Wolfgang Martynkewicz ist freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft an den Universitäten Bamberg und Bayreuth; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse; u.a. über Jane Austen, Edgar Allan Poe, Arno Schmidt, Sabina Spielrein, C. G. Jung und Georg Groddeck. 2009 gelang ihm mit »Salon Deutschland. Kunst und Macht 1900–1945« ein Erfolg bei Presse und Publikum.
»Rasender Mensch ist er und sehr stark.« Else Lasker-Schüler
Else Lasker-Schüler, Tilly Wedekind, Mopsa und Thea Sternheim – Gottfried Benns amouröse Abenteuer sind legendär, obschon er auf den ersten Blick wenig anziehend wirkte. Wolfgang Martynkewicz schildert Benn als Dichter und Liebenden in einer Zeit, in der die festen Bezugspunkte schwankten. Eine meisterhaft erzählte Lebens- und Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der heraufziehenden Konflikte des 20. Jahrhunderts.
Im Februar 1917 besuchte der junge Militärarzt und Dichter Gottfried Benn die Familie Sternheim in La Hulpe bei Brüssel. »Stark. Bedeutend. Aber schrecklich zugleich«, schreibt Thea Sternheim in ihr Tagebuch. Diese Mischung aus Bewunderung und Abscheu ist typisch für die Art und Weise, wie Frauen Gottfried Benn sahen. Benn stellte infrage, was der bürgerlichen Welt heilig war: das ästhetische Empfinden, den guten Geschmack und die Moral. Aus der Begegnung mit Thea Sternheim und ihrer Tochter Mopsa entwickelt sich eine Ménage-à-trois, die bis in die fünfziger Jahre anhalten wird.
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Tanz auf dem Pulverfass
Gottfried Benn, die Frauen und die Macht
Inhaltsübersicht
Über Wolfgang Martynkewicz
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Einleitung
Spielen ist alles
Eine Frau!
Der Bürgerschreck
Flucht aus dem falschen Leben
Mythos Brüssel
Das Leben »geschah« ihm
»O! schon bin ich wieder melankolisch!!!!!!!«
Ein einsamer Wolf
»… entgleist zwischen allen Extremen«
Tage der Verwirrung
Die große Gereiztheit
Der Denker auf der Bühne
Berlin – Paris
Des Mannes dunkle Wege
Die glücklichste Zeit meines Lebens
Ich habe sie kommen sehen
Hoppla, wir leben! – leben wir?
Anhang
Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Dank
Personenregister
Bildnachweis
Impressum
Er liebt sie alle: blonde oder brünette, junge oder ältere, schlanke oder vollschlanke Frauen – und sie alle lieben ihn. Er ist fasziniert von den Frauen, ein Sammler und Jäger, der nach dem Geheimnis des Weiblichen sucht. Nie findet er Ruhe, rastlos hält er Ausschau nach der Neuen, der Einen und Einzigen, die das Glück verspricht, das er dann aber doch nicht findet.
In »Der Mann, der die Frauen liebte« hat François Truffaut diesem Typus ein Gesicht gegeben. Bertrand Morane, der Held der Geschichte, ist kein Draufgänger, kein Schürzenjäger im eigentlichen Sinn. Äußerlich wirkt er alles andere als attraktiv – kein schöner Mann, kein Mann, der mit seiner körperlichen Präsenz ins Auge fallen würde, eher ein spröder, in sich gekehrter Typus, der aber gleichwohl über eine besondere Ausstrahlung verfügt. Truffaut hat die Rolle mit dem aus Polen stammenden Schauspieler Charles Denner besetzt. Mit seinen düsteren Augen und seinem traurigen Gesicht, auf dem sich kaum einmal ein Lächeln zeigt, wirkt er einsam, verloren, melancholisch. Er ist jedoch alles andere als passiv. Sobald ihn eine Frau interessiert, weiß Morane, was er will und verfolgt beharrlich und mit großer Energie sein Ziel. Er riskiert alles, sogar sein Leben. Angezogen von den schönen Beinen einer Frau überquert er am Ende des Films die Straße und wird von einem Auto erfasst.
»Der Mann, der die Frauen liebte« – das war auch Gottfried Benn. Seine amourösen Abenteuer sind legendär und in vielen Briefbänden nachzulesen. Glaubt man den zahlreichen Verehrerinnen, dann war er von anziehender Melancholie – ein Mann, der nicht nur die Frauen liebte, sondern von den Frauen geliebt wurde, obgleich auch er nicht gerade unwiderstehlich wirkte: »mittelgroß, untersetzt, mit einem interessanten Kopf. Er hatte einen Schmiß über die linke Backe, Erinnerungen an seine Studentenzeit. Er hatte überhaupt etwas vom Korpsstudenten, so komisch das klingt«1. So erinnert sich die Schauspielerin Tilly Wedekind an ihre erste Begegnung mit Benn im Frühjahr 1930. Mitte April stand er mit einem Strauß Veilchen vor ihrer Tür. Kurz darauf besuchte sie ihn in seiner Wohnung, in der Berliner Belle-Alliance-Straße, in der er auch seine Praxis hatte: »Er hatte einen seltsamen Blick. So weit weg, so tief, so traurig. […] Er führte mich durch sein Ordinationszimmer und fragte, ob er seinen weißen Kittel anziehen dürfe, er sei das zu Hause gewohnt und fühle sich am wohlsten darin. Ich dachte mir, so, nun wird er mich schlachten. Er war mir immer ein bißchen unheimlich mit seinem abseitigen Blick.«2 Else Lasker-Schüler, die sich 1913 leidenschaftlich in den jungen Dichter verliebte, sie war 43, er 27 Jahre alt, spricht von »Augen, die von fern kommen«3. Dazu passten die dunklen, tragischen Verse: »Grauenvolle Kunstwunder, Todesträumerei«4, schwärmte sie.
Schwere, Einsamkeit und Trauer sind die immer wiederkehrenden Umschreibungen, wenn es um Benns Ausstrahlung auf Frauen geht. Von einer »tiefe[n] Melancholie« spricht 1933 auch die Journalistin Käthe von Porada, »aber beherrscht, in sich abgeschlossen, ohne das geringste Leck, jede ›Ansteckung‹ eines anderen vermeidend: die Meisterschaft eines Siegenden, nicht die hilflose Ausstrahlung einer geopferten Selbstzersetzung«.5
Benn kannte seine Wirkung auf Frauen, er wusste um den Reiz der Melancholie, die ihm konstitutionell anhaftete, mit der er aber auch spielte und hinter der er sich verschanzte, wenn die Frauen ihm zu nahekamen. In einem Brief an Tilly Wedekind spricht er von seinen »Abnormitäten«, seinem »Einsamkeitsdrang«6, der in ihm stecke und der sich, beim besten Willen, nicht negieren lasse. »Ich kann aus meinem Leben nicht heraus u. will es auch gar nicht. […] Ich schreibe das wirklich aus Freundschaft an Sie u. sage Ihnen, daß ich Sie reizend u. charmant u. süß u. begehrenswert finde, aber um mich steht eine Mauer aus Kühle u. Abgeschlossenheit, über die niemand hinüberkann.«7
Bertrand Morane, um noch einmal auf Truffauts Held zurückzukommen, verkörpert auch »Kühle u. Abgeschlossenheit«. Die Beziehungen, die er eingeht, sind körperlicher Natur. Gefühle sind ihm hinderlich, sie führen zum Rückzug, zum Abbruch der Beziehung. Morane will sich die Liebe der Frauen nur gefallen lassen, wenn sie sein Ich, seinen Lebensentwurf nicht antasten. Auch Benn nähert sich den Frauen, die er liebt, mit großer Reserve und zieht sich zurück, sobald er sich bedrängt oder vereinnahmt fühlt. Von Herta Wedemeyer, seiner zweiten Ehefrau, weiß Benn im Januar 1937 zu berichten, sie »wird nie im entferntesten in mein Leben einzugreifen versuchen, rührt an keine Bezirke, in die ich sie nicht haben will«.8
Zum Opfer seiner Leidenschaft wurde Benn nie, dazu führte er viel zu gut »Regie« – »Regie ist besser als Treue«9. Von der hielt Benn nämlich wenig. Die Ehe war für ihn »eine Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebes also eine christliche Einrichtung«.10 Für einen Mann sei »alles, was nach Bindung aussieht, […] gegen seine Natur«. Um seine Bedürfnisse zu befriedigen, bliebe ihm nur die »Illegalität«, das Abenteuer, die »gestohlene Liebe«, die die einzig wahre Liebe sei, denn nur außerhalb der Ehe würde der Mann den »echten Koitus« erleben. In der Ehe ginge es um andere Themen: »Wirtschaftsfragen, Essensfragen, Geselliges, ›gemeinschaftliche Interessen‹« – alles Dinge, die, Benn zufolge, notwendig sind, aber dem »Sexus« entgegenstehen, ihn regelrecht ›torpedieren‹.11
So hat er sich in Briefen geäußert, so wollte er sein. Seine drei Ehen ist er, nach eigenem Bekunden, aus lebenspraktischen Gründen eingegangen. Für Liebe und Zärtlichkeit waren im Wesentlichen die wechselnden Freundinnen zuständig. Die Bereiche waren getrennt, die Rollen verteilt. Benn gab sich abgeklärt, von romantischer Liebe, Seeleninnigkeit und trauter Zweisamkeit wollte er nichts wissen. Um so mehr aber suchte er körperliche Liebe und Erotik, Rausch und Entgrenzung. Benn war stolz auf seine zahlreichen Eroberungen: »Ich habe mit sehr vielen Frauen ›was gehabt‹, über ganz Europa sind sie verstreut, auch USA! Wunderbare Frauen.«12 Frauen waren seine Leidenschaft; Triebe, so schreibt er im »Phänotyp«, sollten nicht bekämpft werden, das schafft nur Neurosen und brächte Spannungen hervor, »die sich nicht lohnen, Krisen, die voraussichtlich unproduktiv enden –, man soll erleben und etwas Artifizielles daraus machen«13. Mit anderen Worten, es geht nicht nur um das Ausleben der Triebe, das mag bei einem ›normalen‹ Mann der Fall sein, bei einem Mann wie Benn geht es darum, die amourösen Abenteuer auch in Kunst umzuwandeln. »So ist das Leben, wenn man es ernst nimmt«, gibt er 1952 seinem Freund Friedrich Wilhelm Oelze zu verstehen: »Das sind die Zahlungen für Kunst u Ruhm.«14
Das war halb scherzhaft, halb ernst gemeint. Richtig ist, Benns Liebschaften sind vom Werk nicht zu trennen. Seine Haltung zu Frauen ist von Anfang an in seiner Literatur präsent und Ausdruck seines antibürgerlichen Habitus, seines Images als zupackender, subversiver Dichter. 1912 veröffentlicht der sechsundzwanzigjährige Mediziner in der Zeitschrift »Pan« das Gedicht »D-Zug« mit den vielzitierten Zeilen: »Eine Frau ist etwas für eine Nacht./Und wenn es schön war, noch für die nächste!«15 Spricht hier ein fiktionales Ich oder der Dichter? Autobiographie und Fiktion waren bei Benn kaum zu trennen. Schon in seinen frühen Gedichten gibt es eine permanente Bewegung, ein Oszillieren zwischen Text und Leben. Paul de Man hat von der Autobiographie als einem Maskenspiel gesprochen und die Frage gestellt: Ob nicht auch die entworfene Figur das Leben hervorbringen und bestimmen kann?16 Bezogen auf Benn: War es nicht die figurative Rede, die den Ton vorgab und auf das Leben des protestantischen Pfarrerssohns zurückwirkte, ihm zuallererst Ausdruck verlieh?
Es ist bekannt, dass der Dichter und Erzähler Benn aus einer Lebenskrise hervorgegangen ist. 1911 wandte er sich enttäuscht von der Psychiatrie ab, auf die er sich eigentlich hatte spezialisieren wollen. Die Literatur zum Medium psychiatrischer Diskurse zu machen, erschien ihm weitaus bedeutender und reizvoller als die Begrenzung auf das rein wissenschaftliche Wissen. Im Ästhetischen suchte er nach Gewissheit und Ausdruck. Doch seine Gedichte stießen zunächst auf wenig Resonanz. In Briefen hat Benn die stark affektive Situation betont, in der er sich befand. Im Mai 1912 schreibt er: »Die Naturwissenschaften u die Medizin« hätten ihn »innerlich total ruiniert«. Er lebe schon »jahrelang […] hart an den verschiedensten Abgründen«17. Zwei Monate zuvor, im März 1912, war die Sammlung »Morgue und andere Gedichte« erschienen – ein Zyklus, der Epoche machen sollte und der bei den einen Verehrung, bei anderen Abscheu auslöste. Im Fokus standen nicht die künstlerisch gestalteten Themen, sondern die Stoffauswahl: Makabere Szenen aus dem Leichenschauhaus und dem Sektionssaal, Bilder von Siechtum, Verfall und Tod. »Der das geschrieben hatte«, so sein Verleger Alfred Richard Meyer, »kam nicht von der Theorie, sondern aus den Erlebnissen des ärztlichen Berufes.«18 Hinter den Gedichten standen die Erfahrungen eines Pathologen – so wurden sie eine ganze Weile gelesen und verstanden.19 Ein Pathologe, der den schönen Schein der bürgerlichen Welt durchstieß und den Menschen so zeigte, wie er ist – nicht als Krone der Schöpfung, sondern als ein »Klumpen Fett und faule Säfte«. Die Lektüre – da war sich die Kritik einig – war nur etwas für starke Nerven. Gelobt wurde unisono die genaue, sachliche Schilderung der Realität. So sah es also im Sektionssaal aus – grauenerregend, ekelhaft. Der Dichter fiktionalisierte, spitzte zu und profitierte vom Unwissen der Literaten, die die Pathologie nur vom Hörensagen kannten und vor der abstoßenden klinischen Praxis schaudernd zurückwichen.
Benn galt nun als jemand, der sich mutig und mit Härte der Wirklichkeit stellte. Ein Dichter, der sich frei machte von aller ästhetischen Verklärung und Mystifizierung, ein »wahrhaft Aufständischer«20, der keine Rücksicht nahm und die Dinge beim Namen nannte. Das passte zu seiner militärärztlichen Ausbildung, ebenso wie zum männlichen Ethos, das man in den Eliten des wilhelminischen Bürgertums zur Schau zu tragen hatte.21 Norbert Elias spricht vom »Kriegerethos« in einer »verbürgerlichten Fassung«22. Benn stammte aus dieser »Verhaltens- und Empfindungstradition«23, seinen ›Mann stehen‹, Zähne zusammenbeißen, hart sein – war das Credo, mit dieser Haltung war er aufgewachsen, und so wurde er, vor allem von den Frauen, wahrgenommen: »Er steht unentwegt, wankt nie, trägt das Dach einer Welt auf den Rücken«, so Else Lasker-Schüler.24
Mit den Rönne-Novellen gelang Benn dann der große Wurf. Er schrieb den Zyklus mitten im Ersten Weltkrieg, in Brüssel, wohin man ihn als Militärarzt abkommandiert hatte. Rönne war aus der Welt gefallen und hatte sich, wie sein Autor, von den Gewissheiten des naturwissenschaftlichen Denkens, das sich um 1900 von der Gehirnforschung faszinieren ließ, weit entfernt. Die Sprachskepsis der Jahrhundertwende wie auch die These vom »unrettbaren Ich« (Ernst Mach) nahmen in der Figur Gestalt an. Rönne stand auf »den Trümmern einer kranken Zeit«25, er fand in der Wirklichkeit keinen Halt mehr, alles schien sich aufzulösen, zu zerfallen – nicht zuletzt die Einheit der Person. »Keinem Ding mehr gegenüber« zu sein, »keine Macht mehr über den Raum«26 zu haben, damit formulierte Benn das Grundgefühl der Epoche. Freilich nicht nur er, so dachten auch andere in seiner Generation: »Wir haben keine Wahrheit mehr«, verkündete Benns Freund und Kollege Carl Einstein.27
Anfang der dreißiger Jahre änderte sich Benns Auffassung. Das Leben ist nur so lange halt- und ergebnislos, so lange es kein »großes Gesetz«28 gibt, das über dem Leben steht. Dieses ›große Gesetz‹ war nun da, und damit würde die Geschichte des Menschen erst beginnen. Benn begeisterte sich für das ›Dritte Reich‹, für den ›neuen Staat‹ – schrieb über Zucht und Züchtung, über Kunst und Macht. Viele, die ihn verehrten, waren überrascht, ja, abgestoßen von den Ansichten, die er jetzt vertrat, Ansichten, die zu Werk und Person nicht zu passen schienen. Sie hatten ihn anders gelesen, anders verstanden, und waren enttäuscht.
Klaus Mann sprach von der »diabolische[n] Sympathie«29 Benns für den Nationalsozialismus und artikulierte in einem Brief an den bewunderten Dichter sein Unverständnis, sein Entsetzen: »In welcher Gesellschaft befinden Sie sich dort? Was konnte Sie dahin bringen, Ihren Namen, der uns der Inbegriff des höchsten Niveaus und einer geradezu fanatischen Reinheit gewesen ist, denen zur Verfügung zu stellen, deren Niveaulosigkeit absolut beispiellos in der europäischen Geschichte ist und von deren moralischer Unreinheit sich die Welt mit Abscheu abwendet?«30 Bildung und Barbarei, das waren für Klaus Mann getrennte Welten, da gab es keine Verbindungen, keine Übergänge, da waren Entscheidungen gefragt. Und Manns Brief enthält in dieser Hinsicht eine unverhohlene Drohung: »Wer sich […] in dieser Stunde zweideutig verhält, wird für heute und immer nicht mehr zu uns gehören.«31 Benns Antwort an Klaus Mann und »die literarischen Emigranten« am »lateinischen Meer«32 ist voll Hohn und Spott: »Da sitzen sie also in ihren Badeorten und stellen uns zur Rede, weil wir mitarbeiten am Neubau eines Staates […].«33 Naivität und eine »novellistische Auffassung der Geschichte« wirft er seinen Kritikern vor. Alle großen Kulturleistungen seien nun mal »aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporgewachsen«. Die »liberale und individualistische Ära«34 hätte das »vergessen«, ja, sie sei viel zu hedonistisch und genusssüchtig eingestellt und habe keinen Sinn für Werte, die dem Leben übergeordnet sind, für Tragik und Heroismus.
Benn glaubte an die nationalsozialistische Revolution, die die alte Welt umkrempeln, den Individualismus überwinden und ein neues Geschlecht hervorbringen würde. Die Aufbruchsstimmung, die 1933 herrschte, hatte Benn elektrisiert, er verspürte die Lust am Untergang und sah eine neue Zeit heraufziehen. In einem Brief an seine ehemalige Freundin Gertrud Zenzes schreibt er am 23. September 1933: »Das alles ist ja auch nur ein Anfang, die übrigen Länder werden folgen, es beginnt eine neue Welt, die Welt, in der Sie und ich jung waren und gross wurden, hat ausgespielt und ist zu Ende.« Man stehe, so Benn weiter, »vor einer Wendung der abendländischen Geschichte […], die vielleicht nur dem elften Jahrhundert verglichen werden kann oder dem Ausgang der Antike«35. Mit dem Nationalsozialismus kündigt sich für Benn eine Zeitenwende an, das Ende des bürgerlichen Zeitalters, von dem er und seine Generation lange geträumt hatten, schien besiegelt. In den Texten, die er Anfang der dreißiger Jahre schreibt, verweist er immer wieder auf die Erfahrungen ›seiner‹ Generation, der expressionistischen Generation, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg formierte und die für Benn so etwas wie der Fundus und Fixpunkt war, aus dem er lebte. Eine Generation, die nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchte. Denn eine Wirklichkeit, auf die man sich beziehen könnte, gäbe es nicht mehr, so Benn, »es gab nur noch Fratzen. Wirklichkeit, das war ein kapitalistischer Begriff. Wirklichkeit, das waren Parzellen, Industrieprodukte, Hypothekeneintragung, alles, was mit Preisen ausgezeichnet werden konnte bei Zwischenverdienst«36. Die Expressionisten lehnten sich mit ihrer Existenz dagegen auf: »Ein Aufstand mit Eruptionen, Ekstasen, Haß, neuer Menschheitssehnsucht, mit Zerschleuderung der Sprache zur Zerschleuderung der Welt.«37
Zu dieser Generation gehörte auch Thea Sternheim, sie war viele Jahre mit Benn befreundet, sie schätzte und liebte ihn, verehrte ihn als genialen Dichter. Es war, wir werden das noch sehen, eine etwas andere Beziehung, als Benn sie normalerweise zu Frauen hatte. Kein amouröses Abenteuer – dazu hätte sich Thea Sternheim nicht hergegeben. Zweifellos, sie liebte Benn, aber auf eine etwas andere Art und Weise als die anderen Frauen, die ihn liebten – sie liebte ihn nicht körperlich, sondern, so merkwürdig es sich zunächst anhört, durch die Sprache. Keine andere seiner Frauen und Freundinnen kannte sein Werk so genau wie Thea Sternheim. Keine andere hat sich aber auch von diesem Werk so gefangen nehmen lassen. Nicht die Inhalte zählten für sie, sondern der Rhythmus, der Tonfall, das geheimnisvolle Raunen und die Melodie – das alles versetzte sie in einen Rausch. Die Sprache war das Medium ihrer Verliebtheit, über die Sprache vollzog sich eine Idealisierung des geliebten Objekts, eine Wunschprojektion. Liebe, so meint Sigmund Freud, setzt das Erkennen der Realität außer Kraft, sie verkennt das geliebte Objekt, überschätzt es und will sich mit dem Verkannten identifizieren. Im Grunde handelt es sich um eine Schädigung der Wahrnehmung, eine Abweichung von der Norm, eine, im wörtlichen Sinn, Ver-rücktheit. Nur so ist es vielleicht zu erklären, dass Thea Sternheim Benns politische Radikalisierung in den zwanziger Jahren aus dem Blick verlor und ihr der Freund erst 1933 zum Rätsel wurde: »Unfassbar wie dieser umfassende Geist sich so zu verlieren vermochte!«38 Das schreibt sie im Juli 1957 in ihr Tagebuch – da war Benn schon ein Jahr tot. Thea Sternheim las erneut die Essays »Der neue Staat und die Intellektuellen« und »Züchtung« von 1933, sie las sie zum wiederholten Mal und konnte immer noch nicht begreifen, wie ein gebildeter, aufgeklärter Geist sich so irren und auf diese Bahn geraten konnte. Wer die Physiognomien der führenden Nazi-Größen betrachtet und dann vom »Sieg der Griechen« redet, muss blind und völlig wirklichkeitsfremd sein: »Hat er in den illustrierten Zeitungen nicht feststellen können wie die Brüder aussahen die die Losung zu dieser von Benn mitbesungenen Züchtung abgaben, diese aus Hitler, Göring, Streicher, Göbbels, Himmler zusammengewürfelten Helden?«39
Nicht viel anders ging es ihrer Tochter Mopsa, die 1926 eine leidenschaftliche Affäre mit Benn hatte und nicht mehr von ihm loskam. Als sie ihn 1952 in Berlin wiedersah, schrieb sie in einem Brief an ihre Freundin: »Er ist für mich das, was er immer war, der einzige Mann, welcher einen Einfluß auf mich hatte. Es ist eine Art Gehirnvergiftung.«40
Mutter und Tochter führten Tagebuch: Thea Sternheims Aufzeichnungen beginnen 1905 und enden kurz vor ihrem Tod am 5. Juli 1971. In dieser Zeit schrieb sie über 30000 kleinformatige Seiten, die Chronik ihres Lebens, die zugleich ein Bild der Epoche, des 20. Jahrhunderts, mit ihren Ideologien, Ängsten, Zukunftshoffnungen und Katastrophen war. Im Unterschied zu ihrer Mutter führte Mopsa Sternheim ihr Tagebuch nur sporadisch, aber schon früh übte sie sich im Tagebuchschreiben. Im Februar 1918 nahm sie sich vor, nun ›ernsthaft‹ ihre Erlebnisse und Empfindungen aufzuschreiben – da war sie gerade dreizehn Jahre alt. Sie schrieb vor allem in Lebensphasen, in denen es ihr »schlecht«41 ging. Das Tagebuch war für sie ein Rettungsanker, eine Möglichkeit, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Sie sei, so schreibt sie ironisch und durchaus selbstbewusst, »Mitglied einer haltlosen Generation, obendrein noch weiblichen Geschlechts, immerhin LEBEND in der sog. Kunstsphäre und ausschliesslich für und durch sie.«42 Daran litt sie und daran zerbrach sie. In beiden Tagebüchern spielte Benn eine bedeutende Rolle, er bezauberte Mutter und Tochter, blieb aber für beide letztlich ein Mysterium, unnahbar und anziehend zugleich.
Als Thea Sternheim Benn persönlich kennenlernte, war sie noch mit dem Dramatiker Carl Sternheim verheiratet – dem Enfant terrible der damaligen Theaterszene. Mit seinen Komödien »Die Hose«, »Der Snob« und »1913« brachte er den lange Zeit niedergehaltenen und nun »entfesselten Kleinbürger«43 auf die Bühne, der in der spätwilhelminischen Gesellschaft nach Macht und Anerkennung strebte. Carl Sternheim führte Benn in die Familie ein, die beiden Männer hatten nicht nur gemeinsame literarische Interessen, auch ihre Ansichten über Frauen waren nahezu identisch. Wie Benn war auch Sternheim ein Don Juan und Erotomane, der immer auf der Suche nach Abenteuern war und aus seiner Promiskuität keinen Hehl machte.
Am 3. Februar 1917 besuchte Benn die Sternheims zum ersten Mal, diese wohnten zusammen mit ihren beiden Kindern, der 1905 geborenen Dorothea (Moiby, später Mopsa) und dem 1908 geborenen Klaus, in ihrem komfortablen Herrenhaus im Brüsseler Vorort La Hulpe. Die damals dreiunddreißigjährige Thea Sternheim kam aus einem großbürgerlichen Milieu und hatte 1906 von ihrem Vater ein Millionenvermögen geerbt. Durch den Krieg hatten sie einiges von ihrem Vermögen verloren. Nichtsdestotrotz konnten die Sternheims immer noch auf großem Fuß leben, und Benn war von ihrem Lebensstil, von dem eleganten Haus, fasziniert.
1949, als Benn wieder Kontakt zu seiner alten Freundin aufnahm, schrieb er Thea Sternheim von der Bedeutung, die die Generation in seinem Leben spielt und gespielt hatte: die »Gemeinschaft der Generation, die die gleichen Erlebnisse und Menschen und Bücher kennt«44 – das wäre doch das eigentlich entscheidende Band im Leben. Und er erinnerte sie an seinen Besuch: »Wissen Sie noch wie ich eines Winterabends mit St.[ernheim] in La Hulpe ankam, ein kleiner Pony hatte uns von der Bahn gezogen, Mops brachte ihrem Vater die Hausschuhe, sie war rot und struppig, noch nichts von der späteren Schönheit und Sensitivität war zu sehn. Einige Unterhaltungen aus den beiden Tagen haben mich durch das ganze Leben begleitet […].«45
Auf die Unterhaltungen kommen wir unten noch zurück. Obwohl sich Benn über die Inhalte der Gespräche ausschweigt, wissen wir einiges durch Thea Sternheims Tagebucheinträge. Thea Sternheim hat das Lebensgefühl dieser Epoche geteilt, sie hoffte auf eine Erneuerung und Umgestaltung der verkrusteten wilhelminischen Gesellschaft. Man lebte in Möglichkeiten und verachtete die Wirklichkeit. Anders als heute war man damals vom Eros des Aufbruchs erfüllt, man glaubte und hoffte auf eine neue Zeit, auf einen neuen Menschen, man ließ sich von Leidenschaften und Visionen bewegen.
Im Vorfeld des Benn-Besuchs diskutierte Thea Sternheim mit ihrem Mann über die »junge literarische Richtung in Deutschland«46, den Expressionismus. Beide waren davon überzeugt, dass diese Bewegung »die neue Aera schaffen« wird, und die »neue Aera«, das hieß, »die Überwindung des bourgeois, die Überwindung aller bourgeoisen Ambitionen«.47 Die bürgerliche Welt war das Feindbild der expressionistischen Generation. Man hasste das Bürgerliche in jeder Form und pflegte den seit Baudelaire gängig gewordenen ›épater le bourgeois‹. Konstitutiv für diese Generation war der Gestus der antibürgerlichen Revolte, die symbolische Aggression, der Schock. Unter ›Bürger‹ oder ›Bürgerlichkeit‹ verstand man jedoch nicht unbedingt die soziale Klasse, sondern eine bestimmte Haltung und Mentalität. Die damit gemeinte Geistesverfassung des Bürgers hat 1919 Walther Rilla auf den Punkt gebracht: »Bürgerlich« ist die »obstinate Verbohrtheit ins Gegebene«, sind »Dummheit, Aufgeblasenheit, Strebertum, Kriechertum, Ungeist, Stagnation«.48 Gegen diese bürgerliche Welt galt es, sich zu profilieren. Der Künstler war der Antipode des Bürgers49, er repräsentierte das Versprechen auf Erneuerung, auf ein anderes Leben, fernab aller bürgerlichen Ordnungsvorstellungen, befreit von der gehassten Spießermoral. Wie diese Welt und Wirklichkeit aussehen sollte, wurde nicht weiter konkretisiert.
›Neu‹, ›jung‹, ›rein‹, ›unverfälscht‹, ›ursprünglich‹ – das sind auch die von Thea Sternheim immer wieder benutzten Begriffe, wenn es um die Beschreibung des ästhetischen Aufbruchs geht.
Der Expressionismus war eine Jugendbewegung, die gegen die Zwänge der Tradition und der Form revoltierte, eine Bewegung, die sich nach einem vitaleren, intensiveren Leben sehnte, nach einem Leben, das einen übergreifenden Sinn hatte, authentisch war und den elementaren Gefühlen wieder Raum gab.
Die expressionistischen Ideen standen bemerkenswerterweise mit religiösem Denken in engem Zusammenhang. Erneuerung, Umkehr, Wandlung waren leitende Begriffe des Expressionismus, die in religiösen Vorstellungen wurzelten. Ebenso wie das vom Expressionismus propagierte Heilsversprechen vom neuen Menschen. Ludwig Rubiner schreibt 1919 in seinem Essay über »Die Erneuerung« im pathetisch-messianischen Ton: »Vor der Erneuerung wird eine große Bekehrung kommen müssen. Aber Bekehrung, das kann man nicht mit Jammern machen, nicht passiv, nicht mit Abwarten, Zusehen und Abwälzen der drohenden Dinge auf die anderen. Bekehrung ist bewußtes und willentliches Hindurchgehen durch ein Leben, das wir für niedriger halten als jenes, das vermeintlich unserer würdig wäre. […] Bekehrung ist der Weg des Handelns mit allen, mit allen unseren endlichen Mitteln zum ewigen Ziel.«50
Thea Sternheim hatte ein besonderes Verhältnis zur Religion, in der sie so etwas wie ihr geheimes Leben sah. Aus vielen unterschiedlichen Elementen hatte sie sich eine Privatreligion zusammengebastelt: Katholizismus, Mystik, Urchristentum, Tolstoianismus, christlicher Anarchismus und Pazifismus. Bevor sie ihr Tagebuch dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergab, hat sie viele Passagen mit religiösem und mystischem Inhalt geschwärzt, sie wollte diese Dinge nicht preisgeben, sie waren ihr zu intim.51
Als sie im August 1954 ihre alten Tagebücher wieder liest, spricht sie von ihrer »Liebe zu Jesus«, vom »Glauben an seine Göttlichkeit«, an »sein Menschentum«. Das »religiöse Ereignis«, so schreibt sie, sei der »Brennpunkt« ihres Lebens. »Heute wie eh kann ich von ihm nicht wegdenken, heute wie eh ist der Menschensohn, der dem unvorstellbaren Wesen, was Gott ist, den erschütternden Namen ›Vater‹ gegeben hat, der König meines Herzens.«52 In der Tagebuch-Eintragung vom 3. Februar 1917, in der es ganz wesentlich um den Benn-Besuch geht, spielt auch Thea Sternheims »Auflehnung gegen die Dinge dieser Welt« und ihr Glaube an Christus eine Rolle. »Ein neuer Christus muss kommen auf dem Berge zu predigen.«53 In Tolstoi – wir werden noch auf ihn zurückkommen – glaubte sie einen »Vorläufer« des neuen Christus zu erkennen, sie sah Ähnlichkeiten mit Johannes dem Täufer.
Ein paar Zeilen später ist dann von der Ankunft Benns im Hause der Sternheims die Rede: Kein neuer Christus – sicher. Aber gleichwohl einer, auf den Thea Sternheim ihre Hoffnungen setzte. Und Benn bot sich als Hoffnungsträger der neuen Ideen durchaus an. In seinen Aufsätzen zum Expressionismus54 hat er deutlich gemacht, dass der Expressionismus für ihn nicht lediglich eine neue Kunst war, sondern eine veränderte Haltung zur Welt und Wirklichkeit, die in einer radikalen Infragestellung der tradierten Ordnung zum Ausdruck kommt. Expressionismus beschreibt Benn »als Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen«55.
Radikal und destruktiv wollte man sein, und man liebäugelte mit der Vorstellung einer Tabula rasa, einer reinigenden Apokalypse. Das ›Ende‹ der Welt sah man als die notwendige Bedingung für einen neuen Anfang, für ein ›neues Jerusalem‹ an. Der Erste Weltkrieg wurde daher von vielen Expressionisten begrüßt. Dabei dachte man nicht so sehr nationalistisch, sondern zivilisationskritisch. Man hoffte auf den Untergang der erstarrten Wilhelminischen Gesellschaft und auf eine spektakuläre Wiedergeburt. Bevor aber das Neue entstehen könnte, müsste die alte Welt, so schrieb Franz Marc, durch das »Fegefeuer des Krieges« gereinigt werden.56
Nicht von ungefähr ist auch Benns Rede, wenn er vom Expressionismus spricht, religiös konnotiert. So nennt er die Expressionisten die »Gläubigen einer neuen Wirklichkeit und eines alten Absoluten« […], die »mit der Askese von Heiligen«57 ihre Existenz riskierten. Die Expressionisten fragten »nach dem Menschen«, die Wissenschaft dagegen hatte nur »unanschauliche Begriffe, künstlich abstrahierte Formeln«58. Die Expressionisten waren es auch, die nach der Wirklichkeit fragten, die in einer ökonomisierten Welt zunehmend ungreifbar geworden war, die sich vom Einzelnen, vom Ich, entfremdet hatte. Für Benn bezeichnete der Expressionismus das »Autochthone« und »Elementare«. Er ist nicht »Auflehnung gegen vorhergehende Stilarten: Naturalismus oder Impressionismus, es ist einfach ein neues geschichtliches Sein«.59
Die Forschung hat mit dem »expressionistischen Jahrzehnt«, das von 1910 bis 1920 währte, die Bewegung zeitlich eingegrenzt. An sich aber, so Benn, sei der Expressionismus eine Geisteshaltung, die sich nicht auf diesen Zeitraum beschränken lasse, die in verschiedenen Ausdrucksformen immer existiert habe, nur sei sie in manchen Zeiten nahezu völlig erloschen, dann wiederum können »innere Lagen«60 eintreten, in denen sie, mächtiger als je zuvor, hervortritt und zum geschichtlichen Ereignis wird.
Diesen Zeitpunkt sah Benn 1933 gekommen, der Expressionismus, der in den zwanziger Jahren gescheitert war, sollte nun zum Geist der Epoche werden. Benns Vorbild war Marinettis Futurismus. Mit dem 1909 publizierten Manifest sei eine geistige Bewegung entstanden, die den Aufstieg Mussolinis erst möglich gemacht hätte. Benn versteigt sich zu der Behauptung, der Futurismus habe »den Faschismus mitgeschaffen«61. Eine ähnliche Rolle soll der Expressionismus nun für den Nationalsozialismus spielen. Die Leitbegriffe der expressionistischen Bewegung sind in Benns Reden und Aufsätzen aus dem Jahr 1933 alle wieder da, geradezu inflationär findet sich die Vokabel »neu« – »eine neue Welt«, ein »neues Weltgefühl«, eine »neue Art von Intelligenz«, eine »echte neue geschichtliche Bewegung«. Es fehlt auch nicht die Berufung auf das Leben, die Jugend und die Wandlung. Thea Sternheim »kann es nicht glauben«, aber sie erinnert sich 1933 auch an den »jungen Benn«, an sein »zweideutiges Verhalten während der deutschen Besetzung in Belgien«62, eben zu der Zeit, als sie ihn 1917, mitten im Krieg, kennenlernte. Dass Benns Faszination für das Totalitäre nicht erst 1933 entstand, sondern gewissermaßen bis zum Anfang ihrer Beziehung zurückreichte, wurde ihr jetzt bewusst.
Mopsa Sternheim, Klaus und Erika Mann und Pamela Wedekind waren alle ungefähr im selben Alter, alle stammten aus wohlhabenden Verhältnissen, ihre Eltern gehörten zum Bildungsbürgertum, zur geistigen Elite. Und das Elternhaus hatte sie geprägt, sie empfänglich gemacht für Literatur und Kunst – in den zwanziger Jahren wollten sie auf eigenen Füßen stehen. Klaus Mann schrieb Theaterstücke, die man gemeinsam aufführte, auch der später berühmte Gustaf Gründgens war mit von der Partie. Mopsa Sternheim entwarf die Kostüme und war für das Bühnenbild verantwortlich. Bei der Kritik kamen die Aufführungen nicht gut an, man sprach den »Dichterkindern«, wie man die Truppe kurzerhand nannte, alle Originalität ab, von Epigonentum war die Rede. Sie standen von Anfang an im Schatten der überaus erfolgreichen Eltern bzw. Väter. Keine leichte Ausgangsposition, besonders wenn man auf dem Gebiet reüssieren will, das die Altvorderen schon besetzt haben.
Wie Klaus Mann ein schwieriges Verhältnis zum Vater hatte, so hatte Mopsa Sternheim ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Anfangs schrieb sie noch wie die Mutter Tagebuch, verfasste Gedichte, begeisterte sich für jene Literatur, die auch ihre Mutter las, die beiden tauschten sich aus, teilten Vorlieben und Abneigungen. Was die schwierige Ehe von Thea und Carl Sternheim betraf, so stand die Tochter zunächst auf der Seite der Mutter. Das sollte sich in den zwanziger Jahren ändern. Mopsa Sternheim – davon zeugt ihr Tagebuch – sieht die Mutter nun kritischer, sie fühlt sich vereinnahmt, baut sich einen eigenen Freundeskreis auf und will vor allem eins, ein selbstständiges Leben führen, unabhängig sein, einen eigenen Weg finden. Aber genau das ist ihr nicht wirklich gelungen, sie fiel immer wieder zurück in die Abhängigkeit.
Klaus Mann schreibt in seiner Autobiographie von der »Unrast«, der »Angst vor Wiederholung, Monotonie und Überdruß«, die sein ganzes Leben beherrsche. »Es trieb mich fort. Immer trieb es mich zum Aufbruch, zum neuen Abenteuer. Ich gefährdete (oder rettete) menschliche Beziehungen, riskierte berufliche Chancen, unterbrach Studien und Amüsements – nur aus dem nervös-irrationalen Bedürfnis nach Wechsel und Bewegung.«63
Mopsa Sternheim war von ähnlicher Unruhe, Rastlosigkeit und Fremdheitsgefühlen erfüllt. 1932 hat sie in einem Aufsatz die gesellschaftliche Situation in den zwanziger Jahren beschrieben: Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Kaiserreichs, kam in Deutschland »die Zeit des Umsturzes, dem nichts standhielt. Vorher feststehende Begriffe hatten zur Katastrophe geführt, alle Autorität eingebüsst. […] Nichts Absolutes gab es mehr, alles war Relation, keine feststehende Skala der Werte. Man war ›enthemmt‹, war im Rollen, sich selbst und alle Ware setzte man in gesteigerten Maass um.«64 Nach dem Untergang der alten Welt hatten die alten Werte, der alte Glaube, an Gültigkeit verloren. Man suchte, nicht nur in Deutschland, nach Halt und Orientierung, nach einem neuen Selbstverständnis. Aus Amerika kam um diese Zeit ein Begriff, in dem sich viele der Jüngeren wiedererkannten: lost generation. Ein Begriff, der eine umgreifende Weltentfremdung ausdrückte, ein Verlust an Wirklichkeit und Erfahrung. Gertrude Stein, F. Scott Fitzgerald, John Dos Passos und Ernest Hemingway machten daraus ein literarisches Programm, einen Stil.
Mopsa Sternheim und Klaus Mann hatten wenig mit dieser Literatur zu tun, aber sie fühlten instinktiv, dass auch sie zu einer »verlorenen Generation« gehörten. Das Gefühl, verloren und haltlos, dem eigenen Leben entfremdet zu sein, ließ sie in ›künstliche Paradiese‹, in Drogenexzesse und sexuelle Libertinage flüchten.
Zeitlebens glaubte Mopsa Sternheim, ihr Leben zu vergeuden, ihre Zeit zu verbummeln, nichts, was wirklich Bestand hat, fertigzubringen. Immer wieder fasste sie Entschlüsse, steckte sie sich Ziele, die sie dann aber aus den Augen verlor, die sie nicht weiter verfolgte und schließlich aufgab. Es belastete sie, nichts aus ihren Talenten und Möglichkeiten gemacht zu haben, sie sah sich gescheitert. Dennoch: Mopsa Sternheim hat vieles gewagt und ausprobiert, sie hat sich als Zeichnerin versucht, als Bühnen- und Kostümbildnerin, als Autorin – zum ›Ausprobieren‹ gehörten freilich auch die Drogen, mit denen sie schon früh experimentierte und von denen sie nicht mehr loskam – zum ›Ausprobieren‹ gehörten auch die Männer. Sie ging zahlreiche Beziehungen ein, war oft leidenschaftlich verliebt, doch zumeist war sie schon nach kurzer Zeit der Sache überdrüssig, langweilte sich in der Beziehung und fühlte sich ausgenutzt. Nur bei einem Mann, der am Anfang stand, war offenbar alles anders: Gottfried Benn.
Für Klaus Theweleit ist Benns Kunstproduktion ganz wesentlich mit dem Frauenopfer verbunden. Im »Buch der Könige« hat er gezeigt, dass der Tod von Benns Ehefrau Herta im Juli 1945 und seine eigene Wiedergeburt als Künstler und Dichter eng zusammenhängen, ja sich bedingen.65 Es ist die alte Geschichte von Orpheus und Eurydike, von Künstler und Künstlerfrau – Eurydike muss sterben, um die Kunstproduktion des Mannes, sein Schöpfertum, zu stimulieren und neu zu begründen. Benn, so die These Theweleits, ästhetisiert das Schicksal der Frau, macht daraus Kunst – und die Frau weiß um ihre Aufgabe, ihre Bestimmung, sie akzeptiert, mehr oder weniger bewusst, das Opfer, um große Kunst entstehen zu lassen. Der Künstler macht die Frau zum Mittel seiner Produktion, er unterwirft seine Liebesbeziehungen den übergeordneten Zwecken seines Schöpfertums, er braucht die Schicksale und Dramen, die in privaten Lebens- und Liebesgeschichten stecken, er eignet sie sich an, verleibt sie sich ein, um Werke entstehen zu lassen. Die Frauen sind eingebunden, instrumentalisiert. An Herta Benns Tod zeigt Theweleit durchaus plausibel die Mechanismen ästhetischer Produktion auf. Aber ein ganz wichtiger Punkt gerät dabei doch etwas aus dem Blick: Liebe war nicht das tragende Motiv für Benn, diese Verbindung einzugehen. Bei allem, was wir wissen, war Herta Benn eine treusorgende Ehefrau und Sekretärin, aber nicht eine Geliebte. Und sie spielte offenbar widerspruchslos die Rolle, die ihr von Benn zugedacht war, sie ließ sich instrumentalisieren. Betrachtet man die Beziehungen, die Benn zu Frauen hatte, so war sie, wir werden es sehen, eher ein Sonderfall.
Die ernsthafte Benn-Forschung befasst sich nur ungern mit dem Dichter und seinen zahlreichen Liebschaften. Eigentlich überlässt man dieses Thema lieber »Benns Biographen«, die sich von »solchen Fragen« nur zu gern faszinieren lassen. Für die Forschung – die ernsthafte Forschung – ist die Geschichte schon deshalb nicht relevant, weil Benn in seinen Texten, wie zum Beispiel im »Doppelleben«, »kaum ein Wort über Frauen« verlieren würde. Zeitlebens sei der Dichter der Überzeugung gewesen, das zum echten Künstlertum »Einsamkeit« und »persönliche Isolation«66 gehört. Kunst sei »ein vulkanischer Akt unter Ausschluss der Öffentlichkeit«67 – Frauen haben da natürlich keinen Zutritt.
In jüngster Zeit hat man sich in die Niederungen begeben und Benns Liebesleben in ein aufklärerisches Licht gerückt und sich an Erklärungen versucht68: Gottfried Benn kam als »junger Arzt« nach Berlin. »Es war eine gute Zeit für wechselnde Verbindungen.« Und Benn ergriff die Gelegenheit, wo immer er sie ergreifen konnte, er hatte »zahlreiche Liebesbeziehungen«.69 Daran sei nichts Verwerfliches. Zumal es sich um Frauen handelte, die nicht naiv gewesen wären und eine gewisse Bildung vorzuweisen hätten, es gäbe unter seinen Geliebten Dichterinnen, Journalistinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen und sogar Intellektuelle. Allesamt Damen, die wussten oder hätten wissen müssen, auf was sie sich einließen, wenn sie sich mit einem Mann wie Benn verbanden. Die »Biographen«, die den Dichter als »Frauen verschleißenden Egomanen«70 abstempeln, wären auf dem Holzweg, denn Benns Geliebte wären im klassischen Sinn keine Geliebten gewesen, sie waren »Partnerinnen«71 – ein Begriff, der heute einen guten Klang hat und schon damals, so die Behauptung, von Bedeutung gewesen sei, denn die gesellschaftliche Situation hätte sich in den Jahren, als Benn ein »junger Arzt« war, entscheidend gewandelt: »Nach dem Ersten Weltkrieg betrachtete man erotische Affären in den großen Städten außerordentlich liberal, erstmals konnte in dieser Hinsicht von einer Gleichberechtigung der Frau überhaupt die Rede sein.«72 Die zwanziger Jahre werden bemüht, angespielt wird auf das »sündige Berlin«, auf Sex und Rausch, auf Frauen, die burschikos und emanzipiert auftraten. Erotische Affären, so die Behauptung, wären damals quasi an der Tagesordnung gewesen. Mit anderen Worten, Benn war keine Ausnahme – so waren die Zeiten! Aber waren die Zeiten so, ging es in Berlin wirklich so zu? Oder sind das nicht eher Klischees und Phantasien? Benn war, um das klarzustellen, in den Dreißigern, als er nach Berlin zurückkam, vierzig Jahre, als er die Liebesbeziehung mit der gerade einundzwanzigjährigen Mopsa Sternheim einging, also nicht mehr der Allerjüngste. Die zwanziger Jahre werden heute von der Forschung in puncto Sexualität und »Gleichberechtigung der Frau« (siehe Berufstätigkeit der Frauen, die nach dem Krieg eher zurückging, restriktive Ehe- und Scheidungsgesetze etc.) eher ambivalent gesehen – eine erotische Befreiung gab es, wenn überhaupt, dann für den Mann. Und dafür ist Benn das beste Beispiel.
In den Liebschaften des Dichters sieht die Forschung so etwas wie die ›dunkle Seite‹ Benns, die aber bekanntlich zum Genie dazugehört, also kann man sie nicht ganz negieren, nicht wegdisputieren, sie gehört offenbar ›irgendwie‹ zum kreativen Prozess. Zumal Benn selbst alles dafür getan hat, um seine Frauen-Geschichten publik zu machen, es gibt wohl kaum einen anderen Schriftsteller, der sich so mit seinen Affären gebrüstet hat und schon die bloße Anzahl seiner Liebschaften zum Renommee erhob. In sein Notizbuch schreibt er: »Ich habe mit sehr vielen Frauen ›was gehabt‹, über ganz Europa sind sie verstreut, auch USA!«
Das klingt ein wenig nach ›Don Juan‹ – und soll wohl auch so klingen. Don Juan rühmte sich bekanntlich damit, 1003 Geliebte allein in Spanien gehabt zu haben, sein Buchhalter (bei Benn hieß er F. W. Oelze) kam mit der Statistik kaum nach. Und wie wir wissen, ging es dem Frauenheld keineswegs um die umworbene Frau, sondern um deren Besitz, um die Brechung des Willens. Die Frau war eine Herausforderung seiner Machtgelüste, er wollte sie haben, um sie zu erniedrigen. Lieben unterstellt eine Wechselseitigkeit, und die war mit seiner Natur nicht zu vereinbaren. Don Juan setzte seine Bedürfnisse ohne jede Rücksicht auf gesellschaftliche und religiöse Normen durch. Sein Begehren nach der Frau, seine Herrschsucht, hatte etwas Antisoziales. Gerade die strengen Tugenden und Moralvorschriften forderten ihn heraus, steigerten den Reiz des Verlangens. So konnte er seine Eroberungen als einen Kampf gegen eine Gesellschaft umdeklarieren, in der die Lust als Sünde galt.
War es bei Benn nicht ähnlich? Er sah in seiner Promiskuität etwas Antibürgerliches. In vielen Gedichten feiert er den Tabubruch, das unkonventionelle Ausleben der Triebe. »Die Ehe«, es wurde oben zitiert, galt ihm als »Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebes«. Monogamie, das war ihm ein Synonym für ›bürgerlich‹. Dahinter steckte freilich noch etwas anderes. Benn litt zeitlebens an depressiven Stimmungen. Man weiß heute, dass Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen eng zusammenhängen. Bei einem großen Teil der Menschen, die an Depressionen leiden, kommt es zum Erschlaffen der Sexualität, ein kleiner Teil dagegen, man spricht von einer Untergruppe von etwa 10 Prozent, wird in der Depression sexuell aktiver.73 Diesen Menschen gelingt es, die Sexualität als therapeutisches Mittel einzusetzen, um aus der Stimmung herauszukommen, sich abzulenken und zu beleben. Menschen mit vielen und häufig wechselnden sexuellen Kontakten sind dabei, wie Untersuchungen zeigen, am erfolgreichsten. Ihre Promiskuität wirkt wie ein Antidepressivum. Benn gehörte vermutlich zu dieser Gruppe. Sex war für ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Lebenselixier. Nur durch Sex konnte er aus einem Stimmungstief herauskommen, zu neuer Energie und Schöpferkraft zurückfinden. In gewisser Weise war Benn also zur Promiskuität ›verurteilt‹, machte daraus aber auch eine Haltung. Mit der propagierten und gelebten Promiskuität fühlte er sich außerhalb bzw. am Rand der Gesellschaft, sie stand für das von ihm so geliebte Anderssein, für das Abenteuer, die Herausforderung.
Und diese Herausforderung – kommen wir noch einmal auf Don Juan zurück – war dann am größten, wenn es sich um eine ›hochstehende‹ und ›gebildete‹ Frau handelte. Je tugendhafter und ehrsamer sie war, desto größer war für Don Juan die Verlockung. Mit anderen Worten, eine Prostituierte oder eine ›naive‹ Frau aus dem Volke war für ihn kein Objekt der Begierde. Was sollte er in diesem Fall überwinden? Wogegen sollte er kämpfen und seinen Machtwillen durchsetzen? Lust zog er allein aus der Unterwerfung einer hochgestellten, sittsamen Person, einer Person, die eigentlich ›so etwas‹ nicht macht. Der Reiz des Tabus spielte eine wesentliche Rolle, dazu aber bedurfte es der moralischen Fallhöhe. Es waren die religiösen und keuschen Damen von hoher Geburt, die Don Juan vor allem interessierten.
Dass Benn sich von den ›gebildeten‹ und ›hochstehenden‹ Damen, wie zum Beispiel Thea Sternheim, angezogen fühlte, war also so zufällig nicht, er folgte nur seiner Konstitution und seinen Gelüsten. Sobald die Damen oder »Partnerinnen« eigenständig wurden, beendete der Dichter das Verhältnis. Auf Geist hatte immer nur einer Anspruch: Gottfried Benn.
Die Frauen und die Macht spielten im Leben und Werk Gottfried Benns eine ganz entscheidende Rolle. Von den Frauen und der Macht fühlte er sich gleichermaßen herausgefordert, sie übten auf den Dichter eine höchst verführerische Wirkung aus, eine Wirkung, die so groß war, dass er sich immer wieder entziehen und zurückziehen musste. Benn sprach dann von seinem »Einsamkeitsdrang«, von seinem Hang zur Melancholie, seinen, wie er augenzwinkernd sagt, »Abnormitäten« – und davon, dass mit ihm, dem Solitär, eben ›kein Staat‹ zu machen sei.
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