Martí Perarnau
PEP GUARDIOLA
Das Deutschland-Tagebuch
Aus dem Spanischen
von Matthias Strobel und Carsten Regling
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© 2016 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN 978-3-7110-5185-1
Pep Guardiola hat dieses Buch nicht gelesen, so wie er auch das Buch Herr Guardiola nicht gelesen hat. Weder vor der Veröffentlichung, was ein Akt verständlicher Neugier gewesen wäre, noch danach. Eines Tages fragte ihn ein guter Freund in München nach dem Grund: »Ich werde das Buch erst in fünfzehn oder zwanzig Jahren lesen«, antwortete Guardiola, »um mich daran zu erinnern, wie meine Zeit bei den Bayern war.«
Wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, der Zugang in den privaten Bereich der Umkleide gewährt und die Veröffentlichung jeglicher Information über sich erlaubt, der sich jedoch um das Endergebnis nicht schert. Diese Einstellung spiegelt seine Persönlichkeit vielleicht besser wider als tausend Worte.
Deutschland hat Guardiola tiefgreifend verändert, und diese Wandlung soll in diesem Buch detailliert beschrieben werden. Seine Veränderung ähnelt der eines Jugendlichen, der das Elternhaus verlassen hat, um die Welt kennenzulernen. Pep Guardiola – Das Deutschland-Tagebuch schildert, wie sich der Mensch gewandelt hat, der nun in Manchester, seiner dritten Station als Trainer, vor der größten Herausforderung seiner Karriere steht. Seine Zeit bei Barça war autobiographisch geprägt, denn dort warf er alles in die Waagschale, was er als Spieler erlebt und gelernt hatte; München war gekennzeichnet durch die Anverwandlung an eine klassische Kultur, der er eine schier endlose Fülle an Kreativität schenkte; in Manchester gilt es nun, eine leere Leinwand zu füllen, und er wird es als jemand tun, der anders ist als der, der er in Barcelona war, anders, als der, der er in München war, und dennoch als niemand anderer als Pep Guardiola.
Zum ersten Mal über dieses Buch gesprochen habe ich mit ihm am 4. Juni 2016, als er sich bereits offiziell von den Bayern verabschiedet hatte und vor seiner offiziellen Präsentation in Manchester einen kurzen Urlaub antrat. Wie nicht anders zu erwarten, konnte er mit meinem Vorhaben nicht viel anfangen.
»Wenn ich irgendwo weggehe, klammere ich mich nicht an das, was war. Ich war sehr glücklich in München, ich gehe als zufriedener Mensch, im Guten mit allen. Aber es ist vorbei. Es lohnt sich nicht, ein Buch über diese beiden letzten Jahre zu schreiben.«
Um ihn zu überzeugen, gestand ich ihm die Wahrheit.
»Das Buch ist im Grunde fast fertig. Ich habe in den letzten beiden Jahren fast täglich daran geschrieben.«
»Na ja, dann solltest du es vielleicht doch nicht in den Papierkorb werfen. Mach einfach, was du willst.«
So ist also dieses Buch entstanden. Ohne vorgefassten Plan, ohne dass der Protagonist es gelesen hätte und ohne Garantie, dass es je gedruckt werden würde.
Was Sie in Händen halten, ist das Ergebnis von zwei Jahren kontinuierlicher Arbeit. Ich habe Hunderte von Trainingseinheiten und Partien, unzähligen Interviews und Gesprächen zu diesem Bericht über Pep Guardiolas Verwandlung verdichtet. Nichts davon wäre möglich gewesen ohne die freundliche Haltung des FC Bayern München, der mir nach der Veröffentlichung von Herr Guardiola Zugang zum Alltag der Mannschaft gestattet hat. Mein Dank gilt daher dem ganzen Klub, angefangen vom Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge bis hin zum Platzwart und einfachen Mitglied.
Und natürlich Pep Guardiola und seinem Trainerstab, nicht nur, weil sie mir auch in den heikelsten und bittersten Momenten die Türen geöffnet haben, sondern weil sie mir bei meiner Arbeit in all der Zeit stets freie Hand ließen. Ihre Regel lautete stets: »Mach, was du willst.« Dadurch kann ich hier alles schreiben, was ich will. Wenn ich Lob ausspreche, dann meine ich es auch so. Und wenn ich Kritik übe, dito.
Es erwarten Sie 14 Kapitel, in denen ich Ihnen die Verwandlung von Pep Guardiola erläutern werde. Diese 14 Kapitel enthalten 50 Exkurse, in denen ich die Thesen, die ich vorbringe, erweitere, erläutere oder rechtfertige. Ich empfehle Ihnen, auf den Zeitpunkt zu achten, zu dem diese Exkurse verfasst wurden.
Am Ende jedes Kapitels (außer des letzten) finden Sie die Rubrik Backstage. Es handelt sich dabei, in chronologischer Folge, um Schilderungen von Partien, Taktikdetails oder sonstigen Vorfällen, die sich im Umfeld von Pep Guardiola ereignet haben. Sie können diese Backstage-Berichte lesen, wie Sie möchten: in der natürlichen Reihenfolge oder erst am Ende der Lektüre wie ein eigenes Buch. Ganz, wie Sie wünschen.
Bei der Niederschrift dieses Buches bin ich wenig orthodox vorgegangen. Ich habe Perspektiven kombiniert, Sichtweisen vermischt, einfach geschrieben, was mir interessant erschien, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole und der Text keinen einheitlichen Stil aufweist. Wahrscheinlich hat auch Pep Guardiolas Eklektizismus seinen Teil dazu beigetragen. Es ist also kein einfaches Buch geworden, denn es sträubt sich gegen alles Lineare, flirtet mit der Komplexität und spielt mit der Zeit, indem es zwischen Kalendertagen und Ereignissen hin und her springt. Doch Fußball ist ja auch so: Mal geht es nach vorne, mal zurück.
Nehmt euer Werk zwanzig Mal wieder auf,
feilt unablässig daran, feilt wieder und wieder.
Nicolas Boileau
Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Victor Hugo [fälschlich zugeschrieben]
Als Woody Allen ihm die Hand gab, machte er ein säuerliches Gesicht wie in so vielen seiner Filme.
»Herzlich willkommen, Pep, aber ich glaube, du wirst dich bei diesem Abendessen schrecklich langweilen. An diesem Tisch sitzen lauter Leute, die sich nicht im Mindesten für Fußball interessieren.«
»Kein Problem, Woody, ich liebe auch Kino. Oder wie wär’s mit Basketball? Wir könnten uns auch über die Knicks unterhalten.«
Und so vergingen beim Gespräch über die New York Knicks die Stunden wie im Flug. Pep Guardiola hatte eine Seite von sich gezeigt, die nur wenige Menschen kennen: seine Anpassungsfähigkeit. Sein Image mag das eines unverbesserlichen Dogmatikers sein, doch in Wahrheit ist er ein geschmeidiges Chamäleon, das sich an Umgebung und Umstände anpasst. Wenn man sich nicht über Fußball unterhalten kann, weil es den Gastgeber langweilt, dann redet man eben über Basketball, genauer gesagt über die Knicks und ihre düstere Zukunft, auch wenn Pep eigentlich ein Bewunderer von Gregg Popovich ist.
Anpassung. Wir haben es hier mit einem unbekannten Wesenszug Guardiolas zu tun. Anpassung an die Spieler, an den Kontext, an den Gegner, an die Umstände. Deutschland hat ihn gezwungen, diese Eigenschaft stärker hervortreten zu lassen, die er bis dahin in seiner Karriere als Trainer kaum hat einsetzen müssen. Anpassen als Mittel, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Anpassen wie ein Chamäleon. Nicht die Stärksten überleben, sondern die Intelligentesten, diejenigen, die sich am besten anpassen.
In Barcelona setzte sich Guardiola durch seine Überzeugungskraft durch, in Deutschland durch seine Anpassungsfähigkeit. Wer hätte gedacht, dass dies sein innerer Motor sein würde, wo man doch bis dahin eher Leidenschaft, Ehrgeiz, Talent und Überzeugungen mit ihm verband, nicht Eklektizismus und Anpassungsfähigkeit. Seine Spielidee schien in Stein gemeißelt, unveränderlich, sprich: dogmatisch. Doch um in Deutschland zu überleben, musste er sich tarnen und eine unerwartete Flexibilität an den Tag legen.
Nur indem er nicht mehr er selbst war, konnte er sich selbst treu bleiben.
»Ich glaube, dass ich heute ein besserer Trainer bin. Ich habe hier viel gelernt, was mir bei meinen weiteren Trainerstationen nützlich sein wird. Anfangs dachte ich, ich könnte einfach die Spielweise von Barça auf die Bayern übertragen. Tatsächlich aber habe ich die Spielweise, die ich mitgebracht habe, mit der verschmolzen, die ich vorgefunden habe. Herausgekommen ist eine fantastische Synthese.«
Ein besserer Trainer geworden zu sein, bedeutet in diesem Fall, mehr Eklektizismus betrieben zu haben. Einerseits wurde Guardiola immer radikaler, immer mehr Cruyffianer im Sinne des niederländischen Voetbal totaal, und gleichzeitig »deutscher«, indem er eine andere Spielkultur in sich aufsog, bis er schließlich beides miteinander kombinieren konnte. Guardiola installierte nicht wie anfangs geplant den Fußball von Cruyff in Beckenbauers Heimat, sondern machte etwas Besseres und viel Intelligenteres: Er mischte das Spiel von Cruyff mit dem von Beckenbauer, und aus dieser Mischung ging eine Spielweise hervor, die die Haupttugenden beider Philosophien verschmilzt.
Nach Cruyffs Tod im März 2016 wurde Pep gefragt, was die Fußballwelt zu dessen Ehre tun könne. Er antwortete schlicht: »Befolgen, was er sagt.« Bayerns Kapitän Philipp Lahm (sein treuer Knappe und verlängerter Arm auf dem Feld) fügte hinzu: »Johan Cruyffs Idee war nicht mehr und nicht weniger, als ›Fußball spielen‹ wörtlich zu nehmen. In seiner Idee vom Fußball geht es nicht darum, den Gegner zu kontrollieren, sondern um den Ball und das Spiel. (…) Ich darf es beim FC Bayern gerade selbst erfahren.« Und Domènec Torrent, sein erster Assistenztrainer, brachte es auf den Punkt: »Pep ist heute die Synthese zwischen dem Barça von Cruyff und all dem, was wir in Beckenbauers Heimat gelernt haben.«
Pep Guardiola ist heute ein eklektischer Trainer, dem die Integration von mehreren Spielmodellen gelungen ist, der dem totalen Fußball so nahe gekommen ist wie niemand zuvor, wenn wir darunter ein flüssiges Spiel verstehen. Slaven Bilic, früher selbst Profi und heute Trainer von West Ham United, prophezeite: »Die nächste taktische Revolution wird der Tod des Schemas sein.« Guardiola steht an der Schwelle dieser Revolution: »Nicht die Spielsysteme sind wichtig, wichtig sind die Ideen.«
Guardiola ist heute ein besserer Trainer, und das, obwohl ihm, das dürfen wir nicht vergessen, der letzte Triumph in München versagt blieb. Er konnte das Triple nicht wiederholen, gewann kein einziges Mal die Champions League, den »unregelmäßigen Wettbewerb«, ja er erreichte nicht einmal das Finale. Mit Bayern gewann er sieben Titel, darunter dreimal in Folge die Meisterschaft, »den regelmäßigen Wettbewerb«, pulverisierte dabei alle historischen Rekorde des deutschen Fußballs und hob das Niveau der Mannschaft an. Unter seiner Leitung entwickelte sie ein schönes, dominantes und facettenreiches Spiel, doch sein Kunstwerk wurde nicht vom absoluten Erfolg gekrönt. Als man sein Werk in Deutschland als »unvollendet« bezeichnete, hatte man natürlich Recht im Hinblick auf die Titel. Natürlich hatte man Recht. Doch auch wenn er nicht alle Titel gewinnen konnte: Seine Spielphilosophie hat er vollständig durchgesetzt.
Der deutsche Journalist Uli Köhler, der bei Sky Deutschland arbeitet, hat es folgendermaßen zusammengefasst: »Er hinterlässt etwas Besonderes. Er hinterlässt einen Fußball, an den man sich erinnern wird. Er hinterlässt einen Fußballstil, den Bayern nie wieder spielen wird und den die Fans nie wieder zu Gesicht bekommen werden.«
»ICH WAR SEHR GLÜCKLICH.«
Doha, 5. Januar 2016
Guardiola hat angekündigt, dass er den FC Bayern verlassen wird. Der Fan Marco Thielsch schickt mir diese Nachricht, die ich an Pep weiterleiten soll:
»Ich bin traurig über Ihre Entscheidung, nicht zu verlängern, auch wenn ich sagen muss, dass Sie uns nie getäuscht haben. Sie haben immer gesagt, Sie seien sich darüber bewusst, nur ein kleiner Teil der Klubgeschichte zu sein. Ich bin seit über dreißig Jahren Bayernfan, und ich möchte Ihnen sagen, dass die vergangenen zweieinhalb Jahre die schönsten überhaupt waren. Noch nie hat Bayern einen so schönen Fußball gespielt, und ich kann Ihnen gar nicht genug danken für die vielen wunderbaren Momente, die Sie und die Mannschaft mir beschert haben. Ich habe so viele außergewöhnliche Momente erlebt, war über das Spiel meines Teams so glücklich, dass ich oft vor Freude geweint habe. Deshalb möchte ich, dass Sie Folgendes wissen: Viele werden jetzt sagen, Sie werden unvollendet bleiben, aber dem möchte ich entgegenhalten, dass es auch viele gibt, die ganz anderer Meinung sind. Natürlich möchte ich gewinnen. Aber ich will so gewinnen, wie Sie Fußball spielen lassen. Ich will mit diesem Stil gewinnen. Ich kann gar nicht in Worte fassen, was diese Art zu spielen für mich bedeutet. Auch wenn wir nicht gewinnen sollten, wird Ihr Erbe so groß sein, dass ich diese unglaublichen Momente nie vergessen werde. Außerdem möchte ich Ihnen sagen, dass Sie auch als Mensch eine große Inspiration für mich sind. Dafür möchte ich Ihnen ebenfalls danken. Wir alle werden dieses letzte gemeinsame halbe Jahr sehr genießen.
Als Guardiola diese Nachricht von Marco Thielsch las, war er tief bewegt.
»Wenn das Spiel meines Teams auch nur bei einem Fan diese Emotionen auslöst, dann hat sich die ganze Arbeit gelohnt.«
Bezogen auf die Pokalvitrine ist Pep Guardiola in München tatsächlich ein Unvollendeter geblieben. Wodurch sich unweigerlich eine Parallele aufdrängt: Auch Johan Cruyff erlebte seine größte Niederlage in München, als er 1974 das Weltmeisterschaftsfinale verlor, ausgerechnet gegen Franz Beckenbauer. Andererseits muss man hervorheben, dass diese Niederlage zu einem seiner größten Triumphe wurde. Cruyff verlor das Endspiel, aber er gewann durch die Spielweise seines Teams – das Clockwork Orange – weltweite Anerkennung: einer der vielen Widersprüche, die der Fußball zu bieten hat. Ob es Pep, seinem Ziehsohn, ebenso ergehen wird? Wird ein nicht gewonnener Titel, in seinem Fall die Champions League, irgendwann zu einem Sieg in Form der Anerkennung für das Spiel, das er in München praktizieren ließ? Noch wissen wir nicht genau, wie stark Pep die Entwicklung des deutschen Fußballs beeinflusst hat, aber vieles deutet darauf hin, dass dieser Einfluss massiv war.
Der katalanische Architekt Miguel del Pozo, der sich in den Sozialen Medien so unermüdlich um die Verbreitung der Bildenden Künste bemüht, sieht eine faszinierende Parallele zwischen der Erfahrung des Mittelmeermenschen Pep Guardiola in Deutschland und den Erlebnissen deutscher Maler in Italien. In beiden Fällen exportierten sie eine bestimmte Technik: »Die deutschen und niederländischen Maler folgten dem Weg Albrecht Dürers und brachten Italien die Ölmalerei. Diese Technik spielte in der späteren Entwicklung der italienischen Malerei eine entscheidende Rolle.« Und parallel dazu trat auch der umgekehrte Effekt ein: »Die Italienreise der deutschen Künstler unterteilte ihr Leben in ein Vorher und Nachher, weil sie eine neue Welt entdeckten. Goethe war fasziniert von Italien, so wie Winckelmann von Griechenland fasziniert war. Dürer beherrschte die deutsche Technik wie keiner sonst, doch auch bei ihm trat der umgekehrte Effekt ein: Als er das Licht und die Empfindsamkeit Italiens entdeckte, veränderte er sich. All diese Vorgänge erinnern mich an Peps Faszination für Deutschland und die Faszination Deutschlands für Pep.«
Auch Domènec Torrent ist überzeugt: »Pep hinterlässt in Deutschland ein großes Erbe. In Sachen Spielweise, Ideen, Flexibilität, Stil.« Karl-Heinz Rummenigge hat es auf den Punkt gebracht: »Je mehr Zeit vergehen wird, desto deutlicher wird werden, welch gute Arbeit Guardiola in Deutschland geleistet hat. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele deutsche Trainer uns in den letzten Monaten haben wissen lassen, dass sie diese Einschätzung teilen: dass Pep Deutschland fußballerisch enorm bereichert hat.« Der deutsche Sportexperte Tobias Escher (Autor der Webseite Spielverlagerung) drückt es folgendermaßen aus: »Bevor Guardiola nach Deutschland kam, kannte hier niemand die Idee des Positionsspiels.«
Obwohl Pep Guardiola in München weniger Titel gewonnen hat als in Barcelona (14 von 19 möglichen bei Barça, 7 von 14 möglichen bei Bayern), hält er sich 2016, kurz vor seinem Amtsantritt in Manchester, für einen besseren Trainer als 2012, als er Barça verlassen hat. Warum?
»Ich bin ein besserer Trainer, weil ich vorher alles auf Messi ausgerichtet habe. Der Ball musste zu Messi, und der erledigte dann den Rest. In Deutschland musste ich mir mehr Optionen überlegen: Der Spieler hier muss in diese Zone, der da in die dahinter usw. Ich musste mich voll reinhängen, aber nur dadurch wird man besser.«
Guardiola hat gelernt, wie man mit einem komplexen, feindseligen Umfeld zurechtkommt, er musste unzähligen Widrigkeiten trotzen, musste Schwierigkeiten überwinden, die er nicht gewohnt war. Indem er sich voll und ganz auf die Realität der Bundesliga einließ, wurde er ein besserer, weil flexiblerer Trainer. Der deutsche Fußball hat ihn verändert, so wie es sein Fitnesstrainer Lorenzo Buenaventura bereits wenige Monate nach seiner Ankunft in München vorausgesagt hatte: »Pep wird Bayern verändern, und Deutschland Pep.«
Der Mann, der im Juli 2016 voller Vorfreude seine Arbeit in Manchester antritt, ist widerstandsfähiger und reifer als der, der im Juni 2013 in München eintraf. Auch wirkt er wesentlich menschlicher, wird nicht mehr so stark idealisiert, ist nicht mehr der quasi gottgleiche Trainer. Deutschland hat seine Fehler aufgedeckt, und das hat ihn weniger perfekt gemacht, irdischer.
Zwei Fotos illustrieren den himmelweiten Unterschied zwischen dem Pep, der in München ankam, und dem Pep, der München wieder verließ.
Das erste Foto stammt vom 24. Juni 2013 und wurde in München aufgenommen. Es zeigt einen makellos gekleideten Pep Guardiola: grauer Anzug, granatapfelrote Krawatte, sechsknöpfige Weste, Hemd mit Kent-Kragen, weißes Taschentuch in der Brusttasche und blankpolierte Schuhe. Es war ein Pep, der Glamour ausstrahlte, umringt von der Führungsriege der Bayern, fast das Bild eines multinationalen Unternehmens. Ein Look wie gemacht für die Session eines Werbefotografen. Das Image makelloser Eleganz. Licht, Glanz, Perfektion.
Ganz anders das Foto in Manchester, aufgenommen am 3. Juli 2016. Pep ist sportlich gekleidet, trägt ein graues, kurzärmliges Hemd, Jeans, Sneakers und ein ebenfalls sportliches Jackett, das er so oft ablegt, wie er kann. Es ist der Look eines modernen Mannes, entspannt, sportlich, jederzeit bereit, sich an die Arbeit zu machen. Er ist nicht rasiert, als könnte es ihm gar nicht schnell genug gehen, die große Herausforderung in Angriff zu nehmen, die ihn in Manchester erwartet. Es ist ein Bild, das Energie ausstrahlt, Entschlossenheit, Selbstbewusstsein, aber auch Normalität, Natürlichkeit. Und es stellt eine Verbindung her zu den Fans am Spielfeldrand, die ihm das Motto des Klubs entgegenhielten: A New Era Begins.
DANKE, PEP
München, 22. Mai 2016
Auf dem Balkon des Münchner Rathauses wird das erneute Double gefeiert, das zweite unter Pep Guardiola. Nachdem Bayern zum vierten Mal in Folge die Meisterschaft geholt hat, gewann die Mannschaft gestern, im letzten Spiel unter ihrem katalanischen Trainer, auch den DFB-Pokal. Niemand hat viel geschlafen. Pep trägt eine Trainingshose und ein einfaches weißes T-Shirt mit dem Aufdruck Double. Er ist unrasiert und erhebt im Land des Biers ein Glas Weißwein (Häresie). Es ist ein irdischer Pep, umringt von seinen Mitarbeitern und Spielern: das Bild eines Teams, das fest zusammenhält. Pep wirkt nahbar, dankbar, gerührt. Normal und natürlich. Deutschland hat seinen Look verändert, hin zum Gegenteil dessen, wie er bei seiner Ankunft war. Auf dem Marienplatz, wo das Double gefeiert wird, hat sich ein Fan auf seinen nackten Oberkörper »Danke, Pep« gemalt.
Die zahlreichen Widrigkeiten, die er überwinden musste, haben seine Widerstandskraft gestärkt und ihn härter gemacht. Er hat gelernt, dass man auch ins Stolpern geraten kann, und er hat seine bayrische Etappe zu Ende gebracht, ohne sich zu sehr zu verausgaben. Guardiola hat München lächelnd und glücklich verlassen, ohne offene Rechnung, im Einklang mit den Spielern und dem Klub, der Führung und den Fans, die ihm ihre Zuneigung oft genug gezeigt haben. Wenn Erfolg sich an der Zahl der Augen bemisst, die um einen herum leuchten, wie der Dirigent Benjamin Zander bei seinen großartigen Vorträgen erklärt, dann wissen die Spieler, die er in Bayern zurücklässt, dass ihr Trainer einen enormen Erfolg errungen hat. Auch sie selbst ließen es ihn spüren, indem sie sich in der Umkleide in der Säbener Straße lang und herzlich von ihm verabschiedeten.
In München hat Pep viel dazugelernt: Er hat gelernt, Nein zu sagen (eine Tugend, die ihm bis dahin fehlte), er hat Fehler begangen und versucht, aus allen seine Lehren zu ziehen, er hat seine Zeit auf drei Jahre beschränkt und nicht (wie in Barcelona) eine vierte quälende Saison angehängt, und er hat seine Energie besser eingeteilt, wodurch er kein Sabbatical benötigt, keine Auszeit, um seine Batterien wieder aufzuladen. Er konnte direkt von München nach Manchester aufbrechen, ohne Zwischenstopp, unterbrochen nur von einem kurzen Trip mit der Familie in sein geliebtes New York, um die Finalserie der NBA zu verfolgen. Wenn Pep als Trainer reifen musste, dann hat Deutschland diesen Prozess enorm beschleunigt.
Als die Bayern kurz vor Weihnachten verkündeten, dass Pep seinen Vertrag nicht verlängern würde, brach in den deutschen Medien ein regelrechter Shitstorm über den Trainer herein, ohne dass es dafür einen konkreten Grund gab. Mal wurde er kritisiert, weil Lewandowski nicht spielte, mal, weil Müller nicht spielte, mal, weil Götze nicht spielte. Allein dadurch, dass er den Klub verließ, wurde er zur Zielscheibe. Um zu verdeutlichen, wie aufgeheizt das Klima war, sei hier erwähnt, dass ihn in dieser Situation über zwei Kanäle folgender Vorschlag erreichte: Wenn er einem auflagenstarken Blatt ein Exklusivinterview gäbe, würde er im Gegenzug vor Kritik geschützt.
In seinen letzten Monaten in München wurde ihm immer wieder vorgeworfen, dass er die Champions League nicht gewonnen hatte, vor allem von der Sensationspresse, meist von denjenigen, die über die Jahre wenig Interesse am Spiel selbst gezeigt hatten. Zugegebenermaßen ist es auch gar nicht so einfach, das Spiel zu verstehen. Der moderne Fußball hat eine hohe Komplexität erreicht, und wer alles verstehen will, was sich auf dem Rasen abspielt, sollte offen und ohne vorgefasste Meinung an die Sache herangehen. Dies gilt für den Fußball von Guardiola, dies gilt aber auch für den gegensätzlichen Stil, den Ranieri in Leicester spielen lässt. Wer sich nicht ein bisschen Mühe gibt, das Spiel zu verstehen, wird am Ende nur deprimierend oberflächliche Analysen liefern und Aspekte aufgreifen, die mit dem eigentlichen Spiel nichts zu tun haben. Man muss nur einen Blick in die Tagespresse werfen, um dies bestätigt zu finden.
Kreativität ist im Fußball unerlässlich, und ich meine nicht die Kreativität eines einzelnen Spielers, die natürlich zum Wesen dieses Sports gehört, ich meine den innovativen Geist des Trainers. Kreativität, schreibt der große Erziehungsberater Ken Robinson, »ist kein extravagantes Sammelsurium expressiver Akte, sondern die höchste Form geistigen Ausdrucks«. Nun könnte man einwenden, Fußball sei eine rein physische und technische Angelegenheit und habe gar nichts Geistiges, aber diesen Einwand würde ich zurückweisen: Fußball besteht aus Ideen (neben Technik und vielen anderen Faktoren). Eine Fußballphilosophie, verstanden als den Vorschlag, den ein Trainer oder eine Mannschaft präsentieren, war schon immer eine der Triebfedern, die den Fußball vorangebracht haben.
Vor einigen Monaten las ich bei dem niederländischen Trainer Raymond Verheijen eine interessante These: »In der Welt des Fußballs wollen die meisten den Status quo beibehalten, weil sie Angst haben, einen Fehler zu begehen. Es ist eine primitive Subgesellschaft, in der Kritik nicht geduldet wird und die Leute lieber an bestehenden Ideen festhalten. In der Welt des Fußballs sind Leute, die andere infrage stellen, nicht sehr beliebt, weil die sich dadurch auf den Schlips getreten fühlen, und wer fühlt sich schon gern auf den Schlips getreten. Offensichtlich steht es im Fußball noch aus, die Dinge intelligenter zu lösen.«
Die Entwicklung des Spiels war stets auf innovative Ideen angewiesen, so wie »die Grundlage von Wissenschaft originelles und kreatives Denken im Verbund mit kritischem Verstand ist«, wie Ken Robinson formuliert. Trotzdem hat die Idee der Kreativität in der Welt des Fußballs einen schlechten Ruf, weil diese Welt sich freiwillig an Altes klammert, an Paradigmen, die längst ihr Verfallsdatum erreicht haben. Es ist eine Welt, in der mächtige Kräfte sich verschwören, damit sich ja nichts entwickelt, damit ja alles so bleibt, wie das bequeme Klischee es vorsieht. Der Fußball hat eine tief sitzende Angst vor jeder Neuerung.
Ausgerechnet jetzt, da er unvollendet geblieben ist in der Stadt, in der auch sein »Vater« Cruyff unvollendet geblieben ist, steht Guardiola vor der größten Herausforderung seiner Karriere: Er will sein Spiel in England durchsetzen, dem Land, in dem dieser Sport erfunden wurde. Bedeutet »durchsetzen« in diesem Fall missionieren? Domènec Torrent, Guardiolas rechte Hand, will von dieser Interpretation nichts wissen: »Niemand sollte sich falsche Hoffnungen machen: Pep ist nicht nach Manchester gegangen, um den englischen Fußball zu revolutionieren, um den Engländern zu zeigen, wie man Fußball spielt, wie es hie und da zu lesen war. Pep ist nach England gegangen, um neue Ideen einzubringen. Um etwas beizusteuern, nicht um etwas zu verändern oder um Lektionen zu erteilen. Fußball kann man auf tausenderlei Art spielen, und eine davon bietet Pep an. Eine Art, die man mögen kann oder auch nicht, mit der er ziemlich oft gewinnt, die aber nicht die einzige ist, nicht die ›wahre‹. Es ist einfach nur der Fußball, den Pep vorschlägt. Deshalb noch einmal, damit keiner sich falsche Hoffnungen macht: Pep ist kein Messias, der die Welt des Fußballs missionieren will. Er will lediglich sein Spiel vorstellen, will von denen lernen, die anders spielen, und dazu beitragen, dass das Spiel insgesamt noch raffinierter wird.«
Es wird keine leichte Aufgabe, bei einem Team wie Manchester City sein Konzept umzusetzen. Die Mannschaft, die Pep übernimmt, besitzt keine erkennbare Identität, keine eigene Spielidee, und Ehrgeiz gehört nicht gerade zu ihrer DNA, wie dies bei Barcelona und Bayern der Fall ist. Pep hat eine Herkulesaufgabe vor sich, indem er einem Team, das einer großen Veränderung bedarf (die Hälfte der Spieler der Vorsaison sind über 30), Form und Inhalt geben muss, in einem extrem kompetitivem Umfeld. Er ist umgeben von exzellenten neuen Trainern (Conte, Mourinho, Klopp …) und exzellenten neuen Spielern (Mchitarjan, Xhaka, Pogba, Ibrahimovic …), und er muss sich mit einer fußballerischen Eigenart auseinandersetzen, die so ganz anders ist als seine eigene. Manchester ist für Guardiola eine noch größere Herausforderung als seine erste Trainerstation in Barcelona 2008, als er zwar ein unerfahrener Trainer war, aber immerhin zu Hause »spielte«; und es ist auch eine schwierigere Aufgabe als in München, obwohl er dort mit dem Gespenst des Triples zu kämpfen hatte.
Manchester ist ein neues Werk, bei dem Pep von Null anfangen muss, weil das Spiel der Mannschaft keine Struktur erkennen lässt. Die Pläne für das Gebäude müssen neu erstellt werden, was eine große Verantwortung bedeutet. In den Sommerferien sprachen wir darüber, und Pep brachte es nüchtern auf den Punkt: »Das ist die größte Aufgabe, der ich mich je stellen musste.«
BACKSTAGE 1
BLUT IM MUND
München, 10. September 2014
Gestern Abend fand in Madrid das Viertelfinale der Basketball-WM zwischen Spanien und Frankreich statt. Überraschend gewann Frankreich mit 65:62. Überraschend deshalb, weil in der Gruppenphase das spanische Team Frankreich noch 88:64 geschlagen hatte, so wie zuvor Senegal, Brasilien und Serbien (den späteren Vize-Weltmeister). Spanien erreichte unbesiegt und souverän das Viertelfinale, wurde jedoch im entscheidenden Moment von Frankreich gestoppt. Diese überraschende Niederlage veranlasste Manel Estiarte zu folgender Überlegung zum Thema Wettbewerbsgeist großer Teams. Er muss es wissen, immerhin ist er der beste Wasserballspieler aller Zeiten:
»Mir geht schon seit Längerem ein Gedanke durch den Kopf. Ich behaupte nicht, dass es sich um ein universelles Gesetz handelt, aber meine These lautet: Große Mannschaften, sprich: die Größten, haben sich so sehr ans Gewinnen gewöhnt, dass sie sich eine Niederlage gar nicht mehr vorstellen können. Das gilt für Basketball, für Fußball, für Handball, für alle Mannschaftsportarten. Es passiert nicht allen, es passiert auch nicht immer, aber es passiert so häufig, dass es kein Zufall sein kann. Mir scheint, dass große Teams nicht einmal auf die Idee kommen, sie könnten auch einmal verlieren, vor allem, wenn sie die klaren Favoriten sind. Dann muss der Gegner nur aus irgendeinem Grund, weil er sehr clever ist oder man selbst sehr träge, leicht vorne liegen, und dann geht man unter.
Und keiner kann den Untergang aufhalten. Schau dir an, was in den vergangenen Jahren im Fußball passiert ist. Es gibt unzählige Beispiele dafür. Barça unter Pep, das im Bernabéustadion in Führung geht und am Ende 6:2 gewinnt; noch einmal Barça unter Pep, gegen Madrid unter Mourinho, das damals ein exzellentes Team war, am Ende steht es 5:0; auch in England gibt es jede Menge Beispiele; oder hier in Deutschland, Dortmund unter Klopp, das gegen Bayern München unter Heynckes das DFB-Pokalfinale 5:2 gewinnt, ohne dass Bayern eine Chance hatte; Bayern unter Heynckes, das Barça mit Messi, Xavi und Iniesta 7:0 vom Platz fegt; Madrid unter Ancelotti, das Bayern letztes Jahr hier in München mit 4:0 abfertigt; oder Deutschland, das Brasilien bei deren Heim-WM mit 7:1 demütigt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Beispiele fallen mir ein. Zwei große Teams treten gegeneinander an, eines geht in Führung, egal, ob verdient oder nicht, und der Gegner bricht ein und wird überrollt.
Meine These also lautet: Die Spieler großer Teams können sich einfach nicht vorstellen zu verlieren. Es will nicht in ihren Kopf. Sie sind auf Sieg geeicht. Nicht unbedingt auf einen leichten Sieg. Aber doch auf Sieg. Sie haben so viele Spiele gewonnen, dass ihr natürliches Habitat der Triumph ist. Selbst wenn sie mal zurückliegen, sind sie es gewohnt, das Spiel schnell zu drehen. Und dann spielen sie eines Tages gegen ein anderes großes Team, das aus irgendeinem Grund in Führung geht. Am schlimmsten ist es, wenn die Führung nicht verdient ist, wenn sie wie aus dem Nichts fällt oder aufgrund einer Fehlentscheidung des Schiris. Der Gegner geht in Führung, und du bleibst auf dem Boden liegen. Du hast einen Treffer abgekriegt und bist in die Knie gegangen. Ein Tor. Und dann fällt noch ein Tor. Du liegst 2:0 hinten in einem Spiel, das du theoretisch gewinnen müsstest, weil du ein bisschen besser bist, weil du gerade mehrere Spiele hintereinander gewonnen hast, weil du dich gut auf die Partie vorbereitet hast. Du müsstest eigentlich in Führung liegen, aber du hast zwei Dinger reingekriegt und liegst am Boden. Und weil du das nicht gewohnt bist, zeigst du keine Reaktion, bleibst einfach liegen. Ein kleineres Team weiß, dass es immer wieder eins auf die Mütze kriegen wird und hat sich mental darauf eingestellt. Aber du nicht. Du bist groß, und obwohl du deinen Gegner respektierst, der ebenfalls groß ist, bist du es nicht gewohnt, dass man dich umhaut.
Du liegst am Boden, liegst 1:0 oder 2:0 hinten, deine Pläne sind nur noch Makulatur. ›Jeder hat einen Plan, bis er eins auf die Fresse bekommt‹, heißt der berühmt gewordene Satz [der angeblich von Mike Tyson stammt, gesagt hat ihn aber Joe Louis]. Und statt deinen Gegner zu umklammern und erst wieder loszulassen, wenn du zu Atem gekommen bist, willst du weitermachen, als wäre nichts passiert. Und dann gehst du erst recht unter.
Ich glaube, dass im Sport der Kampfgeist abhandengekommen ist, auch wenn es Tausende Ausnahmen geben mag. Nehmen wir den historischen Kampfgeist auf dem Balkan, den der Jugoslawen oder der Ungarn, vor allem aber der Jugoslawen. Wenn man gegen die antrat, wusste man, dass die Partie erst mit dem Schlusspfiff zu Ende sein würde. Manchmal sogar erst nach dem Schlusspfiff. Man konnte die bessere Mannschaft sein, aber wenn man ihnen auch nur die kleinste Chance bot, packten sie dich am Kragen. Es war ein bisschen so wie bei italienischen Fußballmannschaften, wenn sie mal 1:0 in Führung gehen. Dann weiß man, dass sie verteidigen werden wie die Löwen, dass man sie nicht zu packen kriegen wird. Oder wie bei deutschen Mannschaften, bei denen man immer damit rechnen muss, dass sie in der letzten Minute ausgleichen oder gewinnen. Man wusste, dass es so war. Oder englische Mittelstreckenläufer, die man erst dann geschlagen hatte, wenn man die Ziellinie überquerte. Die Jugoslawen waren in allen Mannschaftssportarten so. Egal, wie viele Treffer man bei ihnen landete, sie steckten alles weg und lauerten auf ihre Chance. Die meisten Teams vom Balkan haben sich diesen Kampfgeist bewahrt.
Ich glaube, dass die großen Fußballmannschaften sich diesen Kampfgeist wieder aneignen müssen, erarbeiten, entwickeln. Erinnere dich, wie es uns letztes Jahr in Madrid ergangen ist. Gut, wir hatten Ausfälle, Verletzte, Probleme, aber wir hatten nur mit einem Tor Unterschied verloren. Wir verließen das Bernabéu mit dem Gefühl, eine große Gelegenheit verpasst zu haben, eine Partie verloren zu haben, in der wir sehr gut gespielt hatten, bei der wir mindestens ein Unentschieden verdient gehabt hätten. Aber ein 0:1 ist kein schlechtes Ergebnis. Ich will dir was sagen: Wenn es darum geht, ins Champions-League-Finale zu kommen, finde ich es nicht so schlimm, im Rückspiel in der 70. Minute noch ein Tor schießen zu müssen, um in die Verlängerung zu kommen.
Doch wir sind ungeduldig und wollen mehr. Wir sind groß und ehrgeizig und wollen mehr. Und dann kommt der Schlag, eine Ecke, die wir nicht hätten zulassen dürfen, und wir fangen uns ein Tor. Die Sache wird kompliziert. Und dann ein Foul, das wir nicht hätten begehen sollen. Noch ein Schlag. Und wir brechen ein. Weil wir sonst nie Schläge abkriegen, sondern immer nur austeilen. Und schon liegen wir am Boden.
Es gibt heute viele große Teams, es ist also nicht das Problem eines bestimmten Spielertyps, eines Trainers oder einer Taktik. Die großen Teams von heute sind größer denn je, deshalb stellen sie in ihren Ligen alle möglichen Rekorde ein. Punktrekorde, Torrekorde, Serien ohne Niederlagen, Serien ohne Gegentor. Die Teams werden immer größer, und je größer sie werden, desto weniger können sie sich vorstellen, dass man auch mal stolpern kann. Und wenn sie dann stolpern, zack, dann wissen sie nicht, wie man an die Rettungsweste kommt.
Vielleicht liege ich völlig falsch mit meiner These, aber mir will scheinen, dass es genauso ist, dass die großen Teams wieder den Kampfgeist der Jugoslawen entwickeln sollten. Du hast einen Schlag abbekommen, okay, halte durch, wehr dich, schluck das Blut runter, denk an nichts, nicht an den Plan, der nicht aufgegangen ist, nicht, dass es ungerecht ist, unverdient, dass du der Favorit warst. An nichts. Denk an nichts, greif zum Ruder und rudere los. Rudere, bis einige Minuten vorbei sind, versuch, das Resultat zu halten. Sorg dafür, dass einige Minuten vergehen, dass du nicht endgültig k. o. geschlagen wirst. Du liegst 0:1 hinten, okay, das tut weh, nervt, aber halte dieses 0:1. Denn vielleicht rettest du dich in die 75. Minute, und dann kann alles passieren. Vielleicht geht dann dein Gegner in die Knie, oder du erzielst einen Glückstreffer. Alles ändert sich, und du bist plötzlich derjenige, der den Gegner zu Boden schickt.
Na ja, vielleicht ist das alles Quatsch, was ich da erzähle, aber mir scheint ein Körnchen Wahrheit darin zu stecken. Und wenn dem so ist, sollten die großen Teams, die Spieler und Trainer der großen Teams sich besser auf solche Situationen vorbereiten, für den Fall, dass sie auf einen Gegner treffen, der ihnen auf Augenhöhe begegnet, und ihr Plan vielleicht nicht aufgeht und sie sich als Jugoslawen verkleiden müssen.«