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FRAUEN IM SINN

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Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben

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Traude Bührmann

Faltenweise

Lesben und Alter

K+S digital

Inhalt

Vorwort

Die beste Möglichkeit, Träume zu verwirklichen, ist aufzuwachen

Inge Krause, 59 Jahre

Lust und Genuss als Lebensenergie

Ayaya, 48 Jahre

Heiter und weise sei denn das Alter

Elisabeth Heitkamp, 81 Jahre

Warum klingt der Ton, wie er klingt?

Nina Rossi, 61 Jahre

Ich bin ein Bohemien, und ich bleibe ein Bohemien

Rachel Cohen, 58 Jahre

Wenn du Glück hast, kannst du dich mit neunzig noch verlieben

Adaku Gerlach, 70 Jahre

Die Kunst des Kicherns

Frieda Fröhlich, 59 Jahre

Nichts ist so beständig wie der Wandel

Anita Feuerbach, 53 Jahre

Vorwort

Wie eine lebt, so altert sie

„Ich könnte mich mit neunzig noch verlieben …“

„… eine Frau, die älter ist als ich, nein danke …“

„Schweren Herzens hab ich mit neunundsiebzig die Skier in den Keller gestellt …“

„Mit vierzig hab ich die Auftritte als Bauchtänzerin aufgegeben – meine Knochen wollten nicht mehr so …“

„Ich habe keine Zeit, übers Alter nachzudenken …“

„Falten? Große Trauertage hab ich deswegen bestimmt nicht eingelegt.“

„Alter gibt es für mich nicht …“

Aus diesen Worten geht hervor, dass Alter sehr relativ und sehr subjektiv ist, dass jede von uns ihr Alter/n unterschiedlich erlebt.

„Ich wünschte, ich wäre alt“, sagte mir eine Freundin mit dreiunddreißig. „Dann könnte ich endlich nach meinem Rhythmus leben und müsste mich nicht immer so anstrengen, um mithalten zu können.“ In den Genuss, eine alte Frau zu sein, kam sie nicht. Sie starb mit dreiundvierzig.

Für meine Mutter brach die Welt zusammen, als sie mit achtzig feststellen musste, dass sie keine Zwanzig mehr war: Durch eine Krankheit musste sie sich von ihren Aktivitäten, die ihr Lebenselixier waren, verabschieden. Anscheinend trete ich in die Fußstapfen meiner Mutter: Mit meinen siebenundfünfzig Jahren bin ich keine ausgesprochene Freundin des Älterwerdens, sondern wünsche mir, noch mal zwanzig, dreißig, zumindest vierzig zu sein, um die Endlichkeit hinausschieben zu können. Ich finde das Leben zu reichhaltig, um mit Gelassenheit hinzunehmen, dass das Ende unausweichlich näher rückt. Von daher war ich sehr gespannt, wie andere ihr Älterwerden beschreiben, welche Bedeutung sie dieser Lebensphase geben, wie sie ihr Alter gestalten.

Immer wieder hat es mich bei den Interviews fasziniert, wie wenig das Alter in Jahren gemessen eine Rolle spielt, wie neugierig die Porträtierten sind, zu entdecken, was es noch alles im Leben gibt, und wie bereitwillig sie ihr Leben oft radikal verändern, ja wie erpicht sie geradezu darauf sind, etwas Neues auszuprobieren, sei es, mit fünfzig einen anderen Beruf zu ergreifen, im Rentenalter ein Studium zu beginnen, eine Fernreise zu planen oder schlicht etwas zu tun, was sie schon immer tun wollten, aber bis heute nicht geschafft haben: zum Beispiel mit dem Bus zur Endstation zu fahren.

Nachhaltig beeindruckt haben mich die Biografien, die mit jeder Altersgeschichte verbunden sind. Jede für sich ein Roman! Ein Detail, untergründiger Humor, die Gelassenheit gegenüber dem Altern oder auch dessen Zurückweisung, eine besondere Formulierung brachten mich zum Nachdenken, Schmunzeln oder Lachen. Manche Ausführungen allerdings, besonders wenn sie die Endlichkeit des Lebens betrafen, sprich: das Thema Sterben, gingen mir unter die Haut. Und so musste ich immer wieder Distanz schaffen.

Die Porträtierten haben bestätigt, dass es weder die Altersfrage gibt, noch allgemeingültige Antworten darauf. Zusammenfassend kann bestenfalls gesagt werden: So wie eine lebt, so altert sie. Das Alter ist ja nicht plötzlich da. Es erscheint höchstens plötzlich, irgendwann zum ersten Mal: mit den Fältchen in Mund- und Augenwinkeln, einem Fluch auf Kleingedrucktes, nächtlichen Schweißausbrüchen, mit einem langsameren Schritt, dem Erstaunen, dass der Rentenantrag auszufüllen ist. Und wenn eine ihr fortgeschrittenes Alter selbst nicht wahrnimmt, bemerken es die anderen: Sie bieten ihr in der U-Bahn einen Sitzplatz an, siezen sie in Lesbenkreisen oder machen Komplimente wie „Du bist aber fit …“, wobei sie sich „in deinem Alter“ gerade noch verkneifen. Oder es wird unmissverständlich angesprochen: „Willst du nicht bald deinen Führerschein abgeben?“ Und selbst wenn eine ihr Alter immer wieder vergisst, kann sie beim besten Willen nicht übersehen, dass der Sohn dreißig ist, und wenn die Tochter Mutter wird, ist sie Großmutter.

Auch wenn das Alter für die einzelnen kaum je Thema ist, so verschieben sich für die meisten der Porträtierten in dieser Lebensphase doch die Prioritäten, vielleicht zugunsten eines besonderen Engagements, eines kreativen Prozesses, einer Liebesbeziehung, der Selbstfindung, Reisen … Was auch immer, auf jeden Fall gilt es, intensiv zu leben, wagemutig. Mit Lust und Spaß. Sich konzentrieren auf den gegenwärtigen Moment. Was haben sie schon zu verlieren, angesichts der Zukunft, die gnadenlos kürzer wird? „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Weitgreifende Visionen und Utopien, die manche von ihnen mit Vehemenz in jungen Jahren verfochten haben mögen, rücken in den Hintergrund; die Wünsche richten sich aufs Hier und Jetzt: auf Überschaubares, Machbares, Mögliches. Die eine will das weite Feld der Sexualität erkunden, die andere will Philosophie studieren, eine dritte ihren Wohnsitz nach Hawaii verlegen. Die Möglichkeiten sind für alle unterschiedlich, entsprechend ihren Lebenszusammenhängen. Sie kommen aus unterschiedlichen Regionen, aus der Stadt und vom Land, aus Ost- und Westberlin, aus verschiedenen Milieus und Berufen. Sie leben offen lesbisch, halb offen, und manche erwähnen es lieber nicht. Sie sind zwischen achtundvierzig und einundachtzig Jahre alt oder jung.

Da gibt es Frieda Fröhlich, die Zahnärztin aus dem Oberbergischen, die mit dreiundfünfzig ihre Praxis an den Nagel gehängt hat und Clownin geworden ist; Ayaya, die Psychotherapeutin und Tantra-Lehrerin, die „mehr Lust in die Welt bringen möchte“; Inge Krause, Krankenschwester aus Berlin-Hellersdorf, die in der Wendezeit mit über Fünfzig ihr Coming-out hatte; die österreichische Künstlerin Nina Rossi, die sich weit jenseits der Lebensmitte der Liebe wegen in Deutschland ansiedelt; die jüdische Religionslehrerin Rachel Cohen, die ihren Beruf als Berufung sieht und sich dennoch vorzeitig berenten lässt; Adaku Gerlach, die afrodeutsche Berlinerin, die mit Beginn ihrer Rentenzeit endlich anfängt, ihre eigenen Wege zu gehen; die pensionierte Berufsschullehrerin Elisabeth Heitkamp, die immer lesbisch war, dieses Wort aber erst mit fünfzig zum ersten Mal hört und mit siebzig ihr Soziologiediplom macht; die Sozialwissenschaftlerin und Heilerin Anita Feuerbach, die mit ihren beiden Freundinnen seit fünfzehn Jahren zusammen lebt und arbeitet und als „Dreier-Combo“ alt werden möchte.

Allen Porträtierten möchte ich für das Vertrauen danken, das sie mir entgegengebracht haben, sowie für den Mut und die Offenheit, mit denen sie sich in zum Teil sehr persönlicher Weise zum Thema Alter/n geäußert und von ihren Erfahrungen erzählt haben.

Allen Leserinnen wünsche ich viel Vergnügen beim Entdecken und Wiedererkennen, was Alter in seiner Vielfältigkeit bedeuten kann – viel Vergnügen beim Lesen in den mehr oder weniger faltigen Gesichtern.

Die beste Möglichkeit, Träume zu verwirklichen, ist aufzuwachen

Inge Krause, 59 Jahre, Krankenschwester, Altenpflegerin

So kann es nicht weitergehen, denkt Inge Krause, du bist jetzt einundfünfzig. Wenn das alles gewesen sein soll, kannst du Schluss machen. Abschließen mit dem Leben. Damit meint sie nicht, sich das Leben zu nehmen, sondern ihre Lebensvorstellungen zu begraben. Das ist dasselbe. Fast. Sie verkümmert in ihrer Ehe. Ändert sie nichts, wird sich ihre Tochter Bettina zurückziehen. Sie kann sich das Elend nicht länger mit ansehen, versteht auch nicht, wieso ihre Mutter, die sonst so aktiv ist, die überall ihre Meinung vertritt, in ihrem Arbeitsleben immer entscheidungsfreudig ist und nicht so vermuffelt wie die Verwandtschaft, wieso sie an diesem Punkt stehenbleibt und eingeht wie eine Primel.

An Trennung denkt Inge Krause nicht. Doch: Ich gehe weg. Und überlegt, was ihr dieses Zuhause wert ist, Haus und Garten in Berlin-Hellersdorf, ihr herzkranker Mann, ihr Sohn im schwierigen Pubertätsalter. Die Heirat, das war sowieso ein Fehler gewesen. Als sie vor dem Altar ja sagte, hatte sie es gewusst. Wegen ihrer Tochter hatte sie eingewilligt, wollte der Kleinen einen Vater geben, die alle Männer auf der Straße mit Vati ansprach.

Mit achtzehn brachte Bettina ihr vorsichtig bei, dass sie sich nichts aus Männern mache. Sie interessiere sich für Frauen. Inge Krause, zweiundvierzig, fiel nicht aus allen Wolken, nein, diese Worte waren der Auslöser, darüber nachzudenken, wofür sie sich eigentlich interessierte, warum sie mit ihrer Ehe, ihrem Leben nicht zufrieden war.

Schwule und lesbische Paare waren ihr nichts Neues, unter ihren Arbeitskolleginnen und Kollegen im Krankenhaus gab es einige, doch sie lebten ihre Beziehung nicht offen. Alle anderen dachten, na, die haben wohl was miteinander, und damit war es erledigt. Inge Krause guckte manchmal erstaunt hoch: „Ja, diese Lebensform wäre vielleicht auch möglich.“ Sie fühlte sich in Gesellschaft von Frauen wohler, ging aber gelegentlichen Annäherungsversuchen in ihrem Berufsleben aus dem Weg. Nur keine Komplikationen in ihrer Ehe! „Diesen Stress machst du dir nicht.“

Zum zwanzigsten Hochzeitstag schenkt Bettina ihr fünf Tage „Kreativsein“ auf einem Frauenhof. Inge Krause ist begeistert über die Aussicht, nach Jahren endlich mal etwas allein zu machen. Malen, Musik hören, wandern, über Probleme reden, sich in der Natur erholen, unter Frauen sein. Das klingt verlockend. Doch zwei Tage vor Kursbeginn gerät sie ins Schwanken: Was mag dort aufgebrochen werden, was mag ihr entgleiten? Ob das wohl was bringt? Am liebsten würde sie absagen, doch sie tut es nicht bei dem Gedanken an den Wäscheberg, der sie während dieser Urlaubswoche zu Hause erwarten würde, an das tägliche Mittagessenkochen und Abwaschen … Sie packt ihre Sachen. Zwiespältig. Ihre innere Stimme setzt sich durch: „Wenn du das jetzt nicht machst, verpasst du die Chance deines Lebens, etwas Neues zu beginnen.“

Wortlos fährt ihr Mann sie zum Frauenhof. Ihr Sohn sitzt hinten im Auto. Je näher sie kommen, desto leichter wird es Inge Krause. Eine wunderschöne Strecke.

„Wir kamen an dem Tor an. Der Hof völlig verwildert, noch dieses Kopfsteinpflaster, dieses verbrannte Grün, die Scheune, alles sah wirklich urwüchsig aus. Und plötzlich läuft da ’ne nackte Frau mit zwei Eimern quer über den Hof. Hier willst du bleiben? sagte mein Mann, aber in einem Ton! Und ich: Ja, hier möchte ich bleiben. Mein Sohn grinste nur.“

Alle Zweifel sind wie weggeblasen. Wobei Inge Krause nun nicht gedenkt, fünf Tage lang nackt durch die Gegend zu laufen. Vom ersten Augenblick an fühlt sie sich wohl. Ist nicht gehemmt wie sonst, wenn sie in eine ungewohnte Umgebung kommt. Malen, spazieren gehen, abends mit den fünf anderen Teilnehmerinnen und zwei Kursleiterinnen in der Runde sitzen, sich kennenlernen, anfreunden, endlose Gespräche, eine ganz neue Erfahrung. Der Lebensstil eine Offenbarung: „Bei mir ging alles nach der Uhr, schon durch den Krankenhausbetrieb, sämtliche Tassen im Schrank mit dem Henkel nach rechts, und die Kannen mit dem Henkel nach links – sagenhaft, was man so entwickeln kann; ein Funktionalismus, der überhaupt keinen Sinn hat. Und hier das absolute Chaos. Kein Wasser zum Duschen, die Toilette wurde mit unserem Waschwasser oder dem Abwaschwasser gespült; der Brunnen hatte versagt.“ Inge Krause kann sich mit dieser ihr ungewohnten Lebensform völlig identifizieren, spürt, das ist, was sie eigentlich immer wollte und was sie bis dato versäumt hat. Es ist wunderschön. Manchmal allerdings sitzt sie auf ihrem Bett und denkt, wenn du jetzt weitergehst, verlierst du dich. Aber die Betreuerinnen achten darauf, dass es nicht so weit kommt, dass niemand ausrastet und damit allein nach Hause fährt.

Inge Krause fragt sich: Was habe ich überhaupt die ganzen Jahre mit mir gemacht? Meine Bedürfnisse immer wieder in eine Schublade gepackt, sie fest verschlossen und gedacht, was nicht sein kann, darf nicht sein, gibt es nicht. Und hätte sie den Fehler auf dem Standesamt nicht gemacht – vielleicht war es auch nur ein schlechter Griff –, wäre alles anders geworden, wäre sie vielleicht viel eher darauf gekommen, dass sie, wenn sie A sagt, nicht auch B sagen muss. Dieses verdammte Verantwortungsgefühl durch Erziehung und Beruf: Das ziehst du durch.

Anscheinend hat ihre Tochter sie richtig eingeschätzt. Inge Krause fühlt sich so wohl unter den Frauen, dass sie überlegt, ob Bettina erblich belastet ist oder ob sie durch ihre Tochter „drauf gekommen ist“. Am Ende der fünf Tage verabschieden sich alle: Bis nächstes Jahr auf dem Frauenhof!

Wieder zu Hause beginnt Inge Krause zu lesen, kauft sich alle empfohlenen Bücher, fasst ihrem Mann und ihrer Verwandtschaft gegenüber ihre Bedürfnisse verstärkt in Worte, sagt vor allem, was sie nicht mehr will. Schon immer galt sie in der Krause-Verwandtschaft als Exotin und aufsässig, wenn sie ihrem Humor freien Lauf ließ. Und noch dazu mit einem unehelichen Kind. „Bei denen muss nach außen stimmen, was innen nicht stimmt.“ Ihr Mann akzeptierte das Kind, versuchte, Bettina ein guter Vater zu sein – sonst hätte er bei Inge Krause auch keine Chance gehabt –, wollte aber, wie er später zugab, in erster Linie die Krankenschwester haben, die außerdem gut kochen und einwecken kann, mit der er ein Haus bauen kann. Nicht selten kontrollierte die Schwiegermutter, was in den Töpfen war: „Was? Du kannst doch dem armen Mann, der schwer gearbeitet hat, heute keinen Eintopf anbieten – der braucht Fleisch, ein richtiges Kotelett.“

Dieses, ihr zweiundfünfzigstes Jahr, wird Inge Krauses Überbrückungsjahr. Sie schlägt eine Brücke zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben, zwischen jener und dieser Welt. Überdenkt nicht nur ihre heikle Familiensituation mit krankem Mann, schwierigem Sohn, immer fordernder werdender alter Mutter, sondern auch ihre materielle Lage mit allem Wenn und Aber. Sie weiß, dass sie völlig mittellos sein wird, wenn sie geht; dass sie nichts mitnehmen kann, es auch gar nicht will. Sie ist eine „Pragmatische“, muss immer alles vorher klären. Sie springt nicht gern ins kalte Wasser. Man würde es in ihrer Verwandtschaft auch nicht verstehen. Aber ihre Tochter wird es verstehen. Inge Krause hat keine Freundinnen oder Bekannten, mit denen sie über diesen Schritt und die Konsequenzen reden könnte. Aber den Frauenhof. Im August.

Sie fiebert dem sommerlichen Treffen entgegen. Fühlt sich wie siebzehn. Schweigend sitzt ihr Mann wieder hinter dem Steuer. Eine wunderschöne Landschaft. Inge Krause ist fröhlich und gelöst. Sie weiß, dieses Treffen bringt die Entscheidung. Sie will mit dem für sie charakteristischen „analytischen Denken“ aufhören und die Dinge laufen lassen. „Es wird sich schon regeln.“

Auf dem Hof sind schließlich andere Frauen als im Vorjahr – jüngere. Inge Krause ist die Älteste in der Gruppe und empfindet ihr Alter zunächst als Handikap: „Hoffentlich denken die nicht: Ogottogott, die Alte – jetzt kommt die in unseren Kreis.“ Dabei ist sie viel lieber mit Jüngeren zusammen. Die Jungen haben eine andere Art, miteinander umzugehen, und andere Themen als Krankheit und Tod, Medikamente und Arztbesuche. Alles, was älter ist als sie: nein, danke. Es sei denn, es sind interessante Frauen, die „das gewisse Etwas haben, die frei von alten Zöpfen sind, die zuhören, die lustig sein und sich mit sich selbst beschäftigen können, die mit Leichtigkeit leben.“ Dann kann Inge Krause uralte Frauen mit vielen Falten schön finden. Auf die Ausstrahlung kommt es ihr an. Eine einzige gute Freundin hatte sie, die über siebzig war. „Die war jung geblieben.“

Vielleicht ist sie auch durch ihre Arbeit in der Altenpflege vorbelastet. „Die Alten sind so verbittert, so störrisch, so fordernd, nehmen alles nur persönlich.“ Kurz vor der Wende hat sie im Krankenhaus aufgehört, wollte keinen Stress mehr im Kopf, sondern nur noch in den Beinen. „In der Altenpflege habe ich nun beides.“

Inge Krause ist es gewohnt, überall die Älteste zu sein, auch in ihrem jetzigen Mitarbeiterinnenkreis in der Abteilung für psychisch Kranke eines Altenwohnheims. Sie wird aber nicht als die Älteste gesehen. „Ich bin integriert.“ Bis auf die Wohnbereichsleiterin und eine Kollegin, die die Fünfzig weit überschritten haben, arbeitet sie mit Zwanzig- bis Vierzigjährigen, ein zwölfköpfiges Frauenteam. „Unser Kollektiv“, rutschte es Inge Krause kürzlich heraus. In den Ohren des Teams völlig daneben, total veraltet.

Auch hier, auf dem Frauenhof, spielt ihr Alter keine Rolle. Über das Thema Arbeitslosigkeit kommen sie darauf zu sprechen, stellen fest – ohne wieder davon anfangen zu wollen, wie toll es in der DDR war –, dass das Alter im Berufsleben nicht so bedeutsam war. Eine Frau konnte auch über das Rentenalter hinaus arbeiten, vorausgesetzt, sie brachte die Leistung wie zuvor. Sie musste eben geistig und körperlich fit sein, beweglich, voll einsatzfähig. So konnte eine Endfünfzigerin noch Oberschwester werden. „Ich bin’s nie geworden, weil ich nie in die Partei eingetreten bin. War nie scharf drauf, weder auf das eine noch auf das andere.“ Für Inge Krause stand nach der Wende eine Zusatzausbildung als Sozialarbeiterin zur Debatte, doch gleichzeitig wurde ihr klargemacht: aussichtslos, sich mit vierundfünfzig noch als Sozialarbeiterin zu bewerben. „Das erschütterte mich zutiefst.“

Auf dem inzwischen weniger verwilderten Frauenhof stehen die Linden in voller Blüte. Der Duft ist berauschend. Das Leben spielt sich im Freien ab. Lautes Lachen, gebräunte Haut. Eine Kursteilnehmerin, Marlies Monte, arbeitet an einer Skulptur, und manchmal zeichnet sie, manchmal fotografiert sie. Auf den ersten Blick ein herber Typ. Doch da sind Bruchteile von Sekunden, in denen Inge Krause auch „was ganzes Weiches“ in ihr sieht. Sind es diese Augenblicke, die Inge Krause keine Chance lassen, verschlossen zu bleiben?

„Ich weiß nicht, wie es kam, ich guckte hoch und dachte: Was ist das jetzt? Du hast dich ja richtig verknallt. Ich fand kein anderes Wort dafür. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich nicht nur verknallt hatte, ich hatte mich unglaublich verliebt. Es war Liebe. Hört sich ganz blöd an. Es war ’ne irre Zuneigung, die ich zu einem anderen Menschen gefasst hatte – ein Gefühl, das ich in meinem ganzen Leben noch nie so hatte. Aber es war so unvorbereitet, ich konnte überhaupt nicht intelligent darauf reagieren. Konnte ich nicht. Ich reagierte, ich weiß nicht wie, aber es war verrückt.“

Bisher hatte Inge Krause in ähnlichen Situationen dicht gemacht. Nur keine Komplikationen! Auch jetzt denkt sie: Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Für das, was du vorhast, zieht es dir den Boden unter den Füßen weg. Sie hat Angst, sich in das sie überwältigende Begehren fallen zu lassen. Sie könnte ihr Gesicht verlieren, außer Kontrolle geraten.

Steinböcken fehlt eben die Leichtigkeit des Seins, wird ihr gedeutet. Sterne, unausweichliche Planetentransite und Göttinnen begegnen ihr auf Schritt und Tritt unter den duftenden Linden. Dabei hält sie, die sich als sehr kritischen Menschen bezeichnet, Realistin durch und durch, nicht viel von „Metaphysik und solchen mystischen Sachen“. Die sind ihr geradezu unheimlich. Schwarze Mondin, Mondjahre und Mondphasen. „Bei mir sind es die verspäteten Phasen. Vielleicht treffen sie jetzt zu“, kontert sie amüsiert.

Und der Altersunterschied von fünfzehn Jahren erschreckt sie. Sie blickt in den Spiegel, in ihre von Fältchen umgebenen blaugrauen Augen, auf ihre von Fältchen durchzogenen Wangen: Besonders jung bist du ja nicht mehr, und du hast nichts zu bieten. Unmöglich, dass so ’ne Junge sich mit dir abgibt. Sie wirft ihr mittelblondes Haar zurück, wendet sich vom Spiegel ab. Sie ist mittelgroß, ihr Rock ist mittellang; leichtfüßig läuft sie über den Hof, manchmal ein wenig irritiert von „dieser anderen Welt“, in der sie ein Neuling ist.

Es bleibt beim verhaltenen Flirt in dieser Sommerwoche. Inge Krause und Marlies Monte verabschieden sich voneinander. Ohne Verabredung. Kaum zu Hause, greift Inge Krause zum Telefon und weiht ihre Tochter ein. „Stell dir vor … “ Bettina ist weniger enthusiastisch; die Angebetete gehört zu ihrem Freundinnenkreis. Sie warnt ihre Mutter: Erwarte nicht zu viel!

„Wie wär’s mit einem Flohmarktbummel?“, schlägt Marlies Monte für den kommenden Sonntag vor. Es ist Mittwoch, als Inge Krause den Brief erhält. Sie greift sofort zum Mantel und macht sich auf den Weg. Nach kurzem Zögern, schließlich stehen zwei Namen auf dem Klingelschild, läutet sie. Marlies Monte ist nicht mal überrascht, bietet Kaffee an, sie rauchen und reden. Reden. Inge Krause denkt an anderes. Marlies Monte behauptet später, Inge Krause habe sie verführt. Sie sei die Aktive gewesen, nach dem Flohmarkt-Rendezvous.

Die beiden sehen sich täglich, reden stundenlang, diskutieren, plaudern, lachen viel. In diesen Momenten, „wenn wir frei waren“, kann sich Inge Krause in „die intime Nähe“ fallen lassen. Sie genießen. Auch das ist neu für sie.

Inge Krause zieht von zu Hause aus. Mit Pappkartons. Erst zur Untermiete nach Friedrichshain, dann in ihre „erste richtige Wohnung“ ein paar Straßen weiter. Monatlich zahlt sie Unterhalt für ihren Sohn. Sie fühlt sich dazu verpflichtet, hat ihn schließlich verlassen. Und ihr Mann fordert es, er will ihr das Leben so schwer wie möglich machen. Sie soll auf keinen grünen Zweig mehr kommen. Vielleicht kehrt sie dann zu ihm zurück? Er gibt der Tochter die Schuld, die selbst überrascht ist von dem plötzlichen Auszug ihrer Mutter, überrascht auch, dass sich ihre Mutter so absolut, von einer Sekunde zur anderen, Hals über Kopf in diese Liebesbeziehung stürzt.

Marlies Monte, die Künstlerin, führt Inge Krause in „diese andere Welt“ ein. Nicht dass Inge Krause die Frauenorte in Friedrichshain, in Kreuzberg und am Prenzlauer Berg unbekannt wären – Bettina hatte sie gelegentlich dorthin mitgenommen; sie kannte deren Freundinnen, war zu Geburtstagen eingeladen. Aber jetzt ist sie nicht mehr aufzuhalten, saugt alles auf. „Ich war ja wie ausgetrocknet. Ich war ja wie ausgehungert. Ich wollte alles auf einmal machen. Ich wollte immer alles sofort. So ist das, wenn man jung ist.“

Mit dem Gefühl, nicht genug Zeit zu haben, hält sie Tochter und Freundin auf Trab: Nun zeigt mir mal, wo’s lang geht! Wollen sie Luft holen, hat Inge Krause immer noch Energie – es könnte endlos weitergehen. Inge Krause überfordert die anderen nicht nur mit ihrem Tatendrang, ihrem Elan, ihrer unbändigen Neugier, sondern auch mit der Illusion, dass „diese andere Welt“ eine heile Welt ist. Denn: Frauen sind mutig, stark und schön. Sie wird „furchtbar enttäuscht“, weil es unter Frauen eben nicht immer fair zugeht. Gern würde sie im Unabhängigen Frauenverband für die Sache mitstreiten, doch die Konkurrenzkämpfe, das Hickhack und der Gebrauch der Ellenbogen halten sie davon ab. Mechanismen wie bei Männern, denkt sie, traut sich aber nicht, etwas zu sagen. Was versteht sie schon davon? Sie war so lange völlig außerhalb, fühlt sich als Fremdkörper, hat einen „furchtbaren Minderwertigkeitskomplex“. Doch andererseits, überlegt sie, geht es ohne Durchsetzungsvermögen nicht. „Es war ja diese schlimme Zeit, in diesem Umbruch, alle beharkten sich, und nun kam ich mit meinen rosaroten Vorstellungen.“ „Chaotisch“ wird das Wort, mit dem Inge Krause „diese Jahre“ charakterisiert.

Das Friedrichshainer Frauenzentrum wird ihr ein wichtiger Ort. Es ist überschaubar. Sporadisch, wann immer ihr Dienstplan es erlaubt, ist sie dort aktiv, nimmt teil an einer Veranstaltung, an einem Frühstück. Lieber würde sie sich kontinuierlich irgendwo engagieren, doch davon wird sie durch „diese sehr intensive Beziehung“ abgelenkt. Und umgekehrt hat sie den Eindruck, sich wegen ihrer Aktivitäten nicht genug auf diese Beziehung konzentrieren zu können.

„Natürlich hatte ich mir ’ne unglaublich schwierige Frau ausgesucht. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, wenn ich mir so ’ne ganz Liebe genommen hätte, aber es ging eben nicht. Ich liebe das Schwierige. Hinzu kommt, dass wir uns zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kennengelernt haben, wo ich auf der Suche war und meine Partnerin oder meine Beziehungsfrau, oder wie immer ich sie nennen soll, selber ziemlich am Boden. Es war alles furchtbar kompliziert, und ich wurde mit Verhaltensweisen konfrontiert, mit denen ich nicht umgehen konnte. Ich hatte eine Vorstellung von dem, wie es sein könnte, und habe immer wieder den Bezug zur Wirklichkeit verloren.“

Nähe und Distanz werden zum unausgesprochenen Beziehungsthema. Marlies Monte, die Künstlerin, braucht mehr Zeit und Raum für sich. Kann das aber nur in plötzlichen Ausbrüchen vermitteln. Inge Krause versteht die Explosionen nicht – gerade dann, wenn sie sich im Schwebezustand befindet. „Nach einem Augenblick oder Stunden oder einer Nacht schöner Nähe konnte das geschehen. Keine Wünsche waren bei mir offen, da steht Marlies frühmorgens verheult da und sagt: Wir werden uns jetzt drei Wochen nicht sehen. Dann kannst du mich zum Essen einladen.“

Inge Krause blickt auf den Kalender, wie viel drei Wochen sind. Sie möchte Erklärungen, die sie nicht bekommt. Immer wieder gibt es solche Momente, die sie aus dem Gleichgewicht bringen. Jedes Wort wird zum falschen, kann die Situation zum Explodieren bringen. Dabei will sie immer alles richtig machen. Sagt zu vielem ja. Die andere mit ihrer Erfahrung muss es besser wissen, sie selbst ist doch ein absoluter Neuling auf diesem Gebiet. Sie schreibt endlose Briefe in den sich wiederholenden Trennungsphasen, fühlt sich als Nervensäge. Von wegen Weisheit des Alters! „Wieso hast du dich so durcheinanderbringen lassen?“ fragt ihre Tochter später. „Ganz einfach, ich war immer ein Kopfmensch gewesen, und nun reagierte der Bauch.“ Und Marlies Monte scherzt heute: „Ich war ein gutes Übungsobjekt.“

Ursprünglich wollte Inge Krause von zu Hause fort, um ein neues Leben für sich anzufangen, „ganz viel lesen, ganz viel ins Theater, ins Konzert gehen, nach Hause kommen und alles liegen lassen, nichts muss mehr ordentlich sein, ich kann jetzt alles tun, was ich will.“

Es geht alles sehr schnell, viel zu schnell. Nachwendezeit, diese neue Welt, diese Beziehung. Wir haben uns zum falschen Zeitpunkt kennengelernt, wird sie im Nachhinein oft sagen, ebenso „hätte“ und „wäre“: „Wäre mir das passiert, nachdem ich alles erst mal geordnet gehabt hätte, wäre das wahrscheinlich völlig anders gelaufen. Ich hätte viel souveräner reagieren können … Wäre ich ausgezogen und hätte mich erst mal etabliert und nur geguckt, einfach geguckt.“

In dem Bemühen, die Beziehung aufrechtzuerhalten, zu retten, guckt sie auf Marlies Monte, reagiert auf deren Befindlichkeit und beschäftigt sich nur damit, warum es mit ihnen beiden nicht klappt. Sie kommt zu keinem Punkt. Sucht die Schuld für das Scheitern der Beziehung bei sich, versucht sich laufend zu ändern und weiß nicht mehr, wie sie sich noch verändern soll. Sie verliert sich selbst aus dem Blick. „Ich habe gelitten, gelitten, gelitten.“

Nach zwei Jahren beschließt sie, nicht mehr zu leiden. Sie stellt fest, dass sie eine Pause einlegen muss, zur Ruhe kommen. Eine Zeit des Suchens folgt, alles Mögliche anfangen, wieder lassen, wieder etwas Neues ausprobieren. Sie dreht sich im Kreis. Sie fühlt sich niemandem verpflichtet. Und leidet. Und beschwört das Telefon.

Bettina und ihre Freundinnen nehmen sie unter ihre Fittiche, laden sie ein, helfen ihr beim Umziehen, beim Einrichten. Allein geht Inge Krause nirgends hin. Traut sich nicht, hat immer das Gefühl, angestarrt zu werden. Wer ist denn das? Bemerkungen fallen gegenüber ihrer Tochter: „Was, deine Mutter? Was will die denn hier?“ Das verletzt beide. Tochter und Mutter.

Die Tochter zieht sich zurück. Die Mutter zieht sich zurück. Sie fängt an zu lesen. Stürzt sich auf Kate Millett, Simone de Beauvoir, ist tief bewegt und begeistert und frisst sich durch. Rita Mae Brown als kurzweilige Lektüre zwischendurch. In den Siebzigern hat Inge Krause die Frauenbewegung so gut es ging über Berichte und Nachrichten verfolgt und wäre sicher „mit dem Fähnlein der Aufrechten immer vorneweg“ und hätte sich für die Rechte der Frau stark gemacht, wenn … ja wenn sie nicht verheiratet gewesen wäre, wenn sie nicht in der DDR gelebt hätte, wo ihnen eingeredet wurde, alle Rechte zu haben.

Sie macht ihren Führerschein, kauft sich ein Auto, fährt hin und wieder zum Frauenhof, durch die wunderschöne Landschaft, findet dort Unterstützung in Gesprächen, besucht ihre zweitälteste Schwester in Marzahn. In der Stadt fährt sie ungern, hier ist der Verkehr zu hektisch, ihr fehlt die Sicherheit. Nachdem ihr erst einer hinten ins Auto fährt, dann vorn, steht der Wagen fast nur noch vor der Tür. Vor allem ist er zu teuer. Sie gibt ihn ab. Kann sich ja jederzeit wieder ein altes Ding kaufen.

Eigentlich hat sie alles erreicht, wovon sie in ihrer Ehe geträumt hatte: ein Zimmer für sich allein, mehr Zeit für sich. Doch wie all das gestalten? Bevor sie Antworten findet, bevor sie ihr Single-Dasein ausschöpfen kann, wird sie gezwungen, ihr Leben nochmals zu überdenken. Eine Krebsdiagnose wirft sie völlig auf sich selbst zurück. Operieren lassen will sie sich nicht. Sie kommt aus dem beruflichen Umfeld, „wo gesagt wird, wenn man erst das Messer ansetzt und Luft an irgendwelche Dinge kommt, dann geht alles noch viel schneller.“ Sie fällt in ein Loch. Lässt sich zum ersten Mal bewusst hineinfallen. Aus den Löchern, in denen sie zuvor gewesen ist, ist sie möglichst schnell wieder hervorgeklettert – niemand hatte etwas von ihrer Stimmung merken sollen. Aufrecht stand sie immer da. Jetzt steigt sie freiwillig hinab. Sie hat zufällig Urlaub, dann wird sie krankgeschrieben, muss also kein freundliches Gesicht im Dienst zeigen.

„Ich hab mir endlich mal erlaubt, mich gehen zu lassen. Man nennt das passive Erholung. Und passive Beschäftigung, wenn man tagelang durch die Straßen rennt. Ich bin zu Hause geblieben, hab versucht zu lesen, hab’s dann wieder weggepackt, hab mir keine schweren Sachen zugemutet, hab geschlafen, das Denken weggeschoben. Und wenn das Analytische wieder losging, bin ich einfach raus. In Wald und Feld, ich weiß gar nicht, wo ich überall war, nicht nur durch Berlin, ich hab alles Mögliche gemacht, völlig planlos, ziellos, mir nie etwas vorgenommen. Bin einfach losgegangen oder losgefahren und hab’s einfach laufen lassen. Und sicher nicht sehr stimmungshebend auf Mitmenschen gewirkt. Wer mir begegnet ist, wird bestimmt gesehen haben, entweder hat die Kummer oder die ist verbittert oder sonst was. Ich hab mir auch nicht die Mühe gemacht, mich irgendwo zu melden. Ich wollte und musste entscheiden, entweder ich lass mich operieren oder ich schaffe es mit meinem Willen.“

Ihr wird eine orthopädische Kur für ihre Knochen bewilligt. Osteoporose. Sie genießt das Schwimmbad, die Gymnastik, folgt ihrem Lauftrieb, kennt bald jeden Baum und Strauch in der Umgebung von Bad Pyrmont, sieht die „armen Menschen in der Krebsklinik“, und immer wieder stellt sie sich die Frage nach der Schuld in Bezug auf ihre gescheiterte Liebesbeziehung. Widerwillig kommt sie der Aufforderung einer Psychologin zu einem Gruppentermin nach. Erste Entspannungsübungen. So entspannend, dass Inge Krause einschläft, und als sie aufwacht, ist sie mit der Psychologin allein im Raum. Sie blickt sie an: offensichtlich eine Lesbe. Auch das noch!

„Wir sprachen nicht über unsere Neigungen, sondern sie bearbeitete mich, aber nicht nach schulmedizinischen Vorstellungen. Sie sagte mir sehr hart Dinge, die ich vorher gar nicht gewagt habe anzudenken, um mir nicht weh zu tun, aber auch den Menschen, die ich mochte. Sie lockte viel aus mir heraus; ich sprach, wie mir der Schnabel gewachsen war; zum ersten Mal war da jemand, der mir klarmachte, dass das nicht alles nur an mir liegt. Das bestärkte mich.“ Eine Offenbarung, dass sie nicht allein die Verantwortung für die gescheiterte Beziehung trägt. Das Ende tut zwar immer noch weh, doch sie betrachtet es aus einer anderen Sicht.

Auch der Brustkrebs wird Thema. Inge Krause will seinen Verlauf nicht mehr der Natur oder ihrem Willen überlassen. Sie möchte weiterleben. Lässt sich röntgen. Trotz ihrer „Phobie vor der Röhre“. Es stellt sich heraus, dass die Krebsdiagnose ihrer Ärztin „weit vorgegriffen war“. Nach einigen Bestrahlungen sind die Knoten verschwunden. Oder hat die Heilung auch etwas mit dem Glück zu tun, dieser Frau begegnet zu sein? Die sie drei Wochen lang begleitet hat, die zum richtigen Zeitpunkt wusste, was sie wie sagen musste, die ihr den Weg wies, wenn sie sich verlor. „Wir haben die Knoten so rausgeholt“, sagt Inge Krause heute. „Ohne Operation. Und das nach der niederschmetternden Diagnose, der zufolge ich mir schon einen Platz auf dem Friedhof hätte suchen können.“

Inge Krause achtet jetzt mehr auf sich, will aufhören, sich laufend Sorgen um andere zu machen. Warum meldet sich Marlies Monte nicht? Geht es ihr schlecht? Muss ich mich melden? Ihr wird klar: Sie muss sich nicht melden.

Sie passt auf, dass sie sich „nicht mehr aushebeln lässt. Manche brauchen ihr ganzes Leben, um an diesen Punkt zu kommen. Das hat bestimmt auch etwas mit meinem Alter und der Erfahrung zu tun.“ Ist sie wieder mal am Boden, merkt sie, wie schwer es ihr fällt, auf andere zuzugehen, ihre Tochter oder Freundinnen anzurufen. Krankenschwester-Syndrom oder die Angst, nicht willkommen zu sein, zurückgewiesen zu werden? Wie früher in ihrer Kindheit.

Sie war die Jüngste von vier Geschwistern, der Vater im russischen Internierungslager gestorben, die Mutter immer überfordert, immer ein bisschen kränklich. Eine Frauengemeinschaft. Inge, ein Nachkömmling zwischen ihren acht bis sechzehn Jahre älteren Schwestern. Der Altersunterschied war zu groß, als dass sie in die Runde mit einbezogen worden wäre. Es sei denn, die Schwestern brauchten die Kleine für einen Botengang. Dann war Inge ganz stolz. Sie war dankbar für jegliche Zuwendung. Wurde sie nicht mehr gebraucht, lief sie wieder als Anhängsel hinterher und wartete darauf, dass sich eine der Schwestern oder die Mutter umdrehte und sagte: Komm.

In „dieser anderen Welt“ will sie auf keinen Fall ein Anhängsel sein, muss sie allein laufen lernen. Der Schritt in die Redaktion einer Lesbenzeitschrift ist für sie ein Sprung. Sie macht dort die Post, schreibt kleine Beiträge und lässt es wieder nach dem Motto: „Das überlasse ich den anderen, die können es besser.“

Stattdessen nimmt sie die Dinge in Angriff, die sie schon immer hatte tun wollen. Wie gern hätte sie als Kind Klavierspielen gelernt! Doch die Mutter hätte nie das Geld aufgebracht. Inge Krause beneidet Pianistinnen um ihre Kunst, kauft sich ein Klavier, nimmt Unterricht. Pianistin will sie natürlich nicht werden. Klavierarbeit ist wie Therapie für sie: üben, kleine Stücke spielen, das Gehör schulen, sich mit Noten auseinandersetzen. Anderthalb Jahre gibt sie ihre Zeit hinein, dann muss sie wegen einer Entzündung im Arm aufhören. „Klavierspielen ist was unglaublich Schönes, aber es hat mich auch furchtbar angestrengt. Ich habe neulich bitterlich geheult – nach langer Zeit mal wieder –, weil ich das nicht auf die Reihe kriege.“ Inge Krause tauscht das Klavier gegen ein Keyboard – bei dem liegen die Tasten dichter beieinander –, und beginnt einen Keyboard-Kurs. Sie ist die Älteste „unter lauter jungen Kerlchen“.

Gleichzeitig fängt sie an, sich mit Philosophie zu beschäftigen, auch etwas, das sie schon immer tun wollte. Richtig in Angriff nehmen kann sie das allerdings erst, wenn sie mit einundsechzig in Rente geht. Wegen ihres Schichtdienstes kann sie jetzt noch keine fortlaufenden Seminare an der Humboldt-Universität belegen. Einen Abschluss machen will sie nicht, einfach zuhören und Fragen stellen, Antworten bekommen. Sie könnte auch „furchtbar schlaue Bücher“ lesen, doch das wäre ihr zu anstrengend.

Wenn sie aufhört zu arbeiten, kann sie ja nicht die Hände in den Schoß legen! Sie muss doch irgendwas tun. „Vielleicht sitze ich dann mit siebzig im Offenen Kanal und halte Vorträge über den Sinn des Lebens. Dann kann ich vielleicht Mathilde Selbach ablösen, die mich unglaublich amüsiert mit ihren Betrachtungen im Sinne von ‚Das ganze Leben ist ein Chaos, und wir sind ein Teil davon.‘ Sie wird mir immer sympathischer, ein bisschen hektisch, so wie ich.“

Und Inge Krause beginnt zu reisen. Früher wollte sie Archäologin werden, aber das wäre zu DDR-Zeiten unmöglich gewesen. Ihre Ausbildung hätte nicht gereicht, sie hatte kein Abitur. „Und was hätte ich in der DDR ausgraben wollen?“ Außerdem hätten ihre Mutter und ihr Stiefvater nicht mitgespielt. Schließlich war sie ein Mädchen. Und wo das Geld hernehmen?

Sie reist allein. Immer mit dem Bus. Nach Sizilien, England, Marokko. Sie könnte auch fliegen, wie bei ihrer ersten Reise nach Kreta. Nicht ihre Angst vor dem Fliegen hält sie davon ab, nein, sie bevorzugt ganz einfach die langsame Annäherung, den Bezug zur Landschaft. „Alle sagen, bist du denn verrückt, was nimmst du für Strapazen auf dich.“

„Ich habe immer hinten im Bus gesessen, für Raucher, ganz alleine mit meiner Tasche, mit Walkman und mit meinen Stullen. Das war so was von schön, und dann rausgucken, und das erste Mal über den Brenner rüber nach Italien, ich hab noch nie solche Berge gesehen. Mit dem Flugzeug hätte ich so was nicht erlebt. Aus dem Bus raus konnte ich schon mal ein bisschen Land und Leute in mich aufnehmen. Und diese Reise nach Sizilien war ja nun der absolute Wahnsinn, drei Tage im Bus, aber nachts im Hotel.“