Ein grandioser Roman der Weltliteratur.
»Ein Geschenk war sie, von der Leere geboren und zwei verbrauchten Alten an den Strand geworfen«. Ihr Herkommen verliert sich in einer Vorzeit, als Land und Hof dem Meer noch trotzten. Jetzt sind Sören und Maren allein geblieben in ihrer Kate auf der Landspitze und gewinnen durch Ditte, das Enkelkind, für eine kurze Zeit die Kraft der jungen Tage zurück. Doch auch Dittes Weg führt nach unten. Ihr starkes, frohes Leben ist bedroht und erliegt schon bald den Gewalten, die gleich dem Meer alles verschlingen: der Heimatlosigkeit, dem Fluch des Ausgestoßenseins, der Anfeindung durch die Umwelt, dem Neid der Mitmenschen.
»Literatur, die bewegt, ohne zu beschönigen, die das Herz erreicht, ohne den Verstand zu beleidigen.« Tilman Spreckelsen
Das Leben der jungen, lebensfrohen Ditte ist bedroht. Behaftet mit dem Makel des Ausgestoßenseins und der Heimatlosigkeit, erliegt sie dem Kreislauf von Armut, Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit. In ihrem Schicksal gestaltet der dänische Romancier den Weg einer starken jungen Frau, die an der Unmenschlichkeit ihrer Umwelt zugrunde geht.
Martin Andersen Nexø
Ditte Menschenkind
Aus dem Dänischen
von Hermann Kiy
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Erster Teil Eine Kindheit
1 Dittes Stammbaum
2 Die Geschwulst
3 Ein Kind ist geboren
4 Dittes erste Schritte
5 Großvater rührt von neuem die Hände
6 Sören Manns Tod
7 Witwe und Waise
8 Die kluge Maren
9 Ditte besucht das Märchenland
10 Ditte bekommt einen Vater
11 Der neue Vater
12 Der Schinder
13 Ditte hat Visionen
14 Daheim bei der Mutter
15 Regen und Sonnenschein
16 Das arme Großchen
17 Wenn die Katze nicht im Hause ist
18 Der Rabe fliegt aus in der Nacht
19 Die Erbschaft
Zweiter Teil Mütterchen
1 Morgen im Elsternnest
2 Die Landstraße
3 In des Königs Residenz
4 Mütterchen Ditte
5 Der kleine Landstreicher
6 Der Scherenschleifer
7 Der Wurstschlächter
8 Aufbruch aus dem Elsternnest
9 Des einen Tod
10 Die neue Welt
11 Das Pfannkuchenhaus
12 Tagesplagen
13 Ditte wird eingesegnet
Dritter Teil Der Sündenfall
1 Unter fremden Menschen
2 Heimweh
3 Die Bäuerin
4 Ein willkommener Gast
5 Ditte kommt zu Besuch nach Hause
6 Die Jungfrau mit den roten Wangen
7 Das Winterdunkel
8 Der öde Winter nimmt seinen Lauf
9 Sommer
10 Sörine kehrt heim
11 Ditte tröstet einen Mitmenschen
12 Der Sommer ist kurz
13 Das Herz
14 Das Ende des großen Klaus
15 Wieder daheim
16 Der Sohn vom Bakkehof
17 Ditte genießt Sonnenschein
18 Das Erntefest
Vierter Teil Das Fegefeuer
1 Warum heiratet das Mädchen denn nicht!
2 In die weite Welt hinaus
3 Die Geburtsklinik
4 Die Engel
5 Ditte gehört mit zur Familie
6 Ditte wird zum Stubenmädchen befördert
7 Die Heimatlosen
8 Karls Gesicht
9 Dittes Tag
10 Frühling
11 Die guten Tage
12 Ditte pflückt Rosen
13 Der Hund
14 Georg und Ditte
15 Abrechnung
Fünfter Teil Zu den Sternen
1 Gottes Kleinvieh
2 Mutter Ditte
3 Der kleine Georg
4 Der liebe Gott
5 Im Volkspark
6 Die Ratten
7 Der Konfirmationsschmaus
8 Die alte Rasmussen bekommt neue Stiefel
9 Von diesem und jenem
10 Der Gratulant stellt seine Fahrten ein
11 Alltag
12 Der solide Jüte
13 Die Nähmaschine, das Deckbett und das Samariterlokal
14 Der kleine Peter geht aufs Leben los
15 Mutter Ditte kommt in die Zeitung
16 Die Wolljacke
17 Eine Begegnung
18 Ditte nimmt sich Ferien
19 Der kleine Kohlensammler
20 Gottes Herz
21 Der Tod
22 »Sink nur einsam ohne Scheuen …«
23 Ein Mensch ist gestorben
Nachwort
Über Martin Andersen Nexø
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Meiner Mutter
Es hat allzeit als Zeichen einer guten Abstammung gegolten, wenn man seine Ahnen bis weit zurück aufzählen konnte. Und danach ist Ditte Menschenkind ein sehr vornehmes Wesen. Sie gehört dem ältesten und verbreitetsten Geschlecht im Lande an, dem Geschlecht Mann.
Eine Stammtafel der Familie findet sich nicht, und sie wäre auch nicht leicht auszuarbeiten, da die Familie zahlreich ist wie der Sand des Meeres. Alle anderen Geschlechter lassen sich auf dieses zurückführen; hier tauchten sie auf im Laufe der Zeiten – und sie kehrten wieder dahin zurück, wenn ihre Kraft verbraucht und ihre Rolle ausgespielt war. Das Geschlecht Mann gleicht gewissermaßen dem großen Meer, von wo die Wasser in lichtem Flug zum Himmel aufsteigen – und wohin sie schwer rinnend zurückkehren.
Der Überlieferung nach soll die Stammutter des Geschlechts eine Feldarbeiterin gewesen sein, die mit dem nackten Gesäß auf der feuchten Erde ausruhte. Davon wurde sie schwanger, und sie brachte einen Knaben zur Welt. Dies blieb später ein eigentümlicher Zug des Geschlechts: seine Frauen trugen nicht gern Unterzeug und bekamen Kinder für nichts und wieder nichts. Noch heißt es von ihnen, daß sie bloß in einer Tür im Zugwind zu stehen brauchen, um ein Mädchen unterm Herzen zu tragen. Um einen Knaben zu bekommen, brauchen sie bloß an einem Eiszapfen zu lutschen. Wunderlich ist’s nicht, daß ein zahlreiches, abgehärtetes Geschlecht entstand, dessen Hände Wachstum schufen. Es wurde das eigentümlichste Kennzeichen des Geschlechts Mann, daß alles, was es anrührte, lebte und gedieh.
Der Knabe trug lange das Merkmal der lehmigen Erde; als kleines Kind war er ein klammes Würmchen mit krummen Beinen. Aber er wuchs sich heraus und wurde ein tüchtiger Erdarbeiter; mit ihm nimmt die Beackerung des Landes ihren Anfang. Der Umstand, daß er keinen Vater hatte, beschäftigte ihn sehr und wurde das große, fruchtbare Problem seines Lebens. In seinen Mußestunden machte er eine ganze Religion daraus.
Es war draußen im Freien nicht gut mit ihm auszukommen; in der Arbeit hatte er nicht seinesgleichen. Aber seinem Weibe unterlag er. Der Name Mann soll daher rühren, daß er, wenn sein Weib ihn mit ihrem scharfen Mundwerk aus dem Hause getrieben hatte, fluchend umherzugehen und zu schwören pflegte, er sei Mann im Hause. Noch heutigentags fällt es manchen aus dem Geschlecht Mann schwer, sich ihren Frauen gegenüber zu behaupten.
Ein Zweig des Geschlechts ließ sich an der öden Küste am Kattegatt nieder und gründete das Dorf. Das war in jenen Zeiten, als noch Wald und Sümpfe das Land unwegsam machten; und dieser Zweig kam seewärts heran. Das Felsenriff, wo die Männer mit dem Boot anlegten und Frauen und Kinder von Bord hoben, liegt noch da; weiße Seevögel bezeichnen abwechselnd Tag und Nacht die Stelle – und haben das durch Jahrhunderte getan.
Dieser Zweig hatte in hervorragendem Grade die typischen Kennzeichen des Geschlechts: zwei Augen und eine Nase mitten im Gesicht, einen Mund, der küssen und beißen konnte, und ein Paar Fäuste, die gut am Schaft saßen. Außerdem glich er dem Geschlecht darin, daß die meisten seiner Mitglieder besser waren als die Verhältnisse. Man konnte die Manns überall daran erkennen, daß ihre schlechten Eigenschaften sich meist auf bestimmte Ursachen zurückführen ließen, während das Gute in ihnen sich nicht begründen ließ, sondern angeboren war.
In eine öde Gegend waren sie gekommen. Aber sie nahmen sie, wie sie war, und ließen sich unverdrossen mit dem Dasein ein, bauten Hütten, zogen Gräben und schlugen Wege. Sie waren genügsam und hart und hatten den unersättlichen Drang der Manns, sich fleißig zu tummeln; keine Arbeit war ihnen zu mühselig oder zu schwer, und bald war es in der Gegend zu merken, daß sie sich dort niedergelassen hatten. Aber sie waren nicht geschickt darin, den Ertrag ihrer Arbeit festzuhalten, und ließen andere damit davonlaufen; so kam es, daß sie trotz all ihrem Fleiß nach wie vor arm blieben.
Vor gut fünfzig Jahren, noch bevor die Nordküste von den Kurgästen entdeckt wurde, bestand das Dorf immer noch aus einigen krummrückigen, stockfleckigen Hütten, die recht wohl die ursprünglichen sein konnten, und es glich überhaupt einem uralten Wohnplatz. Gerät und an Land gezogene Boote füllten den Strand; das Wasser in der kleinen Bucht stank nach weggeworfenen faulenden Fischen, Seehasen, Aalmüttern und anderem Meeresgetier, das auf Grund seines seltsamen Aussehens als von Geistern bewohnt galt und darum nicht gegessen wurde.
Eine Viertelstunde Wegs vom Dorf, draußen auf der Landspitze, wohnte Sören Mann. Er war in seinen jungen Jahren wie alle anderen zur See gefahren und hatte sich später daheim als Fischer niedergelassen – wie es Sitte und Brauch war. Aber eigentlich war er Bauer. Er gehörte zu demjenigen Zweig des Geschlechts, der sich daran gemacht hatte, das Land zu bestellen, und der dadurch über das Übliche hinaus zu Ansehen gelangt war. Sören Mann war ein Hüfnerssohn; als er aber das Mannesalter erreichte, heiratete er ein Fischermädchen und begann neben dem Ackerbau wieder Fischerei zu treiben, wie es die ersten Bauern des Geschlechts getan hatten.
Mit dem Ackerbau hatte es nicht viel auf sich: ein paar Tonnen Dünenland, wo einige Schafe kümmerliche Nahrung fanden, das war alles, was von dem großen Hof übriggeblieben war, der dort gelegen hatte, wo jetzt die Möwen schreiend über der weißen Brandung umherirrten. Das übrige hatte das Meer verschlungen.
Es war Sörens und besonders Marens armseliger Stolz, daß seine Vorfahren Hofbesitzer gewesen waren. Vor drei, vier Generationen lag der Hof gut und wohl da, mit vollwertigen Ländereien, ein ins Meer vorgeschobener Lehmknoten. Mit vier Flügeln, aus angetriebenem Eichenholz erbaut, lag er da und war weithin zu sehen, ein Bild der Dauerhaftigkeit. Aber da begann plötzlich das Meer an dieser Stelle zu nagen. Drei Generationen hintereinander mußten den Hof weiter landeinwärts rücken, um ihn nicht im Meer verschwinden zu sehen, und jedesmal machte man ihn um einen Flügel kleiner, um sich die Übersiedlung zu erleichtern; man hatte ja doch keine Verwendung für soviel Räumlichkeiten, wenn das Meer die Äcker wegfraß. Nun war nur noch das alte Wohngebäude aus Fachwerk übrig, das man aus Vorsicht an der Innenseite des Küstenwegs angelegt hatte, und dann ein paar Dünen.
Hier fraß das Meer nicht weiter. Es hatte den Boden des Geschlechts Mann satt bekommen, da das Beste genommen war, und suchte sich anderswo seine kostbare Nahrung; hier fing es obendrein an zuzulegen. Es warf Sand an Land, der sich wie ein breiter Vorstrand um den Hang legte und an windigen Tagen zu stieben und den Rest der Felder zuzudecken begann. Unter der dünnen, struppigen Pflanzenwelt der Dünenerde konnte man noch die Züge alten Pfluglandes erkennen, das draußen am Abhang quer abgebrochen war, und alte Räderspuren, die nach draußen liefen und jäh in der blauen Luft überm Meer verschwanden.
Viele Jahre lang war es, nach bösen Nächten mit Sturm von See her, der regelmäßige Morgenspaziergang der Manns gewesen, hinauszugehen und zu schauen, wieviel das Meer nun wieder genommen hatte. Es kam vor, daß ganze Stücke Ackerland mit Saat darauf auf einmal abbrachen und mit den Merkmalen von Eggen und Walzen und einem grünen Wintersaatschimmer darüber dort unten lagen in dem mahlenden Meer.
Den Manns griff es ans Herz, Zeugen des Unabwendbaren zu sein. Denn sooft ein Stück ihres Landes mit ihren Anstrengungen und ihrem täglichen Brot auf dem Rücken ins Meer wanderte, wurden sie selbst auch kleiner. Mit jedem Zollbreit, den das Meer sich näher an ihre Türschwelle heranfraß, ihre gute Ackererde benagend, verringerten sich ihr Ansehen und ihr Mut.
Sie wehrten sich bis aufs äußerste, hingen am Boden mit harten Fäusten und fuhren nur notgedrungen wieder aufs Meer hinaus. Sören war der erste, der sich ganz ergab; er nahm sich eine Frau aus dem Dorf und wurde selber Fischer. Aber an der guten Stimmung fehlte es stets. Maren konnte nicht vergessen, daß ihr Sören einem Geschlecht angehörte, das einen Hof besessen hatte; und das steckte auch den Kindern im Kopf. Die Söhne machten sich nichts aus der See; in den Fäusten saß ihnen der Drang, den Acker zu bestellen, und sie strebten nach den Höfen hin. Sie wurden Tagelöhner und Grabenarbeiter; und als sie nach und nach etwas Geld erübrigen konnten, wanderten sie nach Amerika aus. Vier Söhne arbeiteten drüben in der Landwirtschaft. Sie ließen selten etwas von sich hören; das Familiengefühl schien während des Niedergangs verbraucht worden zu sein. Die Töchter gingen in Dienst, und allmählich verloren Sören und Maren auch sie aus den Augen. Nur die jüngste, Sörine, blieb zu Hause über die Zeit hinaus, wo sonst bei den armen Leuten die Jungen das Nest zu verlassen pflegen. Sie war schwächlich, und die Eltern hielten sie – als die einzige, die ihnen geblieben war.
Es war eine weite Reise für Sörens Geschlecht gewesen, vom Meer vorzudringen zum bestellten Acker; verschiedener Generationen hatte es bedurft, den Hof auf der Landspitze zu schaffen. Die Fahrt bergab ging, wie immer, schneller; Sören mußte das schlimmste Stück davon auf sich nehmen. Als er hinzukam, waren nicht nur die Äcker, sondern auch die letzten Reste ersparten Erbguts draufgegangen; nun waren nur noch Armeleutereste übrig.
Das Ende war in mancher Hinsicht dem Anfang gleich. Sören glich den ursprünglichen Manns auch darin, daß er wie sie ein Amphibium war. Er verstand sich auf alles, Landwirtschaft, Fischfang und Handwerk. Und doch war er nicht geschickt genug, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und nie behielt er etwas übrig. Es war eben ein Unterschied, ob man im Aufstieg war oder sich am letzten Ende der Dinge befand. Überdies fiel es ihm – wie so vielen der Manns – schwer, die Hand auf das zu legen, was ihm zukam.
Es war ein Geschlecht, das gewohnt war, daß andere den ersten Ertrag ihrer Arbeit ernteten. Von den Manns heißt es, sie seien wie die Schafe: je kürzer man sie schöre, desto mehr wüchse auf ihnen. Der Niedergang hatte Sören nicht tüchtiger darin gemacht, sich zu behaupten.
War das Wetter nicht danach, auf See zu fahren, und war in der kleinen Dünenackerwirtschaft nicht genug zu tun, so saß er zu Hause und flickte Seestiefel für die Kameraden unten im Dorf. Aber Geld für die Arbeit bekam er selten. »Es kann wohl bis zum nächsten Mal stehenbleiben?« sagten sie. Und Sören hatte nicht viel einzuwenden gegen diese Regelung der Sache; die war für ihn so gut wie ein Sparschweinchen. »Dann hat man etwas für seine alten Tage«, sagte er. Maren und das Mädchen schalten deswegen oft mit ihm, aber Sören änderte sich in diesem Punkt sowenig wie auf anderen Gebieten. Er kannte die Frauenzimmer; die wollten am liebsten alles sofort aufessen.
Nun hatte man die Kinder vom Hals – alle acht. Sören und Maren waren nicht mehr jung. Zeit und Mühsal begannen in den Gliedern zu spuken, und es wäre recht schön gewesen, wenn man etwas gehabt hätte, um Widerstand leisten zu können. Auch Sörine, die Jüngste, hatte man insofern von der Hand, als sie erwachsen war und längst aus dem Nest hätte wippen müssen; wenn sie trotzdem zu Hause blieb und von den beiden Alten zehrte, so hatte das seine besonderen Gründe.
Es war nicht wenig verwöhnt, das Mädel – wie das Jüngste es leicht werden kann; verzärtelt war es, offen gesagt, und furchtsam vor Fremden. Na, und dann war es doch auch schön, wenn einer soviel Leben zur Welt gebracht hatte, selber eine kleine Probe davon zu behalten, fand Maren. Ein Nest ohne Junge wird leicht kalt! Sören war im Grunde derselben Ansicht, wenn er auch etwas brummte und feststellte, ein Frauenzimmer im Hause sei mehr als genug. Sie waren beide gleich kinderlieb; und weil sie sowenig von den anderen hörten, klammerten sie sich an das letzte. Das eine kam zum anderen, Sörine blieb zu Hause und übernahm nur hin und wieder etwas Arbeit im Dorf oder auf den benachbarten Höfen hinter der Dünenreihe.
Sie galt für ein schönes Mädchen, und dagegen konnte Sören nichts einwenden; so viel aber sah er, daß sie nicht richtig gedieh. Das rote Haar umgab wie ein Brand die reine, leicht sommersprossige Stirn, die Arme waren die reinsten Puppenarme, und es war nichts Festes an ihr. Ihr Blick wollte den nicht fassen, mit dem sie sprach, sondern wich ängstlich aus. Sie konnte gut aus einem Herrschaftswagen gefallen sein.
Die jungen Burschen des Fischerdorfes schwärmten um die Hütte in den Dünen – meist in den warmen Nächten; aber Sörine verbarg sich angstvoll vor ihnen.
»Sie artet nach der verkehrten Seite«, sagte Sören, der bemerkte, wie fest sie ihr Fenster geschlossen hielt.
»Sie artet nach der vornehmen Seite«, sagte dann die Mutter. »Du sollst sehn, sie bekommt gewiß einen Sohn vornehmer Leute zum Mann.«
»Plappermaul!« höhnte Sören giftig und ging seiner Wege. Wie konnte man nur sich und dem Mädel so dummes Zeug einreden!
Gewiß hatte er Maren lieb, aber ihre Geistesgaben hatten ihm nie Respekt eingeflößt. Machte eins der Kinder in der Jugend irgend etwas verkehrt, so sagte Sören stets: »So ein Einfaltspinsel – das hat er von seiner Mutter!« Und Maren fand sich die Jahre hindurch geduldig in diese Charakteristik; sie wußte wohl ebensogut wie Sören, daß es zu guter Letzt nicht der Verstand ist, worauf es ankommt.
Ein paarmal in der Woche ging Sörine mit einer Tracht Fische zur Stadt und brachte Waren mit nach Hause. Für den Fußgänger war’s ein weiter Weg, und er führte zum Teil durch Nadelwald, wo es abends dunkel war und wo sich oft Vagabunden herumtrieben.
»Ach was«, sagte Sören. »Der Dirn tut’s gut, von allem was zu probieren, wenn ein Mensch aus ihr werden soll.«
Aber Maren wollte ihr Kind hüten, soweit es ihr möglich war. Und so ordnete sie es so, daß die Tochter mit dem Wagen vom Sandhof nach Hause fahren konnte, der gerade in diesen Tagen Hefe in der Brennerei zu holen hatte.
Diese Regelung war insofern gut, als Sörine nicht länger in Angst vor Vagabunden zu leben brauchte und vor sonstigen Begegnungen, denen ein verschüchtertes junges Mädchen ausgesetzt sein kann; in anderer Hinsicht aber entsprach sie nicht den Erwartungen. Sörine hatte nicht nur keinen Schaden von den langen Fußwanderungen gehabt, sondern es stellte sich jetzt heraus, daß sie ihr gut getan hatten. Sie wurde zarter als früher und konnte dies und jenes nicht vertragen.
Das stimmte gut überein mit dem übrigen vornehmen Wesen des Mädchens; und obwohl Maren schwer zu schaffen hatte, war es doch, als ob dieses Neue eine Erleichterung für sie bedeutete. Es beseitigte den letzten Rest von Zweifel in ihrem Herzen, und es stand damit endgültig und unwiderruflich fest: Sörine war ein Feineleutekind, natürlich nicht der Zeugung nach – denn Maren wußte ja recht wohl, wer Vater und Mutter der Dirn waren, falls Sören auf solche Gedanken kommen sollte –, es war vielmehr ein Gnadengeschenk. Es kam vor, daß solche Kinder dem armen Mann in die Wiege fielen, und sie waren immer dazu ausersehen, den Eltern Freude zu bringen. Heringe und Kartoffeln, Flundern und Kartoffeln und zwischendurch ein bißchen Speck – war das etwa eine Kost für eine, die sozusagen ein Fräulein war? Maren verwöhnte sie, und wenn Sören es sah, spuckte er aus, als hätte er etwas Widerwärtiges in den Mund bekommen, und ging seiner Wege.
Aber man kann auch zu vornehm werden; und als es so weit kam, daß das Mädchen nicht einmal Eierkuchen bei sich behalten konnte, da wurde es selbst Maren zuviel des Guten. Sie ging mit der Tochter zu einer weisen Frau, die draußen im Vorland wohnte. Dreimal schlug die weise Frau die Luft durch sie hindurch; und als das nichts half, mußte Sören Pferd und Wagen beschaffen und die beiden zum Homöopathen fahren. Er tat es ungern. Nicht daß er das Mädchen nicht gern gehabt hätte; und es konnte auch sein, daß Maren recht damit hatte, wenn sie sagte, das Kind habe das im Schlaf bekommen, ein Tier oder irgend etwas Teuflisches habe seinen Weg durch den Mund gefunden und sitze nun da und puste Sörine das Essen aus dem Hals. Dergleichen hatte man schon früher gehört. Sich aber aus diesem Grunde so töricht anzustellen – mit Pferd und Wagen zum Homöopathen zu kutschieren wie eine Herrschaft und sich vor dem ganzen Dorf lächerlich zu machen, wo eine Dosis Regenwasser dieselbe Wirkung hatte –, das paßte Sören denn doch nicht.
So selbstverständlich aber die Entscheidung für gewöhnlich in Sören Manns Händen lag, es gab Gelegenheiten, wo Maren ihren Willen durchsetzte – namentlich wenn es sich um das Mädchen handelte. Dann konnte sie plötzlich wie behext aus all ihrer Gutherzigkeit herausfahren, Sörens Einwände als Unsinn beiseite fegen und wie eine Mauer dastehen, über die man nicht hinüber- und um die man nicht herumkam. Hernach traf es sich oft, daß er ärgerlich war, weil das Zauberwort, das Maren von ihren Höhen herabholen sollte, im entscheidenden Augenblick versagte. Denn sie war ein Plappermaul – namentlich wenn es um das Kind ging. Aber verkehrt oder richtig, wenn sie so ihre großen Augenblicke hatte, dann sprach das Schicksal durch ihren Mund, und Sören war klug genug zu schweigen.
Diesmal schien Maren das Richtige getroffen zu haben, denn die Kur, die der Homöopath verschrieb, Brausepulver und frische Milch, hatte eine wunderbare Wirkung. Sörine gedieh und entfaltete sich, daß es eine Freude war, sie anzusehen.
In allem soll man Maß halten. Sören Mann, derjenige, der fürs tägliche Brot zu sorgen hatte, war der erste, der das fand; aber selbst Maren mußte sich eines schönen Tages gestehen, daß das Mädel jetzt wirklich gut im Stande sei. Sörine aber fuhr fort anzuschwellen. Sie und die Mutter sprachen viel hin und her, was es wohl sein könne. Wassersucht? Oder vielleicht Fettsucht? Sie hatten viel zu bereden und steckten die Köpfe zusammen; sobald aber Sören in die Nähe kam, schwiegen sie.
Sören war ganz unausstehlich geworden, er knurrte und murrte immerzu. Als ob es nicht sowieso schwer genug zu ertragen war, besonders für das arme Mädchen! Schonung gegenüber einem Kranken kannte er nicht, der Tropf; und eines Tages entfuhr es ihm so recht böse und gallig: »Sie ist wohl guter Hoffnung, die Dirn – was andres ist es wohl nicht?«
Aber Maren war über ihm wie ein Unwetter. »Was redest du da, du altes Plappermaul? Hast du vielleicht acht Gören gekriegt, oder hat das Mädchen sich dir anvertraut? Eine Sünde und Schande ist’s, sie so schmutziges Gerede hören zu lassen; aber nun ist es geschehen, und da magst du sie ebensogut selber fragen. Antworte deinem Vater, Sörine – kriegst du was Kleines?«
Sörine saß am Ofen, leidend und verängstigt. »Das müßte ja mit der Jungfrau Maria sein«, flüsterte sie, ohne aufzublicken. Und plötzlich sank sie schluchzend zusammen.
»Da siehst du selber, was du für ein Plappermaul bist«, sagte Maren hart. »Das Mädchen ist wahrhaftig so rein, als läge sie noch im Mutterleib. Sie leidet an einer Geschwulst, das ist es, siehst du. Und du machst uns hier das Haus zur Hölle, während das Kind vielleicht den Tod in sich trägt.«
Sören Mann senkte den Kopf und lief schleunigst in die Dünen. Puh, das Gewitter war gerade über ihm gewesen. Plappermaul hatte sie ihn genannt – zum erstenmal während ihres ganzen Zusammenlebens; er verspürte Lust, ihr stehenden Fußes dieses Wort heimzuzahlen, ehe es sich richtig festfraß. Aber sollte er sich zu einem wütenden alten Weib und einer flennenden Dirn hineinwagen – er konnte sich beherrschen!
Sören Mann war ein halsstarriger Bursche; wenn er erst einmal etwas in seinem dreieckigen Kopf hatte, war es nicht wieder hinauszuklopfen. Er äußerte nichts, ging nur mit einer Miene umher, die soviel besagte wie: Ja, man muß sich wohl hüten, mit Weibern in Zank zu kommen! Maren war sich nicht im unklaren über seine Ansicht. Wenn er sie nur wenigstens für sich behalten würde! Da quälte sich das Mädel, trank Petroleum und aß grüne Seife wie eine Verrückte, weil sie gehört hatte, daß das gut für innere Krankheiten sein sollte – vom eigenen Vater.
In dieser Zeit hielt Sören sich am liebsten außerhalb des Hauses auf, und Maren hatte nichts dagegen, dann ärgerte er sich wenigstens nicht über sie beide. War er nicht auf See, so schlenderte er auf dem Acker umher und machte sich irgend etwas zu schaffen oder er saß oben auf der Schwatzbank der Männer auf der hohen Düne, wo man jedes Segelboot beobachten konnte, das den Sund verließ oder einlief. Meistens hatte er dort seine Ruhe; ging es aber Sörine allzu schlimm, so kam Maren gerannt, ganz elend anzusehen in ihrem mütterlichen Kummer, und bettelte ihn an, doch ja mit dem Mädchen nach der Hauptstadt zu fahren und sie untersuchen zu lassen, ehe es zu spät sei. Dann kam es leicht vor, daß er aus der Haut fuhr und – ohne sich darum zu kümmern, daß es jeder hören konnte – rief: »Der Teufel soll dich holen, alte Scharteke – hast selber acht Kinder gekriegt und kannst nicht sehen, was dem Mädchen fehlt!«
Gleich darauf bereute er es, denn ganz konnte er ja darum Haus und Heim nicht entbehren, und sobald er den Fuß zur Tür hineinsetzte, ging der Lärm los. Aber es war nicht auszuhalten; er mußte Luft haben, wenn er von all dem Weibergewäsch nicht ganz verrückt werden wollte. Mochte es sich verhalten, wie es wollte, er war in der rechten Stimmung dazu, sich auf die oberste Düne zu stellen und seine Meinung über das Dorf hin auszurufen, bloß um die beiden Weibsleute unterzukriegen.
Eines Tages, als er drüben auf dem Trockenplatz saß und an den Netzen arbeitete, kam Maren im Unterrock die Düne heruntergelaufen. »Nun mußt du doch nach dem Doktor schicken«, sagte sie, »denn sonst krepiert uns die Dirn. Sie wehklagt ganz gottsjämmerlich.«
Sören, der selber oben einen Laut aus der Hütte aufgefangen hatte, fuhr vor Wut aus der Haut und warf einen kleinen Stein nach ihr. »Plagt dich denn der Teufel ganz und gar, oder bist du auch taub geworden, daß du nicht hören kannst, was der Laut da zu bedeuten hat?« schrie er. »Willst du machen, daß du zur Madam hinüberkommst – und zwar ein bißchen hurtig, sonst werd ich dir Beine machen.«
Als Maren ihn aufstehen sah, machte sie kehrt und lief nach Hause. Sören zuckte mit den Achseln und ging selber die Madam holen. Dann wanderte er den ganzen Nachmittag vor der Hütte umher, ohne hineinzugehen, und gegen Abend suchte er das Wirtshaus auf. Er setzte selten seinen Fuß an diesen Ort; das konnte er sich nicht leisten, wenn Haus und Heim bekommen sollten, was ihnen zukam. Er hielt den ungewohnten Türgriff zögernd in der zitternden Hand, öffnete mit einem Ruck die Tür und stand mit einem vieldeutigen Ausdruck auf der Schwelle.
»Nun kam die Geschwulst doch aus dem Tier«, sagte er jämmerlich verwegen. Und diesen Satz wiederholte er den ganzen Abend, bis er nach Hause stolperte.
Maren erwartete ihn draußen auf der Düne; als sie sah, in welcher Verfassung er war, brach sie in Tränen aus. »Nun kam die Geschwulst doch …«, begann er, mit einer Miene, die voll grimmigen Hohnes sein sollte, schwieg aber plötzlich. Marens Tränen griffen ihm so wunderlich ans Herz, tief unter allem andern; er mußte sie um den Hals fassen und mitweinen.
Die beiden Alten setzten sich in die Dünen und hielten einander umfaßt, während sie sich ausweinten. Es war schon mancherlei Böses auf den Weg des neuen Wesens gefallen; nun fielen die ersten Tränen.
Als sie nach Hause gekommen waren, sich mit Mutter und Kind beschäftigt hatten und nun in dem großen Doppelbett lagen, suchte Maren nach Sörens Hand. So war sie immer in den jungen Tagen eingeschlafen, und jetzt war es, als ob etwas von der Süße der jungen Tage wieder in ihr erwacht sei – mochte nun das plötzliche Auftauchen des Liebeskindes schuld daran sein oder sonst etwas.
»Vielleicht wirst du jetzt zugeben, daß das Mädel ein Kind kriegen sollte?« sagte Sören, als sie schon im Begriff waren einzuschlafen.
»Ja, das sollte sie«, sagte Maren. »Aber ich kann doch nicht verstehen … denn Männer …«
»Ach, halt den Mund«, sagte Sören. Und dann schliefen sie ein.
So mußte Maren sich denn endlich ergeben, »obschon«, meinte Sören, »es doch recht gut sein kann, daß sie eines schönen Tages behauptet, es wäre doch eine Geschwulst gewesen. Denn Weiber kann kein Teufel überzeugen.«
Nun, Maren war zu klug, zu leugnen, was selbst ein Blinder mit dem Krückstock sehen konnte; und es war um so leichter für sie, die bittere Wahrheit zu erkennen, als trotz der vielen Tränen und heiligen Versicherungen des Mädchens doch ein Mann mit im Spiel war, und obendrein ein Hüfnerssohn. Es war der Sohn vom Sandhof, derjenige, mit dem Sörine aus der Stadt heimgefahren war, weil sie Furcht vor dem finsteren Wald gehabt hatte. »Du hast das Mädel wahrhaftig auf eine schöne Art von den Vagabunden befreit«, sagte Sören und schielte nach dem Neugeborenen hinüber.
»Was schwatzt du da für Zeug? Ein Hüfnerssohn ist doch wohl immer besser als ein Vagabund«, entgegnete Maren stolz.
So behielt sie dennoch recht; hatte sie nicht immer gesagt, daß Sörine etwas Vornehmes an sich habe? Es war Fräuleinblut in dem Mädchen!
Eines Tages mußte Sören seinen guten Anzug anziehen und zum Sandhof gehen.
»Ja, seht mal, nu hat die Dirn doch was Kleines gekriegt«, sagte er und steuerte geradewegs auf die Sache los.
»So, hat sie das!« sagte der Sohn vom Sandhof, der mit seinem Vater auf der Dreschdiele stand und ausgedroschenes Stroh schüttelte. »Ja, das ist dann wohl so!«
»Ja, aber sie sagt doch, du wärst der Vater.«
»So, das sagt sie. Kann sie’s denn auch beweisen?«
»Sie kann einen Eid drauf leisten, das kann sie. Und da ist es wohl das beste, du heiratest die Kröte.«
Der Sandhofsohn lachte schallend.
»Also du lachst, du!« Sören Mann ergriff eine Heugabel und ging auf den Burschen zu, der hinter die Dreschmaschine zurückwich. Er war grauweiß geworden.
»Hör mal«, griff da der Sandhofbauer ein, »laß uns beide Alten lieber hinausgehen und die Sache besprechen, Sören – die Jugend ist heutzutage zu einfältig. – Siehst du, ich glaube nicht, daß mein Sohn das Mädchen heiraten wird, mag er nun mit der Sache zu tun haben, was er will«, begann er, als sie draußen waren.
»Das wird er wohl müssen«, erwiderte Sören drohend.
»Ja, sieh mal, das einzige, was ihn dazu zwingen könnte, ist das Gesetz – und das tut es nicht, wenn ich es recht kenne. Aber eine andre Sache ist, daß – daß er dem Mädel vielleicht zu einer ordentlichen Heirat verhelfen könnte. Willst du zweihundert Taler haben, ein für allemal?«
Sören fand im stillen, daß das eine Menge Geld sei für ein elendes Menschenwurm, und beeilte sich einzuschlagen, damit dem Sandhofbauer sein Angebot nicht leid würde.
»Aber dann dürfte freilich nicht hinterm Rücken geredet und auf Verwandtschaft gepocht werden und dergleichen«, sagte der Sandhofbauer, während er Sören zum Tor hinausbegleitete. »Das Kind bekommt den Namen des Mädchens und hat keinerlei Ansprüche an uns!«
»Nein, gewiß nicht!« sagte Sören, der bestrebt war, schnell wegzukommen. Er hatte die zweihundert Taler in der Innentasche und hatte Angst, daß der Sandhofbauer sie zurückverlangen würde.
»Ich schicke dir in den nächsten Tagen ein Papier zu, um deine Unterschrift wegen des Geldes zu kriegen«, sagte der Sandhofbauer. »Es ist schon das beste, wir setzen es gesetzmäßig auf.« Er sprach das Wort »gesetzmäßig« so breit und vertraut aus, daß Sören ein bißchen zusammenschrak.
»Ja, ja«, sagte Sören bloß und trat in den Torweg, die Mütze zwischen den Händen. Es kam nicht oft vor, daß er vor jemand die Mütze zog, aber die zweihundert Taler hatten ihm Respekt vor dem Sandhofbauer eingeflößt. Die Leute vom Sandhof gehörten einem Schlag an, der sich nicht damit begnügte, über den Zaun weg ins Gebiet des Nachbarn einzubrechen, sondern der auch Ersatz leistete für den Schaden, den er anrichtete.
Sören rannte über die Felder dahin. Soviel Geld hatten er und Maren noch nie besessen. Wenn er’s nun bloß fertigbrächte, die Scheine ein bißchen hübsch vor sie hinzulegen, so daß sie nach etwas aussahen! Denn Maren hatte sich ja nun einmal die Sache mit dem Hüfnerssohn fest in den Kopf gesetzt.
Es gibt anderthalb Milliarden Sterne im Himmelsraum und, soviel man weiß, anderthalb Milliarden Menschenwesen auf der Erde, gleich viele von beiden! Man sollte fast glauben, die Alten hätten recht, die meinten, ein jeder Mensch werde unter seinem Stern geboren. Ringsum, in Hunderten von kostbaren Observatorien, die auf der ganzen Erde angelegt sind, bald in der Ebene, bald auf hohen Bergen, sitzen hochbegabte Gelehrte, ausgerüstet mit den feinsten Instrumenten, und spähen Nacht für Nacht in den Himmelsraum hinaus. Sie schauen und photographieren, ihr ganzes Leben lang beschäftigt mit dem einen: unsterblich zu werden durch die Entdeckung eines neuen Sterns. Noch ein Himmelskörper – zu den anderthalb Milliarden, die schon da draußen umherwirbeln.
Jede Sekunde wird eine Menschenseele in die Welt geboren. Ein neues Licht wird angezündet, ein Stern, der vielleicht ungewöhnlich schön brennen wird, der jedenfalls sein eigenes, nie gesehenes Spektrum hat. Ein neues Wesen, das vielleicht Genialität, vielleicht Schönheit um sich ausstreuen wird, küßt die Erde; das Niegesehene wird Fleisch und Blut. Kein Mensch ist eine Wiederholung anderer Menschen oder wird je selber wiederholt werden, jedes neue Wesen gleicht den Kometen, die nur einmal in aller Ewigkeit die Bahn der Erde berühren und eine kurze Spanne Zeit ihren leuchtenden Weg über ihr dahinziehen – ein Phosphoreszieren zwischen zwei Ewigkeiten von Finsternis. Dann herrscht wohl Freude unter den Menschen ob jeder neu angezündeten Seele? Sie stehen wohl mit fragenden Augen um ihre Wiege, begierig darauf, was diese neue bringen wird?
Ach, der Mensch ist kein Stern, durch dessen Entdeckung und Benennung man Ruhm gewinnt. Häufiger ist er ein Schmarotzer, der friedliche, nichtsahnende Leute überfällt und sich in die Welt einschleichen muß – durch ein neun Monate langes Fegefeuer. Gott helfe ihm, wenn er obendrein seine Papiere nicht in Ordnung hat.
Sörines Kleine hatte sich tapfer zum Licht des Tages durchgekämpft. Wie ein Lachs gegen den Strom springt, hatte sie alle Hindernisse genommen: Ableugnungen, Tränen und Abtreibemittel. Nun lag sie im hellen Licht da, rot und runzlig, und sollte versuchen, Herzen zu erweichen.
Die bürgerliche Gesellschaft war schnell mit ihr fertig, sie war schlecht und recht ein Schmarotzergast. Ein neugeborener Mensch ist eine Zahl im Umsatz, die ordnungsgemäße Voraussetzung für ihn sind Hochzeit und Gründung eines Hausstandes mit dem daraus folgenden Umsatz, das heißt Wiege und Kinderwagen und – wenn der Mensch heranwächst – Verlobungsringe, Ehe und wieder Kinder. Das meiste von all diesem geht in die Brüche, wenn man wie Sörines Kleine so armselig ist, sich außerhalb der Ehe zur Welt bringen zu lassen.
Vom ersten Augenblick an wurde sie danach behandelt, ohne weichliche Rücksichtnahme auf ihre zarte Hilflosigkeit. »Unehelich« stand auf dem Schein, den die Hebamme dem Lehrer ablieferte, nachdem sie der Kleinen auf die Welt geholfen hatte, »unehelich« kam auf den Taufschein zu stehen. Es war, als ob sie alle ihre Macht an etwas ausließen, die »Madam«, der Lehrer und der Pfarrer; sie waren die ersten gerechten Rächer der Bürgerschaft und schlugen aus guter Gesinnung auf das Neugeborene los. Was half es, daß das kleine Wesen von einem Hüfnerssohn gezeugt worden war, wenn er sich nicht zu der Handlung bekannte, sondern sich loskaufte von Hochzeit und allem! Ein Unding war es, ein Flecken auf der wohlgeordneten Gesellschaft.
Der Mutter kam das Kind ebenso ungelegen wie allen anderen. Als das Wochenbett überstanden war, entdeckte Sörine, daß sie ebensogut wie ihre Geschwister aus dem Hause gehen und dienen könne. Ihre Angst vor Fremden war völlig verschwunden; sie nahm eine Stelle ein Stück landeinwärts an. Das Kind blieb bei den Großeltern.
Niemand auf der ganzen weiten Welt war entzückt von der Kleinen, die Alten im Grunde auch nicht. Aber Maren ging doch auf den Speicher und suchte eine alte Holzwiege hervor, die viele Jahre lang zum Aufbewahren von Netzen und allerlei Gerümpel gedient hatte, Sören setzte neue Klötze unter die Gängel, und Maren trat mit ihren alten, geschwollenen Beinen die Wiege.
Ein Flecken war die Kleine ja auch für die beiden Alten – vielleicht alles in allem nur für sie. Sie hatten sich so Großes von dem Mädchen versprochen, und da lag nun der ganze Staat – ein uneheliches Kind – in der Wiege! Es wurde genug gestichelt gegen sie – von den Frauen, die gelaufen kamen und zu Maren sagten: »Na, wie gefällt dir das denn, auf deine alten Tage wieder was Kleines zu kriegen?«, und von den anderen Fischern, wenn Sören Mann in den Hafen oder ins Wirtshaus kam. Die alten Kameraden machten in aller Gutmütigkeit ihre Anspielungen und sagten: »Der kann’s – er hat noch die Kraft seiner Jugend! Sören muß eine Runde geben!«
Aber das mußte hingenommen werden – und war ja zu ertragen. Und das Kleine war – wenn man erst die alte Geschicklichkeit wiedererlangt hatte – ein kleines Geschöpf, das an soviel der Vergangenheit Angehörendes erinnerte. Es war wirklich, als ob man selber dieses Kind bekommen hätte – es brachte Jugend ins Haus.
Rein unmöglich war’s, so ein hilfloses kleines Geschöpf nicht liebzuhaben!
Es ist oft wunderlich damit: der eine muß dem Kind den Schoß geben, der andre das Herz. Leicht war es nicht für die alte Maren, wieder Mutter zu sein, um so weniger, als die Gesinnung die rechte war. Das Mädchen selber war über alle Berge – drüben in einem anderen Kirchspiel diente sie; und hier lag das Kleine und schrie.
Maren sorgte für das Kind, so gut sie konnte, verschaffte ihm gute Milch und kaute gute Zulpe zurecht – aus Butterbrot mit Zucker drauf; richtige Brustnahrung aber konnte sie ihm ja nicht geben. Oft, wenn das Kleine auf ihrem Arm saß, kam es vor, daß es mit seinem Saugmund über ihren welken Hals hin suchte, sein Händchen hinter den Brustsaum steckte und sie so sonderbar eindringlich ansah. »Sieh mal, wie der Trieb in ihr steckt«, sagte Sören. »Die Natur ist doch großartig!« Maren aber begann zu weinen, so alt und vernünftig wie sie war.
Sie hatte acht hintereinander an der Brust gehabt; und so lange das auch schon her war, jetzt tauchte es in der Erinnerung wieder auf. Sie erinnerte sich zu gut an alles: wie schön das gewesen war, wenn das Kleine dalag und mit der Brustwarze spielte, wie das Kätzchen mit der Maus spielt, sich mit ihr um die Nase kitzeln ließ, tat, als ob sie ihm entschwände – und sich plötzlich mit atemlosem Eifer darauf stürzte und in sich hineingluckste mit Augen, die immer trunkener wurden von Schlaf und Süße. Bis es dann auf einmal hintenüber sank, während die kleinen Glieder schlaff wurden, und schlief – satt und müde. Nichts in ihrem ganzen langen Leben hatte sie so beglückt, fand sie jetzt – auch nicht der Tanz der jungen Nächte und das Schwärmen mit der übrigen Jugend aus der Gegend –, wie dies: einem hilflosen kleinen Wesen Wärme, Sättigung und den süßen Schlaf zu geben. Noch konnte sie das eigentümliche Saugen im Rücken spüren, wenn die Kleinen ihr alle Milch weggetrunken hatten, und wenn es dann plötzlich wieder aus verborgnen Quellen in ihre Brüste strömte. Es saß noch als Gefühl guter Schwere in den Händen, wie sie von ihrer Milch schwollen und wuchsen; und Maren wünschte brennend, daß sie noch jung wäre, das Hemd zurückstreifen und das Kleine anlegen könnte.
Sie begriff ihre Tochter ganz und gar nicht. Sörine kam selten nach Hause und am liebsten gegen Abend, wenn niemand es sah; aus dem Kinde schien sie sich nicht das geringste zu machen. Sie war kräftig und rank geworden, glich gar nicht mehr dem sommersprossigen, schmächtigen Mädchen, das nichts vertragen konnte. Ihr Blut war gereift und ihr Wesen sicher geworden; aber es war ja nicht das erstemal, daß eine kränkelnde Frau dadurch, daß sie ein Kind bekam, verwandelt, sozusagen von der Verzauberung befreit wurde.
Ditte selbst schien die Mutterliebe nicht zu entbehren, sie wuchs gut heran trotz der künstlichen Ernährung und wurde bald so groß, daß sie die Holzschuhe an ihren kleinen Füßen behalten und an der Hand des alten Sören in die Dünen gehen konnte. Und da war sie gut aufgehoben.
Sonst sah es manchmal schlimm genug aus. Denn Maren hatte ja ihre Arbeit, die unter keinen Umständen vernachlässigt werden durfte, und die Kleine war überall. Es war nicht so einfach, alles hinzuwerfen, was man in den Händen hatte, die Milch überkochen und die Grütze anbrennen zu lassen, um hinter dem Kind herzustürzen. Maren war in ihrem Hause sehr ehrgeizig, und manchmal fiel die Wahl schwer. Die Kleine mußte dann in Gottes Namen ihre Beule hinnehmen.
Ditte ließ es sich nicht anfechten. Sie konnte froh sein, daß sie bei den Großeltern war. Sie war ein neugieriges Ding und mußte an allem herumbasteln; oft war es ein Gotteswunder, daß kein Unglück geschah. Mißgeschicke hatte sie hundert am Tage, unbedacht und unüberlegt, wie sie war. Sie stürmte drauflos; war etwas da, worauf sie treten konnte, so war’s ein Glück, sonst fiel sie hin. Ihr kleiner Kopf war voller Beulen und Schrammen; sich in acht nehmen lernte sie nicht, trotz all der Püffe, die sie abbekam. Es fehlte bloß, daß sie obendrein Schläge bekommen sollte. Wenn es richtig weh tat, mußte Großvater darauf pusten, oder Großmutter drückte die kalte Klinge des Brotmessers gegen die Beule. Dann verging der Schmerz.
»Es vergeht wieder«, sagte sie und lächelte Großmutter zu; die Tränen hingen ihr noch in den langen Wimpern, und die Wangen waren nach und nach ganz rauh von den Tränen geworden.
»Ja, gewiß«, erwiderte Maren. »Aber Närrchen muß achtgeben.«
Das war ihr Name in jenen Tagen, und eine richtige kleine Närrin war sie, vierschrötig und spaßig. Man konnte ihr nicht böse sein, obwohl sie es zuweilen den beiden Alten zu bunt trieb. Es wollte gar nicht in ihren kleinen Kopf hineingehen, daß es etwas gab, was man nicht durfte; sobald ihr irgend etwas einfiel, waren die Händchen sofort da. »Sie hat keine Überlegung«, sagte Sören bedeutungsvoll, »sie ist eben ein Frauenzimmer. Möchte wissen, ob ein Klaps auf die Finger nicht doch …«
Aber Maren überhörte das, zog die Kleine an sich und erklärte wohl zum hundertstenmal, das dürfe Närrchen nicht tun. Und eines Tages blieb es trotzdem haften. Ditte machte wie gewöhnlich irgend etwas verkehrt, ohne es sich anfechten zu lassen, wie immer. Als sie aber fertig war, reichte sie den beiden Alten ihr spitzes Mündchen hin. »Küß mich – ich bitte um Verzeihung«, sagte sie. Man konnte ihr nicht widerstehen.
»Vielleicht wirst du nun zugeben, daß sie recht gut den Unterschied zwischen recht und verkehrt lernen kann?« sagte Maren.
Sören lachte. »Ja, zuerst tut sie’s, und dann muß sie überlegen, ob es auch recht war. Sie wird ganz gewiß ein richtiges Frauenzimmer werden.«
Mit der Reinlichkeit haperte es. Ditte war sehr gedankenlos und nahm sich nicht beizeiten zusammen – sie hatte immer keine Zeit; und dann war das Unglück geschehen. Doch auf diesem Gebiet ließ Maren nicht mit sich spaßen. Sie wartete ihre Zeit ab, um nicht unvernünftig genannt zu werden; eines Tages aber nahm sie sich die Kleine vor, trug sie zum Brunnen hinunter und tauchte sie resolut in einen Zuber mit Wasser, der gerade aus dem Brunnen heraufgezogen worden war. Das eiskalte Bad half, und von nun an vergaß Ditte nicht wieder, sich sauberzuhalten.
Die Frauen im Dorf hatten alle ihre Not damit, die Kinder an Reinlichkeit zu gewöhnen. Sie sahen, welche Fortschritte Ditte gemacht hatte, und nahmen Marens Hilfe in Anspruch. Maren war der Ansicht, daß sie damit ebensogut selber fertig werden könnten; einen Kinderpopo in kaltes Wasser zu tauchen, dazu gehörte keine große Kunst. Aber das wollten sie nicht glauben – Maren mußte kommen und es tun, wenn es wirken sollte. Na, dann mußte sie also heran, und in der Regel half es. »Du bist klug«, sagten sie und steckten ihr zum Dank etwas Speck oder ein paar Fische zu – »aber du hast es ja auch nicht von fremden Leuten gelernt.« Diesen Hinweis darauf, daß ihre Mutter eine weise Frau gewesen sei, hörte Maren gar nicht gern. Aber der Speck und die Fische kamen auf eine kahle Stelle, und – wie Sören sagte – der Arme mußte soviel anderes zusammen mit dem täglichen Brot hinunterbeißen.
Das schlimmste war, daß Ditte eine Zeitlang so groß im Herunterreißen und Zerschlagen war. Sie mußte ihre kleine Stupsnase in alles stecken, und da sie zu winzig war, um übersehen zu können, was auf dem Tisch stand, zog sie das Ganze zu sich herunter. Sören mußte sich einen Drillbohrer verschaffen und nieten lernen, um die ärgsten Zerstörungen wiedergutzumachen. Ditte fiel manches auf den Kopf, ohne daß es sie abgeschreckt hätte. »Nichts kann ihr etwas anhaben – sie ist ein richtiges Frauenzimmer«, sagte Sören. Heimlich war er stolz auf ihre Widerstandsfähigkeit. Aber Maren mußte ein Auge auf jeden Finger haben und lebte in ewiger Angst, wegen der Sachen und wegen des Kindes.
Eines Tages warf sie eine Schüssel mit heißer Milch herunter und verbrühte sich ordentlich; seitdem war sie von ihrer Neugier kuriert. Maren mußte sie zu Bett bringen und mit Öl und Scheiben von rohen Kartoffeln behandeln; und es dauerte eine Zeitlang, bis Ditte sich ganz erholte. Aber dann stand sie auch ohne die geringste Narbe da. Man erzählte sich später weit und breit von Marens Tüchtigkeit im Heilen von Brandwunden, und die Leute kamen mit ihren Schäden zu ihr.
Ditte aber schoß empor wie eine junge Pflanze. Tag für Tag entfaltete sie neue Blätter. Wenn sie mitten in einer schwierigen Periode war und die Großeltern bekümmert beratschlagten und sich zuletzt vielleicht auf strenge Maßnahmen einigten – ja, dann war sie schon wieder heraus und in irgend etwas anderem drin. Es war, als segelte man über flachen Grund, meinte Sören, fortwährend zog es unter einem vorüber und machte etwas Neuem Platz. Die Alten mußten sich fragen, ob es ihnen und ihren Kindern ebenso ergangen sei. Früher hatten sie nie darüber nachgedacht, sie hatten keine Zeit gehabt, sich über das unbedingt Notwendige hinaus mit den Nachkommen zu beschäftigen; der eine hatte genug damit zu tun, für das tägliche Brot zu sorgen, der andere damit, die Brocken zusammenzuhalten. Aber jetzt konnten sie einfach nicht anders, sie mußten nachdenken, wie tief sie auch in der Arbeit stecken mochten, und sie mußten sich über so mancherlei wundern.
»Es ist doch sonderbar, daß ein kleines Kind einem die Augen öffnen soll, so alt wie man ist und so vieles man wissen müßte«, sagte Maren.
»Plappermaul«, sagte Sören. Und das bedeutete in dem Ton, in dem er es hervorbrachte, daß er selbst etwas Ähnliches gedacht hatte.