Marion Fugléwicz-Bren
Das Philo.Blog.Buch
Aus der Reihe „Die Philosophen kommen“
Impressum
© 2016 Marion Fugléwicz-Bren
Umschlag, Illustration: Melanie Reder und Marion Fugléwicz-Bren
Lektorat, Korrektorat: Melanie Reder
ISBN: | 978-3-7345-6862-6 (Paperback) |
978-3-7345-6863-3 (Hardcover) | |
978-3-7345-6864-0 (e-Book) |
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Mein Sinn ist tiefer als das witzige Spiel
mit unsrer Furcht, darin er sich gefällt.
Ich bin die Welt, aus der er irrend fiel.“
(Rainer Maria Rilke. Aus dem Gedicht: Der kleine Tod)
Dank an die Malerin Sabine Haidner für ihr Bild Homo sapiens.
Auszeit. Wer würde sich keine solche wünschen – in unruhigen Zeiten wie diesen. Amokläufe, Bürgerkriege, Terroranschläge, unzählige Menschen auf der Flucht. Soziale Spannungen und Ängste allerorten. „Wir leben in bewegten Zeiten“, konstatiert der Kulturphilosoph Konrad Paul Liessmann etwa in seiner diesjährigen Festrede zu den Salzburger Festspielen.
Unterstützt von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, „ ... die uns all dies hautnah, im Live-Stream erleben lassen. Nahezu reflexartig stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch möglich ist, sich in solchen Zeiten ruhigen Gewissens dem Schönen und der Kunst, der Feier des ästhetischen Augenblicks und dem Genuss eines rauschenden Festes (wie auch der Philosophie, Anm.) hinzugeben. Müsste nicht die Kunst selbst angesichts dieses Weltzustandes wenn nicht verstummen, so doch ihre Stimme in einem politischen Sinne erheben, müsste sie nicht eingreifen, zumindest aufmerksam machen, über sich hinausweisen auf jene unerträglichen Zustände, müsste sie nicht die aufrüttelnde Aktion anstelle der Verehrung des Schönen setzen?“ fragt Liessmann. Wir leben in bewegten Zeiten, meint er, „doch das ist nichts Neues“. Und er erinnert an die Wirren der Napoleonischen Kriege und wie Friedrich Hölderlin sie durch seine Poesie zu bekämpfen suchte und er erzählt, wie Theodor Adorno 1967 im heißen Berliner Sommer von Anarchie und Revolution über Goethe sprach, anstatt über die aktuelle politische Lage. Und er fragt, ob das „Gelingen aus Freiheit“ nicht „ ... eine wunderbare Formel sein könnte, was Kunst im besten Sinne sein kann?“
Aber wann lassen sich Kunst oder Philosophie überhaupt wahrnehmen, geschweige denn genießen im niemals endenden Arbeitsalltag unseres heutigen Lebens? Der vermeintliche Segen der permanenten Erreichbarkeit an jeglichem Ort ist mittlerweile auch schon als äußerst zweifelhafter Luxus entlarvt. Das zunehmende Verschwimmen von Berufs- und Privatleben ist erstens nicht jedermanns Sache und zweitens lässt es eben auch kaum mehr Auszeiten zu.
Einer meiner Professoren begeisterte mich, als ich nach meiner Matura am Philosophischen Institut inskribierte, mit seiner Aussage, man brauche für dieses Fach unbedingte Relaxiertheit, weshalb er mit seinen Seminaren niemals vor 14 Uhr starten würde. Freilich entflammte mich diese Haltung aus mehreren Gründen. Ja, auch aus genau denen, die man einer 18-jährigen Schülerin unterstellt, die immer den Ruf gehabt hatte, faul zu sein. Und leben konnte ich das Gemeinte im Berufsleben freilich nicht. Dennoch glaube ich heute nicht, dass es ein Luxus gewesen war, so zu denken. Ich erinnere mich, dass ich in den 80erJahren beseelt von manch amerikanischem Konzern war, der sich „Think Tanks“, Visionäre und Vordenker aus verschiedenen Fakultäten leistete – ob es Philip Morris war oder Rank Xerox – man wusste dort um die Notwendigkeit des Zurücklehnens und den Blick der anderen Perspektiven, weil nur aus diesen Neues entstehen konnte. Nun die unbestrittene wirtschaftliche Vormachtstellung des Silicon Valley mag auch mit dieser Einstellung zu tun haben.
Alle suchen heute nach Antworten. Nach dem Richtig und Falsch, nach alten und neuen Identitäten, einem neuen Wir, nach dem Warum, nach dem Wie, nach dem, was Sache ist. Aber um Antworten zu finden, muss man erst mal zu sich selbst kommen. Entscheidungen, gute wohlgemerkt, brauchen Zeit. Doch wer hat die schon?
Zeitnot ist Zeitgeist
Zeit zu haben, ist heute zuallererst mal verdächtig. Schließlich muss auch immer mehr und noch mehr hineingepackt werden in unsere Lebenszeit. Sonst haben wir nicht alle Chancen genützt, nicht alle To-do-Listen abgehakt. Um unser Leben letztlich so gelebt zu haben, wie wir es leben wollten. Die Sehnsucht nach Auszeit, nach dem „Aus-der-Zeit-Fallen“ überkommt Menschen in unserer Zeit immer öfter. Je krisengeschüttelter, komplexer und fordernder unsere Umgebung wird, unsere Arbeitswelt und unser persönliches Umfeld, umso mehr sehnt sich der heutige Mensch nach Stille, innerer Einkehr und Entschleunigung.
Und wenn die Langsamkeit zu zäh und die Stille zu laut wird? Viele Menschen ertragen die Stille gar nicht gut.
Die Zeit ist übrigens immer aktuell. Der Philosoph und Autor Rüdiger Safranski etwa hat in seinem neuen Buch „Zeit“ ein neues großartiges Werk geschaffen. Inhaltlich vielschichtig und voller Sprachästhetik, die seinen Büchern und Vorträgen generell zugrunde liegt. Mit zahlreichen Verweisen auf Autoren und Philosophen, die sich dem Phänomen Zeit gewidmet haben. Facettenreich beschreibt er „ ...das Spannungsfeld zwischen Vergehen und Beharren und ermuntert uns, aufmerksam mit diesem wertvollen Gut umzugehen – damit nicht nur die Zeit mit uns etwas macht, sondern auch wir etwas aus ihr machen“, heißt es im Klappentext des Buches.
Safranski hat sein Buch in zehn Kapitel gegliedert: „Zeit der Langeweile“, „Zeit des Anfangens“, „Zeit der Sorge“, „Vergesellschaftete Zeit“, „Bewirtschaftete Zeit“, „Lebenszeit und Weltzeit“, „Weltraumzeit“, „Eigenzeit“, „Spiel mit der Zeit“, „Erfüllte Zeit und Ewigkeit“.
Am Ende wird nichts bleiben, so Safranski über die Weltzeit und zitiert dafür „einen schönen Ausdruck Hegels: Die Furie des Verschwindens“.
Die Zeit gehört niemandem.
Sie vergeht einfach, heißt es in der Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe des Magazins „Hohe Luft“1. Außerdem ist die Zeit knapp – und das sei gut für unser Leben, postuliert der Artikel. Denn ... „... erst durch Deadlines bekommt unser Leben einen Sinn“. Eine Reihe verschiedener Positionen werden aufgezeigt, aus soziologisch-philosophischer wie auch naturwissenschaftlicher Sicht. Und während etwa Anfang des 20. Jahrhunderts der große Physiker Albert Einstein Zeit und Raum in den Formelgebäuden seiner Relativitätstheorie zu fassen suchte, wollte der französische Philosoph Henri Bergson verstehen, wie wir die Zeit erleben.
Raum entsteht durch Simultanität der Dinge, behauptete er: „... Zeit entsteht, wenn Dauer (dureé) hinzukommt. Dauer ist fundamental. Sie entsteht, wenn das Bewusstsein Gleichheit in der Verschiedenheit findet. Dinge, die dauern und sich bewegen. ... Alles Gerede, fand Einstein.“ 2
Ergo, da Menschen nun mal nicht wie Uhren ticken, kommt es zu Konflikten zwischen erlebter und chronologischer Zeit, soweit klar. Eine Zeit, die wir wahrnehmen können, die wir zu kurz oder zu lang wahrnehmen können, entsteht erst, indem wir Dinge gemeinsam tun, indem wir Erwartungen und Erinnerungen teilen... so gelingt, was Physikern nie gelingen wird: Wir zaubern Zeit aus dem Nichts und können so unserer chronischen Zeitknappheit entrinnen. Doch das funktioniert nur, wenn wir unsere erlebte Zeit mit dem Erleben der anderen synchronisieren – in der Liebe, in der Freundschaft, in der Zusammenarbeit.3 So der Tenor des Artikels.
Soweit, so gut. Aber wie steht es nun mit dem höchst eigenen Erleben?
„Auszeit“ bedeutet Innehalten
„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie“, so Hugo von Hofmannsthal.
Und Augustinus meinte dazu: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht“.
Zeit ist nun mal nicht Zeit – so banal das klingen mag. Denn das Zeitempfinden ist je nach Person und Lebensalter völlig unterschiedlich. Während der Alltag von berufstätigen Menschen mittleren Alters oft routinebedingt als gar nicht oder nicht richtig gelebt empfunden wird, erleben Kinder, die ständig in Bewegung sind, alles neu und ein Tag kommt ihnen oft wie eine Ewigkeit vor. Ob jung oder alt: Erlauben wir uns auch genügend Pausen – wovon auch immer?
Der Begriff „Auszeit“ ist also sprachlich, philosophisch und physikalisch höchst widersprüchlich und dennoch kann sich jeder etwas darunter vorstellen. Vielleicht kann man ihn am ehesten mit dem Begriff des „Innehaltens“ erklären.
Der österreichische Philosoph und emeritierte Hochschullehrer Peter Heintel umreißt in seinem gleichnamigen Buch4 aus dem Jahr 1999(!) den Begriff sehr schön:
„ ... sich im Fluß der Zeit eine „Auszeit“ zu gestatten, am Ort zu bleiben, das Treiben rundherum für einen Augenblick zu verlassen, sein zu lassen; sich also den immer schneller werdenden Bewegungen, den verdichteten, aufgefüllten Abfolgen in der Zeit zu entziehen, sich von ihnen nicht mitreißen zu lassen, sich ihnen entgegenzustellen. Daß alles immer schneller wird, immer konzentrierter aufeinanderfolgt, daß Hektik und Aktionismus unseren Alltag in Arbeit und Freizeit immer mehr durchdringen, hören wir von allen Seiten. Viele leiden unter diesem Zeitstreß, einige aber sagen uns, daß nur die Schnellsten überleben und vorankommen“.
Heintel ist übrigens auch Gründungsmitglied des Vereins zur Verzögerung der Zeit, der rund 600 Mitglieder zählt. Ein Interview mit Mag. Robert Lauritsch zum Thema Innehalten! Wie ticken wir eigentlich? habe ich in meinem Blog veröffentlicht, Sie finden es hier im Buch.
„To be“ statt „to do“
Man hat Sterbende befragt, was sie am meisten bereuen und die Antworten waren alle sehr ähnlich: Wenn man denn mit dem Tod konfrontiert ist, zählen Macht, Geld oder Ruhm nicht mehr. Man fragt sich vielmehr, ob man genügend Zeit mit Familie und Freunden verbracht hat? Ob man nicht zu viel gearbeitet hat, beziehungsweise, ob es nicht klüger gewesen wäre, mehr Zeit für sich selbst gehabt zu haben? Ob man nicht mehr Mut gebraucht hätte, um die Dinge zu tun, die man eigentlich gewollt hätte? Der Wunsch nach weniger Arbeit und mehr Privatsphäre oder mehr Beschäftigung mit Dingen, die einem persönlich wichtig sind, stand jedenfalls ganz oben. Mehr Zeit gehabt zu haben. Oder vielmehr: Diese besser genützt zu haben.
Was hindert uns daran, das zu tun, was wir eigentlich wollen? Wer versucht uns zu manipulieren, zu ängstigen und zu demoralisieren? Fragen zu politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Machtstrukturen, auf die man täglich Antworten erhält, wenn man die Augen dafür öffnet.
Der Wiener Philosoph Robert Pfaller ist ein Kritiker der von Askese geprägten Gegenwart. Die Menschen sind derzeit verängstigt genug, um sich zuerst die Frage zu stellen, was sie tun müssen, um nicht zu sterben. Erst danach fragen sie sich, wenn überhaupt noch, was sie vom Leben haben möchten, so Pfaller. „Wir haben mittlerweile ein gestörtes Verhältnis zum Genuss“, meint er. Auch von einer „Maßlosigkeit im Mäßigen“ hat er schon gesprochen - und in seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ (S. Fischer Verlag) vor allem von dem, was wir uns selbst verbieten. Pfaller verteidigt leidenschaftlich in seinen Büchern und Vorträgen das „Grundrecht auf Genuss“. Ich habe ihn oftmals in meinem Blog zitiert und Interviews mit ihm veröffentlicht (siehe Blog und Bücher).
„Das Gebot der Kultur bestehe nun darin, uns zu helfen, die Schranken, die wir uns selbst auferlegen, zu überwinden. Die Frage wofür es sich zu leben lohnt, sei ein ethischer Akt und wird noch weitergeführt – man solle sich die Frage regelmäßig stellen. Und: „Wir dürfen uns dabei nicht von der universellen Panik erfassen lassen – ob Panik der Nachhaltigkeit, Kosteneffizienz, Gesundheit, Sicherheit – Paniken umzingeln uns und verwandeln das Leben in eine vorzeitige Leichenstarre”, so Pfaller. (Aus „Die Philosophen kommen“, 2013 von Marion Fugléwicz-Bren)
Ein Spruch, der einer britischen Palliativmedizinerin zugeschrieben wird und der auch als Filmtitel verwendet wurde, veranschaulicht recht treffend, was wir uns hin und wieder bewusst machen sollten: „Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben“.
In diesem Sinne: Mehr Aus.Zeit – vielleicht schon mal mit diesem Buch – wünscht sich und Ihnen
Marion Fugléwicz-Bren
Postskriptum: Ich habe darüber nachgedacht und auch diskutiert, ob und wie sich das Medium Blog in einem Buch abbilden lässt, was per se schon eine große Herausforderung darstellt. Etwa weil es nicht so klar auf der Hand liegt, wie das Inhaltsverzeichnis eines Blogs zu ordnen sei? Nach zeitlichen oder inhaltlichen Kriterien? Letztlich entschied ich mich dann doch für die chronologische Variante. Auch die Zeitachse ist eine Form der Struktur. Und damit gibt´s schon wieder ein neues Thema im Kopf… ;-)
Anm.: Sämtliche Personenbezeichnungen in diesem Buch sind geschlechtsneutral gemeint: Sie gelten sowohl für männliche als auch für weibliche Personen
„Wir leben in bewegten Zeiten. Doch das ist nichts Neues“.
Redner der Salzburger Festspiele sind traditionell meist große philosophische Kaliber… ich erinnere mich etwa gern an George Steiner oder Rüdiger Safranski.
Heuer war es Konrad Paul Liessmann, der eine flammende Rede hielt – über den Wert und die Notwendigkeit von Kunst in unruhigen Zeiten. „Die Wahrheit ist hässlich: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn“, sagt Friedrich Nietzsche. Was aber heißt das? Liessmann stellt nicht nur Fragen, er gibt auch Antworten.
Und er zitiert unter anderem Friedrich Hölderlin, der in den Wirren der Napoleonischen Kriege eine Ode an die Parzen, ein verzweifeltes Gebet an seine Schicksalsgöttinnen richtete:
Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.
Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heil’ge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinab geleitet; Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
Und mehr bedarfs nicht? Wirklich nicht? Im Netz gibt´s die ganze Rede.