»Dieses Buch riecht nach Meer. Nach der Lektüre will man die Welt einfach nur umarmen.« Hape Kerkeling
Nach dem Tod ihres Mannes sucht Tess Harding mit Robbie, ihrem gehörlosen Sohn, Zuflucht in Montauk, einem Dorf auf Long Island. Trotz all ihrer Bemühungen schafft sie es nicht, ihrem Kind zu helfen, den Verlust zu verkraften. Robbie gibt ihr die Schuld am Tod seines Vaters, so dass Tess fürchtet, auch ihn noch zu verlieren. Dann begegnen sie einem Meeresbiologen: Kip ist auf der Suche nach einem Wal mit einem einzigartigen Gesang. Robbie ist fasziniert von dem Tier und findet einen Weg, es im Meer aufzuspüren. Die Begegnungen mit dem Wal helfen ihm, seine Isolation zu überwinden – und Tess hat zum ersten Mal die Hoffnung auf einen Neuanfang.
Ein gehörloser Junge, eine Frau, die ihren Mann verloren hat, ein Meeresforscher – und ein Blauwal, der sie auf eine Reise über den Ozean führt.
Als das Meer uns gehörte
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Yasemin Dinçer
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Epilog
Dank
Über Barbara J. Zitwer
Impressum
Für Gil
»Ich bin mir nicht sicher, weshalb das Meer auf uns eine solch große Anziehungskraft ausübt, doch abgesehen davon, dass das Meer und das Licht und die Schiffe ständig in Bewegung sind, hat es wohl damit zu tun, dass wir alle dem Meer entstammen. Interessant ist auch die biologische Tatsache, dass das Blut in unseren Adern exakt denselben Salzanteil hat wie der Ozean, dass wir Salz in unserem Blut, in unserem Schweiß und in unseren Tränen haben. Wir sind mit dem Ozean verbunden. Und wenn wir zum Meer zurückkehren – um darauf zu segeln oder um es zu betrachten –, dann kehren wir zu unserem Ursprung zurück.«
John F. Kennedy
[Aus den Bemerkungen beim Dinner für die Crews des America’s Cup, 14. September 1962]
Sie trat an die raumhohen Fenster, die auf den West Side Highway hinausgingen. Die Scheiben waren von außen mit Eis überzogen, und auf den Fenstersimsen hatten sich kleine Schneeverwehungen gebildet, während hinter ihr die Heizkörper zischten. Tagsüber standen auf der sechsspurigen Fahrbahn zu ihren Füßen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Nun, mitten in der Nacht, waren die Straßen leer, abgesehen von einem Taxi, das einem unbekannten Ziel entgegenraste. Im Hudson River spiegelte sich die blinkende Skyline New Jerseys, deren funkelnde Lichter aussahen wie Weihnachtsbeleuchtung. Die Strömung wellte und kräuselte das dunkle Wasser. Bitter betrachtete Tess ihr Spiegelbild.
Einen Entwurf nach dem anderen hatte sie zerrissen und die Papierfetzen auf den Fußboden geworfen. Je weiter die Nacht vorangeschritten war, desto größer war ihre Frustration geworden, und nun, als der Morgen zu dämmern begann, übermannte sie die Trostlosigkeit vollends. Sie war es gewohnt, Hunderte von Zeichnungen anzufertigen, ehe sie einen neuen Schuh vor sich sah, aber diesmal blieben all ihre Bemühungen erfolglos. Ihre schmerzenden Finger, mit denen sie so viele Stunden am Tag den Kohlestift hielt, waren verfärbt wie bei einem Kettenraucher. Sie nahm ihren letzten Entwurf auf und besah ihn sich. Dann zerriss sie auch ihn. Noch ein gescheiterter Versuch. Ihre rechte Hand zitterte.
Schuhe von Tess Harding waren einzigartig. Sie wiederholte sich nie, und ihre Entwürfe zeugten von ihrem Perfektionismus. Wenn sie einmal in Schwung war, konnte sie in einem über Wochen andauernden Rausch eine gesamte neue Schuhkollektion zeichnen. Entwerfen war für sie nicht bloß ihr Job, es war ihre Leidenschaft, das, was sie bewegte. Tess liebte, was sie Tag für Tag tat. Aber diese Blockade dauerte nun schon zu lange. Was war nur los mit ihr?
Sie umschloss mit der Hand den kleinen silbernen Bilderrahmen mit dem Foto von Adam und Robbie, der an einer Kette von ihrer großen Schreibtischlampe baumelte. Ihr Mann und ihr Sohn. Die beiden bedeuteten ihr alles. Sie fehlten ihr. Doch schließlich arbeitete sie, um sie zu ernähren, und erfüllte sich nicht etwa nur ihren Karrieretraum. Sie waren nun eine Familie mit nur einem Einkommen, und Tess war sich nur allzu bewusst, was es kostete, ihren Lebensstil aufrechtzuerhalten. Die Anspannung der letzten fünf Jahre, in denen Adam nichts verdient hatte, war nervenaufreibend gewesen und hatte sie zunehmend gereizter werden lassen.
Niemals würde sie sich bei ihm beschweren oder noch mehr Druck auf ihren ohnehin demoralisierten Ehemann ausüben. Es war nicht seine Schuld, dass er schon mit fünfunddreißig zu einem Dinosaurier geworden war, schließlich hatten auch viele andere Leute im Musikbusiness ihre Jobs verloren, ihre Perspektiven und alles, worauf sie ihr Leben ausgerichtet hatten. Keiner von ihnen beiden war auf Adams Scheitern und Tess’ großen Erfolg vorbereitet gewesen. Es war nicht leicht für ihre Beziehung, aber Tess konnte Adam seine Verbitterung nicht abnehmen. Sie verdiente das Geld für die Familie und ging jeden Tag arbeiten, Adam kümmerte sich um ihr Kind. Sie beide liebten Robbie über alles, er war das Bindeglied zwischen ihnen, das sie zusammenhielt. Wären sie überhaupt noch ein Paar, wenn Robbie nicht wäre? Auch wenn sie es sich kaum eingestehen mochte, nagten solche Gedanken manchmal an ihr.
Als sie ihm vorhin am Telefon gesagt hatte, dass sie die ganze Nacht durcharbeiten würde, hatten sie sich wieder einmal gestritten. Was sollte sie denn tun? Auch nach all den gemeinsamen Jahren hatte Adam noch immer kein Verständnis für ihre Sorgen und dafür, was es ihr abverlangte, Jahr für Jahr im Herbst und Frühling eine komplett neue Kollektion auf den Markt zu bringen. Und jetzt, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs, stand sie unter größerem Druck als je zuvor. Und während sie sich mit Selbstzweifeln plagte, glaubte Adam, ihre Ideen kämen ihr einfach so zugeflogen. Dass das Entwerfen so etwas wie ihr Hobby wäre und sie einfach Glück gehabt hatte. Sie nahm den kleinen Trainingsball aus Gummi vom Schreibtisch und drückte ihn mehrmals in jeder Hand, um ihre verspannte Muskulatur zu lösen.
Ihr Blick wanderte über die Reihe der Skizzen, die noch an der Pinnwand hingen. Jede einzelne dieser Zeichnungen, mit kirschroten Reißzwecken angeheftet und gleichmäßig aneinandergereiht, würde bald von ihrem engsten Beraterkreis analysiert, kritisiert und auseinandergenommen werden. Nach endlosen Diskussionen und viel Hin und Her würden aus den Finalisten schließlich dreißig Entwürfe ausgewählt und an die Fabrik in Italien gesandt, um dort produziert zu werden. Schuhe zu designen war ein globaler Kraftakt, und ihre Ideen mussten ebenso den Anforderungen eines Multimillionen-Dollar-Konzerns genügen wie die Massen zufriedenstellen. Und sie trat nur auf der Stelle. So sehr sie sich auch anstrengte, sie wusste, dass sie heute nichts Gutes mehr zustande brächte. Morgen wäre ein neuer Tag. Sie warf ihren schweren Daunenmantel über, schaltete die Lichter aus, schloss die Tür und nahm den Aufzug hinunter ins Erdgeschoss. Draußen herrschten Minusgrade.
Sie wollte nur noch nach Hause und endlich ihre Familie sehen. Das Taxi hielt vor ihrem Wohngebäude The Beresford, und sie sah ihren Lieblingsportier José durch die Eingangshalle auf sie zukommen. Sein freundliches Lächeln und sein warmherziges Auftreten hießen sie stets willkommen. Obwohl er die Nachtdienste hatte, sah seine Uniform immer frisch und gebügelt aus, nie wirkte er müde. José öffnete die schweren Glastüren, führte sie herein und begleitete sie zum hinteren Aufzug.
»Wieder die ganze Nacht gearbeitet, Mrs. Tess?«, fragte er mit seinem starken spanischen Akzent.
»Oh, das ist es wert, um hierher nach Hause zu kommen«, erwiderte sie lachend.
»Wann nehmen Sie sich mal etwas Zeit für sich?«
»Wenn ich Robbies Collegestudium bezahlt habe … vielleicht«, antwortete sie trocken.
»Aber er ist doch erst neun. ¡Dios mío!«
»Gute Schulen kosten Geld.«
»Robbie hat großes Glück.«
»Ich bin es, die sich glücklich schätzen kann. Der Junge ist das Beste, was mir je passiert ist.«
Die bronzefarbenen Art-déco-Aufzugtüren öffneten sich, und Tess trat ein.
»Gute Nacht, José. Ich meine, guten Morgen.«
Der Vorraum vor ihrer Wohnungstür war mit schwarzweißen Porzellanfliesen ausgelegt, auf einem Art-déco-Regal stand eine schlichte elegante Vase mit frischen weißen Orchideen. Tess betrachtete sich in dem ovalen vergoldeten Spiegel. Die Frau, die ihr entgegenblickte, sah müde und angespannt aus.
Tess drehte den Schlüssel im Schloss um und ließ die Welt hinter sich. In der Wohnung war es angenehm warm und so ruhig, als wäre niemand hier. Das Erste, was ins Auge fiel, war das schwarzweiße Wohnzimmer mit den Sesseln aus echten Zebrafellen, antiken Stücken aus den dreißiger Jahren. Ihre borstigen Mähnen sahen aus wie Irokesenfrisuren, und sie wirkten, als könnten sie im nächsten Augenblick über den glänzend polierten dunklen Mahagonifußboden davongaloppieren. Als Robbie klein war, glaubte er, ihr Wohnzimmer wäre ein Zoo und die Zebras wären seine Freunde. Das elegante weiße Sofa und der scharfkantige Couchtisch aus Marmor vervollständigten das mondäne Ambiente, das so typisch war für die Central Park West. Sie hängte ihren Mantel in den Wandschrank, stellte ihre Tasche auf der weißen Marmorbank im Flur ab und trat ans Fenster. Der Morgen brach an, und die Sonne erhellte den Winterhimmel. Sie genoss die Stille in der Wohnung. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Bei der Besichtigung hatten die massiven Wände und hohen Decken der Wohnung Tess an eine Bank erinnert, so undurchdringlich und solide gebaut schien ihr das Gebäude. Nun genoss sie es, wie diese Bauweise sie vor dem Chaos und dem Lärm der Stadt abschirmte.
Wie immer ging sie als Erstes nach Robbie sehen, und wie immer verspürte sie Erleichterung beim Anblick seines hellblonden Schopfes, der unter seiner schwarzweißen Steppdecke hervorlugte. Er schlief tief und fest, wie ein Kind schlafen sollte, ohne Sorgen. Vor seinem Fenster stand ein großer Schreibtisch aus weißer gebeizter Eiche, der mit seinen Büchern, CDs und dem Grammy Award bedeckt war, den sein Vater vor zehn Jahren für das beste Pop-Album des Jahres gewonnen hatte. Seine glänzende Tuba steckte in ihrem Ständer, darüber hing ein Pullover. Sie faltete ihn zusammen und legte ihn auf seine Kommode, dann ordnete sie die Bücher auf seinem Schreibtisch. Robbie übte für das Weihnachtskonzert. Dieses Jahr dürfte er zum ersten Mal einen der begehrten Soloparts spielen. Er liebte seine Tuba, so riesig und unhandlich sie auch sein mochte. Es war mühevoll, sie jeden Tag zur Schule und wieder nach Hause zu transportieren, aber Tess wusste, dass Robbie die Vibrationen seiner Musik bei diesem Instrument, wenn er es im Arm hielt und spielte, in einer Intensität spüren konnte, die alle anderen übertraf, und sie verstand, weshalb Robbie das so viel bedeutete. Die musikalische Begabung ihres Sohnes erfüllte sie mit Stolz. Robbie hatte die Benachteiligung, taub geboren worden zu sein, vollkommen überwunden. Und auch sie hatte es geschafft. Als sie damals erfahren hatte, dass er Cochlea-Implantate bekommen konnte, war sie erleichtert gewesen. Er würde fast so aufwachsen können wie ein Kind mit Gehör, die Ärzte meinten, er bräuchte noch nicht einmal Gebärdensprache zu lernen. Ihr Sohn würde hören können, und sie und Adam sollten ausschließlich mit ihm sprechen, um ihm die Entwicklung in der Welt der Hörenden zu erleichtern. Also sprach Tess von seiner Implantation an mit Robbie, und er besuchte von der Vorschule an eine reguläre Schule. Adam war es, der aus Interesse an der Welt der Gehörlosen zuerst das Gebärden erlernte und es Robbie beibrachte. Schon bald verbargen sie auf diese Weise die ersten Geheimnisse vor ihr, und als Robbie fünf Jahre alt war, entschied sie, das Gebärden lieber ebenfalls zu lernen.
Obwohl das Hören für Adam als Musikproduzenten eine so große Bedeutung hatte, ging er ganz offen mit Robbies Problem um und schaffte es trotz allem, ihn in die Welt der Musik zu führen. Er nannte Robbie seinen »kleinen Beethoven« und kaufte ihm eine unfassbar teure Tuba, als er eigentlich noch viel zu klein dafür war. Aber Robbie war begeistert und übte ohne Unterlass, was Tess schließlich auch überzeugte, dass das Instrument seinen Preis wert gewesen war.
Sie schob ganz sanft Robbies Bein zurück, das über die Bettkante gerutscht war, und deckte ihn zu. Er rührte sich nicht. Sie gab ihm einen Kuss auf den Kopf und ließ ihn die letzten paar Minuten genießen, ehe er aufstehen musste, um zur Schule zu gehen und seinen typischen hektischen New-York-City-Tag zu beginnen, der bis sieben Uhr abends vollgepackt mit Aktivitäten sein würde. In letzter Zeit sah sie ihn kaum noch.
Sie betrat ihr eigenes Schlafzimmer, ließ sich angezogen aufs Bett fallen und schloss die Augen, wobei ihr die Schuhe von den in der Luft baumelnden Füßen glitten. Dann hörte sie das Wasser in der Dusche rauschen und ihren Mann mit seiner dröhnenden Stimme singen. Sie war so müde. Wenn sie diese Kollektion irgendwann einmal fertig hätte, bräuchte sie dringend Urlaub. Sie und Adam, nur sie beide.
Doch jetzt bräuchten sie erst einmal Frühstück. Robbie musste zur Schule.
***
»Warum überrascht mich das nicht?«, lachte Tess beim Blick in den nahezu leeren Kühlschrank. Ein Eierkarton ohne Inhalt, zwei Sixpacks Bier, ein alter Brotlaib und ein fragwürdiges Stück Käse starrten ihr entgegen. Sie nahm vorsichtig den Käse heraus: »Guter oder schlechter Schimmel?« Die Reaktion ihrer Nase war unmissverständlich. Sie blickte hinüber zu Adam, der es sich hinter den übergroßen Seiten der New York Times gemütlich gemacht hatte. In stetem Rhythmus griff sein Arm nach der Kaffeetasse und stellte sie zurück auf den Tisch. Ohne dass er dabei aufgesehen hätte, schenkte sie ihm frischen Kaffee nach. So war das wohl nach fünfzehn Jahren Ehe. Es lag eine besondere Geborgenheit darin, dass sie einander als selbstverständlich betrachteten. Sie waren so sehr aneinander gewöhnt.
»Ich dachte, du wolltest gestern einkaufen gehen?«, zog sie ihn lächelnd auf und wollte sich eben auf seinen Schoß sinken lassen, um ihm den ranzigen Käse unter die Nase zu halten, als er zurückzuckte.
»Verdammt, Tess. Was soll das?«
Sie erhob sich wieder, worauf er weiter an seinem Kaffee nippte, den Blick auf die Zeitung geheftet.
»Tut mir leid, dass ich dich störe.« Tess fühlte sich plötzlich befangen. Sie warf den Käse in den Mülleimer und knallte den Deckel geräuschvoll zu.
»Ich lese gerade einen wichtigen Artikel über Sonys neue Programmsparte«, versuchte er zu beschwichtigen.
»Tut mir leid.«
»Das könnte eine echte Chance für meine neue Band sein.«
»Ich hoffe, es klappt.«
»Du glaubst nicht daran.« Er sah zu ihr auf.
»Doch, natürlich tue ich das. Wie wäre es, wenn wir den Tag heute gemeinsam verbringen? Ich glaube, wir brauchen mal ein bisschen Zeit für uns.«
»Und Robbie?«
»Nia könnte auf ihn aufpassen. Er kann mit Suzie zusammen Hausaufgaben machen und dort zu Abend essen.«
»Weißt du, wie oft Nia das Abendessen für unseren Sohn kocht?«
»Sie ist meine beste Freundin, und sie liebt Robbie.«
»Er verbringt mittlerweile mehr Zeit mit ihr als mit dir.«
»Das stimmt doch nicht.«
»Ich muss Robbie wecken. Es ist Zeit«, sagte er und verließ den Raum.
Als er hinausging, bemerkte Tess mehr als nur ein paar graue Strähnen in seinem sandfarbenen Haar. Es war, als fiele ihr zum ersten Mal auf, dass Adam älter geworden war. Er stand nicht mehr so aufrecht wie früher, seine Schultern neigten sich nach vorn, so dass er kleiner wirkte als die ein Meter zweiundneunzig, die er maß. Gott, sie hoffte so sehr, diese neue Band, die er produzieren wollte, würde bald einen Vertrag bekommen und ein Erfolg werden. Allerdings traute sie dem Projekt nicht recht, da er nun schon so lange mit ihnen arbeitete, ohne dass etwas Konkretes dabei herausgekommen wäre, sei es auch nur ein Demoband. Er hatte ihr noch nichts von ihnen vorgespielt. Und was waren seine alten Kontakte wert, wenn er die Branchenneuigkeiten aus der Zeitung erfuhr? Früher hatte er im Handumdrehen die Chefs jeder Plattenfirma ans Telefon bekommen, aber das war nun Jahre her. Sie fragte sich plötzlich, ob sein Projekt bereits geplatzt war und er es ihr bloß nicht sagen wollte. Vielleicht war es das, was ihm Sorgen bereitete.
Sie bemühte sich, seine Probleme für den Moment aus dem Kopf zu bekommen, und wühlte in den Schränken nach irgendetwas Essbarem, Müsli, einer Pancake-Backmischung, Grießbrei, zur Not auch Spaghetti. Nichts. Dann fiel ihr diese Bio-Tiefkühlpizza ein, die sie neulich für sich mitgebracht hatte. Pizza zum Frühstück? Wenn es sich jetzt nicht um einen Nahrungsmittelnotfall handelte, wann dann? Sie riss die Verpackung auf und steckte die gefrorene Pizza in den Backofen. Bis Robbie und Adam herumalbernd in die Küche kamen, war sie fertig. Adam hatte seine gute Laune wiedergefunden.
»Setzt euch hin. Ihr esst jetzt beide etwas«, befahl Tess, die vor ihnen mit dem Zeigefinger herumwedelte.
»Cool, Pizza zum Frühstück«, sagte Robbie.
»Keine Sorge, morgen gibt es Haferbrei und Weizenkeime mit frischem Obst.«
»Igitt! Pizza gefällt mir besser.«
Robbie, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, während er seiner Mutter äußerlich so gut wie gar nicht ähnelte, schlang ein Stück hinunter und setzte seine Kopfhörer auf. Tess betrachtete seine kleinen Füße, die den Takt zur Musik aus seinem iPod schlugen, den er stets bei sich trug. Sie hörte die gedämpften Laute des Stücks, das Robbie für sein Solo beim Weihnachtskonzert einstudierte. Sie hatte es schon so oft gehört, dass sie es auswendig kannte.
Sie drückte die Stopptaste auf dem iPod, woraufhin Robbie sie verwundert ansah.
»Was?«, fragte er.
Sie glättete den Kragen seines Hemdes und knöpfte es ganz zu. »Du musst dir genug Zeit nehmen, dich richtig anzuziehen, Robbie.«
Robbie gebärdete etwas in Adams Richtung, und die beiden rollten stöhnend mit den Augen.
»Hört schon auf, ihr beiden. Es ist wichtig, wie du aussiehst, Robbie. Es gibt keinen Grund für Schlampigkeit.« Sie nahm seinen genervten Blick zur Kenntnis. »Komm schon, können wir uns vielleicht mal fünf Minuten unterhalten? Ich bekomme dich nie zu Gesicht, und gleich musst du los. Du fehlst mir.«
»Wie kann ich dir fehlen? Ich wohne hier.«
»Erzähl mir, was du so treibst. Was steht heute in der Schule an?«
»Orchesterprobe.«
Darauf griff Robbie nach seinen Hörgeräten und nahm sie ab. Fast automatisch wanderte ihr Blick zu der kleinen Erhebung an seinem Schädel, wo sich sein Implantat unter seiner Kopfhaut abzeichnete. Nun nahm er Messer und Gabel und fing an, auf den Salz- und Pfefferstreuern, den Gläsern, dem Tisch und schließlich auf seinen Turnschuhen herumzutrommeln – für diese Art von Musik brauchte er keine technischen Hilfsmittel, diesen Sound spürte er. Er wippte mit dem Kopf, während er aus dem Klang aller Gegenstände um sich herum Musik entstehen ließ. Sogar auf Tess’ goldenen Ehering trommelte er. Dann stand er auf und schlug auf die Theken, den Toaster und die Stühle ein, klopfte auf Topfdeckel, wirbelte in der Küche herum und schlug auf alle metallenen Oberflächen in Reichweite. Sie liebte es, die ausgelassene Freude in seinem Gesicht zu sehen, wie sein Kopf mitschwang, sein Blick tanzte, wie er lachte.
Schließlich war sein kleines Akustikexperiment zu Ende, und er legte seine Hörgeräte wieder an.
»Mom, freust du dich auch so, dass wir über Weihnachten nach Griechenland fahren?« Er trällerte: »Weihnachten in Griechenland.«
»Wovon redest du?« Tess sah fragend zu Adam hinüber, der völlig überrascht aufblickte.
»Suzie und ich haben gehört, wie sich Dad und Nia darüber unterhalten haben. Wir werden bei ihren Cousins und Cousinen wohnen und schwimmen gehen und so«, erklärte Robbie.
»Das musst du falsch verstanden haben, Robbie. Nia und Suzie fliegen, nicht wir«, meinte Adam.
»Aber ich habe euch gehört! Suzie hat gesagt, wir können mit ihr im Haus ihres Onkels wohnen. Und wir sind noch nie irgendwo hingeflogen. Warum machen wir so was nie?«
»Es ist kurz vor acht. Du kommst zu spät zur Schule, wir müssen los«, sagte Adam nur.
»Aber … Dad«, maulte Robbie.
Adams Mobiltelefon klingelte, er zog es hervor und ging hinaus in den Flur.
»Können wir nach Griechenland fliegen, Mom? Wäre das nicht großartig? Wir machen sonst nie richtigen Familienurlaub«, drängte Robbie weiter.
»Robbie, Daddy und ich werden uns auf jeden Fall darüber unterhalten. Das verspreche ich«, versicherte Tess ihm.
Mit dem Telefon in der Hand steckte Adam seinen Kopf durch die Küchentür: »Hey, Kumpel, kannst du dieses eine Mal allein mit der U-Bahn zur Schule fahren? Kleine Planänderung. Ich muss mich gleich mit jemandem treffen.«
Tess sah, wie sich Robbies Augenbrauen zusammenzogen und sein kleines Gesicht sich verdüsterte.
»Adam«, ermahnte Tess ihn. Er wusste ebenso gut wie sie, dass Robbie nicht gern allein Bahn fuhr. Und mit dem Taxi hin- und zurückzufahren war teuer. Außerdem war es zu anstrengend für Robbie, seinen Tubakoffer den ganzen Weg zu tragen. Die U-Bahnen waren für ihn ein Ort der Verwirrung, zu überfüllt und laut, und sie wollte nicht, dass Robbie auf seinem Schulweg Sorgen oder Ängste ausstehen musste. Bestimmt würde er an Sicherheit gewinnen, wenn er größer wurde, aber für den Moment hatten sie vereinbart, dass Adam ihn hinbrachte und abholte. Wäre sie nicht so müde, würde sie ihn selbst begleiten, aber nach ihrer schlaflosen Nacht war sie vollkommen erschöpft.
»Vergiss es, Kumpel. Ich gehe ein bisschen später zu meinem Termin. Kein Problem.« Adam zerzauste ihm das Haar, und Robbies Miene hellte sich wieder auf. Er setzte sich die Kopfhörer auf und rannte hinter Adam her, der sich bereits den Tubakoffer, den Rucksack und ihre Mäntel geschnappt hatte.
»Hey, bekomme ich keinen Abschiedskuss?«, rief Tess ihnen hinterher.
Doch die Wohnungstür knallte zu, und mit einem Mal war es still. Robbie mochte inzwischen zu groß sein, um seiner Mutter einen Kuss geben zu wollen, aber früher wäre zumindest Adam nicht gegangen, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben.
Vielleicht sollten sie wirklich nach Griechenland fliegen. Womöglich war es genau das, was sie brauchten. Die Kinder könnten von früh bis spät spielen, und Nia würde mit Sicherheit auf Robbie aufpassen, wenn sie und Adam Zeit füreinander bräuchten. Vielleicht würden sie dort wieder zueinander finden. Tess schnappte sich ihren Laptop und suchte nach Flügen in der Woche vor Weihnachten. Die Flugtickets kosteten ein kleines Vermögen. Die Temperaturen wären um diese Jahreszeit nicht gerade sommerlich, also wäre es vermutlich nicht die beste Zeit zum Schwimmen, aber die Bilder der Gegend, in der Nias Familie lebte, sahen herrlich aus. Sie schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und traf dann die erste spontane Entscheidung seit langem. Mit einem Mausklick kaufte sie drei Tickets nach Athen. Tess war wie berauscht. Sie hatte sich noch nicht einmal mit Nia abgesprochen. Sie musste verrückt sein! Aber sie wusste, dass ihre Freundin begeistert wäre. Nia liebte es, Gesellschaft zu haben, vor allem seit ihrer Scheidung.
Ihre Familie würde endlich wieder Zeit miteinander verbringen und neue Erinnerungen sammeln, gemeinsam lachen. Sie würde Robbie und Adam dafür entschädigen, dass sie so viel arbeitete. Sie konnte es kaum erwarten, den beiden von ihren Plänen zu erzählen. Robbie wäre außer sich vor Freude, da war sie sich sicher, immerhin wäre es seine erste Auslandsreise. Und allein der Gedanke an die griechische Kultur, an die antike Malerei und Architektur inspirierte sie. Vielleicht sollte ihre nächste Kollektion Spuren dieser klassischen Schönheit aufweisen? Die Vorstellung war spannend. Sandalen mit Riemen bis zum Knie. Adam wäre gewiss von ihrer Entscheidung überrascht, aber auch begeistert. Sie und er würden sich auf dieser Reise wieder näherkommen, da war sie sich sicher.
Sie würde die nächsten Wochen schuften wie ein Tier und ihren Job zu Ende bringen. Das stand außer Frage. Sie räumte die Küche auf, bis alles blitzsauber war, dann ging sie zurück ins Schlafzimmer und ließ die Jalousien herunter.
Kein Strahl Sonnenlicht drang hindurch. Sie rollte sich unter der großen Decke zusammen, vergrub den Kopf in den Kissen und fiel in einen tiefen Schlaf, bis sie von lautem Klopfen an der Wohnungstür geweckt wurde.
Die grellen Neonröhren des langen Flurs vor der Leichenhalle ließen die dunkel geränderten, verstaubten Risse in der Wand deutlich hervortreten. Das Summen der Lichter drang in ihre Ohren wie ein Klagelaut. Gegenüber dem Eingang zu dem Raum, in dem die toten Körper aufbewahrt wurden, stand ein alter Metallschreibtisch. Dort saß ein grimmig aussehender Polizist, dem die Fähigkeit zu lächeln nicht gegeben zu sein schien, und machte sich mit gesenktem Kopf Notizen. Nur wenn jemand in weißem Kittel an ihm vorbeikam, blickte er auf.
In der Ecke stand ein dürrer, erbärmlich wirkender Weihnachtsbaum. An den Wänden waren ein wenig Lametta und billiger Plastikschmuck verteilt. Die Unwirtlichkeit dieses Ortes war wie ein Schlag ins Gesicht für Tess. Sie saß auf einem billigen Plastikstuhl und konnte immer noch nicht fassen, was sie gerade durchlebte.
Der Anblick Adams ließ sie nicht mehr los. Für immer wäre er in ihr Gedächtnis eingebrannt. Er hatte so unwirklich ausgesehen. Die Haut fahl, ohne jede Röte des Lebens. Die Polizei hatte ihr erklärt, dass ihr Ehemann um zehn Uhr morgens auf der Avenue A in der Lower East Side an einem Bankautomaten gestanden hatte. Ein fünfzehnjähriger Junge war auf ihn zugegangen und hatte ihm in den Kopf geschossen. Einfach so, um in eine Gang aufgenommen zu werden. Nun würde der Junge den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Sie hatten ihn beinahe sofort gefasst. Wie konnte ein Jugendlicher, der nur wenige Jahre älter war als Robbie, Adam getötet haben? Wie konnte sich ein Leben von einem Augenblick auf den anderen so verändern?
Tess blickte auf und sah das Gesicht einer jungen Polizistin vor sich, deren Sommersprossen und lockiges rotes Haar nicht recht zu ihrer männlichen marineblauen Uniform passten.
»Mrs. Harding?«
»Ja.«
»Mein Beileid. Kommen Sie mit.«
***
Als Tess der Polizei die Wohnungstür geöffnet und von den Ermittlern in ihrem Hausflur erklärt bekommen hatte, was geschehen war, hatte sie es nicht glauben können. Nein, sie brauche niemanden, der sie zum Leichenschauhaus begleitete, denn das alles müsse ein Fehler sein. Also war sie allein dorthin geeilt. Doch dann war es Adam, der da auf einmal vor ihr lag, und er war tot. Sie verstand es nicht.
Die Polizistin kam mit einer braunen Papiertüte und einem Klemmbrett zurück. Sie reichte Tess die Tüte, auf die mit dickem Filzstift in Großbuchstaben ADAM HARDING geschrieben worden war.
»Wenn Sie einfach hier unterzeichnen könnten, um den Empfang zu bestätigen.«
Tess las das Dokument nicht. Sie unterschrieb, drückte sich die Tüte fest an die Brust und ging hinaus in den eiskalten Nachmittag. Wie in Trance kehrte sie zu ihrem Wohngebäude zurück. Sie kam an José vorbei, dessen traurige große braune Augen sie beinahe die Fassung verlieren ließen, schüttelte den Kopf und eilte schnell weiter zum hinteren Teil des Gebäudes. Sie drückte die Nummer ihres Stockwerks und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Mechanisch nahm sie ihre Schlüssel aus der Tasche und schloss die Wohnungstür auf, taumelte ins Schlafzimmer und legte die Tüte aufs Bett.
***
Zwei kleine Heftklammern hielten die Tüte verschlossen. Tess öffnete sie eine nach der anderen und legte sie auf den Nachttisch. Dann nahm sie Adams Hose heraus, die zusammengelegt ganz oben lag, und breitete sie auf dem Bett aus. Sie strich über den Kordstoff, bis alle Falten geglättet waren. Sein weißes Hemd war befleckt. Genau wie sein Pullover. Der Anblick des getrockneten Blutes versetzte ihr einen Schock. Sie packte die Teile zurück in die Tasche. Dabei fiel ihr auf, dass seine Uhr fehlte. Adam legte sie niemals ab. Die TAG Heuer, mit der sie ihren Mann zu seinem dreißigsten Geburtstag überrascht hatte. Auch sein Rucksack war verschwunden, mitsamt seiner Brieftasche und seinen Kreditkarten.
Sie griff nach ihrem Telefon und drückte auf die Schnellwahltaste für Nia. Komm schon, komm schon, nimm ab. Ich brauche dich. Du musst sofort herkommen. Nimm ab, Nia. Doch Tess erreichte nur die Mailbox. Ihre Knie gaben nach, und sie sank auf den Fußboden. Aber sie konnte ihrem Schmerz jetzt nicht nachgeben. Robbie. Sie musste zu ihrem Kind und ihm sagen, was passiert war. Dass ihr Leben nie wieder dasselbe wäre. Wie sollte sie ihm erklären, wofür sie selbst keine Worte hatte?
Ohne Mantel stürzte sie aus der Wohnung, rannte auf die Straße und fuchtelte wild mit den Armen, um ein Taxi anzuhalten. Robbie, ihr armer kleiner Sohn.
***
Tess war völlig außer Atem, doch als sie der Schulleiterin entgegentrat, riss sie sich mit aller Kraft zusammen. Der uniformierte Wachmann stand neben ihr, er war ihr durch den Flur gefolgt. Sie konnte es verstehen. Sie musste wie eine Verrückte gewirkt haben, völlig durcheinander, und er hatte bloß seine Arbeit getan, aber sie musste Robbie finden und ihn mit nach Hause nehmen.
»Ich muss zu Robbie. Ich muss ihn abholen. Sofort«, brachte sie mit krächzender Stimme hervor.
»Robbie?«
»Robbie Harding. Ich bin seine Mutter.«
»Ich bin Claire Hadley, die Schulleiterin. Ich glaube, wir kennen uns noch gar nicht.«
»Natürlich kennen wir uns. Ich habe Sie gesehen bei … wann auch immer das war. Ich habe Sie schon mal gesehen. Ich kenne die Schulleiterin meines Sohnes.«
»Sie sind ziemlich aufgebracht, Mrs. Harding. Tut mir leid. Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Ich bin es nur gewohnt, bei schulischen Anlässen Ihren Ehemann zu sehen. Wieso kommen Sie nicht in mein Büro und sagen mir, was los ist?«
Die Schulleiterin hielt Tess die Tür zu ihrem Büro auf, ging um ihren Schreibtisch und setzte sich, aber Tess konnte jetzt nicht einfach vor ihr Platz nehmen. Panik und Angst rauschten ihr durch die Adern. Sie wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel ihrer Bluse von der Stirn.
»Setzen Sie sich doch.«
Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Biss sich auf die Lippe, die sofort zu bluten begann.
»Mrs. Harding, was ist los?«
»Mein Mann … Ihm ist etwas zugestoßen. Er ist tot. Ich muss es Robbie sagen, bevor er es von irgendjemand anderem erfährt.«
»Was? Ich habe ihn doch erst heute Morgen gesehen.«
»Er wurde ermordet … erschossen.«
»Das kann ich nicht glauben!«
»Meinen Sie, ich denke mir das aus?«, fragte Tess bitter.
Die Schulleiterin kam zu Tess hinüber, fasste sie am Arm und führte sie zum Stuhl.
»Entschuldigung, so war das nicht gemeint. Es tut mir so leid. Was für ein Schock.«
»Ich muss zu Robbie und ihm sagen, was passiert ist. Ich will nicht, dass er es aus dem Internet oder von Facebook erfährt, heutzutage …«
»Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Die Kinder dürfen keine Telefone mit ins Klassenzimmer nehmen. Darauf achten wir hier. Wir haben strikte Regeln.«
»Wie sagt man einem Neunjährigen, dass seinem Vater in den Kopf geschossen wurde? Am helllichten Tage, ohne jeden Grund? Wie soll er das verstehen?« Tess hatte Angst vor dem, was ihr bevorstand. Sie wusste nicht, wie sie diese Aufgabe bewältigen sollte.
»Bleiben Sie ruhig. Er ist zu jung, um alles zu verstehen, was mit einem Mord zusammenhängt, und braucht nicht alles darüber zu wissen. Wir wollen ihm keine Angst einjagen.«
»Ich kann ihn doch nicht anlügen. Er wird die Wahrheit so oder so herausfinden, und er muss sie von mir erfahren«, rief Tess.
»Mrs. Harding, Sie müssen sich beruhigen.«
»Es tut mir leid. Ich weiß bloß nicht mehr weiter.« Sie schluchzte.
»Ich denke, wir sollten die Schulpsychologin Mrs. Williams dazubitten, bevor wir Robbie aus seiner Klasse holen. Gemeinsam können wir besprechen, wie wir es ihm am besten beibringen. Sie ist sehr kompetent und kennt alle Schüler. Robbie wird sofort spüren, dass etwas nicht stimmt, wenn er Sie sieht. Und wenn Sie so aufgebracht sind, wird er es auch werden. Man muss es ihm auf die einfachste Weise mitteilen. Ohne zu viele Emotionen.«
»Deinem Vater wurde in den Kopf geschossen klingt brutal, auf welche Weise man es auch sagt.«
»Wir wollen ihm aber nicht noch mehr Angst einjagen, als er ohnehin haben wird«, beharrte die Schulleiterin.
»Es wird in den Nachrichten sein. All seine Freunde, die Nachbarn, jeder wird wissen, was passiert ist.«
»Aber Sie können kontrollieren, wie Sie ihm die Nachricht übermitteln. Sie müssen sich beherrschen. Für Robbie wird es am wichtigsten sein, wie Sie sich verhalten und was Sie tun. Wie das Geschehene Sie fühlen und handeln lässt. Sie werden sein … wie soll ich es sagen … Leuchtturm sein. Sie werden ihn durch dieses Trauma leiten.«
»Ich werde nicht vor ihm zusammenbrechen, falls Sie das meinen. Ich werde stark sein. Aber vielleicht sollten wir die Psychologin rufen.«
***
Als Tess ihren Sohn auf Mrs. Hadleys Büro zukommen sah, wusste sie gleich, dass er annahm, in Schwierigkeiten zu sein. Er hatte die Stirn gerunzelt und den Kopf gesenkt. Aber als er aufblickte und sie sah, lächelte er überrascht.
»Was machst du denn hier, Mom?«, fragte er. Seine Stimme klang noch so kindlich.
»Komm her, Robbie.«
Die Psychologin Mrs. Williams schob die Stühle näher zueinander, und die Erwachsenen bildeten einen Kreis um ihn.
»Setzen wir uns doch alle hin«, schlug sie freundlich vor.
»Was ist los? Ich habe nichts getan«, sagte er.
»Nein, Robbie, das hast du nicht«, beruhigte ihn die Schulleiterin.
Tess nahm Robbies Hand in ihre und suchte seinen Blick.
»Du bist so komisch!« Er entzog sich ihr. »Was stimmt hier nicht? Wo ist Dad?«
»Robbie, deine Mutter ist hier, weil deinem Vater etwas zugestoßen ist«, erklärte Mrs. Williams sanft.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er.
»Robbie, ich muss dir etwas sagen. Dein Vater … er ist tot«, sagte Tess. Wie konnte es sein, dass sie diesen Satz sagen musste?
»Er war eben noch hier. Er hat mich gerade erst hergebracht. Das ist nicht wahr.«
»Robbie, manchmal gibt es böse Menschen, die anderen Menschen weh tun. Ohne dass diese daran Schuld haben. Weißt du noch, als wir in eurer Klasse über Waffen gesprochen haben und die schlimmen Dinge, die passieren können?«, fragte Mrs. Williams.
»Meinem Dad ist nichts passiert!« Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Ein böser Mann mit einer Waffe hat deinen Dad erschossen, Robbie. Aber der Mann ist jetzt im Gefängnis und kann niemandem mehr etwas tun. Du bist vollkommen sicher, und deine Mutter auch. Und wir sind alle hier, um dir zu helfen«, fuhr die Psychologin in beinahe monotonem Tonfall fort.
»Es tut mir so leid, Robbie. Daddy ist nicht mehr da.« Tess umarmte ihn. »Es tut mir so leid.«
Er entriss sich ihr. »Das ist so eine Lüge!«, schrie er.
»Robbie, atme tief durch«, redete Mrs. Williams ihm gut zu. »Versuch, dich zu beruhigen.«
»Ich bin für dich da, Robbie«, sagte Tess und unterdrückte das Beben in ihrer Stimme. »Wir schaffen das. Alles wird wieder gut.«
»Ich glaube dir nicht! Ich gehe jetzt nach Hause, zu ihm!«, brüllte Robbie und rannte aus dem Büro den Korridor hinunter bis zur Eingangstür. Tess sprintete ihm hinterher und versuchte, ihn zu erwischen, bevor er über die Straße rannte, aber sie kam zu spät. Entsetzt sah sie zu, wie sich ihr Sohn durch den entgegenkommenden Verkehr schlängelte und dann inmitten all der Autos wie erstarrt stehen blieb. Sie eilte zu ihm und wurde fast von einem Taxi gestreift. Um ein Haar wäre sie überfahren worden, das Quietschen der Bremsen stellte ihr die Nackenhaare auf. Der Fahrer beschimpfte sie aus seinem Fenster heraus. Auch die Wagen hinter ihm kamen abrupt zum Stehen, und überall um sie herum brach Gehupe und Gebrüll aus. Tess schnappte sich Robbie und zog ihn mit sich auf den Bürgersteig, wo sie ihn eng an sich presste.
»Alles wird wieder gut. Lass uns nach Hause gehen«, flüsterte sie.
***
Tess tröstete Robbie, soweit dieser es zuließ. Sie nannte ihm so wenige Details wie möglich, ohne ihn anzulügen. Und als sie seine Fragen beantwortet hatte und er ihr schließlich glaubte, dass Adam an diesem Abend nicht und auch danach nie wieder nach Hause kommen würde, verschloss er sich vor ihr und allem, was sie ihm noch sagen wollte. Er wollte nicht reden, zog sich von ihr zurück. Sie bestellte für ihn Hamburger und Pommes und einen Schokoladen-Milchshake, all seine Leibspeisen. Doch natürlich rührte er nichts an und ging ins Bett. Sie deckte ihn zu und umarmte ihn, aber er lag so steif da wie eine Statue. Tess versicherte ihrem Sohn, dass sie immer für ihn da wäre und dass sie ihn sehr liebte. Sie würden das hier gemeinsam durchstehen. Sie würden es schaffen.
Tess fand keinen Schlaf. Wie ein Geist wanderte sie von der Küche ins Wohnzimmer, ins Arbeitszimmer, in ihr Schlafzimmer und zurück. Die ganze Nacht hindurch sah sie immer wieder nach Robbie, der reglos zu schlafen schien. Wo war Nia? Weshalb hatte sie keinen ihrer Anrufe beantwortet? Wieso war sie Tess nicht zu Hilfe geeilt? Tess hatte überall Nachrichten für sie hinterlassen. Sie verstand Nias Verhalten nicht. War ihr etwas zugestoßen? Früh am nächsten Morgen klingelte es dann, und ihr wurde ein riesiger Korb voller Delikatessen geliefert. Er war so schwer, dass sie ihn nicht tragen konnte, und sie musste den Boten bitten, ihn in die Küche zu bringen. Überrascht las sie die Karte, der Korb war von Nia. Sie und Suzie waren zu einem Familienfest nach Griechenland geflogen, aber sie bedauere Tess’ und Robbies Verlust so sehr. Tess fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sie musste sich setzen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Tränen strömten ihr aus den Augen. O nein, Robbie durfte sie nicht weinen sehen, er konnte jeden Moment aufwachen. Sie musste sich für ihn zusammenreißen. Sie rannte ins Bad und flüchtete sich unter den starken Wasserdruck einer heißen Dusche. Sie weinte, bis keine Tränen mehr übrig waren.
Nia hatte ihr schon öfter geholfen, als Tess an beiden Händen abzählen konnte. Die Cupcakes, die sie für Robbies gesamte Klasse mitgeben sollte, hatte Nia gebacken. Das Geburtstagsgeschenk für Adam, das sie letztes Jahr zu kaufen vergessen hatte, Nia hatte es besorgt. Die Tickets für »König der Löwen«, die Tess zu besorgen versprochen hatte und die ihr völlig entfallen waren – Nia hatte es fertiggebracht, noch am Abend vor der Aufführung Plätze zu bekommen, und Tess davor bewahrt, die Kinder zu enttäuschen, die seit Monaten von der Show gesprochen hatten. Nia war so eine gute Freundin. Tess wusste, wie nahe sie ihrer Familie stand. Sie würde sie in so einem Moment nicht im Stich lassen, wenn es nicht absolut notwendig war. Tess fühlte sich schuldig, weil sie wütend war oder auch nur verletzt vom Verhalten ihrer Freundin. Sie hatte kein Recht, Nia zu verurteilen. Dennoch fühlte sie sich schrecklich allein.
Immerhin war ihr Onkel Ike sogleich zur Seite gesprungen. Obwohl sie ihn nicht mehr gesehen hatte, seit Robbie drei Jahre alt war. Doch noch in dieser Minute verließ er Montauk und würde in ein paar Stunden in der Stadt sein. Als sie seine tiefe, raue Stimme am Telefon vernommen hatte, hatte ein Meer von wunderbaren und auch schmerzhaften Erinnerungen in ihr aufgewogt. Sie hatte beinahe vergessen gehabt, wie er sich anhörte. Warum hatte sie ihn all die Jahre nicht besucht? Sie fühlte sich schuldig, was sie ihm auch sagte. Aber in seiner schroffen, liebevollen Art teilte er ihr unmissverständlich mit, dass sie sich ihre Schuldgefühle sonstwo hinstecken sollte. In einer Familie war man nun einmal füreinander da. Tess war so dankbar, ihn zu haben. Schon immer hatte er sich um sie gekümmert, als sie klein gewesen war und auch ihr ganzes späteres Leben.
***
Am Tag von Adams Beerdigung war es viel zu warm für die Jahreszeit. Sie spürte, wie ihr in ihrem dicken Wollmantel der Schweiß am Körper herunterrann. Die Luft war dicht und feucht, scheußliches Wetter. So grau und neblig, dass sie nicht einmal die Skyline der Stadt erkennen konnte, die nur wenige Meilen entfernt war. Von Adams letzter Ruhestätte überblickte man das Manhattan, das er so geliebt hatte. Deshalb hatte sie den fast zweihundert Jahre alten Calvary-Friedhof ausgewählt. Zwischen Gangstern und Politikern, Schauspielern und Schriftstellern, Stahlarbeitern und Immigranten, die über Ellis Island angekommen waren, wurde nun ihr Mann begraben. Er war immer so stolz darauf gewesen, ein waschechter New Yorker zu sein, in der Stadt geboren und aufgewachsen. Robbie würde fortan an einen wunderschönen historischen Ort kommen können, um das Grab seines Vaters aufzusuchen und sich an ihn zu erinnern.
Als hätte sie ihr Inneres auf Autopilot gestellt, hatte Tess alle Vorkehrungen getroffen und ihren Freunden und Bekannten Bescheid gegeben. Erfüllt von Schmerz und Bitterkeit, hatte sie ein schönes Foto von Adam herausgesucht, eine Todesanzeige geschaltet, die sie ausgeschnitten zwischen die Seiten des letzten Buches legte, das Adam gelesen hatte und das noch auf seinem Nachttisch lag. All diese Dinge würde sie für Robbie aufbewahren, für später, wenn er die Kraft fände, der Erinnerung an seinen Vater nachzugehen.
Nachdem die Polizei Adams Leichnam freigegeben hatte, konnte die Beerdigung geplant werden. Ike war in Anzug und Krawatte kaum wiederzuerkennen, er hatte das Haar zurückgebunden und wirkte düster. Ohne das übliche breite Lächeln auf dem Gesicht sah er wie jemand ganz anderes aus. Sie starrte auf den einfachen ungebleichten Eichensarg und das offene Grab. Den frischen Hügel aus pechschwarzer Erde. Die Totengräber warteten abseits darauf, ihre Arbeit zu vollenden. Der Anblick der beiden Männer, die an einen Baum gelehnt eine Zigarette genossen, verstörte sie. Sie nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, bemerkte ihre schmutzigen Stiefel. Da lag Adam in dieser Kiste vor ihnen. Wie konnten sie hier ganz entspannt eine Zigarette rauchen?
Nach einem kurzen Gottesdienst wurde Adam in die Erde hinuntergelassen, einer nach dem anderen warfen die Trauergäste eine Handvoll Erde auf den Sarg. Die Schulleiterin und die Psychologin waren gekommen und hatten mit Robbie gesprochen, der jedoch ihre Gegenwart ebenso wenig wahrzunehmen schien wie die von irgendjemand anderem. Die Menge verstreute sich rasch, der Schock zeichnete viele Gesichter. Dieser so sinnlose, brutale Mord in ihrer Mitte ließ die Menschen, die Adam gekannt hatten, beunruhigt und sprachlos zurück. Tess sah, wie sie die Köpfe schüttelten. Nias Abwesenheit war spürbar. An der Stelle, an der ihre Freundin hätte stehen sollen, blieb eine Lücke. Tess, Robbie und Ike sahen zu, wie die Totengräber das Loch in der Erde auffüllten, dann gingen auch sie. Sie fuhren zurück in die Stadt, zu ihrem Leben ohne Adam. Das Schweigen im Wagen war kaum zu ertragen, weder Tess noch Ike wussten, was sie zu diesem Neunjährigen sagen sollten, der gerade seinen Vater begraben hatte. Tess rückte an Robbies Seite, um ihn in den Arm zu nehmen, aber er widersetzte sich ihrer Berührung und rutschte näher ans Fenster. Ihr fiel auf, dass sein Anzug um ihn schlackerte, er schien geschrumpft zu sein. Sie fragte sich, was bloß in ihrem Kind vorging. Er starrte ausdruckslos aus dem Fenster und hatte noch keine einzige Träne vergossen.
***
Der graue Schleier der Traurigkeit sank Tag für Tag schwerer auf sie herab. Sie riss das Blatt für den November vom Kalender in der Küche. Sollte tatsächlich schon ein Monat seit Adams Tod verstrichen sein? Seitdem hatten weder sie noch Robbie gelacht oder ein unbefangenes Wort ausgetauscht. Kein einziges Mal hatte er sein Frühkonzert beim Frühstück gegeben, kaum einmal die Tuba in die Hand genommen. Ihr Sohn, dieses aufgeregte Energiebündel, war verstummt. Wenn sie ihn anblickte, glaubte sie, einen alten Mann vor sich zu sehen. Als wäre auch Robbie gegangen.
Tess nippte an ihrem Kaffee und griff nach einem Buch von dem Stapel auf einem Regalbrett neben ihr, Wie Kinder trauern. Sie öffnete das Buch an der von ihr markierten Stelle. So viele Ratgeber hatte sie schon gelesen, und alle Experten sagten mehr oder weniger dasselbe. Normalität aufrechterhalten. Mit den Routinen des Kindes fortfahren, radikale Veränderungen vermeiden. Konsistenz, Bestätigung, Liebe, Verständnis und Sicherheit waren das, was Kinder in diesem Alter nach der Ermordung eines Elternteils am dringendsten benötigten. Tess gab sich alle Mühe. Sie sagte alles ab, was ihre Arbeit betraf, und blieb die ganze Zeit bei Robbie, widmete ihm ihre volle Aufmerksamkeit. Sie brachte ihn jeden Morgen zur Schule und holte ihn jeden Nachmittag ab. Er war nie allein. Es war wirklich eine Schande, dass Nia und Suzie immer noch in Griechenland waren. Robbie vermisste seine kleine beste Freundin, sie wäre das wirksamste Gegengift für seinen Kummer gewesen.
Er wollte nicht mehr am Weihnachtskonzert teilnehmen, aber Tess drängte ihn, seiner Verpflichtung nachzukommen und sein Solo weiter vorzubereiten. Er liebte seine Tuba und seine Musik, und sie glaubte, es könne nur heilsam für ihn sein, auch wenn er im Augenblick noch zu niedergeschlagen war, um es so zu empfinden. Schließlich gab er nach. Gerade als sie das Haus verlassen wollte, um zu Robbies Konzert zu fahren, klingelte es an der Tür. Weshalb hatte der Portier nicht angerufen, um mitzuteilen, dass jemand hochkam? Verwundert ging sie zur Tür. Ein Polizist stand davor, und sofort brach sich das Entsetzen in ihr Bahn.
»O nein! Geht es meinem Sohn gut? Ist ihm etwas zugestoßen?«, rief sie.
»Nein, ganz und gar nicht. Ich will Ihnen nur etwas bringen, Mrs. Harding. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte er und reichte ihr eine braune Tüte. »Es ist uns gelungen, den Rest der Habseligkeiten Ihres Mannes aufzufinden.«
»Gott sei Dank. Ich meine … ich danke Ihnen. Ich dachte …«
»Verständlich. Entschuldigen Sie bitte.«
Sie nahm die Tüte entgegen, schloss die Tür und ging ins Wohnzimmer. Ein brennender Schmerz strahlte von ihrer Brust aus, und sie hatte das Gefühl, ein schreckliches Déjà-vu zu erleben. Sie musste sich setzen. Dann holte sie bedächtig die einzelnen Gegenstände aus der Tüte und legte sie auf den Couchtisch. Adams Armbanduhr, seine Brieftasche, sein Rucksack und sein Mobiltelefon. Unglaublich, dass die Polizei all seine Sachen gefunden hatte. Sie hatte sie für verloren gehalten. Sie begutachtete die Armbanduhr, die unbeschädigt wirkte, und versuchte, das Telefon einzuschalten. Das Display flackerte kurz auf, doch der Akku war leer, weshalb es sich sofort wieder verdunkelte. Sie schnappte sich das Ladegerät, schloss das Telefon an und legte es auf den Kamin.
Als Tess in der Schule ankam, hatten die anderen Eltern schon in der großen Aula Platz genommen. Sie flüsterten, lächelten und fotografierten ihre Kinder mit ihren Smartphones. Ein paar Mütter drehten sich um, um zu schauen, wer da unpünktlich kam, und als sie Tess sahen, meinte diese, Mitleid in ihren Blicken zu erkennen.
Niemand bat sie, sich neben sie zu setzen. Sie fühlte sich wie eine Ausgestoßene. Als verkörperte sie alles Unglück, an das niemand denken wollte. Sie suchte sich einen Stuhl in der letzten Reihe, wühlte in ihrer Tasche, zog Adams Armbanduhr hervor und hielt sie fest in der Hand. Die Uhr war da, die Brieftasche, die Haustürschlüssel … Was fehlte nur? Da fiel es ihr ein. Der Ehering war nicht dabei gewesen.