halten. Mit Hallo geht’s bald darauf zu Tal. Der Glockner gehört uns!

Wohin jetzt? Irgendwie reizt mich ein See – hoch oben, nahe dem über dreitausend Meter hohen Sonnblick und dem fast gleich hohen Hocharn, lauter Berge, die für ihre Kristallfunde berühmt sind – ja und Gold hat man auch dort gefunden. »Schon die alten Römer …«, heißt es immer wieder, nicht anders als drüben im Habachtal, wo man die tiefgrünen, feurigen Smaragde finden kann – wenn man großes Glück hat. Ich scheine es zu haben, manchmal glaube ich, die Berge wollen mir ihre Schätze geben, und fündig zu werden ist wie ein Kuß der Unendlichkeit … ein Geschenk der Gipfel, mit denen ich irgendwie auf du und du lebe wie mit den Kristallen. Vielleicht braucht es da einen bestimmten Sinn dafür, ein Hineinlauschen in die Natur, ich habe sonst keine Erklärung, wieso ich einfach dorthin gehe, wohin mir irgend etwas rät zu gehen … und es erweist sich als der richtige Weg. Auch wenn es ein Seiltanz wird. Mein Glück im Habachtal kann ich nicht anders erklären, obwohl es nur von kurzer Dauer war: Die zweiköpfige Belegschaft des alten Smaragdstollens hatte vor diesem halbverfallenen Loch in einer Wand weit oben in 2400Meter Höhe schon tagelang nach Smaragden gewaschen. Sie hatten eine Reihe schöner »Sammlersteine« beisammen – weiße oder hellgrüne Kristalle, auch dunklere, aber voll von Sprüngen und Unreinheiten, und sie waren eigentlich recht zufrieden. Reine, wertvolle Smaragde sind ja eine große Seltenheit und werden fast nie gefunden.

Die beiden waren freundlich zu mir: Mit einer winzigen Chance und einem großen Eimer entschwand ich in die Dunkelheit des Stollens. Einmal durfte ich ihn füllen. Vielleicht war in dem Glimmerschlamm ein Sammlerstein. Der sollte dann mir gehören.

Wasser tropfte im Halbdunkel, ich tastete mich vorwärts … dann sagte mir ein Gefühl: Hier! Es ist genug – nimm den Schlamm vom Grund auf, wo alle immer drübergingen, wo das Wasser tropft und wäscht, seit langer, langer Zeit. Ich füllte den Eimer mit dem nassen Schlamm des Bodens und ging zurück. Als wir den silbrigen Glimmerbrei im Licht der Sonne unterm Wasserstrahl zerrührten, traute ich meinen Augen nicht: Ein hübscher Sammlerstein kam zum Vorschein, und siehe da, sogar noch einer, ich habe doch einen Glücksstern! – Plötzlich starrten wir alle drei wie gebannt auf das Gitter: Da lag ein herrlicher Smaragd, dunkelgrün, voll Feuer und vollkommen fehlerlos. Keiner sprach ein Wort.

»Dann wußte ich, was jetzt kam: Ich mußte den Stein abliefern. Ich sah ihn noch lange an, sein herrliches grünes Feuer im Licht der Sonne, ehe ich mich von ihm trennte. Mein Glück hatte nur einen Augenblick gedauert.«

So hatte mir diesmal irgendeine Idee im Kopf geraten, ehe ich zum See hinaufstieg, auf einen braunen runden Berg zu gehen, der den treffenden Namen Sandkopf trug – er war zwar ein Dreitausender, doch als Gipfel völlig uninteressant. Trotzdem, wenn ich bloß nach dem Anschein geurteilt hätte, wäre ich niemals fündig geworden oder der Wahrheit nähergekommen. Dieser unscheinbare Berg erwies sich als eine Schatzkammer – und ich kam mir vor wie im Märchen von den Sterntalern, die vom Himmel fielen und die ein kleines Mädchen bloß aufzulesen brauchte. »Mit der Nase am Boden geh ich dahin. Alle Augenblicke finde ich einen Bergkristall. Klein zwar, aber klar und rein wie ein Tautropfen leuchten sie zwischen dem rostfarbenen Grus heraus. Immer wieder.« Warum ist das Licht, das aus den Kristallen hervordringt, so anders, so verzaubernd? Ich weiß es nicht, aber es ist so.

Später einmal wird der größte Kristall der Erde mich faszinieren, der K2, der sich weißleuchtend über die Bergwüste von Sinkiang erhebt.

»Unheimlich öd sieht die Landschaft aus. Alles braun. Aber gerade das ist der Reiz dieser Trümmerregionen, eigentümlich und doch so bindend; mich zumindest … Über feinen Sandboden, in dem wir leicht einsinken, geht’s zu den kompakten Gipfelfelsen der Berges … Tief unten in seiner ganzen Länge das Fleißtal mit dem schönen blauen Zirmsee. Vis-a-vis der Hocharn … und drüben über einer weiten weißen Firnmulde der Sonnblickgipfel. Weit dahinter türmt es sich schwarz von Wolken von Salzburg her, dunkel und drohend. Es sieht immer mehr nach Unwetter aus. Wir müssen aufbrechen. Ich für meinen Teil wäre ja noch geblieben, aber Erwin hat nichts dafür über.« Auch er, mein Radfahrkumpel aus Norddeutschland, der nicht auf den Glockner wollte, ist an diesem Tag zufrieden: Er hat am Sandkopf ein Hufeisen gefunden – und einen Kristall, der einer Miniaturfestung gleicht.

Zum Zirmsee steige ich alleine auf. Ein weiter Weg. Meine beiden Gefährten bleiben beim »Alten Pocher« zurück … einst der Platz, wo das Golderz zerklopft und gewaschen wurde, heutzutage ein Wirtshaus.

Von oben stürzen kleine Wasserfälle über die Steilstufe vom Zirmsee herab. Rechts liegen die Abbrüche des Sandkopfs.

Nach etwa eineinhalb Stunden habe ich die Steilstufe, die zum See hinaufführt, überwunden und stehe jetzt auf einem vom Gletscher flachgehobelten, breiten, plateauähnlichen Talboden. Vor mir, hinter den Resten einer Hütte, kräuseln sich die kleinen Wellen des Zirmsees, dahinter führt ein weißes Tal, breit und flach zum Hocharn. Nach rechts geht es über Gletscher in rund zwei Stunden zum Zittelhaus auf dem Gipfel des Sonnblicks. Der Höhenunterschied beträgt nur mehr 600 Meter, denn der Zirmsee selbst liegt schon 2500 Meter hoch. »Ich suche erst in den Schuttfeldern am linken Seeufer, finde aber nichts von Bedeutung. Wo bloß die alten Goldbergwerksstollen sind, die es hier geben soll? Ich gehe weiter und weiter. Schließlich habe ich den ganzen See umwandert. Erst dadurch ist mir klar geworden, wie groß er eigentlich ist. Rundherum liegen auf abgehobelten Sockeln riesige Blöcke. Der See selbst ist ganz ruhig und dunkel. Eine geheimnisvolle Gegend.«

seite_16

Kurt am Zirmsee in den Hohen Tauern (Juli 1949, Tagebuch)

Die Stimmung ist so eigenartig, daß ich mich hinsetze und den See für mein Tagebuch skizziere. Weit und breit kein Mensch, und ich merke gar nicht, wie die Zeit vergeht.

Aber das war nicht das Letzte, was ich an diesem Tag noch erleben sollte. Plötzlich gewahre ich die herannahende Dunkelheit. Im Laufschritt erreiche ich den Seeausfluß, eile im Schnellschritt hinab zum »Alten Pocher«, mache mich auf den Weg nach Heiligenblut. Inzwischen ist es pechfinster – Kurt, sage ich zu mir, du hast zu lange gezeichnet, zu lange für die Seeumrundung gebraucht! Die Taschenlampe? Nur noch ein schwacher Schein, die Batterie ist am Ende. Im Sternenlicht geht es weiter, immer wieder stolpernd, dem verschwommenen Streifen des Weges folgend. Stimmt der noch? Verkrüppelte Bäume ragen mir aus der Finsternis entgegen, Nadelzweige peitschen mir ins Gesicht – mit weichen Knien folge ich ungefähr der Richtung den Hang hinab, verliere den Weg, lande im Heidekraut, finde ihn wieder … schwer atmend, unruhig taste ich mich weiter, es ist mir, als wäre ich von lauter dunklen Schattenwesen umgeben, die ihre Arme nach mir ausstrecken – und mir ist plötzlich unheimlich.

Unsinn! sage ich mir, die Trolle gibt’s nicht mehr! Andere vom Menschen vertriebene Waldgeister? Wieder stolpere ich, weil ich in einer kaum zu ahnenden Kehre den Weg abschneiden will. Wasser rauscht irgendwo. Finsternis. Kein Mensch ist hier – nur diese Schattenwesen mit ihren stachligen Armen … es ist wie eine Flucht vor ihnen. Auf einmal, was ist das? Ein winziges grünes Licht vor mir auf dem Grund – es ist so vertraulich, so freundlich. Ich hebe das Glühwürmchen auf, halte es in der hohlen Hand und sehe sein Leuchten – so stark, daß sogar meine Finger sich noch in der Dunkelheit abheben. Über mir der schemenhafte Umriß eines Baumes. Ich setze mich nieder, lehne mich an seinen Stamm, und während ich in das lebendige Leuchten in meiner Hand blicke, verfliegt die Furcht vor den unbekannten Wesen der Nacht rund um mich. Es sind Bäume, Kurt! Lebendige Bäume … so lebendig wie das Licht in deiner Hand. Im Weitergehen finde ich noch mehr Glühwürmchen, schließlich habe ich sechs oder sieben in meiner hohlen Hand, die leuchtet jetzt wie ein zauberhafter Scheinwerfer. Und ich gehe ganz sachte dahin – es ist ja keine Eile nötig! Die Bäume rundum unter dem Sternenhimmel umschließen uns wie ein dunkler, sich ändernder Kreis, in dessen Zentrum dieses wunderbare Licht ist … und es wandert mit mir zu Tal. Natürlich reicht dabei der Schein nicht bis auf den Weg, aber ich stolpere kaum noch – muß doch auf meine Glühwürmchen achten! Ehe der Wald zu Ende ist, bekommt jedes seinen Platz unter einem Baum … und ich gehe in der Finsternis weiter.

»Mitten in der Nacht komme ich in Heiligenblut an. Im Einschlafen denke ich nochmals an den seltsamen See. Man muß wohl etwas ganz umfassen, um es richtig zu verstehen. Ob ich wohl je einmal das Goldbergwerk finden werde?«

In Salzburg krabbelt Anfang der siebziger Jahre ein kleiner Bub ums Haus in der Nähe des Leopoldskroner Weihers; plötzlich findet er etwas am Boden, hebt es auf, reicht es begeistert der Oma. Es ist ein dreieckiger Stein, ein gleichseitiges Dreieck mit etwa zwei Zentimeter Kantenlänge … ein Steinchen! Es hat die Symmetrie einer Kristallfläche.

Das Steinchen wird zum Anfang seiner geologischen Laufbahn, seiner ihm wohl von der Natur mitgegebenen Leidenschaft, die ihn zu den Kristallen treibt, in alte aufgelassene Goldstollen hinein – in die Höhlen des Untersbergs, wo er sich zu Hause fühlt wie ein Murmeltier im Bau. Wo Georg das wohl herhat? … Keine Frage – er ist mein Sohn, und die Leidenschaft für Kristalle und überhaupt das Suchen muß ihm wohl von Geburt an im Blut gelegen haben. Was seltsam und unerklärlich bleibt, ist aber die Tatsache, daß es ihn, obwohl ich ihm nie von meinem Weg um den Zirmsee erzählt habe, nicht nur hinauf zum Hocharn und Sonnblick mit ihren Kristallklüften trieb, nein, es hat ihn derart in diesen Winkel über dem dunklen See gezogen, daß er beschloß, diesem geheimnisvollen Platz seine Forschertätigkeit zu widmen!

Das Thema seiner Diplomarbeit? Das Goldbergwerk überm Zirmsee. Was ich nicht fand – er hat’s gefunden.

Und Gold? Ja, auch – sagt er beiläufig –, aber nur mikroskopisch. Na ja, denk ich mir im stillen, die Schwammerlsucherregeln gelten wohl auch im Schoß der Erde. Tatsache ist, daß Georg ein Wissenschaftler und Praktiker ist, der jetzt schon das ganze Bergwerk kartiert hat, es in- und auswendig kennt, von phantastischen, jahrhundertealten Pumpwerken erzählt, die das eingedrungene Wasser aus der Tiefe der Stollen durch bis zu zwölf Meter hohe, ineinandergesteckte Holzrohre an die Oberfläche beförderten – ein verborgenes Meisterwerk der alten Bergleute. Er erzählt von Werkzeugen, Holzschüsseln, Ledersäcken, die unter dem schützenden Panzer der sogenannten Kleinen Eiszeit dort oben in über 2500 Meter Höhe wie in einer Kühltruhe den zerstörenden Einwirkungen der Witterung widerstehen konnten. Ja, da ist sogar noch ein 300 Jahre alter Besen aus Birkenreisern erhalten: Das Erz war so kostbar, daß auch die kleinsten Stäubchen mit solchen Besen zusammengekehrt wurden! Wieso »Kühltruhe«? Ab 1650 wurde es allgemein kälter, 1850 erreichte diese kurze Eiszeit ihr Maximum, dann wurde es wieder wärmer bis 1910 – für rund zweihundert Jahre war der Bergbau dort oben unmöglich.

Wenn Georg erzählt, vergeht die Zeit wie im Flug, in seinen blauen Augen im scharfgeschnittenen Gesicht unter den blonden, etwas wirren Haarsträhnen steht die Begeisterung über das Leben im Inneren des Berges, und man merkt ihm den Hang zur Präzision an: Die Bretter da drinnen seien den Gängen durch das Muttergestein genau angepaßt worden, es habe eigene Zimmerleute gegeben, die sie genau nach Maß anfertigten. Alles Lärchenholz!

»Wir haben das Alter bestimmt – der Baum wurde etwa um 1550 oder 1650 gefällt. Man hat daraus Haspeln und die Kolbenpumpen des Pumpwerks hergestellt, hat die Holzrohre mit Ringen zusammengefügt, so daß sie die notwendige Höhe von zwölf Metern erreicht haben; auf jedem Meter Rohr lastet der Druck von einer Tonne!« Funktioniert habe das so ähnlich wie eine Fahrradpumpe, im Prinzip ja ganz einfach – meint er mit einem Lächeln. Ich kann bloß den Kopf schütteln: Das müssen tüchtige Kerle gewesen sein, vor 400 Jahren solch eine technische Anlage im Inneren des Berges zu installieren – noch dazu in 2500 Meter Höhe!

Daß der Zugang ins alte Bergwerk auch heute manchmal recht schwierig ist, glaubt man ihm gern – »letztes Mal haben wir zwölf Stunden gebraucht, bis wir uns durch den Schnee zum Eingang durchgebuddelt hatten«. Hin und wieder lädt Georg einen Bergfreund ein, ihm bei den Messungen im Berg zu helfen – aber das ist nicht jedermanns Sache. Selbst Rollo Steffens, der sich vor den Nordwänden des Eiger, der Grandes Jorasses, des Matterhorns nicht gefürchtet hat, empfand – wie er mir erzählte – »die Enge der oft weniger als schulterbreiten Stollen und Tunnels als unendlich erdrückend, ich nahm zum Ende einen großen Schluck aus Georgs deponierter Rumflasche und war froh, als ich das Tageslicht wiedersah«. Was Rollos »Treibstoff« in der Finsternis angeht, gab mir mein Sohn schmunzelnd eine etwas genauere Beschreibung: »Der Kameramann hatte Höhlenangst, je weiter er in den Berg eindrang, desto intensiver. Rollo war aber ein guter Helfer, willig war er auch, mit einem Trick: Eine Flasche Rum machte ihm Mut, je tiefer im Berg, desto mehr brauchte er, ob seine Ablesungen immer richtig waren, weiß ich nicht.«

Vom alten Biwakplatz der Bergleute hat Rollo, mein späterer Seilgefährte auf der Chinaseite des Karakorum, nichts erzählt. Georg schwärmt davon: »Es ist richtig gemütlich. Der Platz hat wegen des Gebirgsdrucks ein tonnenförmiges Profil, die uralten Wände sind alle handgeschremmt – einfach nur mit Schlägel und Eisen … man kann bequem liegen und sitzen. Temperatur um die null Grad.«

Dann erzählt er von einem Begleitumstand, der wohl so manchen Besucher abschrecken wird – es sind die Mäuse. »Sie kommen im Frühjahr in Scharen aus dem Tal bis zum Zittelhaus, nagen alles an: Gummihandschuhe, Isolierband, Kerzen, Seife, Plastik, Kabel.« Georgs Schlafsack hat 15 Löcher! Allerdings können diese Tierchen auch ganz possierlich sein: Am K2-Gletscher beobachteten Julie Tullis und ich Bergmäuse, die das Küchenzelt der Italiener auf 4500 Meter »entdeckt« hatten. Sie saßen auf den Hinterbeinen und knabberten harte, ungekochte Spaghetti, die sie mit den Vorderpfoten festhielten und mit den kleinen Zähnchen in unglaublicher Geschwindigkeit genüßlich zerfrästen! Wir gaben uns Mühe, sie bei ihrem Festmahl in der Bergwüste nicht zu stören.

Georg hat eine herrliche Sammlung: da sind Amethyste, grüne und rosa Fluorite, tiefschwarze und strahlendweiße Bergkristalle, da sitzen blinkende Pyritwürfelchen auf einem Gespinst von Calzitkristallen, fächerförmig gebündelte Epidote … und zu den meisten weiß er eine Geschichte zu erzählen. Natürlich blickt zwischen den Kristallen still und heimlich auch einmal ein Golddraht hervor, glänzt reines Silbererz, und all das erinnert mich an so manchen Tag mit Hammer und Meißel in den Hohen Tauern. Vor vielen Jahren wollte ich Geologe werden – das war mein Traumberuf. Doch dann begann der Seiltanz meines Lebens – und ich bedaure es nicht.

Jetzt macht Georg das, wovon ich träumte.

Allein durch die Zebruwände

Der Zebru sieht aus wie die aufgestellte Flosse eines Riesenfischs. Wenn die Sonne schräg in die Nordostwand fällt, wird eine feine Zeichnung sichtbar – wie die Strahlen einer Flosse. Das sind Schnee- und Eisrippen. Man findet sie freilich nicht überall und immer, es hängt von den Verhältnissen ab, die in der Wand herrschen. Vor allem im rechten oberen Wandteil ist ein ganzes Muster dunkler Tupfen zu sehen: das sind Felsinseln, die durch die dünne Haut aus Schnee und Eis gedrungen sind. Der obere Rand der Flosse verläuft ziemlich waagerecht, trägt aber doch am linken wie am rechten Ende je einen Gipfelpunkt. Die Wand unterhalb des rechten, nördlichen Gipfels war noch undurchstiegen – zum Südgipfel führte bereits eine Route durch die dort völlig weiße Wand empor, die – mehr nach Norden geneigt – fast immer im Schatten liegt. An der Wurzel der Flosse bilden Felsbänke und die Wölbung eines kleinen Hängegletschers eine Art Sockel. »Klein« kann man das freilich alles nicht unbedingt nennen – die Wandhöhe beträgt immerhin rund siebenhundert Meter! Mein zweifacher Weg durch die Riesenflosse dauerte einen ganzen Tag und brachte mir in vielen abenteuerlichen Stunden rechts eine Erstbegehung im Aufstieg und links den ersten Abstieg durch die Nordwand hinab. Beides im Alleingang.

Ich hatte keinen Gefährten, als ich mich auf den Weg in diese Wand begab, weil der Urlaub meines Seilpartners nach der Durchsteigung der nahen Königswand viel zu früh zu Ende war. Wir waren in ihr höher gekommen, als je jemand vor uns, und hatten sogar das Geheimnis des höchsten Eisbollwerks gelüftet, nun wollte ich wegen der noch unbezwungenen Schlüsselstelle nicht heim. Eigentlich bin ich kein Alleingänger, mir ist es lieber, das Abenteuer mit einem anderen Menschen zu teilen. Womit ich nichts grundsätzlich gegen das Alleingehen sagen will: es ist einfach eine andere Art des Erlebens, meist gefährlicher, manchmal intensiver, an die Grenze des Seins heranführend – kein Mensch antwortet dir, nur du selbst und der Berg.

Ich hatte einen 30-Meter-Strick umgehängt, ein paar Haken im Rucksack und mein Eisbeil in der Hand, als ich aufbrach. Ich fühlte mich sehr leicht, denn die paar Brote, die mir der Hüttenwirt vorsorglich mitgegeben hatte, wogen nicht viel, und ich hatte kein dickes Seil – nur den Strick, der mir gegebenenfalls für eine Selbstsicherung an irgendeiner Kletterstelle und zum Abseilen dienen sollte. Auch für den Fall eines Rückzugs – man weiß ja nie.

Es war noch dämmrig. Während ich auf die Wand zuschritt, lag rechts von mir fahles Morgenlicht auf der mächtigen Kalkburg des Ortler mit seinen Schneeflecken, Rinnen und Felsbastionen des Hinteren Grates; links ragte die Königsspitze in den Himmel hinein, deren große Wand ich eben erst vor ein paar Tagen mit dem Salzburger Albert Morocutti durchstiegen hatte; jeder Blick dorthin erinnerte mich wieder an die allgegenwärtige Riesenschaumrolle – die mächtige Gipfelwächte, über die noch kein Mensch hinauf war und in der wir schon mittendrin gestanden hatten, aber an der hätte ich jetzt als Alleingänger ohne irgendeine Hilfe oder Sicherung durch einen anderen keine Chance.

Und so ist alles ungewiß, wie so oft. Aber diese Ungewißheit zu erhellen, sie Schritt für Schritt in Klarheit umzuwandeln, ist ja das Abenteuer des Bergsteigers, ein Abenteuer fürs ganze Leben; ich jedenfalls werde nie davon loskommen!

Noch in der Dämmerung geht es über den Felsvorbau zu dem kleinen Gletscher hinauf – ich habe den Zustieg schon am Vortag erkundet. Als ich die Steigeisen anlege, geht gerade die Sonne auf. Heute bin ich weniger als sonst diesem Ereignis zugetan, in mir spüre ich eine gespannte Erwartung, was da in dieser Zebru-Nordostwand alles vor mir liegt, was sie mir vielleicht enthüllt, und wie ich, allein auf mich gestellt, mit ihr zurechtkomme.

Ich fühle mich großartig in Form, ein ganzer Sommer voller Bergfahrten bis jetzt in den Herbst hinein liegt hinter mir. Schritt für Schritt steige ich über den nur mäßig geneigten kleinen Gletscher auf die Steilwand zu, die zum nördlichen Gipfel des Zebru hinaufzieht. Die Schneefläche blitzt rund um mich, ist übersät mit Kristallen, die der Frost der Nacht hingezaubert hat – aber ich achte vor allem darauf, ob Mulden oder längliche Vertiefungen mir eine versteckte Spalte anzeigen. Ein Spaltensturz ist eine der großen Gefahren beim Alleingang, kein Lebensfaden, kein Seil deines Gefährten holt dich zur Oberfläche zurück, und meist weiß auch kein Mensch, wo du bist. Wenn man unverletzt geblieben ist, mag man es wohl auch schaffen, allein aus einer Spalte herauszukommen – aber die Wahrscheinlichkeit ist eher gering. So steige ich langsam höher, dem Ende des kleinen Gletschers entgegen. Ich nähere mich jetzt einer großen offenen Querspalte – die hatte ich schon von unten wahrgenommen. Auch eine Schneebrücke darüber hatte ich schon von unten entdeckt – aber jetzt? Als ich davor stehe, will sie mir gar nicht mehr gefallen. Sie ist ziemlich dünn, allerdings beinhart gefroren. Ich sondiere eine Weile, und schließlich – ich sehe keine andere Möglichkeit – haste ich mit Schwung darüber hinweg! Ein sekundenlanger Blick in blaue Tiefe! (Was für ein Abgrund! Möcht’s niemandem empfehlen, auch wenn’s gut ausgegangen ist.) Sonst hat der Gletscher kein Problem mehr für mich übrig, er wird jetzt nur zunehmend steiler. Auf allen vieren bewege ich mich nun in der weißen Wand aufwärts, drücke bei jedem Schritt die Haue des »Eisbeils« – das eigentlich ein Pickelhammer ist – in den Schnee, stoße bei jedem Schritt die vorderen Zacken der Eisen in die weiße Fläche und habe als vierten Haltepunkt noch einen spitzen Eishaken in der Linken. Ich achte darauf, daß ich bei jeder Bewegung wenigstens drei Haltepunkte habe. Griffe oder Tritte: entweder für zwei Hände und einen Fuß oder für beide Füße und eine Hand.

Einem Ungeübten mag das alles kompliziert und riskant erscheinen, aber wenn man schon Jahre in den Wänden der Alpen unterwegs ist, ist einem das längst in Fleisch und Blut übergegangen – man denkt nicht mehr daran. Eine peinliche Genauigkeit bei jeder Bewegung und Achtung aufs Gleichgewicht – auch die gehören dazu. Ungenauigkeit am Berg rächt sich bitter, früher oder später! Langsam nähere ich mich einem senkrechten Riegel aus grauem Fels, es ist Kalk, brüchiger Kalk, nicht viel anders als drüben am Ortler oder an der Königsspitze. Eine Weile verharre ich unter der Wand, prüfe die Möglichkeiten … dann taste ich mich vorsichtig höher, wobei ich jeden Griff ausprobiere. Kein Mensch hat diese Felsen bisher in der Hand gehabt! Meine Vorsicht erweist sich als begründet: Schon bricht ein Griff aus, zerbröselt … regungslos blicke ich den hüpfenden Steinchen nach, hinunter in die Tiefe des weißen Steilhangs. Nein, wenn dir hier mehr als ein Griff ausbricht, hilft dir die ganze gute Form nichts!

Mit unendlicher Vorsicht steige ich zurück an den Fuß der Felsstufe, suche mir einen soliden Riß, schlage einen Haken, sichere mich mit dem Seil daran und steige wieder los. Jeden Griff nur auf Druck beanspruchend, schiebe ich mich über die Wand hinauf, wobei ich einmal stehenbleibe – es gibt gerade ein kleines Plätzchen, um die Seilsicherung zu verlängern. So ist das eben, wenn man keinen Zweiten hat, der das Seil nachgibt und sichert! Reichlich umständlich. Schließlich habe ich die Wandstufe geschafft, finde einen guten Riß … Päng! Päng! Päng! Ein Haken. Er sitzt, ist absolut solide. Nun geht es am Seil hinunter zu meinem Sicherungshaken von vorhin – ich schlage ihn heraus und klettere jetzt, am Seil von oben gesichert, in aller Seelenruhe über die unsympathische, brüchige Wandstufe empor. Die Griffe kenne ich inzwischen, es ist ja das dritte Mal, daß ich sie benutze. Eine zeitraubende Technik, aber wenn die Haken gut sitzen, völlig sicher. »Irgendwie«, sage ich mir, während ich nun auch den oberen Haken herausschlage, um ihn wieder mitzunehmen, »werden sie dir zu Gefährten … wenn du so alleine in der Wand bist.« Doch diese Gefährten sind stumm. Illusion von Minuten … (Später einmal wird mir ein Alleingänger sagen, er habe bei einer großen Kletterfahrt sogar mit seinem Transportsack geredet, den er Seillänge für Seillänge nachzog.)

Während ich das Seil aufschieße, blicke ich noch einmal über die brüchige Wandstufe hinab. »Das war wie ein kleines Zirkuskunststück ohne Zuschauer« – denke ich bei mir. Ich fühle mich ganz ruhig, obwohl ich allein bin. Vielleicht doch dank der Haken? Auch wenn ich von hier seilfrei weitersteigen werde. Mein Blick schweift hinaus in die Bergwelt … Blau steht sie da an diesem stillen Herbstmorgen. Dann fällt mir ein, daß ich vielleicht doch einen Zuschauer habe: Fritz Dangl, den Hüttenwirt der Hintergrathütte, der einzige, der von meinem Weg weiß; vielleicht beobachtet er mich gerade durch sein Fernrohr. »Es ist ein schönes Gefühl, heute mit diesem Berg allein zu sein«, denke ich, »aber es ist auch ein schönes Gefühl zu wissen, daß noch ein Mensch daran teilnimmt!« Mag es auch nur aus der Entfernung sein, einfach mit Blicken und Gedanken.

Bald darauf habe ich jedoch Fritz wieder nicht mehr im Kopf, merke beim Weitersteigen Meter für Meter in der unmittelbaren Verbindung zur Wand die übergroße Freude, etwas Neues zu entdecken, fühle, wie sie mir mehr und mehr zuwächst. Nein, ich fühle mich keineswegs einsam! Die Wand und ich. Jetzt mag ich wohl schon fast drei Stunden unterwegs sein, bin im Bereich der kleinen Felsinseln angekommen, die den oberen Teil der Riesenflosse wie Pünktchen durchsetzen – direkt unter dem Nordgipfel. Immer wieder verlasse ich das steile Weiß des Schnees und verharre in einer der schwach ausgeprägten Nischen unter den Felsinseln. Ich bin bereits hoch oben und restlos zufrieden – die Wand gehört mir! Ja, voll Übermut blicke ich in die Nordwand des südlichen Gipfels hinüber: Wenn ich dort drüben hinabstiege? Statt über den Normalweg, den ich gar nicht kenne!

Allerdings: »Sausteil« sieht die Wand da drüben aus, ohne Unterbrechung, ohne Nische, ohne Ruhepunkt!

»Ma gia’che si balla, balliamo davvero!« fällt mir ein italienisches Sprichwort ein – Wenn man schon einmal beim Tanzen ist, dann gründlich!

Ich will mir das anschließend einmal »ganz unverbindlich« ansehen – von oben her, vom Südgipfel aus. Wäre schon verlockend, dort hinabzusteigen!

Was für ein Abgrund! Es ist wohl eine Freude, die man anderen schwer mitteilen kann – der Genuß, wie eine Laus auf einer Schaufel zu sitzen!

»Und all diese Flächen, die rundum zur Tiefe schießen!« Redest du mit dir selbst, Kurt? Genau genommen hinkt der Vergleich mit der Laus, denn die hat sechs Beine, was alles viel sicherer macht. Die kann ja eine Technik der fünf Haltepunkte entwickeln!

Ein kühler Lufthauch! Kündet er mir die Nähe des Gipfels? Wind, der um die letzten Felsen im Weiß spielt? Der Ortler da drüben – noch hoch über uns, über mir und meinem Berg. Ja, ich weiß, daß der Ortler höher ist. Aber was bedeuten schon Höhe und Größe? Das ist jetzt mein Berg auf meinem Weg – für alle Zeit. Für einen Augenblick. Nichts dauert länger.

Jetzt! Ein weißer Rand, der Himmel über mir – da ist er, der Gipfel! Ich beeile mich, tue die letzten Schritte, Freude durchstürmt mich – da ist er, mein Gipfel. Ich stehe auf ihm.

»Dank dir! Bin zu dir gekommen – auf einem Weg, den kein Auge vorher aus der Nähe gesehen und keine Hand und kein Fuß vorher berührt hat.« Ist das, was mich durchströmt, die Freude des Entdeckers? Der Stolz? Die Eitelkeit? Was noch? Wohl etwas von allem. Die Freude, sicherlich, über das Wagnis. Ja, gewiß auch die Genugtuung über das eigene Können, die Fähigkeit, dich hier oben zu bewegen, fertig zu werden mit den Schwierigkeiten – das Bewußtsein, daß für dich Bergsteigen kein Glücksspiel ist. Zumindest der Glaube daran … und der Dank an den Gipfel. Was noch? – Dieses In-die-Natur-mit-eingeschlossen-Sein. Die Natur umgibt dich hier schweigend mit ihren größten Wesen – den Bergen. Die unhörbar mit dir reden. Mit denen du sprichst.

Ich kauere mich auf dem Gipfel nieder, blicke hinüber zur Königsspitze. Die ragt im Gegenlicht auf – es ist noch nicht Mittag. Viereinhalb Stunden habe ich für den Aufstieg über meine Wand gebraucht. Wieder blicke ich hinüber zur Königsspitze mit ihrer wuchtig vorspringenden Riesenschaumrolle, der Gipfelwächte. Wird sie mir gelingen?

Irgendwie bin ich noch immer im Bann der großen Schneewalze dort oben, während ich über den luftigen gewellten Verbindungsgrat zwischen Nord- und Südgipfel des Zebru hinüberturne. Ein unproblematischer Weg, wunderbar, mit Tiefblicken zu beiden Seiten und weit hinaus. Wo von diesem Berg wohl der Normalweg hinabführen mag? Ich habe, ganz im Bann der Wand, offensichtlich vergessen, mich dafür zu interessieren. Hab wohl gedacht »Das seh’ ich schon, wenn ich oben bin!« Eigentlich ein Fehler. Sollte man nicht tun. Aber inzwischen habe ich nun den Südgipfel erreicht. Die Schaumrolle ist von hier aus ganz nahe! Ich lege mich in den Schnee und betrachte sie. Dann ruft mich das Gewissen: »Jetzt wird’s aber Zeit, dran zu denken, wie du von hier hinunterkommst!« Ich erhebe mich langsam, fast widerwillig – Ja, ich weiß, beim Aufstieg hab ich in die Nordwand dieses Gipfels hinübergeblickt, habe geliebäugelt mit der weißen Steilwand. Von meinem Standpunkt aus ist sie unsichtbar. Die Wand wölbt sich zuletzt wie ein Bauch, wird gipfelwärts flacher; darum muß ich etliche Meter absteigen, will ich den Tiefblick in sie bekommen!

Endlich ist es so weit. Auf allen vieren, das Gesicht zum Berg, habe ich den die Sicht sperrenden Hang bewältigt. Unter dem vorgewölbten Arm kann ich durchblicken, hinab … Lieber Himmel, das pfeift hier aber zur Tiefe! Etwa sechshundert Meter unter mir kann ich den kleinen Gletscher wahrnehmen, von dem ich heute früh aufgebrochen bin. Ja, Ausgesetztheit – sagt man – ist ein Merkmal steiler Eiswände! Wenn du da »drinhängst«, bist du wirklich wie eine Laus auf einer steilen, polierten Schaufelfläche! Ich will mir’s noch überlegen …

Langsam steige ich wieder zum Gipfel empor. »Auf alle Fälle mußt du dich da erst richtig entspannen«, denke ich bei mir. So lege ich mich hin, und es dauert nicht lange, bis ich eingeschlafen bin. Umweht von einem leichten Lüftchen, das um den Gipfel spielt, erwärmt von der milden Herbstsonne! Allein, doch nicht einsam. Es mag wohl eine Stunde gedauert haben, da wache ich auf. Hoppla, jetzt ist’s aber Zeit! Wenn ich durch diese Wand hinunter gleich lange wie durch die andere herauf brauche – dann ist der Tag ziemlich voll! Das wären rund neun Stunden! Es gibt keinen Aufschub mehr!

Ohne große Freude beginne ich den Weg in den Abgrund – es war so schön, auf dem Gipfel zu liegen! Ja, ich muß mich erst richtig daran gewöhnen, wieder in der Steilfläche zu stehen, wieder auf jeden Schritt, auf jeden einzelnen Tritt aufzupassen, jede Bewegung richtig zu machen. Manchmal blicke ich unter dem abgespreizten Arm durch: Der Tiefblick bringt einen sofort von jeder Träumerei weg!

Zack! Zack! – ramme ich die Vorderzacken der Steigeisen bei jedem Schritt in die steile und hier ziemlich harte, weiße Fläche. Gleichzeitig stütze ich mich auf den Pickelhammer, dessen Schneide ich in den Firn drücke; mit der anderen Hand ramme ich den langen, spitzen Eishaken ein, der allerdings nicht weit eindringt, so daß ich mit einem im Hakenring eingeklinkten Karabiner, durch den ich den Daumen stecke, die Distanz verkürzen muß.

Meinen Helm habe ich selbstverständlich auf – ein kleines Eisstückchen, ein kleiner Stein kann dir beim Alleingang sonst zum Verhängnis werden!

seite_30

Mein zweifacher Alleingang durch die Zebru-Wände (Ortlergruppe)

Zack, Zack …

Zack, Zack …

Zack, Zack … ein endloser Weg hinunter.

Nach etwa einer Stunde dieser Art des Abstiegs spähe ich, ob ich denn nirgends einen Ruhepunkt finden kann! Aber all mein Suchen ist vergebens. Alles überall hier rundherum über und unter mir … ist abschüssig.

Also weiter. Zack, Zack …

Zack, Zack …

Schließlich schlage ich mir einen Stand aus der Wand – und raste. Wie lange ich so in die Steilflanke gelehnt stehe – ich weiß es nicht. Zuerst blicke ich nur in den Schnee vor mir, dann versuche ich abzuschätzen, wie weit es noch hinunter sein mag. Aber es läßt sich schwer sagen: Einige hundert Meter unter mir springt wie eine Skischanze der kleine Hängegletscher vor, und dann weiter unten der Boden am Wandfuß, auf dem in einiger Entfernung die Hintergrathütte steht. Praktisch ist der Abstieg für mich gewonnen, sobald ich den kleinen Hängegletscher erreicht habe, denn von ihm kann man auch seitlich rechts hinunter zur Basis des Berges gelangen. Neben dem Zackenkranz meiner Steigeisen sehe ich in der Tiefe, anscheinend gerade über dem kleinen Hängegletscher, ein paar Felsinseln in dieser endlosen weißen Steilwand. Ob es dort eine Rastmöglichkeit gibt? Es ist alles noch weit, weit unten. Ich seufze und mache mich mit allmählich schmerzenden Waden wieder an den Abstieg – er ist ganz anders als mein Weg in der Sonne von heute morgen.

Zack, Zack … wieder zwei Schritte.

Hier ist es schattig, kalt – ja, düster. Und die Tiefe will kein Ende nehmen …

Zack, Zack …

Gibt es Gewöhnung an diese Monotonie?

Wird man sorgloser, unaufmerksamer? Gleichgültiger?

Es muß wohl so sein – urplötzlich rutsche ich mit einem Steigeisen durch, hänge am Pickel, an der Spitze des Eishakens, das Blut hämmert in den Schläfen! Ich bin wie erstarrt.

Aber die Wand hat noch andere »Freuden« für mich reserviert: – Jetzt merke ich es erst – blankes Eis! Schräg unter mir!

Es ist ein verdammter Unterschied – ob du in einer steilen Eiswand hinauf- oder hinuntersteigst! Und ganz besonders, ob sie blank ist oder nicht! Wer das noch nicht ausprobiert hat – der soll’s tun, aber nicht nur ein kleines Stück … dann weiß er es!

Ich werde mir hier lieber Griffkerben schlagen und vielleicht sogar Kerben für die Vorderzacken meiner Eisen: Das ist keine einfache Sache, denn das Eisbeil hat nur einen kurzen Stiel, und so muß ich mich weit hinunterbeugen, um die Kerbe für den nächsten Schritt herausarbeiten zu können. Gleichzeitig hänge ich mit meinen Fingern an einer anderen Kerbe in der Wand – ein Griff, der gut gemeißelt sein muß!

Es ist ein einsames Kunststück, die Herstellung dieses Griffes, immer aufs neue, bombensicher, so daß er nicht ausbricht, wenn ich daran hänge, um unterhalb den nächsten Tritt zu schlagen. Ich sage »einsam«, weil ich, obwohl ich weiß, daß der Hüttenwirt der Hintergrathütte mich jetzt bestimmt beobachtet, zum ersten Mal das Gefühl habe, wirklich allein zu sein. Hier zählt gar nichts anderes mehr als das, was du jetzt selbst tust, um hinunterzukommen. Aus Minuten werden Stunden.

Ich bin langsam geworden, sehr langsam. Aber der Hängegletscher unter mir, diese ersehnte weiße Fläche, die von hier oben sogar eben erscheint, ist wieder etwas näher gekommen! Diese Fläche dort unten ist für mich in dieser Steilheit zur Erde geworden, zu der ich zurücksteige. Ich blicke jetzt öfter als vorhin hinab, schätze öfter als vorhin ab, wie weit es noch sein mag. Müdigkeit, angespannte Muskeln, die fortwährend nötige höchste Aufmerksamkeit … alles wird verflogen sein, wenn ich dort unten im Schnee sitze! Ja, manchmal denke ich mit einer Art Vorfreude an diesen Augenblick, male ihn mir aus … stelle ihn mir immer wieder vor.

Zack, Zack …

Zack, Zack … Nur nicht hudeln! Zeit lassen, genau sein! – schießt es mir dazwischen stets aufs neue durch den Kopf. Dabei wird die Versuchung, sich zu beeilen, immer größer! Plötzlich bemerke ich etwas: Vierzig Meter unter mir springt ein schwarzer Block – wie ein Erker, wie ein »Polstersessel«, gar ein »Diwan«? – aus der Wand vor; ein Rastplatz, ein von der Natur, vom lieben Himmel mir zugebilligter Rastplatz!

Es war meine größte Entdeckung in dieser Wand – der »Polstersessel« in der Nordwand des südlichen Zebrugipfels. Eine verrückte Erfindung, eine Laune der Natur: ein waagerechtes Plätzchen, eine Sitzgelegenheit inmitten nicht enden wollender Steilheit – der einzige Rastplatz in dieser Wand!

Ich nehme den gastfreundlichen Platz wohl eine halbe Stunde lang in Anspruch; sitze und schaue, die Beine baumelnd, den Rücken zur Wand … dehne die überanstrengten Muskeln, entspanne mich völlig. Zuletzt gefällt es mir auf dem Platz so gut, daß er mir als der schönste der Welt vorkommt; und sein einziger Nachteil ist, daß ich von ihm wieder fort muß, in die grausame Wand hinaus. Aber daß sie mir diesen himmlischen Erker bot – das ließ sie doch noch ein wenig freundlich erscheinen, zuletzt. Nach der langen Rast geht es wieder ganz anders weiter! Ich habe richtig »Abtrieb« bekommen. Der Hängegletscher nähert sich mehr und mehr! Unter mir, durch eine steile Wandstufe von mir getrennt, ein Schneedach, das zu einer Randkluft hinabführt. Ich bewältige ein kurzes Stück kletternd in steilstem Blankeis und Fels – dann wird mir die Geschichte zu heikel. Ich schlage einen Sicherungshaken. Reicht etwa das doppelt genommene Seil hinunter? – Nein, hoffnungslos, es reicht nur einfach. Also dann einfach! Ich verknote das Seil, fahre gesichert über den letzten Teil der Wandstufe hinab. Aufatmend stehe ich schließlich im Schnee der Dachfläche über dem Hängegletscher. Ein paar Schläge am letzten Fels mit dem Pickelhammer auf den Strick – schon ist er ab! Den Rest stopfe ich in den Rucksack! (So brutal gehe ich normalerweise nicht mit Kletterseilen um, aber ich hatte genug!)

Hinunter jetzt über die Dachfläche! Was für eine Freude, wenn ich dort unten im Schnee sitzen werde! Ich steige, immer noch auf allen vieren, über das weiße Dach hinab – es ist fast ein Vergnügen, sich hier fortzubewegen. Dann bin ich am oberen Rand des Bergschrunds. Werfe einen Schneeball hinab. Menschenskind, das sind bestimmt fünf Meter bis da hinunter! Aber dort unten ist es flach, und der Schnee sieht gut aus, kein Eis! Einen Augenblick zögere ich noch, dann springe ich. Es staubt, ich lande wie in einem Federbett! Ich sitze und lache und freue mich. Ich habe gewonnen! Ich habe gewonnen …

Was nun folgt, ist nichts weiter als ein glückliches Laufen zu Tal, hinunter, zurück zur Hütte, zu Fritz Dangl, der gewiß schon auf mich wartet! Doch vorher – auf dem Boden unterhalb des Wandsockels – halte ich noch mehrmals inne und blicke in die Riesenflosse hinauf. Zwei »Erste« an einem Tag, eine hinauf, eine hinunter! Der Gipfel und der Abgrund. Wie die Licht- und die Schattenseite des Mondes … Ich glaube nicht, daß ich das noch einmal allein machen werde.

Obwohl ich seither noch immer manchmal allein gehe, habe ich mir fast nie die Frage gestellt: Wo ist mein Platz? Der Alleingänger empfindet die ganze Größe des Gebirges ohne die Silhouette eines anderen zwischen sich und dem Berg – aber er empfindet eben nur sich selbst und den Berg. Er kann zwar über Grenzen hinausgehen, die ihm die Gegenwart eines anderen setzen … Aber gerät er nicht in die Gefahr, jedes Maß dabei zu verlieren? Bildet er sich nicht eine irreale Traumwelt? Was bedeutet ihm der Mensch noch?

Als ich so am Fuß der Zebruwand stand, wurde mir wieder einmal klar, daß meine Gedanken ein Echo brauchen … ein verwandeltes, ein vielfältiges – eines, das nicht nur aus einer Wand zurückgeworfen wird, sondern aus dem Herzen eines anderen kommt. Ich bin kein Alleingänger.

Wenige Tage nach dieser Bergfahrt hänge ich mit zwei Zufallsgefährten an der Riesenschaumrolle der Königsspitze … Es gelingt mir, das gewaltige Eisungetüm auf der von Albert und mir entdeckten Route im Vorstieg zu überwinden, meine schwierigste und gefährlichste Erstbegehung (über sie habe ich in meinem Buch Aufbruch ins Ungewisse berichtet). Dort oben hätte jeder Augenblick der letzte sein können – und das erinnert mich an eine Fahrt aus meiner Jugendzeit. Damals brauchte ich gleich zweimal einen starken Schutzengel …

Mit dem Schutzengel auf meines Großvaters Fahrrad – und ein lebensgefährlicher Abstecher

September 2006, Brief an meine Enkelin: »Liebe Ruby! Hänge dich nie an einen Lastwagen – eher schieb Dein Radl zum Stilfserjoch empor!« – Muß das Madl solche Sachen machen? Zu meiner Zeit, damals vor fünfzig Jahren …

Gedanken eines besorgten Großvaters

Treten, treten, treten …

… es ist ein weiter Weg vom Mont Blanc zum Ortler …

Obwohl ich Großvaters Fahrrad, ein Waffenrad Baujahr 1909, rundherum tipptopp modernisiert habe, ist es ein weiter Weg. Auch wenn das Rad jetzt statt der einen großen Tretscheibe drei Gänge besitzt.

Treten, treten, treten …

Zuerst war ich noch im Wallis, mit Peter, wir haben den Monte Rosa, den Lyskamm, den Nadelgrat überschritten, haben über ein Dutzend Viertausender gesammelt, aber dann ist er heimgefahren – mit dem Zug –, und seitdem bin ich mit meinem Radl allein.

Treten, treten, treten …

Warum will ich ausgerechnet auf den Ortler? Er liegt auf dem Heimweg nach Salzburg über das Stilfserjoch – dem kürzesten in Luftlinie, aber auch dem interessantesten: Vom Ortlergipfel aus müßte ich ganz nahe endlich diese sagenhaft schöne Königsspitze sehen, die ich vor Jahren von der Weißkugel in den Ötztaler Alpen aus entdeckte – damals, als die Westalpen noch ein ferner Traum waren. Wie ein leuchtender Kristall stand sie da am Horizont neben dem Ortler, und keiner von uns hat gewußt, wie dieser Berg heißt! Schließlich haben wir jemanden gefragt. Der hat erstaunt gelacht: »Das ist doch die Königsspitze – der schönste Berg in der Ortlergruppe!«, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Seitdem will ich die Königsspitze aus der Nähe sehen. Und ihr Gipfel? Ja, später einmal