Meinrad Ziegler
Waltraud Kannonier-Finster
Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit
Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit
Helmut Konrad
Vorwort zur Neuausgabe
Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler
Editorische Notiz
Ruth Wodak
Österreichische Identitäten und österreichische Gedächtnisse
Mario Erdheim
„I hab manchmal furchtbare Träume …
Man vergißts Gott sei Dank immer glei …“ (Herr Karl)
Einleitung und Ausgangspunkte 1993
Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler
I. Gedächtnis und Geschichte
Meinrad Ziegler
NS-Vergangenheit und österreichisches Geschichtsbild
Kollektives Gedächtnis: ein Blick auf die öffentlichen Formen der Erinnerung
Individuelle Erinnerung und kollektives Gedächtnis
II. Gespräche über die NS-Vergangenheit
Waltraud Kannonier-Finster, Marlene Weiterschan und Meinrad Ziegler
Von Enttäuschungen, die nicht Ent-Täuschung sind
Der „überflüssige“ Krieg und die Lebendigkeit der militärischen Realität
Erinnern und Vergessen in der Nachbarschaft des Konzentrationslagers
Ein Prozess der Loslösung: Scham und Abwehr von Scham
Eine abgesperrte Vergangenheit, die fremd bleibt
III. Ein stillschweigendes Übereinkommen
Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler
IV. Methodische Konzeption: Interviews, Geschichten, szenisches Verstehen
Meinrad Ziegler
Literatur
Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler
Postskriptum 2016
Autorinnen und Autoren
1990 ist in Österreich unter dem Titel „Österreich und Deutschlands Größe“ ein Sammelband erschienen, in dem die ambivalenten und vielschichtigen Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland aus aktueller Sicht, also unter dem Eindruck der Öffnung der Grenzen zu den ehemals kommunistischen Nachbarstaaten, diskutiert werden. Die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi schreibt dort: „Die Zweite Republik war bisher ein selbstgenügsames Gebilde, klein, wohlhabend und eher langweilig, ein Land der Berge, Land am Strome ohne Geschichte und offene Fragen. Von seinen Nachbarn Böhmen und Ungarn, die jahrhundertelang seine Existenz geprägt und zugleich in Frage gestellt hatten, war es durch den Eisernen Vorhang getrennt. Einer Auseinandersetzung mit diesem, dem ‚großösterreichischen‘ Teil seiner Geschichte, war das klein gewordene Land damit auf bequeme Weise enthoben. Und vom anderen geschichtsmächtigen Nachbarn, Deutschland, trennte uns der Ausgang des Krieges, der Deutschland die Rolle des Täters und Österreich die Rolle des Opfers zuzuweisen schien. Es war eine wenig spannende, aber erholsame Epoche: die Sozialpartnerschaft funktionierte, die jüdischen Emigranten, die unangenehme Fragen hätten stellen können, waren draußen geblieben, die Deutschnationalen und ‚ewig Gestrigen‘ blieben unter sich und hielten still. Die Waldheim-Debatte hat der Legende von Österreich als Opfer des Nationalsozialismus ein Ende gemacht. Seither haben wir zum Thema der österreichischen Rolle bei der Judenverfolgung ein wenig Nachhilfeunterricht genommen“ (Coudenhove-Kalergi 1990, S. 59).
Die Geschichte hat das „Land ohne Geschichte“ eingeholt. Es stellte sich heraus, dass etwas nicht stimmt mit dem einfachen Bild von Österreich, das 1938 das erste Opfer des nationalsozialistischen Deutschen Reiches geworden war und sonst gar nichts. Die Diskussion, die rund um die Wahl des Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim und das Bedenkjahr 1988 entbrannte, war nicht die erste und einzige Auseinandersetzung, die in der Zweiten Republik über das Verhältnis Österreichs zu seiner NS-Vergangenheit geführt wurde. Nur waren bis dahin diese Diskussionen durch kurzes, heftiges Aufflackern und nachfolgendes, rasches und rückstandsloses Verlöschen gekennzeichnet. Dieses Mal war der Streit intensiver und anhaltender, und, so scheint es, fruchtbarer und politisch folgenreicher. Es zeigen sich Chancen, dass die realitätsarme Einfachheit in realistische Differenziertheit übergeht.
Es besteht eine problematische Diskrepanz zwischen dem nach 1945 institutionalisierten Deutungsmustern zu dieser Geschichtsperiode und dem, was 1938 und danach das offensichtliche Erleben und Handeln einer Mehrheit der Bevölkerung war. Mit der „Moskauer Deklaration“ vom November 1943 bestätigten die Alliierten den Status Österreichs als erstes Opfer des Nationalsozialismus. Auf dieser Grundlage gelingt es, diese Zeit in Österreich ausschließlich unter dem Aspekt einer Fremdherrschaft zu thematisieren. Diese Perspektive des Opfers konstituiert das, was wir hier offizielles Geschichtsbild nennen wollen. Ein solches Bild stellt eine grundlegende Gesamtschau dar, die sowohl die Einordnung einzelner Phänomene wie auch eine Sinngebung des Vergangenen erlaubt. Der Sinn wird vom jeweiligen Gegenwartsverständnis, also den aktuellen Erkenntnisinteressen, hergeleitet und von da ausgehend der Vergangenheit unterstellt. Dieses Geschichtsbild widerspricht auch nicht völlig der Wirklichkeit. Als Staatsgebilde und Gefüge von Institutionen war Österreich 1938 tatsächlich ein Opfer der äußeren Gewalt. Für das Empfinden großer Teile der Bevölkerung trifft das jedoch in dieser Form nicht zu. Der „Anschluss“ war ein komplexerer Vorgang als eine bloß militärische Okkupation. Wir zitieren Gerhard Botz, der versucht, die Vielschichtigkeit des Geschehens auf den Begriff zu bringen: „Natürlich dominierten in der Realisierung des nationalsozialistischen ‚Anschlusses‘ die außenpolitische Erpressung, die militärische Drohung und das Element des Einmarsches der Deutschen Wehrmacht; dagegen gab es kaum ein erfolgversprechendes Verteidigungsmittel. Aber neben diesem äußeren Faktor gab es auch einen Prozeß der Machtübernahme von innen heraus, und zwar von oben und von unten. Denn einerseits war der Nationalsozialismus in die Positionen der höheren Staatsbürokratie und privaten Wirtschaftsverwaltung, selbst in Regierungspositionen, eingedrungen und konnte von hier unter Ausnutzung der autoritär-diktatorischen Strukturen scheinlegal die gewalttätigen Aktionen seiner Anhänger unterstützen und legitimieren. Andererseits war der ‚12. März 1938‘ eine Art Aufstandsbewegung, wenngleich gesteuert und durchaus auch von der NSDAP kontrolliert und ins Leben gerufen, aber immerhin eine aufstandsartige Erhebung von unten her, die dazu führte, daß zeitweise die in ihrem Abwehrwillen schon sehr geschwächte österreichische Exekutive total gelähmt wurde (…)“ (Botz 1986/87, S. 23). Die verbreitete Begeisterung für den „Anschluss“ ist vor dem Hintergrund eines deutschen Nationalgefühls zu sehen, welches in dieser Zeit in Österreich vorherrschend war. Dennoch galt der Zuspruch nicht nur Deutschland, sondern auch dem konkreten politischen und ideologischen System. Jedenfalls ist diesbezüglich in Österreich kaum ein höheres Ausmaß an Distanz und Vorbehalt wie in Deutschland zu beobachten. Bestimmte Verhaltensformen von vielen Österreichern unter der NS-Gewaltherrschaft sind anders als auf der Basis von Akzeptanz und Arrangement kaum verständlich. Botz nennt als Indizien: den Prozentsatz der Parteimitglieder, der in Österreich einen höheren Wert erreichte als im „Altreich“, den exzessiven Antisemitismus, die Dienste der Männer in der Deutschen Wehrmacht, die ohne nennenswerte Formen der Resistenz geleistet wurden.
Die Wahrnehmung dieser Verhaltensweisen wurde durch das offizielle Geschichtsbild unterdrückt, sie waren nicht erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig. Bis in die 70er Jahre lag der Schwerpunkt der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit auf Themen, die von der Frage nach der Differenz, nicht aber nach der Gemeinsamkeit zwischen österreichischer Gesellschaft und Nationalsozialismus getragen waren. Wie sei der Widerstand des ständestaatlichen Regimes gegen den „Anschluss“ einzuschätzen; wie das Ausmaß der Unterstützung, die die unmittelbar vor dem 12. März von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg angesetzte Pro-Österreich-Volksabstimmung gefunden hätte; wie das Ausmaß des Widerstandes gegen das NS-Regime, der, wenn auch nicht so sichtbar wie der Jubel, doch auch gegeben war? Solche Fragestellungen entsprechen den Schwerpunkten, die die Zweite Republik hinsichtlich der historischen Anknüpfungspunkte für eine politische Neuorientierung nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus legte. Die Konsequenzen aus der Geschichte werden nicht unmittelbar mit Blick auf den Nationalsozialismus gezogen, sondern aus jener gesellschaftlichen Entwicklung, von der man annahm, dass sie ihn ermöglicht habe: einerseits das Auseinanderbrechen der politischen Lager im Jahr 1933, die Entdemokratisierung der Ersten Republik und schließlich die gewaltsame Durchsetzung des autoritären „Ständestaates“ im Jahre 1934; andererseits die geringe Verankerung eines eindeutig österreichischen Staatsbewusstseins. Auf diesen beiden Achsen ruhten die grundlegenden Orientierungen, die die Geschichte korrigieren sollten. Die „Fragmentierung“ der österreichischen Gesellschaft (vgl.Pelinka 1987, S. 146), das Gegeneinander von politischem Katholizismus und Marxismus, wurde beseitigt: „Die Repräsentanten der Eliten der beiden Lager hatten aus der Geschichte gelernt – sie schlossen einen umfassenden Kompromiß, sie teilten die Gesellschaft auf, sie beteiligten einander an der Macht, sie garantierten einander Mäßigung. Die Zweite Republik begann, durchaus erfolgreich, als Elitenkartell zwischen den alten Kräften der beiden alten, großen Lager.“ Und die zweite Achse: Rund um den Staatsvertrag und die Neutralität wurde ein Bewusstsein von Eigenstaatlichkeit und Nationalgefühl entwickelt, wie es Österreich vor 1945 nicht gekannt hatte. Die Erfahrungen unter dem nationalsozialistischen Deutschland hatte die „deutsche Option“ für Österreich erledigt. Verbunden mit diesen Orientierungen war die Deutung des Nationalsozialismus als Ereignis außerhalb der eigentlich österreichischen Entwicklung. Der Nationalsozialismus wurde „externalisiert“ (vgl. Lepsius 1989, S.250). Er gehörte in die Geschichte Deutschlands, nicht in diejenige Österreichs.
Sozialpartnerschaft und österreichisches Nationalgefühl erhalten – vor allem in den ersten Jahren der Zweiten Republik – allerdings auch Züge von zwanghaften Gegenbesetzungen, die an die Stelle von Erfahrungen treten, die unbewusst gemacht werden sollen. Die Genügsamkeit, von der Coudenhove-Kalergi spricht, hat ihre Grundlage nicht in Selbstsicherheit oder Selbstbewusstheit, nicht in der Lösung, sondern in der Aussperrung von offenen Fragen. „Provinziell und krampfig“ bezeichnet sie an anderer Stelle (Coudenhove-Kalergi 1990, S. 57) das Österreichertum der 50er Jahre. Es ist, als ob man sich mit den beiden Achsen gegen etwas schützen wollte, was mit peinlichen Gefühlen verbunden wäre. Wir zitieren aus einem Text von Ruth Beckermann, die als Stimme für das gelten kann, was mit dem Geschichtsbild externalisiert, ausgesperrt wird: „Das neue Österreich-Bild wurde aus einer Perspektive der Täter geschaffen, die sich als eine der Opfer ausgibt. Patriotismus wurde von allen exzessiv betrieben, auch von den Kommunisten, die 1933 als erste von einer historisch fundierten österreichischen Nation gesprochen hatten. Die Zeitung ‚Neues Österreich‘ unter der Leitung von Ernst Fischer schwelgte in einem homogenisierten Österreichbild. Rückblickend ging es allein um den Kampf um ein freies Österreich. (…) Was fühlte ein österreichischer Jude, der das las? Patriotismus hieß Einheit: Die Kommunisten verzichteten um der Einheit willen (und einer die realen Kräfteverhältnisse weit überschreitenden Beteiligung an der Macht im neuen Österreich) darauf, deutlich zu machen, daß sie wirklich antifaschistischen Widerstand geleistet hatten, der den der anderen Gruppen bei weitem übertraf. Die Sozialisten verzichteten auf den Klassenkampf und die Konservativen auf öffentliche Dollfuß-Verehrung. Auf die Juden verzichteten sie alle“ (Beckermann 1989, S. 69).
Diese Art von patriotischer Selbstzufriedenheit, einer Selbstgenügsamkeit, die mit Ausgrenzen und Einschließen viel zu tun hat, war den Deutschen verbaut. Trotz aller Derealisierung, Verdrängung und sonstigen Mechanismen von Abwehr ist dort der Nationalsozialismus in die politischen und moralischen Grundlagen der Bundesrepublik eingegangen. Bei dem deutschen Soziologen Rainer Lepsius (1989) finden wir einen Vergleich darüber, wie die ähnliche historische Erfahrung bei den ehemals zum „Großdeutschen Reich“ gehörenden Staaten jeweils unterschiedliche kollektive Selbstwerte hervorgebracht hat. Lepsius stellt dabei im Hinblick auf die Zurechnungsproblematik Österreich praktisch unterschiedslos neben die beiden deutschen Nachfolgestaaten des Hitler-Reiches. Damit übergeht er die grundsätzliche Differenz, die bei Konstituierung und Entwicklung des nationalsozialistischen Staates zwischen Deutschland und Österreich geltend zu machen ist. Wichtig und erhellend erscheint uns aber an dieser Stelle der Vergleich über die Art und Weise, wie auf der Ebene des politischen Systems die Erfahrung des Nationalsozialismus den Neubeginn nach 1945 beeinflusst hat.
Auch die deutschen Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ standen vor der Notwendigkeit, sich in historischen Ereignissen, die vor der Machtergreifung Hitlers lagen, Anknüpfungspunkte für die gewünschte politische Ordnung zu suchen. Für die nachmalige DDR wurde die nicht erfolgreich vollzogene sozialistische Revolution von 1918/1919 zum Bezugsereignis. Diese sollte nun nachgeholt werden. Mit dem Übergang zu einem anderen Typus von Gesellschaft ist für den neuen Staat auch jede Verbindung zum Nationalsozialismus abgeschnitten. Da man diesen als Stufe des Kapitalismus sieht, wird er der Geschichte und Entwicklung der kapitalistisch verbliebenen Bundesrepublik zugeordnet.
Der Westteil Deutschlands versteht sich dagegen als eine aus den Erfahrungen der Weimarer Republik erfolgreich wiederhergestellte parlamentarische Demokratie. Das Grundgesetz der BRD nimmt auf jene Entwicklungen Bezug, die ab 1930 zur Erosion der Demokratie und schließlich zum Zusammenbruch der Republik geführt hatten, insbesondere wurden die Kompetenzen des Präsidenten der Republik beseitigt. Der bekannte Spruch „Bonn ist nicht Weimar“ ist in diesem Kontext zugleich als Mahnung wie als Zielvorgabe zu verstehen. Eine Strategie der Externalisierung war der BRD verbaut. „Der Nationalsozialismus sollte (…) durch Institutionenreform des politischen Systems und den Aufbau von demokratischen Wertüberzeugungen überwunden werden. Er diente daher als dauernde Mahnung und Vergleichsmaßstab angesichts von nicht-funktionierenden institutionellen politischen Ordnungen (etwa der NPD-Wahlerfolge) oder bei sichtbaren Mängeln der demokratischen und politischen Wertüberzeugungen bei Individuen oder Gruppen. Insofern behielt der Nationalsozialismus in der Bundesrepublik die größte Relevanz (im Vergleich zu Österreich und der damaligen DDR; d. Verf.) für die Selbstreflexion des politischen Systems und blieb damit ein Bezugsereignis, auf das die verschiedenen Ereignisse bezogen werden konnten. Man kann daher sagen, der Nationalsozialismus ist in der Bundesrepublik normativ internalisiert worden“ (Lepsius 1989, S. 251; Hervorhebung im Original). Der Begriff der Internalisierung meint hier etwas anderes als eine moralisch umfassende Verarbeitung. Die Argumentation bezieht sich auf die Ebene sozialer Institutionen und nicht auf diejenige von Individuen. Auf institutioneller Ebene, so Lepsius, ist die Haftung der Bundesrepublik für die Folgen des „Dritten Reiches“ anerkannt. Und der Nationalsozialismus und seine Verbrechen sind in der politischen Kultur als normative Instanz akzeptiert. Jedenfalls können sich in entsprechenden Auseinandersetzungen auch Minderheiten immer wieder auf diese Instanz beziehen und wirksam Positionen von der Kollektivschuld und von der fortdauernden Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus entwickeln und aufrechterhalten. Dieser normativen Instanz unterliegen nationalsozialistische und antisemitische Äußerungen, auch bei Personen, die nicht in die Verbrechen des Regimes verwickelt waren. Nicht in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg, die durch Schweigen und Tabuisierung geprägt waren, aber heute wird das Eingeständnis des Mitläufertums durch die Normen der inzwischen entwickelten politischen Kultur eingefordert. Eine Leugnung führt jedenfalls in der politischen Öffentlichkeit zu negativen Konsequenzen. Es sind die Eigenschaften der mittlerweile gestärkten und bewährten Institutionen, die für den Einzelnen eine Entlastung aus der Rolle des Mitläufers bieten. Das Problem bei der Frage des Mitläufertums besteht darin, dass Individuen durch ihre Duldung und Unterstützung des NS-Regimes an einem Massenmord beteiligt waren, der entsprechend der politischen Ordnung des Nationalsozialismus nicht als kriminell, sondern als objektive Rechtshandlung galt. Lepsius spricht von „struktureller Anomie“, die nur durch Moralüberzeugungen überwunden werden konnte, die in der individuellen Persönlichkeit und im Widerspruch zur herrschenden sozialen Ordnung verankert sein mussten. Als durchschnittliches Massenverhalten könne dies nicht erwartet werden (vgl. Lepsius 1989, S. 260). Eine solche Überforderung des Individuums ist im Rahmen der neuen institutionellen Ordnung nicht mehr gegeben. Die Bindung an diese Ordnung, die Akzeptanz der neuen politischen Moral entlaste die Masse der Deutschen auch subjektiv von ihrem Mitläufertum.
Wir wollen die Überlegungen von Lepsius vorerst so stehen lassen und nur als Kontrastierung verwenden, um die Institutionalisierung von politischen Grundorientierungen und die Entwicklung von politischer Kultur in Österreich in ein schärferes Licht zu stellen. Die Externalisierung des Nationalsozialismus aus der österreichischen Geschichte wirkt auch dahingehend, dass dieser historischen Erfahrung nur eine marginale Bedeutung für die Selbstreflexion des politischen und gesellschaftlichen Systems nach 1945 zukam. Die neue politische Ordnung sah es nicht als Aufgabe, politische Werthaltungen zu institutionalisieren, die als klare abgrenzende Antwort auf das NS-System zu verstehen waren. Auf der Ebene des politischen Systems wurden Entscheidungen getroffen und Entscheidungsstrukturen entwickelt, die nicht geeignet waren, Vorgabe und Mahnung für die Herausbildung von neuen politischen Werthaltungen darzustellen. Das gilt bereits für Dr. Karl Renner, der sowohl 1938 den „Anschluss“ energisch begrüßt hatte, als auch 1945 überzeugend die Position von der Okkupation Österreichs vertrat und zum ersten Kanzler der Zweiten Republik gemacht wurde. Das gilt auch für die Entnazifizierung, die in einer Gesellschaft, die sich kollektiv als Opfer verstand, nahezu zwangsläufig zu einem stockenden und oberflächlichen Verfahren geraten musste. Und das gilt ebenso für die Ebene der materiellen Konsequenzen, die aus dem NS-Regime zu ziehen waren, ob es sich nun um sowjetische Ansprüche auf Deutsches Eigentum oder um Rückstellungen enteigneten Vermögens an österreichische Juden handelte. Nicht die schuldhafte Verstricktheit, sondern die Moral des Opfers prägte den Diskurs in allen diesen Fragen. Für die tatsächlichen Opfer war hier wenig Platz. Ihre Anerkennung hätte die Grundlagen des Selbstverständnisses der Zweiten Republik berührt und in der Öffentlichkeit nur schlechtes Gewissen hervorgerufen. „Ähnlich wie bei der Entnazifizierung waren es nicht die Gegner der Rückstellungsgesetzgebung, sondern ihre Verteidiger, die in der Defensive standen. Mit der Berufung auf einfache Sprüche, wie ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘ oder ‚Altes Unrecht sollte nicht durch neues ersetzt werden‘, konnten erstere sich als Moralisten aufspielen. Die Verteidiger des ‚Status quo‘ (in der Rückstellungsgesetzgebung; d. Verf.) hingegen sahen sich häufig gezwungen, ihre Standpunkte mit Zweckmäßigkeitsargumenten – wie etwa dem der ‚force majeure‘ der Besatzungsmacht oder der außenpolitischen Notwendigkeit – zu verteidigen. So wurde das moralische Hochterrain von den Befürwortern der Rückstellung und Entschädigung – auch an nicht-jüdische politisch Verfolgte – weitgehend preisgegeben“ (Knight 1988, S. 51). Wie sich dieser Diskurs im Detail entfaltete und verfestigte, versuchen wir in einem folgenden Abschnitt anhand von Kommentaren in den regionalen Tages- und Wochenzeitungen zu verschiedenen Anlässen des Gedenkens an die NS-Vergangenheit nachzuzeichnen. Hier möchten wir festhalten, dass das Geschichtsbild vom Opfer Österreich geeignet ist, eine politische Kultur der Flucht aus der Verantwortung zu institutionalisieren. Unter politischer Kultur verstehen wir Verhaltensorientierungen auf der Grundlage von bestimmten Denk- und Glaubensmustern, Wertbeziehungen und Ordnungsvorstellungen, die für eine Gesellschaft als typisch gelten können. Sie entsteht nicht durch Vereinbarung, sondern in einem wechselseitigen Prozess der Prägung zwischen institutionellen Regelungen und Maßstäben des Verhaltens, die auf die institutionelle Ebene bezogen sind. „Wertorientierungen für politisches Verhalten werden durch die Rahmenbedingungen, die Institutionen setzen, konkretisiert und entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit den Wirkungen dieser Institutionen“ (Lepsius 1990, S. 63). Die Institutionen benötigen Wertbindungen, die sie legitimieren und aufrechterhalten. Und umgekehrt brauchen die Wertorientierungen Institutionen für ihre dauerhafte Geltung. In jenem Ausmaß, in dem die politischen Institutionen ihre Legitimität gegenüber der Erfahrung des Nationalsozialismus in der Opferrolle zu verankern suchen, wird es in der politischen Kultur zu einem strukturellen Mangel an moralischen Kriterien zur Beurteilung konkreten Verhaltens unter diesem Regime kommen, das mit der Kategorie des Opfers nicht adäquat beschrieben ist. Das Opfer ist als solches entlastet. Mehr noch: Der Versuch, ausschließlich auf diesem Weg zu einer moralischen Legitimation gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit zu kommen, birgt die Tendenz in sich, „das Opfer der österreichischen Bevölkerung auf eine Ebene mit dem der Juden zu bringen. Dadurch entstand aber zwangsläufig eine Bagatellisierung des Holocausts“ (Knight 1988, S. 58). Ist dieser Mechanismus, sich pauschal als Opfer zu präsentieren, auf der Ebene gesellschaftlicher Institutionen verankert, kann es in der Kultur kaum zu einem kollektiven Prozess der Herausbildung von Wertorientierung und Bewusstheit kommen, der eine Beurteilung individueller Handlungen unter dem NS-Regime erzwingt. Lepsius spricht für die Bundesrepublik davon, dass es in den Gründungsjahren einen Vorlauf in der Bildung neuer politischer Institutionen gegenüber der Herausbildung einer neuen politischen Kultur gegeben habe (vgl. Lepsius 1990, S. 63). Die demokratischen Institutionen waren nicht durch entsprechende Wertüberzeugungen der politischen Kultur gestützt. Erst nach einer Phase der Erstarrung sei es dahin gekommen, dass die Erfahrung des Nationalsozialismus eine Verankerung entsprechender Standards politischer Moralität gebracht hat. In Österreich kann man sich als Opfer darstellen oder fühlen und gleichzeitig beanspruchen, als moralisch integer betrachtet zu werden, auch wenn das konkrete Verhalten eines der Anpassung und der Wahrung des individuellen Vorteils unter den Bedingungen des NS-Gewaltregimes war. Dr. Kurt Waldheim, der 1986 gewählte Bundespräsident, war dafür ein Beispiel. Für die Mehrheit der Österreicher warf diese Widersprüchlichkeit keinerlei Probleme hinsichtlich der Moralität auf, sondern erwies sich im Gegenteil in hohem Ausmaß als identifikationsfähig. Großes Erstaunen und heftige Empörung kam auf, als diese moralische Prinzipienlosigkeit von der internationalen Öffentlichkeit bei einem Staatsoberhaupt nicht akzeptiert wurde.
Die Überlegungen von Lepsius enthalten aber auch eine Verkürzung, indem die Frage des individuellen Bewusstseins auf die Anpassung an die institutionalisierten Wertbezüge und Orientierungen reduziert wird. Es wird in Kategorien einer Selbstreflexivität von Institutionen gedacht, die die Selbstreflexivität der Individuen ersetzen soll. Dort, wo diese in der Verarbeitung der Vergangenheit überfordert erscheinen, tritt die Verarbeitung durch den Wandel der Institutionen an ihre Stelle. Institutionen aber können individuelle Bewusstheit nicht ersetzen, sondern diese lediglich fördern oder hemmen. Eine Analyse, die sich ausschließlich auf die Ebene der institutionellen Entwicklungen und Veränderungen bezieht, muss wesentliche Fragen offen lassen. Vor allem die Frage danach, wie tiefgehend der Wandel der politischen Institutionen die entsprechenden demokratischen Werthaltungen im Bewusstsein der Deutschen tatsächlich verankert hat. Ist also der Vorlauf, von dem Lepsius bei der Herausbildung der politischen Institutionen spricht, mittlerweile tatsächlich durch im allgemeinen Bewusstsein verankerte Wertüberzeugungen eingeholt? Oder muss nicht auch mit einem anhaltenden Auseinanderklaffen zwischen Institutionen und internalisierten Werten auf der Ebene allgemeiner Handlungsorientierungen gerechnet werden?
Eine analoge Problematik der Verkürzung findet sich aber auch in Bezug auf die Situation der Verarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich. Gemeint ist damit der Versuch, von den mit der Opferthese einhergehenden Mängeln in der Verarbeitung der Vergangenheit auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen umstandslos auf eine bestimmte Bewusstseinslage bei den Österreichern zu schließen. Einer solchen Schlussfolgerung gegenüber scheint uns Vorsicht angebracht zu sein. Wir würden sie lieber im Sinne einer offenen Frage verstehen als im Sinne einer gesicherten Behauptung. Das Prinzip der Nicht-Verantwortung auf der Grundlage des Opferstatus, das auf der Ebene politischer Institutionen verankert ist, hinterlässt auf der Ebene der Verhaltensorientierungen und Wertüberzeugungen vorerst einen kollektiv nicht geregelten Zustand. Es kommt zu keiner Herausbildung gemeinsamer moralischer Wertmaßstäbe, die vor allem das breite Phänomen des Mitläufertums reflektierbar machen würde, weil das institutionalisierte Geschichtsbild auf eine ganz andere Sachlage Bezug nimmt. Ebensowenig ist in den Kategorien dieses Bildes das Phänomen thematisierbar, dass viele Menschen in Österreich das Kriegsende, also die Niederlage der Deutschen Wehrmacht, nicht als Befreiung, sondern als Niederlage erlebt haben. Anton Pelinka (1987) spricht davon, dass es damit in Österreich zu einer Bewusstseinsspaltung, zu einer Verdoppelung der Realität gekommen sei: Auf der einen Seite das Österreich, das sich als Opfer der nationalsozialistischen Aggression darstellte; auf der anderen Seite die Realität jenes Österreichs, das selbst nationalsozialistisch war oder als „unpolitische“ Gefolgschaft des Regimes handelte und in der Wehrmacht oder auch in der Partei getan hatte, was es für seine Pflicht hielt. Dieses Bild von den zwei Seiten Österreichs wird nun vielfach in der Weise weitergezeichnet, dass das zweite Österreich – also jene Menschen, die sich damals mehr oder weniger mit dem System identifiziert oder sich mit ihm arrangiert hatten – die Basis für eine breite und anhaltende faschistoide Neigung in Österreich bildet. Exemplarisch zitieren wir aus dem Essay „Politik der Gefühle“ von Josef Haslinger: „Man ließ eine Teilung Österreichs in zwei Welten zu: in die Welt des offiziellen politischen Selbstverständnisses, das die alte republikanische Verfassung wieder einsetzte und mit den Alliierten über den Staatsvertrag verhandelte, und in die Welt der privaten Gefühlsbindungen und politischen Meinungen. Daß diese beiden Welten sich nicht säuberlich getrennt halten ließen, war bald offensichtlich: Viele politische Funktionäre und meinungsbildende Personen (…) waren Bewohner beider Welten. Die Hoffnung trog, daß eine neue politische Dynamik das emotionelle Beharrungsvermögen der im Sinn des Nationalsozialismus erzogenen oder als Mitläufer von ihm geprägten Personen auflösen könnte. Die emotionale Statik eines niemals von Grund auf in Frage gestellten Weltbildes brachte die politische Dynamik bald zum Erliegen. Der Verzicht auf politische Gegenagitation bedeutete, daß man die politische Gefühlsstruktur kampflos der jüngstvergangenen Agitation, nämlich der nationalsozialistischen, überließ“ (Haslinger 1988, S. 65f.). Nach Haslinger wird die zweite Welt von einem „braunen unterirdischen Fluß“ gespeist. Die Statik dieser Welt sei auf den Verzicht von inhaltlicher Auseinandersetzung gegenüber nationalsozialistischen Ressentiments gegen die Zweite Republik zurückzuführen.
Aus unserer Sicht wird hier in einer etwas globalen Weise von emotionaler Statik gesprochen. Richtig ist zweifellos, dass mit der Externalisierung des Nationalsozialismus ein Mangel an institutionell verankerten Regelungen herrschte, die zu einer Auseinandersetzung mit dem Vergangenen, seinen Idealen und Wertüberzeugungen zwangen. Dieser Mangel konstituierte eine politische Kultur der Unbewusstheit, verhinderte, dass durch entsprechende institutionelle Vorgaben eine Kultur der Bewusstheit durch Auseinandersetzung hätte entstehen können. Aber das bedeutet noch nicht, dass die Vergangenheit damit einfach fortgeschrieben wird, dass das zitierte zweite Österreich in Erstarrung verfiel und verharrte. Ein Stück davon, wie sich die Verarbeitung der NS-Vergangenheit unter den Bedingungen der Externalisierung des Nationalsozialismus und der strukturellen Nicht-Verantwortung darstellt, wollen wir mit unserer Arbeit sichtbar machen. So wie es unbefriedigend erscheint, für Deutschland umstandslos eine Entwicklung von einem institutionell internalisierten Nationalsozialismus zu einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel anzunehmen, so lückenhaft erscheint uns die Annahme eines umgekehrten Zusammenhangs für Österreich. Es ist die uns interessierende Frage, wie das Zurechtrichten der Vergangenheit in der Erinnerung, wie Wandlung oder Beharrung von Werthaltungen vor sich gehen und wie die Grenze zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit unter dem Einfluss einer institutionalisierten Nicht-Verantwortung für die NS-Zeit verläuft.
Hermeneutische Forschungsverfahren leben von der Öffnung des jeweiligen Gegenwartshorizonts der Interpretierenden hin zum Horizont des zeitlichen und räumlichen Ortes ihres Interpretationsgegenstandes. Eine solche Öffnung findet schon statt, wenn wir versuchen, mit Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich erlebt haben, ins Gespräch zu kommen, und uns bemühen, zu verstehen, was sie sagen beziehungsweise meinen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich weiterer gesellschaftlicher Kommunikationsformen zur Erarbeitung eines entsprechend erweiterten Horizontes zu bedienen. Dazu dient die Rekonstruktion der öffentlichen Erinnerung, die hier versucht wird. Unsere Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen stellen ihre Sichtweise der Ereignisse von damals und ihren Umgang mit diesen Ereignissen aus der Perspektive des Heute dar; in ihrer Rede, „so wie ich es heute verstehe“, sind unterschiedliche zeitliche und soziale Perspektiven eingeschlossen, oft sogar so sehr verschmolzen, dass sie in der Interpretation kaum zu trennen sind. Diese Perspektive ist auch individualisiert. Die vordergründig aufdringliche Individualität der subjektiven Erinnerung ist jedoch ein trügerischer Eindruck. Er übersieht den sozialen und kulturellen Rahmen, in dem sich die Rekonstruktion des Vergangenen durch die Einzelnen bewegt.
Das Gedächtnis hat eine Außen- und eine Innendimension (vgl. Assmann 1992). Die innere Seite ist Thema der Gehirnphysiologie, Neurologie und Psychologie, die Außenseite ist Gegenstand der historischen Kulturwissenschaften. Diese betrachten die Inhalte, die das Gedächtnis aufnimmt, die Organisierung der Inhalte, die Fähigkeit zum Behalten und Vergessen, nicht als Frage der inneren Kapazität und Steuerungstechnik, sondern als Frage äußerer, gesellschaftlicher und kultureller Rahmenbedingungen. Auf diese sozialen Bedingungen des Gedächtnisses hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs vor rund 60 Jahren hingewiesen. „Meistens erinnere ich mich, weil die anderen mich dazu antreiben, weil ihr Gedächtnis dem meinen zu Hilfe kommt, weil meines sich auf ihres stützt. Zumindest in diesen Fäl len hat die Erinnerung nichts Mysteriöses an sich. Es gibt da nichts zu suchen, wo sie sind, wo sie aufbewahrt werden, in meinem Kopf oder in irgendeinem Winkel meines Geistes, zu dem ich allein Zugang hätte; sie werden mir ja von außen ins Gedächtnis gerufen, und die Gruppen, denen ich angehöre, bieten mir in jedem Augenblick die Mittel, sie zu rekonstruieren, unter der Bedingung, daß ich mich ihnen zuwende und daß ich zumindest zeitweise ihre Denkart annehme“ (Halbwachs 1966, S. 20f.). Das individuelle Denken ist in dem Maße fähig, sich zu erinnern, in dem es sich innerhalb des kollektiven Gedächtnisses und des gesellschaftlichen Rahmens dieses Gedächtnisses bewegt und an diesem Gedächtnis partizipiert. Gruppenbezogenheit ist das eine Merkmal des kollektiven Gedächtnisses.
Ein anderes Merkmal ist, dass das Gedächtnis stets rekonstruktiv arbeitet und die Vergangenheit nicht als solche bewahrt. Diese wird beständig von den sich ändernden Bezugsrahmen der Gegenwart her reorganisiert. Von diesen sozialen Bezugsrahmen hängt es ab, ob ein Mensch überhaupt erinnern kann. Ereignisse sind nur rekonstruierbar, wenn dafür entsprechende Bezugsrahmen in der gesellschaftlichen Gegenwart zur Verfügung stehen. Vergessen wird, was in einer solchen Gegenwart keinen Rahmen mehr findet. Jede soziale Gruppe, so Maurice Halbwachs, kennt je eine besondere Form der Erinnerung, mit der die Vergangenheit durch eine „Denkbemühung rekonstruiert“ wird, und zwar so, dass sie gleichzeitig die Erinnerung unter dem Gesichtspunkt der als notwendig erachteten sozialen Ordnung und des sozialen Ausgleichs deformiert. In diesem Sinne neigt auch eine Gesellschaft dazu, „aus ihrem Gedächtnis alles auszuschalten, was die einzelnen voneinander trennen, die Gruppen voneinander entfernen könnte, und darum manipuliert sie ihre Erinnerung in jeder Epoche, um sie mit den veränderlichen Bedingungen ihres Gleichgewichts in Übereinstimmung zu bringen“ (Halbwachs 1966, S. 382). Das Gedächtnis sei als kollektive Funktion zu denken, bei der, vom Standpunkt der Gruppe aus betrachtet, zwei Tätigkeitsarten mit im Spiel sind: Einmal ein Gedächtnis, das aus einem Rahmen von Begriffen besteht, die den einzelnen Mitgliedern als Anhaltspunkte dienen und sich ausschließlich auf die Vergangenheit beziehen. Zum anderen kommt eine Vernunfttätigkeit zur Wirkung, die von den gegenwärtigen Bedingungen und ihren Anforderungen ausgeht. Diese unter dem Eindruck der Gegenwart stehende Vernunft kann ihre Kraft gegen die Macht der Vergangenheit nur entwickeln, wenn sie Traditionen, vielleicht sprechen wir in unserem Zusammenhang besser von Erinnerungen an die Vergangenheit, nicht völlig blockiert. Eine Gesellschaft kann sich von ihrer Vergangenheit befreien. Sie setzt also nicht die Gegenwart insgesamt gegen die Vergangenheit, sondern nur eine Vergangenheit gegen eine andere Vergangenheit, eine Tradition gegen eine andere Tradition. Es handelt sich dabei um eine Vergangenheit oder Tradition von sozialen Gruppen, mit denen sich die aktuelle Gesellschaft zu identifizieren strebt.
Gegenüber Halbwachs und seinem Begriff des Kollektivgedächtnisses wird geltend gemacht, dass dieser ausschließlich auf den kommunikativen Gruppen- und Gegenwartsbezug abstelle. Formen objektivierter Kultur, wie das etwa Texte, Bauwerke, Denkmäler oder Riten sind, würden darin nicht ausreichend Platz finden (vgl.Assmann 1988). Sinnvoll sei es deshalb, auch von einem „kulturellen Gedächtnis“ zu sprechen und damit vor allem jene schicksalhaften Ereignisse einer Vergangenheit begrifflich zu erfassen, deren Erinnerung durch entsprechende kulturelle Formung und institutionalisierte Kommunikation wachgehalten wird. Dieses kulturelle Gedächtnis wird unter anderem durch die folgenden Merkmale charakterisiert (vgl. Assmann 1988, S. 12ff.):
– Wissen und Horizont im kulturellen Gedächtnis ziehen eine scharfe Grenze zwischen Zugehörigem und Ausgeschlossenem, zwischen Eigenem und Fremden. Erwerb und Überlieferung dieses Wissens sind nicht von Neugierde geleitet, sondern von der Suche nach Identität.
– Das kulturelle Gedächtnis ist organisiert im Sinne von einer institutionalisierten Absicherung von Kommunikation.
– Es hat Verbindlichkeit durch seinen Bezug auf ein normatives Selbstbild und eine handlungsleitende Wertperspektive.
– Schließlich weist es in einem mehrfachen Sinn Reflexivität auf. Es deutet die gesellschaftliche Erinnerungspraxis in Form von Alltagstheorien, Lebensregeln, Riten; und es reflektiert das Selbstbild der Gruppe in bestimmten Bahnen historischer Selbstthematisierung.
Jan Assmann (1992, S. 50ff.) versteht den Begriff des kollektiven Gedächtnisses als Überbegriff, der sowohl ein kommunikatives wie auch ein kulturelles Gedächtnis einschließt. Die beiden unterscheiden sich hinsichtlich des Modus der Erinnerung, mit dem sie in einer geschichtlichen Kultur arbeiten. Kulturelles Gedächtnis ist „fundierende Erinnerung“. Es beinhaltet eine mythische Urgeschichte und Ereignisse einer „absoluten Vergangenheit“, ist in hohem Ausmaß geformt und gesetzt. Das kommunikative Gedächtnis dagegen umfasst Geschichtserfahrung im Rahmen individueller Biographien, bezieht sich auf die unmittelbar rezente Vergangenheit mit rund 40 Jahren als kritischer Schwelle. Diese „biographische Erinnerung“ sieht Assmann als eine wenig normativ geformte, informelle, durch Interaktion entstehende Erinnerung. Die Arbeiten von Maurice Halbwachs hätten sich im Grunde auf das kommunikative Gedächtnis bezogen. Das mag hinsichtlich der Zeitstruktur, das heißt, dem Bezug auf die jüngere Vergangenheit, und hinsichtlich der Ausformung und Vermittlung im Zusammenhang mit Interaktionen sozialer Gruppen zutreffen. Dennoch gehen wir davon aus, dass die für das kulturelle Gedächtnis genannten Merkmale, Identitätskonstituierung, Institutionalisierung, Verbindlichkeit und Reflexivität, auch für das soziale Gedächtnis und seine Bezugsrahmen, wie sie Halbwachs verstanden hat, geltend gemacht werden können. Fundierende Erinnerung, das heißt, Transformierung von faktischer Geschichte in erinnerte Geschichte und in Mythos mit fortdauernder normativer und formativer Kraft (vgl. Assmann 1992, S. 52), ist auch im Hinblick auf unmittelbar zurückliegende Vergangenheit beobachtbar. Wenn man Halbwachs nur als Theoretiker eines informellen, biographisch arbeitenden Gedächtnisses versteht, übersehen wir die strukturierende Macht, die mit seinem Begriff des kollektiven Gedächtnisses für die individuelle Erinnerung verbunden ist. Jedenfalls scheint es uns in diesem Zusammenhang nicht zwingend, zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis eine scharfe Grenze zu ziehen. Von Interesse ist bei allen Formen des Kollektivgedächtnisses, wie sich der biographische Modus der Erinnerung an einem fundierenden Modus stützt. Halbwachs hat versucht, das kollektive Gedächtnis nach unterschiedlichen sozialen Gruppen zu differenzieren; natürlich ist es sinnvoll, weitere Differenzierungen hinsichtlich der zeitlichen Reichweite oder hinsichtlich des Grades der Institutionalisierung vorzunehmen. Wir wollen aber grundsätzlich den biographischen Modus der Erinnerung, der sich auf eine nur wenig zurückliegende Vergangenheit bezieht, nicht den fundierenden Aspekten des kollektiven Gedächtnisses gegenüberstellen, sondern beide Aspekte in diesem Begriff zusammenschließen.
Die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses für die individuelle Erinnerung wirft die Frage nach der gesellschaftlichen Erinnerungspraxis an die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich auf. Für das Verständnis der Interview-Texte ist es wichtig, vorerst die Formen der überindividuellen, sozialen und institutionalisierten Erinnerung über diese Zeit in das Blickfeld zu rücken. Eine solche Form der Erinnerung sind Berichterstattung und Leitartikel in den Printmedien zu wesentlichen zeitlichen Ankerpunkten der österreichischen NS-Vergangenheit. Die Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen kommen überwiegend aus dem Raum Oberösterreich. Deshalb untersuchen wir Zeitungen aus dieser Region. Zu den Jahrestagen des 12. März 1938 und des 5. Mai 1945 ist es üblich, ob als Chance oder als Pflicht verstanden, sich öffentlich zu erinnern. Ebenso sind die Zeitpunkte, die mit wesentlichen gesetzlichen Maßnahmen der Entnazifizierung verknüpft sind, oder auch die Aufführung des ersten Dokumentarfilmes über die Konzentrationslager, der Film „Todesmühlen“, in Linz Anlässe für erinnernde Kommentare. Dies ist der von uns gewählte Zugang zur gesellschaftlichen Erinnerungspraxis. Er verspricht einen direkteren Blick auf die soziale Praxis einer Gesellschaft und macht die spezifische Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft in Bezug auf eine bestimmte historische Erfahrung sieht und sehen will, gut sichtbar. In der Folge wollen wir die typischen Formen und Inhalte der Erinnerung in der gesellschaftlichen Medienkommunikation beschreiben; konzentrierter erfolgt dies für die Jahre 1946 bis 1958, in gröberen Zügen für die Jahre danach.
Mit dieser Vorgangsweise versuchen wir, einen differenzierteren zeitgeschichtlichen Horizont herzustellen, als dies alleine auf der Grundlage der individuellmündlichen Erinnerung möglich wäre. Mit „Horizont erschließen“ meinen wir hier im Sinne von Hans Georg Gadamer, „daß man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht, um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen“ (Gadamer 1975, S. 288f.). Der so erweiterte Horizont steht also nicht in einem Gegensatz oder Konkurrenzverhältnis zu dem „engen“ Horizont der Erinnerung unserer Gesprächspartner, sondern kann dazu beitragen, die Kompetenz bei der Interpretation der individuellen Erinnerung zu heben. Er soll die eigene wie die fremde Partikularität überwinden helfen. Die unterschiedlichen zeitlichen Erfahrungen und Praxen im Umgang mit der NSVergangenheit, die die Gegenwartsperspektive zu einem globalen, wenn auch nicht konsistenten Sinngehalt verschmelzen, erfahren so eine gewisse Aufschichtung. Und die Subjektivität der individuellen Erinnerung wird in eine kollektive Erinnerung eingebettet, von der sie zwar nicht determinierend bestimmt, von der sie aber auch nicht unabhängig analysiert werden kann. Ein Konzept von „kollektivem Gedächtnis“ birgt stets die Gefahr von Verdinglichung des subjektiven Denkens und Erinnerns. Gleichzeitig ist die Vermeidung eines solchen Konzeptes aber mit dem Problem verbunden, die Wege, auf denen die Vorstellungswelten der Einzelnen unter den Einfluss ihrer Gruppe geraten, überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Der direkte Blick auf die spezifische Form der kollektiven Erinnerung hat gegenüber der bloßen Rezeption des dazu bereits vorhandenen historischen Wissens wesentliche Vorteile. Wir finden darin einen stärkeren Bezug auf das kollektive Selbstbild einer Gesellschaft, als dies beim historischen Wissen der Fall ist. Halbwachs konstruierte eine scharfe Differenz zwischen Kollektivgedächtnis und historischer Erkenntnis (vgl. Halbwachs 1967, S. 66 ff.). Geschichtsforschung habe, so die methodische Forderung, die Ereignisse einer Vergangenheit nach Gesichtspunkten aneinanderzureihen, die unabhängig von den spezifischen Interessen sozialer Gruppen sind. In dieser Weise kann die Grenzlinie heute zweifellos nicht mehr gezogen werden. Moderne Geschichtsschreibung bedient sich auch Erinnerungsformen, die mit identitätssuchenden Bestrebungen sozialer Milieus verbunden sind. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die Forschungstradition der Oral History. Die prinzipielle Differenz, wie sie Halbwachs idealtypisch im Auge hatte, ist auch auf der Ebene der methodologischen Postulate längst aufgeweicht; in der Praxis der Geschichtsschreibung hat sie vermutlich nie bestanden. Geschichte kann Gedächtnis korrigieren und sich weitgehend mit ihm vereinigen; ebenso kann aber auch das kollektive Gedächtnis die Geschichte deformieren und seiner eigenen ungenauen Erinnerung unterordnen. Im Hinblick auf die NS-Vergangenheit gilt in Österreich mehr die Differenz als die Nähe zwischen beiden Formen der Erinnerung. Die wissenschaftlich-rationale Arbeit des Erinnerns auf Seiten der Historiker und Historikerinnen hat allerdings wenig Eingang in die soziale und kulturelle Erinnerung gefunden. Differenzierungen hinsichtlich des Opferstatus Österreichs als gesellschaftliche Einheit sind kaum, und wenn, dann nur mühsam, zu einem Bestandteil des öffentlichen Denkens und Gedenkens geworden. Aber auch das Verhalten und die Verarbeitungsmuster einer Mehrheit von Österreichern, die weder als „Opfer“ noch als „Täter“ zu bezeichnen sind, gegenüber der NS-Herrschaft stellen ein noch kaum bearbeitetes Leerfeld im zeitgeschichtlichen Diskurs dar (vgl. Ardelt 1988). Diese weitgehende Kluft zwischen Geschichte und historischem Alltagswissen legt im Hinblick auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext der individuellen Erinnerung den Rückgriff auf eine soziale Erinnerungspraxis nahe, die dem Bewusstsein und Wissen der Gesellschaftsmitglieder näher steht. In diesem Sinn wollen wir uns bei dem Versuch, den sozialen und kulturellen Rahmen der individuellen Erinnerung zu erschließen, nicht vorrangig auf festgeschriebene historische Erkenntnis stützen. Wir suchen nach unmittelbaren Ausprägungen des Kollektivgedächtnisses, dem es um die Bewahrung einer Vergangenheit geht, die aus der Sichtweise vorherrschender Interessen für fähig gehalten wird, im Bewusstsein einer Gruppe ohne Widerspruch fortzuleben. Ähnlichkeiten, Kontinuitäten und Identitäten stehen dabei im Vordergrund; Bilder, die die Substanz des sozialen Denkens einer Gruppe bilden sollen, werden festgehalten, solche, die diesem scheinbar zuwiderlaufen, werden vergessen und abgedrängt. Erinnerungsarbeit im Rahmen des Kollektivgedächtnisses wird demnach stets auch Nicht-Erinnern einschließen.
Wir betrachten das Medium Zeitung als vermittelndes Instrument der Meinungsbildung. Es wäre verfehlt, die dort vorzufindende „offizielle“ Erinnerung als determinierenden Faktor für die individuelle Erinnerung anzusehen. Vielmehr ist hinsichtlich der Frage nach kausalen Verknüpfungen von einem komplexen Verhältnis zwischen primären und sekundären Prozessen der Meinungsbildung auszugehen. Die Wahrnehmung von medialen Inhalten unterliegt wie jede Wahrnehmung bestimmten Gesichtspunkten der Auswahl, die sich im tätigen Subjekt schon vorneweg und auf der Grundlage einer umfassenden sozialen Praxis herausgebildet haben. Zeitungen stellen demnach für die Lesenden ein mehr praktisch als reflexiv angeeignetes Wissen her, in welchen Bahnen der gesellschaftliche Diskurs verläuft, was also öffentlich erinnert werden darf und worüber „man“ eher nicht spricht.
Ein Beispiel: Im Zusammenhang mit der neuen Entnazifizierungsgesetzgebung vom Februar 1947 installierte das „Linzer Volksblatt“ einen Leserbriefkasten, in dem Betroffene Anfragen hinsichtlich der Geltung der einzelnen Bestimmungen auf ihre persönliche Vergangenheit an die Zeitung richten konnten. Gleich zu Beginn dieser Einrichtung beklagt nun Chefredakteur Gustav Putz in einem Leitartikel die hohe Anzahl von anonymen Zuschriften bzw. von Darstellungen mit offenbar unwahren Sachverhalten. „Warum will niemand Verantwortung übernehmen für das, was er spricht oder schreibt? (…) Ja, Leute, warum steht ihr nicht zu dem, was ihr getan habt, aus welchen Gründen immer: unter Druck, unter Einwirkung der Propaganda, um eine Stellung nicht zu verlieren oder um eine Arbeit zu bekommen; es ist doch keine Schande, wenn man sich in seiner politischen Anschauung geirrt hat, eine Schande ist es nur, etwas Schändliches begangen zu haben.“ Viele, auch höher gestellte Persönlichkeiten seien „dem Nationalsozialismus auf den Leim gegangen, haben ihm in irgendeiner Form gehuldigt oder ein Wohlverhaltenszeugnis ausgestellt, so sehr sie ihn innerlich abgelehnt haben (…). Wer soll es dem kleinen Mann verargen, wenn er sich ebenso geirrt hat“ (Linzer Volksblatt, 25.2.1947). Charakteristisch an diesem Aufruf, zu seiner Verantwortung zu stehen und die Folgen „mannhaft“ zu tragen, ist, dass zugleich die sozial akzeptierten Gründe für die Verstricktheit in das NS-Regime explizit benannt sind: Irrtum, Verführtheit, wirtschaftliche Notlage, möglichst bei gleichzeitiger innerlicher Ablehnung.