AUFGANG 13 • 2016
AUFGANG
Jahrbuch für Denken, Dichten, hunst
Band 13 • 2016
Facetten des Wachstums
Herausgegeben von
José Sánchez de Murillo
Mit Beiträgen von:
Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Michael Hüther, Ingrid Lanzl, Christoph Lütge, Abdel-Hakim Ourghi, Thomas Rusche und Dieter Witt
AUFGANG
Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst
Herausgeber:
Prof. Dr. Dr. José Sánchez de Murillo
Schriftleitung:
Dr. phil. Rüdiger Haas
Bgm.-Bohl-Str.68 H
86157 Augsburg
Tel.0821-5895325
E-mail: RHaas@kabelmail.de
Redaktion:
Renate Bürckmann, Dagmar Lick-Haas, Christoph Rinser, Renate M. Romor, Elke C. Tilk
jährlich in 1 Band. Der Bezug des Jahrgangs 2016 kostet im
Abonnement € 20,- zuzüglich Porto- und Versandkosten; das Einzelheft € 23,- zuzüglich Versandkosten. In den Bezugspreisen sind 7% MWSt. enthalten. Kündigung des Abonnements ist bis zum Jahresende für das Folgejahr beim Verlag möglich.
Verlag: Aufgang Verlag Bgm. Bohl-Str. 68H 86157 Augsburg e-mail: aufgang@rinser.de
Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni- schen Systemen. Jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlags.
Sonderdrucke einzelner Artikel erhalten Sie über die Schriftleitung zum Preis von € 3,00 pro Stück zuzgl. Versandkosten.
ISBN 978-3-945732-18-2 (Paperback) bzw. 978-3-945732-19-9 (Hardcover)
Die Beiträge im vorliegenden Band stellen die Frage nach dem Wesen des Wachstums aus verschiedenen Perspektiven. Es geht also primär nicht um wirtschaftliches Wachstum, sondern um das Phänomen selbst und um die Vielfalt von Wachstumsmöglichkeiten.
Hinter der Frage nach dem Wesen des Wachstums verbirgt sich die Grundfrage des Menschen nach sich selbst, nach dem Sinn des Ganzen, in dem er steht und das zugleich in ihm wirkt. Genau gesehen ist der Mensch nicht. Sein Wesen geschieht vielmehr als ein Insgesamt von Gängen und Übergängen, die man Lebensphasen nennt: Kindheit und Jugend, Adoleszenz und Alter. So ist er nie derselbe, obwohl er meint, immer derselbe zu sein. Der Mensch verändert sich, wächst in verschiedene Richtungen. Er blüht, expandiert, wuchert sogar, er welkt aber auch, schrumpft und stirbt. Welches Geheimnis liegt diesem Auf und Ab zugrunde? Gibt es hier überhaupt einen erkennbaren Grund oder ist dieses Zu-Grunde-Gehen der letzte grundlose Grund?
Das Wachstum der Natur zeigt sich zyklisch und rhythmisch. Während die Erde sich mit Achsenschräglage um die Sonne dreht, erleben wir die Wiederholung der Jahreszeiten. Die Natur wächst im Frühling und Sommer nach außen, blüht, erschafft neues Leben. Sie welkt dahin im Herbst und Winter, wenn wiederum das Innenleben wächst und sich Ruhe und Bewegungslosigkeit ausbreiten. So hat das natürliche Wachstum zwei Richtungen, eine extrovertierte und eine introvertierte. Beide gehören zusammen. Die Natur ist in der Lage, Maß zwischen beiden zu halten. Mit bestechender Präzision kommt sie in den Tag- und Nachtgleichen immer wieder in die Mitte. Dies gelingt ihrer Kreatur Mensch kaum. Sein äußeres und inneres Wachstum ist meist unausgewogen. Aber das Kind von Mutter Erde sucht ständig nach Ausgewogenheit, Gerechtigkeit und Frieden. In dieser Unruhe, die stets nach Harmonie und Stille sucht, wächst der Mensch. Ist sein Wesen das Wachsen in diese Mitte?
Herausgeber, Schriftleiter und Verleger haben sich entschlossen, mit dem vorliegenden Band die Schrifttype zu wechseln: Statt der über viele Jahre bevorzugten Schrift Times New Roman mit 10,5 pt haben wir uns für die Garamond mit 12 pt entschieden, da wir der Meinung sind, das Schriftbild sei viel freundlicher und besser lesbar. Wir hoffen, dass auch Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, diesen Wechsel begrüßen und den AUFGANG noch lieber lesen als bisher.
Den Beitrag von Anna Grear „Growing Justice“ haben wir angesichts der Qualität seines Inhalts im englischen Original übernommen, da keine angemessene Übersetzung ins Deutsche vorliegt. Wir bitten Sie um Ihr Verständnis.
Augsburg, den 17. April 2016
Rüdiger Haas
Schriftleiter
Wachsen, Blühen, Welken
Im 16. Jahrhundert stellten Künstler in Europa den Verlauf des menschlichen Lebens gerne in einem Stufenmodell, der Lebenstreppe, dar. In einer ersten Phase des Wachsens, Stufe um Stufe, erreichte der Mensch von seiner Geburt an, zwischen dem 40. und 50. Geburtstag, die Blüte seiner Jahre im Zenit seines theoretischen Erdendaseins, die höchste Blüte seiner vitalen Entwicklung. Dann setzte das Welken ein, der stufenweise Niedergang, begleitet von einem körperlichen und geistigen Verfall hin bis zum Tod.
Eine der ersten Darstellungen dieser Treppe des Lebens wurde 1540 vom Augsburger Maler und Zeichner Jörg Breu dem Jüngeren geschaffen. Das Motiv wurde bis in das 19. Jahrhundert hinein immer wieder aufgegriffen, um den Lebensweg des Menschen anschaulich darzustellen. Auch denen, die des Lesens nicht mächtig waren, sollte die Vorstellung von der Endlichkeit ihres Daseins nähergebracht werden. Die Werke standen zunächst in einem engen religiösen Zusammenhang und die zweiseitige Treppe wollte nicht die Realität abbilden, sondern allegorisch Anstieg und Abstieg, Wachsen, Blühen und Welken, kurz das Werden und Vergehen alles irdischen Lebens.
Sterben und Tod waren für die Menschen im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit nichts Wesensfremdes, sondern eine unmittelbare Alltagserfahrung, eingebettet in den Glauben an Erlösung, an das Paradies, aber auch an Fegefeuer, Hölle und ewige Verdammnis. Der Tod bedeutete, mehr noch als heute, keine endgültige Trennung von den Hinterbliebenen und demnach kein absolutes Ende der Beziehungen zwischen den Verstorbenen und den Lebenden.1
Kaum ist aus dem Neugeborenen ein Jüngling, dann ein Mann geworden, zeigt sich schon auf der obersten Stufe der Treppe drohend der Tod, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Schnell altert danach der Mann, verliert seine Vitalität und wird zum Greis. Unter der Treppe ist im Gewölbe das Jüngste Gericht zu sehen, dessen Urteil entweder Himmel oder Hölle, Belohnung oder Strafe verspricht. Dazwischen sind die Etappen des Lebens durch Tiere gekennzeichnet. Vom springenden Zicklein über das junge Kalb, dem starken Stier zum mächtigen Löwen, schnürt auf dem höchsten Treppenpodest der schlaue Fuchs. Abwärts geht es mit dem listigen Wolf, der dösenden Katze, dem schon altersschwachen Hund, bis hinunter zum störrischen alten Esel.
William Shakespeare lässt in seinem Theaterstück „Wie es Euch gefällt“ den Edelmann Lord Jacques zu Wort kommen:
Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen
Durch sieben Akte hin.
Zuerst das Kind,
Das in der Wärtrin Armen greint und sprudelt;
Der weinerliche Bube, der mit Bündel
Und glattem Morgenantlitz wie die Schnecke
Ungern zur Schule kriecht; dann der Verliebte,
Der wie ein Ofen seufzt mit Jammerlied
Auf seiner Liebsten Braun; dann der Soldat,
Voll toller Flüch und wie ein Pardel bärtig,
Auf Ehre eifersüchtig, schnell zu Händeln,
Bis in die Mündung der Kanone suchend
Die Seifenblase Ruhm. Und dann der Richter
Im runden Bauche, mit Kapaun gestopft,
Mit strengem Blick und regelrechtem Bart,
Voll weiser Sprüch und Allerweltssentenzen
Spielt seine Rolle so. Das sechste Alter
Macht den besockten, hagern Pantalon,
Brill auf der Nase, Beutel an der Seite;
Die jugendliche Hose, wohl geschont,
’ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;
Die tiefe Männerstimme, umgewandelt
Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt
In seinem Ton. Der letzte Akt, mit dem
Die seltsam wechselnde Geschichte schließt,
ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen,
Ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.2
Auch in Shakespeares Drama klingt bei Lord Jacques’ Rede eine Stufung des Lebensablaufes an. Dass er nur von sieben Akten spricht, ist dabei nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Der Bogen vielmehr ist es, der sich vom greinenden Kind zum quäkenden Kinde spannt, so wie es auch in den Treppenbildern der folgenden Jahrhunderte von Malern und Bildschnitzern immer wieder, angepasst an die jeweilige Epoche, dargestellt wurde.
Das Stufenalter im 19. Jahrhundert
Das Stufenalter des Menschen im 19. Jahrhundert beginnt natürlich auch mit der Geburt. Ein Säugling in seiner Wiege wächst zum Kind heran. Aus ihm entwickelt sich der Jüngling und wird zum Mann. Im Laufe der tätigen Jahre erreicht er den höchsten Treppenabsatz, das körperliche und geistige Wachstum kommt auf diesem Hochplateau von zehn Jahren Dauer zum Stillstand. Jetzt beginnt der Abstieg des Alterns mit nachlassender Vitalität und ab dem sechzigsten Lebensjahr schaut Gevatter Tod über die Schulter. Mit siebzig ist der Mann ein Greis, seine Haare werden weiß. Der Neunzigjährige wird zum Gespött der Kinder und mit Hilfe der Gnade Gottes erlebt der Uralte seinen hundertsten Geburtstag. Liegt zu Beginn des Lebens ein abhängiges, pflegebedürftiges Kind in einer hölzernen Wiege, wartet am Ende auf den wieder abhängigen, pflegebedürftigen Alten der hölzerne Sarg. Der Todesengel mit Stundenglas und Sense wacht über diesen ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens auch in dieser Darstellung.
Dass – wie im Treppenbild – ein hohes Sterbealter von 100 Jahren erreicht wurde, war sicher im Einzelfall möglich, aber doch eher für die meisten Menschen der damaligen Zeit unwahrscheinlich. Alle Informationen deuten darauf hin, dass die reale und durchschnittliche Lebenszeit wesentlich geringer war als heute. Um die Zeit der Entstehung der Lebenstreppe von Jörg Breu dürfte sie bei etwa 35 Lebensjahren gelegen haben. Natürlich wurde dies auch durch eine sehr hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit wesentlich beeinflusst. Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb die Lebenserwartung niedrig. Ein Alter von 30 Jahren durchschnittlicher Lebensdauer erreichten noch im 18. Jahrhundert nur rund 30 bis 40% der Menschen.4
Gründe für diese niedrige Lebenserwartung neben der erwähnten hohen Kindersterblichkeit gab es genug: Seuchen, Epidemien, Infektionen, schlechte Hygiene, mangelhafte ärztliche Versorgung, widrige Lebensumstände, Missernten, Armut, Hunger, Unglücksfälle, Verletzungen, Verbrechen, Todesstrafe, Kriege …
Im 20. Jahrhundert haben die wirtschaftliche Entwicklung, der medizinische Fortschritt, die Verbesserung der hygienischen Bedingungen, ausreichende und gesündere Ernährung, sportliche Betätigung und gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen in den europäischen Industrienationen die Lebenserwartung beträchtlich erhöht. Verbunden damit ging eine Steigerung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit einher, die sich in Richtung auf ein höheres Alter erweiterte.
Seit der Einführung der deutschen Versicherung für Angestellte im Jahr 1913 gehörte der Mensch, der das 65. Lebensjahr überschritten hatte, „zum alten Eisen“, ungeachtet der wachsenden Lebenserwartung. Auch heute gilt diese rechtliche Grenze noch immer. Kinder, die im Jahre 1910 auf die Welt kamen, wurden im Durchschnitt etwa 47 bzw. 51 Jahre alt, hatten also schlechte Karten, das Rentenalter überhaupt zu erreichen. Seit dieser Zeit hat sich die Situation gravierend verändert; die Menschen in Deutschland werden heute im Durchschnitt etwa 80 Jahre alt.
Joachim Gauck, der Präsident der Bundesrepublik Deutschland, erklärte in seiner Rede zum Thema „Die neue Kunst des Alterns“ am 31. März 2015:
Die Lebenstreppe früherer Jahrhunderte bildet die Realität also längst nicht mehr ab. Aber die neue Wirklichkeit ist in unserer Vorstellungswelt und teilweise auch in unserem gesetzlichen Regelwerk noch nicht richtig angekommen. Tatsache ist: Für die meisten von uns geht es ab fünfzig nicht unaufhaltsam abwärts. Es folgt eher ein Hochplateau, eine früher sehr seltene Lebensphase in guter körperlicher und mentaler Verfassung, die persönliches Fortkommen und Neuorientierung ermöglicht. Die Wissenschaft sagt uns: Als Individuen haben wir die Möglichkeit, diese Hochplateau-Zeit auszudehnen.
Und Joachim Gauck fährt fort:
Was ist also zu tun? Die erste Konsequenz muss heißen: Beim demographischen Wandel geht es nicht allein um die gewonnenen Jahre und die Belange älterer Menschen. Altern beginnt bei der Geburt. Wir müssen das verlängerte Leben insgesamt in den Blick nehmen. Und wir müssen die Lebenszeit neu strukturieren. Wir brauchen neue Muster für lange Lebensläufe, neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit und Privatem.
Gedanken eines Betroffenen
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“, raunt mir beim Lesen dieser Rede des Bundespräsidenten Goethes Mephistopheles ins Ohr und er flüstert: „Was machst du denn mit deinem Mehr an Zeit, wenn deine Freunde alle gehen und du einsam bist und frierst?“
Woher kennt denn Faustens dienstbarer Geist dieses Abschiedslied, das mich immer wieder ein wenig traurig stimmt, wenn ich es höre?
Erich Kästner beschreibt diese Einsamkeit:
Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine –
Und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Ja, ja, ich weiß, die Einschläge kommen näher. So höre ich manchmal meine Altersgenossen witzeln, wenn wieder ein Jahr dahingegangen ist und die weniger werdenden Gratulanten nur noch, vor allem aber, Gesundheit wünschen, mit dem ernst gemeinten Hinweis, dass dies in meinem Alter auf jeden Fall das Wichtigste sei, ein bisschen Glück könnte natürlich auch nicht schaden. Danke, antworte ich dann und erwidere: „Merk dir eines, mein lieber Freund, alt werden ist gar nicht so schlimm, alle nehmen daran teil, auch du.“
Apropos Geburtstag. Jeder dieser regelmäßig wiederkehrenden jährlichen Erinnerungstage an meinen Start ins Leben ist fast automatisch für mich ein Anlass, mein Alter mit der durchschnittlichen Lebenserwartung des Mannes von heute zu vergleichen. Die Anzahl der Lebensjahre soll ja ansteigen, sagt auch unser Bundespräsident. Aber selbst mit meinem bescheidenen Wissen ist mir völlig klar, dass dieser kletternde Wert nur ein statistischer sein kann. Gültig für eine sehr große Zahl von Probanden. Also praktisch nicht für mich, auch nicht für dich, sondern nur für uns alle in summa, und da wird es Gewinner und Verlierer geben müssen.
Trotzdem, solange ich nicht weiß, ob ich ein lebensverkürzendes Übel mit mir herumtrage, was auch nur eine Frage genauerer ärztlicher Untersuchung wäre, oder ein unvorhersehbares Unglück mir den Löffel abnimmt, wirkt die Nachricht wie ein Blasebalg, der einen glimmenden Funken Hoffnung immer wieder vor dem Erlöschen bewahrt.
Und jedes Mal kommt mir dann diese Rechnung in den Sinn: Mutter 95, Vater 81, das sind zusammen nach Adam Riese 176. Teile ich das nun durch zwei, wird der Funke Hoffnung, der ja immer zuletzt sterben soll, spätestens mit mir zur Flamme. Mit dem Ergebnis, träfe es denn ein, könnte ich mich, von heute aus betrachtet, noch einigermaßen abfinden. So flüstert wenigstens zuversichtlich mein innerer Optimist. Der Pessimist in meinem Gehirn ist da völlig anderer Meinung und plärrt mir wieder statistisches Grundwissen ins Ohr, von Risiken und so. Doch der Optimist lässt sich so leicht nicht unterkriegen. Der Rudi, der Gundolf, der Walter, der Gerhard, auch der Otto, meine Freunde, der Karl-Heinz, der Gunther, meine Kollegen, wenig älter, etwa gleich alt oder sogar jünger, sie sind schon gegangen. Rein statistisch gesehen ergäbe das doch – wenn ich genau überlege – für mich, Risiko hin, Risiko her, eine Chance oder? Wegen der Statistik raunt der Optimist. Träum weiter, keift der unangenehme ewige Verneiner.
Obwohl, ich meine, da hat der ja recht. Ja, ich neige dazu, ihm mehr und mehr zu glauben. Aber wer träumt nicht lieber einen schönen Traum als einen Alptraum?
Genieße den Tag, raten die Lebens- und Glücksberater in ihren Büchern, und ich möchte gern zustimmen. Aber wie viele Tage werden es noch sein, die genießbar sind? Wie viele Wochen, Monate, Jahre? Gut, dass ich das nicht weiß.
Das seltsame Gefühl lässt mich einfach nicht los, dass mit der Zeit etwas nicht mehr in Ordnung sein kann. Heute sind die Tage kürzer. Sie vergehen wie im Fluge. Hat das vielleicht doch etwas mit diesem Albert Einstein zu tun? Mit seiner Theorie von der Relativität der Zeit? Er behauptet doch, wenn ich richtig gelesen habe, ich müsste mich nur schneller bewegen, dann würde die Zeit weniger schnell vergehen. Ich würde langsamer altern. Das habe ich mehrmals versucht; es hat nicht geholfen.
Jedenfalls dauern die Winter, auch wenn sie keine richtigen mehr sind, jetzt gefühlt länger und die Sommer erscheinen kürzer.
Hugo von Hofmannsthal schrieb für die Oper Der Rosenkavalier von Richard Strauss:
Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos wie eine Sanduhr.
Dass sie in den Gesichtern rieselt, das sehe ich manchmal beim Betrachten alter Bekannter, denen ich nach längerer Zeit wieder einmal begegne. Die sehen teilweise richtig – ich will mal so sagen – sehr gereift aus. Wahrscheinlich behaupten die das auch von mir. Was den Blick in den Spiegel betrifft, er zeigt mir täglich, dass sie recht haben. Und trotzdem erklären neuerdings einige Physiker, dass es die Zeit gar nicht gebe, dass sie reine Illusion sei. Ja vielleicht, denn die Zeiger der Uhr überstreichen doch nur eine Fläche auf ihrem Rundkurs über das Ziffernblatt. Das soll also die Zeit sein? Ich muss es glauben. So wie ich glauben muss, dass ein bedruckter Fetzen Papier einen Wert von fünf, zehn, zwanzig, hundert oder mehr Euro haben kann.
Aber auch Augustinus hatte so seine Zeitprobleme:
Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, so weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: Ich weiß, daß es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beiden Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, da ja doch die Vergangenheit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht ist?5
Mein Leben bestand also bis heute, wenn ich Augustinus richtig interpretiere, zunächst einmal aus einer gehörigen Portion Vergangenheit: Kindheit im Weltkrieg, Jugend, Verliebtheit, Enttäuschung, Abitur, Militär, Studium, Segelkurs, Liebe, Hochzeit, zweites Studium, Beruf, schöne Tage; Bücher lesen, Franz Marcs gelben Tiger und das blaue Pferd bewundern; Krisen, Hausbau, schöne Tage, wieder Krisen, Pensionierung, depressives Loch, daraus herausklettern; Bücher schreiben, Bücher lesen, Freunde treffen, Feste feiern, Medikamente schlucken, Fieber messen, Südtirol genießen; La Traviata, Silberhochzeit, Goldene Hochzeit, Figaros Hochzeit, gute Tage, schlechte Tage, Freunde verlieren, an Gräbern stehen, Tiefs und Hochs …
Es besteht aus der Gegenwart. Doch was bedeutet sie, diese gegen Null gehende Zeitspanne auf der Atomuhr, viel kürzer als ein Lidschlag, die schon vorbei ist, kaum dass sie begonnen hat und alles Geschehen und Erleben postwendend in die Vergangenheit entsorgt. Nein, entsorgt ist nicht das richtige Wort, in den „Speicher“ verschiebt klingt moderner, denn die Sorgen sind ja noch da, in der Datei abgeheftet und können jederzeit wieder abgerufen werden.
Und es wird bestehen, so Gott will, aus einer kleinen Portion Zukunft, die im Moment gerade begonnen hat und sich verhält wie die Wunschhaut des Wildesels in Balzacs Roman „Das Chagrinleder“, die bei jedem erfüllten Begehren schrumpft wie die Lebenszeit ihres Besitzers.
Diese verbleibende Zeit wird anders sein als die vergangene. Wie stelle ich sie mir vor? Wird sie langsam verrinnen wie der Sand im Stundenglas? Oder wird sie rasen wie der Sekundenzeiger einer Stoppuhr? Und wird sie mir noch etwas bieten können, was Herz, Sinne und Gemüt erfreut?
Natürlich, die „wilden“ Jahre sind vergangen. Die kommen auch nicht wieder. Die Schmetterlinge im gerundeten Bauch sind träge geworden. Schlaflose Nächte haben nicht mehr die Ursachen der jungen Jahre. Die Muskeln verweigern den Berg und freuen sich auf ebene Wege. Sie „katern“ schon bei wenig Sport. Die Sehnen sind verkürzt, die Adern enger. Die Gelenke ächzen, schmerzen schon bei kleinen Biegewinkeln. Das Fahrrad hängt an der Steckdose. Der Atem wird kürzer, der Lift zur Regel. Die Essensportionen in den Gaststätten kommen zu groß aus der Küche. Auch ist die erregende Zeit längst vorbei, in der ein Blick in die Augen einer Frau gelegentlich eine Reaktion sichtbar werden ließ. Die Jungen sagen sowieso, wenn sie nett zu mir sein wollen, Opa, wenn nicht, dann nennen sie mich einen alten Sack.
Da stellt sich mir auf einmal dringend die Frage, was ich tun muss, tun kann und tun werde, wie ich die letzte Phase meines Lebens gestalten soll, will und kann, in dem sicheren Wissen, dass der verbliebene Rest, mit an Unsicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nicht mehr sehr lang sein wird. Oder soll ich gleich resignieren? Goethe meinte ja, dass man jung sein müsse, um große Dinge zu tun.
In der berühmten Schrift des antiken Dichters und Philosophen Lucius Annaeus Seneca De brevitate vitae können wir lesen:
Die meisten Menschen, mein Paulinus, klagen über die Bosheit der Natur: unsere Lebenszeit, heißt es, sei uns zu kurz bemessen, zu rasch, zu reißend verfliege die uns vergönnte Spanne der Zeit, so schnell, daß mit Ausnahme einiger weniger den anderen das Leben noch mitten unter den Zurüstungen zum Leben entweiche. Und es ist nicht etwa bloß der große Haufe und die unverständige Menge, die über dies angeblich allgemeine Übel jammert, nein, auch hoch angesehene Männer haben, von dieser Stimmung angesteckt, sich in Klagen ergangen.6
Beim Lesen dieser Gedanken stelle ich fest, dass auch ich, zwar nicht zu den hoch angesehenen Männern, aber zu dem „großen Haufen“ gehöre und immer öfter über dieses Übel jammere. Was läuft da schief? Was mache ich falsch? Seneca meinte dazu:
Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen. Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang genug und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten. Wenn es nur von Anfang bis zum Ende gut verwendet würde; aber wenn es sich in üppigem Schlendrian verflüchtigt, wenn es keinem edlen Streben geweiht wird, dann merken wir erst unter dem Drucke der letzten Not, dass es vorüber ohne dass wir auf sein Vorwärtsrücken achtgegeben haben. So ist es: nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch.7
Ich hätte es mir denken können. Was schon im alten Rom nicht richtig erfolgreich war, wie sollte es mir gelingen. Aber ist es denn schon zu spät? Oder reicht es noch für herrliche Taten? Naja, die Lebenszeit, mit der ich zu oft verschwenderisch umgegangen bin, im jugendlichen Irrtum befangen ewig zu leben, lässt sich nicht zurückholen und ein Reset-Button ist nicht vorgesehen. Der Philosoph hatte recht, wenn er meinte, dass die Natur sich als gütig erwiesen habe und das Leben lang sei, wenn man es recht zu brauchen wüsste. Und dank der modernen Medizin und ihren gesunderhaltenden und regenerierenden Techniken wird es ja eher länger, sagen die Leute. Nur statistisch betrachtet natürlich. Ganz zu schweigen von den Nahrungsergänzungsmitteln mit den hoch dosierten Vitaminen und Mineralstoffen, die mir immer wieder schwärmend und werbend empfohlen werden, von Bekannten, die sich durch den Vertrieb dieser Wundermittel mit satten Erfolgsprämien nur ihre Rente aufbessern wollen.
Also jetzt aufgepasst! Es herrscht absoluter Änderungsbedarf. Aber was muss ich ändern? Was soll ich tun, damit die Spanne Lebens, die mir noch bleibt, ein wahres Leben ist und nicht bloße Zeit, die aus der Wanduhr tropft? Zeit, in der die Erwartungen mehr und mehr schrumpfen und die Erinnerungen wachsen …
Zunächst einmal, vor allen euphorischen Plänen, muss ich Dank sagen. Dank dafür, dass ich die Krisen meines Lebens mit Hilfe meiner Lebenspartnerin so gut bewältigen konnte. Natürlich haben sie tiefe Narben hinterlassen, die gelegentlich noch schmerzen. Dank auch meinen Eltern für ihre Erziehung und die meist unbeschwerte Jugend. Dank, dass ich die strenge katholische Unterweisung mit ihren hohen Ansprüchen an ein Leben ohne lässliche, schwere oder gar Todsünden in Gedanken, Worten und Werken, unter Strafandrohung mit Fege- und Höllenfeuer, mit ertragbaren seelischen Blessuren überstanden habe. Dank meinen Ausbildern, Lehrern und Dozenten, dass sie mir meinen Hürdenlauf der Bildung erleichtert haben. Dank den Vorgesetzten, den guten nur, den Ärzten, auch nur den guten, und all den vielen Helfern, die für mich tätig waren. Dank auch für alle die Menschen und Freunde, die mich liebevoll begleitet haben. Dank für die Möglichkeit, das Leben im Alter nicht in Armut verbringen zu müssen, ein Heim zu haben und andere Menschen unterstützen zu können. Und, und, und …
Und jetzt sofort an die Planung der herrlichen Taten.
Eines ist sicher, den roten Sportwagen kaufe ich mir nicht. Obwohl dieser 911 Speedster ein Jugendtraum war. Aber deine Bandscheiben, deine Gelenke, unkt wieder der Pessimist, die machen das ja nicht mehr mit, vom Ein- und Aussteigen nicht zu reden. Und es sieht doch lächerlich aus und macht dich auch nicht jünger. Komisch, aber der Optimist gibt ihm, in seltener Einigkeit, diesmal recht. Das rote Modell auf meinem Schreibtisch muss genügen.
Nein, das also nicht, aber Bücher. Ohne Bücher will ich nicht leben. Sie sind für mich ein unentbehrliches Mittel, mich aus der Endphase meines Erdendaseins zu entführen, wenn die Phantasie allein nicht mehr ausreicht, die von der Festplatte in meinem Hirn aus der Vergangenheit versorgt wird.
Auch die Kunst möchte ich keinesfalls missen, die Dichtung, die Musik, die Malerei, die Vorträge, Theater, Konzerte, Opern, Galerien …
Die Geschichte, Altertum, Mittelalter, Neuzeit soll im Blickpunkt meines Interesses bleiben. Die Werke der Romanik, Gotik, Renaissance, des Barock und Rokoko ganz sicher.
Nicht zu vergessen die Natur im Wandel der Landschaften und Jahreszeiten, die Blumen, die Bäume, die Tiere, die Berge, die Wälder, Wiesen und Seen …
Besondere Bedeutung aber kommt der Begegnung mit den lieben Menschen zu, die mich noch auf meiner kürzer werdenden Wanderung begleiten, die mitmachen bei meinem Altwerden. Der Austausch von Gedanken, Gespräche, ernste, lustige, witzige, streitbare, interessante Diskussionen, gegenseitige empathische Anteilnahme, Hilfe und Trost in der Not werden helfen, diesen Weg solange wie möglich gemeinsam nach vorne zu gehen.
Aber jetzt nur nicht in Hektik verfallen, in der neuen Euphorie nicht übertreiben. Auch im Müßiggang kann Weisheit liegen, verspricht zumindest Robert Louis Stephenson. Ruhig, bedacht und ohne Stress die richtige Auswahl treffen. Mit dem goldgleichen Gut Zeit nicht mehr so verschwenderisch umgehen, besser so wie der Philosoph und Grabredner Søren Kierkegaard empfiehlt: „Es gilt jeden Tag zu leben, als wäre er der letzte.“
Das Wichtigste jedoch in diesem letzten, auch von manischen und depressiven Tagen gekennzeichneten Abschnitt meines Lebens, ist für mich, dass ich ihn möglichst lange gemeinsam mit meiner lieben Frau gehen kann. Denn ich weiß, es wird einsam werden auf den letzten Schritten. Dann werde ich wieder die Stille hören und frieren, dann, wenn meine Freunde alle gegangen sind. So wie Mephisto es mir prophezeit hat.
Oh, jetzt hätte ich beinahe das Wichtigste vergessen, das, worüber ich heute noch so ungern etwas hören will, den Tod. Nicht nur meinen eigenen.
Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst. (… any man’s death deminishes me, because I am involved in mankind; and therefor never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.)8
Ich möchte hier den griechischen Philosophen Epikur zu Wort kommen lassen:
So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, denn wo jene sind, ist er nicht, und diese sind ja überhaupt nicht mehr da.
Den Knochenmann mit der Sense und dem Stundenglas, gibt es ihn überhaupt? Wenn ja, dann ist es nicht der Tod, sondern mein Tod. Ich beanspruche ihn für mich. Er gehört mir, wie mein Leben. Er kommt aus der Mitte meines Seins, genauso wie der Mittelpunkt meines Universums immer da ist, wo ich bin. Und eigentlich bin ich ja unsterblich, ich werde immer da sein. Keines der Moleküle und Atome meines Leibes, Sternenstaub, wird je vergehen, sie werden da sein, solange die Erde nicht verglüht, aber auch danach, im Universum, nur nicht im geordneten, beseelten Verband. Aber das ist ja nicht so wichtig. Für das Universum.
Noch ist er nicht hörbar, der Schnitter. Noch lebe ich meist so, als gäbe es ihn nicht, versuche die Gedanken an ihn zu verscheuchen. Doch manchmal kommt doch die Angst in mir hoch, auf der letzten Stufe meiner Lebenstreppe, zurück in die frühe Kindheit, in die Windeln zu müssen. Die Angst meine Selbstständigkeit zu verlieren, abhängig zu sein, die Angst vor Schmerz und Leid und Einsamkeit. Und wäre er dann nicht doch ein gern gesehener Gast?
Warum fällt mir jetzt gerade „Der Brandner Kaspar und das ewig Leben“ ein? Der 74-jährige Schlosser aus der Erzählung von Franz von Kobell, dem es gelang, mit dem Tod so lange „Kerschgeist“ zu trinken, bis der einen in der Krone hatte, um ihm dann im Kartenspiel noch zusätzliche 18 Jahre Lebenszeit abzuschwindeln.
Versuchen könnte ich das ja einmal. Der Schnaps sollte auf jeden Fall jederzeit bereitstehen.
Doch dann beginnt wieder so ein Tag, an dem die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Wenn ich am See sitzen kann – ein Weißbier vor mir – und die Gipfel der Berge sehe, schneebedeckt im Süden, dann flammt der Hoffnungsfunke wieder mächtig auf und der Gevatter ist hinter den Horizont verbannt.
Aber dann kommt wieder so eine Einladung eines ehemaligen Schulkameraden, sich noch einmal einzufinden in der alten Domstadt an der Donau, in der es die besten Bratwürste der Welt gibt, und ich muss damit fertig werden, dass der eine oder andere meiner Mitläufer, auf unserer Aschenbahn zum Ziel der Reife, aus dem Rennen geschieden ist. Nun ja, der Schnitter mäht, auftragsgemäß, nach seinem besonderen Plan, Halm um Halm. Vielleicht, und es liegt nicht in meiner Hand, geht es mir einmal so, wie dem 94-jährigen Anhalter in dem Liedertext des bairischen Mundartdichters und Professors für Pädagogik Helmut Zöpfl, der auf der Fahrt zu seinem Klassentreffen vom Fahrer des Autos gefragt wird:
„Wia fui san denn da no da?“
„O mei“, sagt der, „der Kreis is kloa, de letztn Jahr war i alloa.“9
(„Wie viele sind denn noch da?“
„O“, sagt der, „der Kreis ist klein, die letzten Jahr war ich allein.“)
Und auf der Rückfahrt werde ich mich fester in meinen Mantel kuscheln, der mir schon zu groß geworden ist, und dann leise mein Abschiedslied vor mich hin summen:
Wenn meine Freunde alle geh’n,
hör ich die Stille und ich frier.
1Richard VAN DÜLMEN, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. Erster Band, München 2005, 216.
2William SHAKESPEARE, Wie es euch gefällt. II,7, Übers. August Wilhelm von Schlegel.
3Das Stufenalter des Menschen, Federlithographie um 1840, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.
4Richard VAN DÜLMEN, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. Erster Band, München 2005, 207.
5AURELIUS AUGUSTINUS, Bischof von Hippo (354–430), Confessiones XI,14.
6SENECA (etwa 1 bis 65 n.Chr.), Von der Kürze des Lebens. Aus dem Lateinischen von Otto Apelt, 11. Aufl., 2014.
7A.a.O.
8John DONNE (1572–1631), Meditation XVII.
9Helmut ZÖPFL, Das Klassentreffen, Liedtext.
Ein Gespräch1
Vorbemerkung
München, den 21. November 2015, 11.00 Uhr. Der Schriftleiter von Aufgang, Herr Dr. Rüdiger Haas, trifft Frau Dr. Ingrid Lanzl in einem Café in München an der Donnersberger Brücke. Es ist ein Samstag. Das Ambiente ist ruhig und entspannt, die Gesprächsteilnehmer sitzen an einem kleinen Tisch. Beim persönlichen Kennenlernen ist Frau Lanzl überrascht, mit philosophischen Fragen konfrontiert zu werden, und betont, keine Philosophin zu sein. Nach der kurzen Klärung, dass man nicht Philosophie studiert haben müsse, um über Sinnfragen des Lebens sprechen zu können, leitet das Gespräch direkt über zum beruflichen Werdegang von Frau Dr. Lanzl.
*
Das Gespräch
Aufgang: Unser Thema „Facetten des Wachstums“ fragt nach den verschiedenen Wachstumsaspekten. Was uns interessiert, ist Ihr persönliches berufliches Wachstum, die Stationen und persönlichen Erfahrungen, die Sie durchlaufen haben, um Ihre verantwortungsvolle Tätigkeit in der privaten Wirtschaft ausführen zu können. Welche Schulausbildung haben Sie genossen?
Lanzl: Es für mich schon frühzeitig klar, dass ich aufs Gymnasium gehen würde. In der siebten Klasse konnten wir uns zwischen dem mathematisch-naturwissenschaftlichen und dem neusprachlichen Zweig entscheiden. Da meine Interessen im Bereich Naturwissenschaften lagen, war auch hier die Entscheidung klar.
Aufgang: Wie ging es nach Ihrem naturwissenschaftlichen Abitur weiter?
Lanzl: Schon während meiner Schulzeit habe ich mich für Technik interessiert. Bei Wanderungen mit der Familie durfte ich als Kind Wasserkraftwerke besichtigen. Die Nutzung der vorhandenen Wasserkraft und die Möglichkeiten einer effizienten Energiegewinnung haben mich so begeistert, dass ich mir überlegte, so etwas auch einmal machen zu wollen. So entstand mein Berufswunsch: Maschinenbau-Ingenieurin.
Aufgang: War das damals nicht ungewöhnlich, als Mädchen Maschinenbau studieren zu wollen?
Lanzl: Meine Begeisterung für Technik und mein Berufswunsch waren für mich überhaupt nicht ungewöhnlich. Es war für mich selbstverständlich, für eine bessere Energieversorgung arbeiten zu wollen. Dass nicht jeder die Vorstellung einer geschlechterunabhängigen Berufswahl teilt, erkannte ich erst, nachdem ich einige negative und aggressiv ablehnende Reaktionen auf meinen Berufswunsch erhalten hatte.
Davon habe ich mich nicht einschüchtern lassen. Es gibt keinen Grund dafür, ein bestimmtes Fach nicht zu studieren, nur weil man eine Frau ist. Dasselbe gilt auch für Männer.
Aufgang: Sie haben Ihr Studium mit Freude geradlinig bis zum Diplom durchgezogen.
Lanzl: Ich habe konsequent und mit Begeisterung Maschinenbau mit dem Schwerpunkt Energie- und Kraftwerkstechnik studiert. Danach konnte ich im Fachbereich Thermodynamik promovieren und auf diese Art auch das wissenschaftliche Arbeiten lernen.
Aufgang: Wie lange hatten Sie die Forschungsstelle und wann schlossen Sie Ihre Promotion ab?
Lanzl: Ich war fünf Jahre an der Technischen Universität München als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt. Mit Auslauf des Forschungsauftrags wurde ich promoviert.
Aufgang: Sie wurden mit 28 Jahren zum Doktor Ing. promoviert. Was war das Besondere an Ihrer Doktorarbeit?
Lanzl: Das Thema hieß „Teilkondensation am horizontalen Rohrbündelwärmetauscher“. Es ging um Kondensation in Anwesenheit von Luft und Wasserdampf und darum, herauszufinden, wie man diese Kondensationseffekte berechnet. Mein Beitrag war die Entwicklung einer neuen Formel sowie die Korrektur einer Phänomen-Beschreibung.
Aufgang: In der Phänomenologie beschreiben wir menschliche Phänomene, die aber nicht berechenbar sind, weil das Phänomen der Psyche grundsätzlich über den Berechnungsaspekt hinausgeht.
Lanzl: Auch die Phänomene in der Thermo- und Strömungsdynamik sind nicht so einfach zu berechnen.
Aufgang: Sie mussten aber vertiefte mathematische Erkenntnisse in die Arbeit einbringen.
Lanzl: Es war eine experimentelle Arbeit, bei der ich einen Prüfstand aufbaute und mit studentischen Hilfskräften Messungen durchführte. Aus den Messdaten habe ich versucht, einen logischen Zusammenhang zu entwickeln, was mir dann auch gelungen ist. Dieser Zusammenhang musste beschrieben werden. Ich bin ein Mensch, der nicht so schnell aufgibt. Natürlich gab es bei der Forschung immer wieder reale Hindernisse. Wenn bei der Durchführung von Versuchen etwas nicht funktioniert hatte, musste man es eben auf anderem Weg noch einmal probieren. Durchhaltevermögen zeigen und an der Sache dranbleiben sind wichtige Grundvoraussetzungen für den Erfolg.
Aufgang: Durchhaltevermögen und die Überwindung von Hindernissen führten Sie zu kontinuierlichem beruflichem Wachstum. Nun waren Sie Mitte der 90er Jahre promoviert. Was war Ihre erste berufliche Station außerhalb der Uni?
Lanzl: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt war zu dieser Zeit sehr schlecht. Aufgrund meiner Vorkenntnisse in der Energietechnik und Thermodynamik konnte ich trotzdem eine sehr interessante Aufgabe in der Entwicklung bei einem Automobilzulieferer bekommen. Für meine berufliche Entwicklung war das eine wichtige Stelle, weil ich schon sehr früh Verantwortung übernehmen durfte. Zudem konnte ich das nutzen, was ich während der Promotionszeit gelernt hatte, einschließlich des Durchhaltevermögens.
Aufgang: Wie lange waren Sie in diesem Betrieb?
Lanzl: Sieben Jahre. Ich bekam immer mehr Aufgaben übertragen, mehr Verantwortung und auch Führungsverantwortung. Zudem fand ich es sehr interessant, gesammelte Erfahrungen an Leute weiterzugeben und sie entsprechend anzuleiten, nicht sofort beim ersten Hindernis aufzugeben. Auch von netten Kollegen durfte ich in dieser Firma viel lernen, sodass sich ein großes persönliches Wachstum einstellte.
Aufgang: Neben der Durchhaltekraft haben Sie auch gelernt, Menschen zu führen. Das ist nicht leicht. Gehört das zu Ihren persönlichen Stärken?
Lanzl: Es ist überhaupt nicht leicht, Menschen zu führen. Auf diesem Gebiet lernt man nie aus. Aber es ist ein schönes Erlebnis für mich, zu sehen, wenn Menschen, unterstützt durch meine Führung erfolgreich und auch mit Freude arbeiten.
Aufgang: Welche Fähigkeit brauchen Sie, um Menschen führen zu können?
Lanzl: Ich muss eine klare Vorstellung vom Weg haben, auf den ich führen möchte. Dabei muss ich überlegen, wie Leute eingebunden werden können und welche Informationen sie benötigen, um die Ziele zu sehen. Es ist wie beim Bergwandern. Wenn der Führer seinen Weg nicht kennt, nicht weiß, auf welchen Gipfel er will oder was er seinen Leuten zumuten kann, dann geht es schief. An diesem Bild erkenne ich meine Führungsaufgabe.
Aufgang: Souveränität in der Fach- und Sachkompetenz sind Voraussetzungen.
Lanzl: Nicht einmal so sehr. Ich hatte Gott sei Dank ausgezeichnete Mitarbeiter, die mir in manchen fachlichen Aspekten überlegen waren. Ich muss in der Lage sein, diese Überlegenheit anzuerkennen und zu nutzen. Ich muss die Fachkompetenzen der einzelnen Leute zusammenführen und darauf achten, dass sie sich gegenseitig unterstützen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.
Aufgang: Das sind sogenannte Soft Skills [Fähigkeit im Umgang mit Menschen], also emotional-soziale Fähigkeiten. Braucht man dazu auch Intuition?
Lanzl: Man muss menschliche Fähigkeiten analysieren können. Was kann der Mitarbeiter und was kann er nicht? Natürlich hilft auch Intuition. Je länger ich diese Prozesse leite, desto besser kann ich mich auf die Intuition verlassen. Aber gerade als Anfänger muss man analysieren und überlegen. Ich muss nicht unbedingt fachlich besser sein als meine Mitarbeiter, aber ich muss in der Lage sein, ihnen Ziele und Richtung vorzugeben. Weil es wichtig ist, dass sie in ihrer Arbeit nicht eingeschränkt werden, gehe ich sehr systematisch und analytisch vor. Wenn ich dann sehe, wie die einzelnen Prozesse ineinandergreifen, Mitarbeiter gut und mit Erfolg zusammenarbeiten, habe ich Freude an meiner Arbeit. Es ist eine wunderbare Aufgabe, zu sehen, wenn sich die Mitarbeiter gegenseitig motivieren und am Ende Ergebnisse herauskommen, die meine Erwartungen übertreffen.
Aufgang: Analyse ist wichtig, aber es muss auch ein Gesamtbild entstehen.
Lanzl: Die Analyse steht am Anfang, die verschiedenen Kräfte müssen sich stärken, damit Synergien entstehen können.
Aufgang: Diese Fähigkeiten sind nicht jedem gegeben.
Lanzl: Stimmt. Diese Fähigkeit braucht aber auch nicht jeder. Wenn alle Menschen führen wollen, hat man am Ende nur noch einen Kampf um die wenigen Führungspositionen. Man braucht mehr Spezialisten, die mit hervorragenden Fachkenntnissen ausgezeichnete und detaillierte Lösungen erarbeiten. Es muss unterschiedliche Talente und Aufgaben geben.
Aufgang: Und Ihr Talent ist das Führen?
Lanzl: Man hat mir zumindest oft gesagt, ich könne gut führen. Ich war hier immer anerkannt und es bereitet mir auch Spaß.
Aufgang: Dann stehen Sie am richtigen Ort. Hatten Sie nie Angst?
Lanzl: Angst nie. Ich habe aber öfter Zweifel. Man muss sich immer wieder selbst hinterfragen: Ist es richtig, was ich mache? Gebe ich meinen Mitarbeitern den richtigen Input? Stimmt die Zielrichtung? Wenn man sich nicht selbst hinterfragt, ist die Gefahr groß, dass man etwas Falsches macht. Man braucht Abstand, aber Angst ist nicht im Spiel.
Aufgang: Was muss konkret hinterfragt werden?
Lanzl: Von einfachen fachlichen Dingen angefangen, z.B., ob Methode oder Arbeitsgeschwindigkeit richtig sind, bis hin zum Führungsstil: Habe ich mit meinen Mitarbeiter passend kommuniziert? Es gibt auch Konflikte und Krisengespräche, bei denen man durchaus kritische Worte finden muss. Dann muss geprüft werden, ob man den betreffenden Mitarbeiter verletzt hat und er sich deswegen vielleicht zurückzieht. Oder: Bin ich gegenüber einem Mitarbeiter nicht klar genug, bin ich zu nachgiebig, woraufhin der Mitarbeiter zu viel Eigennutz durchsetzt. Diese Situationen mit den richtigen Worten auszubalancieren ist sehr schwer.
Aufgang: Sich selbst hinterfragen heißt auch, offen zu sein für andere und seine Position nicht absolut zu setzen. Hier geht es um bewusstes Wahrnehmen. Herbert von Karajan hat diese Rolle bei der Führung der Berliner Philharmoniker nicht gespielt.
Lanzl: In einem Orchester kann man kaum darüber diskutieren, welche Interpretation die richtige ist. Sie wird vom Dirigenten vorgegeben. Ich denke aber, dass Karajan sich die Frage, welche Interpretation die angemessene ist, sicherlich gestellt hat. Und in diesem Punkt war er dann bestimmt auch selbstkritisch, wenngleich er sich nach außen hin als Autorität zeigen musste. In der Industrie kann man als Führungskraft mit guten Mitarbeitern durchaus diskutieren und ihnen die Frage stellen, was sie vom eingeschlagenen Weg halten.
Aufgang: Ich denke beim Führen auch noch an eine andere Persönlichkeit: Steve Jobs, von dem berichtet wird, er führte die straffe Regentschaft auf Kosten seiner Mitmenschen.
Lanzl: Ich habe gehört er sei ein Genie gewesen, mit dem die Leute zusammengearbeitet haben oder auch nicht. Aber scheinbar gab es auf menschlichem Gebiet genügend Konflikte.
Aufgang: Steve Jobs hat seine Ziele scheinbar mit aller Härte verfolgt. Das Menschliche war für ihn weniger wichtig. Priorität hatte der Erfolg des Produkts. Sie aber berichten von der Kunst der Menschenführung. Für den menschlichen Menschen steht das Phänomen des Staunens und der Offenheit gegenüber Mitmenschen im Vordergrund. Von hier aus ist der Bogen zum Sich-selbst-Hinterfragen nicht weit. Die Kunst der Menschenführung ist nicht selbstverständlich. Es wird hier sehr viel Missbrauch getrieben. Menschen in Führungspositionen stellen sich oft zu wenig die Frage nach dem richtigen eigenen Handeln.
Lanzl: Es gibt Dinge, die man lernen kann. Gerade von meinem ersten Vorgesetzten in der privaten Wirtschaft habe ich in dieser Hinsicht sehr viel gelernt, zum Beispiel, dass man sich als Führungskraft hinterfragen muss. Wenn Mitarbeiter nur zehn Prozent weniger Leistung erbringen, weil sie sich über den Chef ärgern, dann wird bei zehn Mitarbeitern eine ganze Stelle verschwendet. Solche Dinge wurden mir von meinem Chef ans Herz gelegt. Er hat mit mir darüber diskutiert, ob ich als Führungskraft richtig handle. Vor allem aber hat er einer Führungskraft zugestanden, auch einmal Fehler zu machen.
Aufgang: Wir sind alle nicht perfekt, machen alle Fehler. Als Junglehrer macht man viele, aus denen man dann lernt. Heißt sich selbst hinterfragen auch sich Fehler eingestehen können?
Lanzl: Auf alle Fälle. Ich möchte die Führungskraft sehen, die keine Fehler macht. Sie wäre nicht menschlich. Mittlerweile ist es Standard, sich bei Mitarbeitern zu entschuldigen, wenn man Führungsfehler gemacht hat. Diese Verhaltensweise ist heute nicht nur akzeptiert, sondern erforderlich. So autoritär führen wie in den 50er-Jahren ist nicht mehr möglich. Diesen Führungsstil lässt sich kein Mitarbeiter gefallen. Er sucht sich dann sehr schnell eine andere Firma.
Aufgang: Kann man sich das als Mitarbeiter leisten?
Lanzl: Selbstverständlich. Ich würde sogar sagen: wesentlich mehr als früher. Früher war man mit der Firma vielleicht sogar „ein bisschen verheiratet“, aber heute gibt es den familiären Zusammenhalt zwischen Angestellten und der Firma nicht mehr.
Aufgang: An vielen Schulen haben die Rektoren heute die Qual der Wahl. Sie brauchen ihren Führungsstil oft nicht zu hinterfragen, weil sie bei der Einstellung von Bewerbern meist aus dem Vollen schöpfen können. Wenn jemand die Schule verlässt, wird eben ein anderer eingestellt.
Lanzl: An einer Schule kann man sich das vielleicht eher erlauben, weil man weniger im Team arbeitet. Im industriellen Unternehmen ist es fast immer auch ein finanzieller Verlust, wenn ein Mitarbeiter die Firma verlässt. Ein neuer Mitarbeiter muss sich erst einarbeiten und mit den Kollegen vernetzen. Es ist auch nicht klar, ob und wie er in die Gesamtkonstellation passt. Das kostet Geld, Zeit und Aufwand, ist also unökonomisch. An der Schule hingegen arbeiten Kollegen eher unabhängig voneinander. In der Industrie versucht man – mit Ausnahmen – Mitarbeiter zu halten.
Aufgang: Über finanzielle Anreize?
Lanzl: Unter Umständen ja. Man kann mit Geld kaum zusätzlich motivieren, aber man kann demotivieren. Wenn ein Mitarbeiter den Eindruck hat, er verdiene zu wenig, kann das so demotivierend sein, dass er kündigt. Dann muss auch an der Gehaltsschraube gedreht werden.
Aufgang: Welche anderen Möglichkeiten gibt es, Mitarbeiter zu halten?
Lanzl: Viele. Alle Mitarbeiter brauchen positives Feedback und Anerkennung. Hier können Vorgesetzte zur Motivation beitragen.