Trude Teige, Jahrgang 1960, war Journalistin und gehört zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen Norwegens. Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane »Totensommer« und »Das Mädchen, das schwieg« lieferbar.
Gabriele Haefs übersetzt aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen, u. a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2008 den Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. Sie lebt in Hamburg.
Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er lebt in Berlin.
Eine Frau stirbt, ein Mädchen verschwindet.
Die Journalistin Kajsa lebt mit ihrem Mann, dem Polizisten Karsten, auf einer idyllischen Insel in Norwegen. Doch der ganze Ort gerät in Unruhe, als Sissel tot aufgefunden wird – eine Frau von Mitte dreißig, die seit Jahren nicht mehr sprach, aber alles von ihrem Fenster aus beobachtete und auf kleine Zettel schrieb. Was hat Sissel gesehen, und warum musste sie sterben? Als plötzlich ein Mädchen verschwindet und Karsten mit seinen Ermittlungen nicht weiterkommt, mischt Kajsa sich ein.
Hochspannung von der norwegischen Bestsellerautorin.
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Das Mädchen, das schwieg
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
Inhaltsübersicht
Über Trude Teige
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Epilog
Impressum
Kurz bevor Kajsa Coren die aus Losvika hinausführende Straße erreichte und am letzten Haus im Dorf vorbeikam, hörte sie plötzlich einen Schrei. Eine Frau erschien auf der Vortreppe und winkte aufgeregt mit den Armen. Dann beugte sie sich über das Geländer und übergab sich.
Kajsa schob den Kinderwagen durch das Gartentor und trat auf den überwucherten Kiesweg. Sie war mit Jonas zu einer kleinen Spazierfahrt aufgebrochen, damit er endlich einschlafen könnte. Sein leises Wimmern hatte nachgelassen, aber er blinzelte immer noch zu den Wolken hinauf, die an diesem windigen letzten Novembertag rasch über den Himmel zogen. Schnell ließ Kajsa die Bremsen am Kinderwagen einrasten und eilte der Frau entgegen.
Kajsa wusste, dass die Bewohnerin des Hauses Sissel Våge hieß und Anfang dreißig war, aber nicht sie war es, die auf der Treppe stand. Sondern Bente Rise, die Nachbarin.
»Was ist passiert?«, fragte Kajsa.
»Ruf … ruf die Polizei an«, schluchzte Bente. »Es ist Sissel.«
»Was ist denn mit ihr?«
Bente deutete mit dem Daumen auf die offene Haustür hinter sich und legte die andere Hand über Mund und Nase. Kajsa bemerkte es jetzt auch: ein stinkender, an Kanalisation erinnernder Dunst, der mit der warmen Innenluft ins Freie sickerte.
»Ich glaube, sie ist tot«, sagte Bente und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Achtest du bitte auf Jonas?«
Bente nickte.
Zögernd trat Kajsa in den Flur. Im Haus war es still. Die eigentümliche Stille eines leeren Hauses. Der Geruch wurde stärker und drang ihr in die Nase. Kajsa konzentrierte sich darauf, durch den Mund zu atmen. Ein widerlicher Geschmack nach Fäulnis breitete sich auf ihrer Zunge aus.
Sie betrat die Küche. Niemand war zu sehen. Die meisten alten Häuser im Dorf waren räumlich wie dieses aufgeteilt: eine Tür vom Flur in die Küche, eine Tür zwischen Küche und Stube nebenan, wo eine weitere Tür in das Wohnzimmer führte. Von dort aus konnte man zurück in den Flur gelangen.
Kajsa durchquerte die Küche und blieb an der Tür zur Stube stehen. Mit einem Mal wurde ihr Mund völlig trocken.
Direkt vor ihren Füßen war ein großer Fleck aus getrocknetem Blut. Ein kleines weißes Kreuz an der Wand war mit Blutspritzern übersät. Eine Frau saß zum Fenster gewandt in einem Sessel.
Kajsa zog sich den dünnen, elastischen Kragen ihres Pullovers halbwegs übers Gesicht und bedeckte die Nase mit der Hand, während sie über den Blutfleck auf dem Boden hinwegstieg. Sie drückte sich an einer Topfpflanze vorbei und umrundete den Tisch, um das Gesicht der Frau sehen zu können.
Es war völlig überflüssig, nach dem Puls zu fühlen.
Aus dem geöffneten Mund ragte die dunkel verfärbte Zungenspitze heraus. Der Kopf lag etwas schräg, das Gesicht war halbwegs dem Sesselrücken zugewandt. Die leblosen Augen starrten zum Fenster hin, der Blick war gefroren in einem Moment, den es nicht mehr gab. Auf der Wange hatte sie ein großes lilarotes Mal. Es hatte die Form eines umgekehrten Herzens, das sich von der Schläfe nach unten ausbreitete und am Mundwinkel endete. Ihre Arme lagen auf den Sessellehnen, die Hände hingen schlaff über die Kanten. Sie wirkte verwundert, als ob sie nicht glauben könnte, dass sie tatsächlich tot war.
Der Geruch entsprach dem, was passiert, wenn der Tod eintritt und Muskeln und Reflexe, welche die Körperflüssigkeiten zurückhalten, nicht mehr funktionieren. Er erinnerte Kajsa an Fischabfälle, die an der Kaikante vor sich hin rotteten, nachdem die Fischerboote den Fang an Land gebracht hatten.
Ein kleiner Tisch neben dem Sessel war umgestürzt, und eine Brille und eine Frauenzeitschrift lagen auf dem Fußboden.
Kajsa betrachtete die Tote gleichermaßen angeekelt wie erstaunt. Die Frau trug ein tief ausgeschnittenes, langes schwarzes Kleid aus schwerer, glänzender Seide. Ihr Haar war locker mit kleinen Spangen hochgesteckt. Es war blond gefärbt, wie Kajsa am dunklen Haaransatz erkennen konnte. Um den Hals trug sie eine Goldkette mit einem Kreuz, die Ohrläppchen waren mit großen Perlen geschmückt. Ihre Augen waren stark geschminkt, die Lippen wiesen eingetrocknete Spuren eines roten Lippenstifts auf. Das Gesicht war schmal. Eine lange Nase mit einer kleinen Erhebung gleich unterhalb der Nasenwurzel, dünne Lippen, hohe Wangenknochen. Der Bauch war aufgebläht. Vermutlich hatte die Leiche hier schon eine Weile gelegen, doch zu Lebzeiten musste die Frau schlank und feingliedrig gewesen sein.
Sissel Våge war festlich angezogen und hätte sicher sehr hübsch ausgesehen, wenn nicht die blaue Zunge, die aufgerissenen, ins Leere starrenden Augen und dieser Gesichtsausdruck gewesen wären, der Kajsa noch mehr Unwohlsein verursachte, als sie ohnehin schon verspürte. Die Übelkeit stieg als grummelndes Gefühl vom Magen auf, wurde stärker, und Kajsa musste schlucken.
Die Szene erinnerte sie an ein zerstörtes Gemälde, als wäre jemand hereingekommen und hätte die Leinwand aufgeschlitzt.
Sie blickte sich um. Das Zimmer wirkte altmodisch, mit angejahrten Möbeln, aber sauber und aufgeräumt. Auf der Fensterbank lagen eine Bibel und ein Fernglas. Ein altes schwarzglänzendes Klavier stand an der Querwand. Kajsa trat näher heran und inspizierte die Noten auf dem Notenhalter. Christian Sindings Frühlingsrauschen. Für Fortgeschrittene, dachte Kajsa, die selbst Klavier spielte. Sissel Våge hatte anscheinend ziemlich gut Klavier spielen können. Viel Glück! Grüße, O, stand in einer Ecke des Notenblatts geschrieben. Vielleicht war es auch ein G; Kajsa war sich nicht ganz sicher. Auf dem Klavierdeckel lag ein Stapel gelber Notizbücher.
Kajsa zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf. Die Luft war unerträglich warm, stickig und drückend. Ein kleines rotes Licht leuchtete an einem Öl-Radiator, der gleich neben der Tür stand. Erst jetzt nahm Kajsa die Fliegen wahr, die geräuschvoll um Sissels Kopf kreisten. Einige waren bereits in Nasenlöcher, Ohren und Augen gekrochen.
Kajsa presste sich den Rollkragen aufs Gesicht und atmete den Duft ihres Parfüms ein, um das Gefühl von Übelkeit zu unterdrücken.
Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt. Um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, stieß sie sie mit dem Ellbogen auf. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief die Polizei, während sie sich weiter umsah.
Ein riesiger Weihnachtskaktus stand in voller Blüte auf einem schwarzen Hocker. Die knallroten Blüten hingen schwer herab. Auf dem Sofa lag ein Stapel Damenkleider. Alle sahen neu und modern aus, an einigen hingen sogar noch die Preiszettel. In einer Plastiktüte auf dem Fußboden entdeckte Kajsa etwas Spielzeug; eine Rassel und ein Mobile mit kleinen Tierfiguren.
Auf dem Wohnzimmertisch lag weitere Kleidung, fein säuberlich zusammengefaltet. Kajsa hob eine kleine Strampelhose auf, die Größe auf dem Etikett verriet, dass sie für ein neugeborenes Baby war. Alle Sachen auf dem Tisch waren Babykleidung in Weiß und Hellblau.
Offensichtlich Bekleidung für einen kleinen Jungen.
*
Kajsa kannte den Lensmann Ole-Jakob Eggesbø ziemlich gut. Ihr Lebensgefährte Karsten arbeitete bei der Kripo und hatte ihn vor zwei Jahren bei der Aufklärung des Deutschenmords unterstützt. Auch sie selbst hatte eine gewisse Rolle bei den Ermittlungen gespielt. Schon kurz nachdem die Polizei mit der Untersuchung des Mordes an einem deutschen Touristen begonnen hatte, war der Fall von der Presse als Deutschenmord bezeichnet worden. Wie sich schließlich herausstellte, hatte es sich um mehrere Morde gehandelt.
Eggesbø sah sich einmal kurz im Zimmer um, stellte sich vor Sissel und betrachtete sie ein paar Sekunden lang mit halb zusammengekniffenen Augen, ehe er sein Handy aus der Tasche fischte.
Der Arzt, folgerte Kajsa aus dem sich anschließenden Telefongespräch.
Ein dunkelhäutiger Polizeibeamter, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, blieb neben der Tür stehen. Er hielt sich beide Hände vor Nase und Mund, nickte ihr kurz zu, machte aber keine Anstalten, sich der Leiche zu nähern. Kajsa schätzte ihn auf Mitte zwanzig.
Eggesbø sprach in den Hörer und wirkte überaus melancholisch.
»Ja, im selben Haus, es ist die Tochter des Predigers«, hörte sie ihn sagen.
Seine Augenlider hingen schwer herunter, er hatte große Tränensäcke unter den Augen und war von eher kleinem Wuchs, dafür aber breit in alle Richtungen. Der Herzinfarkt vor einem halben Jahr hatte ihn offenbar nicht zum Abnehmen bewegen können. Kajsa registrierte, dass er sich einen Bart zugelegt hatte. Der war graumeliert, genau wie seine kräftige, kurzgeschnittene Mähne.
Der Arzt traf zehn Minuten später ein, als Kajsa zusammen mit Bente Rise auf der Treppe stand und Eggesbø berichtete, was geschehen war. Sie hatte ihn erst vor einer Woche gesehen, als er gekommen war, um ihre Tochter Thea zu untersuchen, die über Ohrenschmerzen geklagt hatte. Er hieß Gustav Berg und wohnte in Losvika, stammte aber nicht aus der Gegend.
Eggesbø und der Arzt gingen hinein, Kajsa folgte ihnen.
Berg schritt über den Blutfleck auf dem Fußboden hinweg. Etwas an der Art, wie er sich bewegte, die Leiche betrachtete, Latexhandschuhe überzog und dann begann, Sissel zu untersuchen, ließ Kajsa vermuten, dass er mit solchen Situationen vertraut war. Als sie ihn darauf ansprach, erwiderte er, er habe während des Studiums als Assistent am Rechtsmedizinischen Institut gearbeitet und eigentlich vorgehabt, Pathologe zu werden.
»Geh jetzt, Kajsa«, sagte Eggesbø. »Wir können später reden.«
»Ja, ja«, gab sie zurück, blieb aber stehen.
Die meisten Journalisten, die Kajsa kannte, schienen häufig mit einer Art Kurzschluss zu reagieren, wenn sie arbeiteten. Sie reagierten entgegengesetzt dem, was in einer dramatischen oder unangenehmen Situation natürlich war. Kühler und distanzierter, als es die meisten Menschen normalerweise taten, und das sogar in privaten Zusammenhängen. Sie schufen eine Distanz zur Wirklichkeit und verdrängten eigene Gefühle, als seien sie mit einem mentalen Filter ausgerüstet.
Genauso erging es Kajsa, als sie Berg dabei zusah, wie er die Leiche untersuchte.
»Aha«, murmelte er, während er die Glieder befühlte. »Keine Totenstarre mehr.«
Seine routinierten Bewegungen und die Art, wie er sprach, wirkten ganz unaufgeregt, als ob er zu einem normalen Krankenbesuch gekommen sei. Der durchdringende Gestank nach Urin, Exkrementen und verfaulender Leiche war allerdings nicht zu ignorieren. Beinahe wie ein Gas, das in die Poren der Haut eindrang, sich auf Schleimhäute in Nase, Mund und Augen legte, machte er das Atmen schwer und verschleierte die Sicht.
»Wir lange ist sie wohl schon tot?«, fragte Eggesbø den Arzt, sah dabei gleichzeitig Kajsa mit versuchsweise strengem Blick an und machte eine kleine Kopfbewegung in Richtung Tür.
Kajsa nickte, kam der Aufforderung aber weiterhin nicht nach.
»Schwierig zu sagen«, erwiderte Berg.
»Was glauben Sie?«
»Vielleicht eine Woche. Je länger eine Leiche daliegt, desto schwerer lässt sich feststellen, wie lange der oder die Betreffende schon tot ist. Und in dieser Hitze …« Er hob die Arme der Leiche an, beugte sich hinunter und inspizierte die Unterseite. »Aber eines kann ich jedenfalls sagen: Sie ist hier gestorben.«
»Totenflecken?«, fragte Kajsa.
Sie wusste, dass die blauen Flecken, die sich aufgrund von Blutansammlungen in den Teilen des Körpers bildeten, die eine darunterliegende Fläche berührten, verraten konnten, ob eine Leiche bewegt worden war.
»Ja, die stimmen genau mit der Sitzposition überein«, sagte Berg. »Entweder starb sie hier im Sessel, oder sie wurde hier hineingesetzt, kurz nachdem der Tod eintraf. Sehr wahrscheinlich Letzteres.« Er deutete auf die Blutspritzer, die in drei Metern Entfernung an der Wand klebten.
Eggesbø winkte den jungen Polizisten zu sich. Der schien keine große Lust zu verspüren, trat schließlich aber doch neben den Sessel. Mit leiser Stimme sagte Eggesbø etwas zu ihm.
Der Arzt nahm den Kopf der Leiche in die Hände und drehte ihn so zu sich, dass er die der Rückenlehne zugewandte Seite betrachten konnte. Sie war mit großen Mengen getrockneten Blutes bedeckt, was auch über Nacken und Rücken verteilt war und das Haar am Kopf verklebt hatte.
Berg richtete sich auf und wollte gerade noch etwas sagen, beugte sich stattdessen aber vor, hob das lange Kleid an und zog den Rock über die Knie der Leiche nach oben. Ein Fliegenschwarm schwirrte aufgeregt dort unten umher.
Der junge Polizist schien sich übergeben zu müssen.
»Geh mal raus und schnapp etwas frische Luft«, sagte Eggesbø zu ihm.
»Hatte sie einen Hund?«, fragte Berg.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Eggesbø.
»Sieht jedenfalls so aus«, sagte Berg, ohne aufzublicken.
Kajsa trat einen Schritt vor, sah hinunter und drehte sich schnell weg.
Der junge Polizist stand auf der Treppe und atmete tief durch, als Kajsa hinaustrat, um nach Jonas zu sehen. Bente wiegte den Kinderwagen behutsam hin und her und hielt einen Finger vor den Mund. Jonas kämpfte gegen den Schlaf, schaffte es aber nicht und äußerte sein Unbehagen mit grunzendem Protest.
»Hatte Sissel einen Hund?«, flüsterte Kajsa.
Bente streckte die Hand aus. Etwas entfernt, in einer Ecke des Gartens, stand ein grauer Elchhund.
»Caro kam sofort rausgeschossen, als ich die Tür aufgemacht habe«, sagte sie. »Er ist eben zurückgekommen, ich hab ihn an der Laufleine festgemacht.«
Bei der Erwähnung seines Namens wedelte der Hund erwartungsvoll mit dem Schwanz.
Kajsa ging wieder ins Haus hinein und trat an die Stubentür.
»Der Hund ist draußen im Garten«, sagte sie. »Er war aber hier, als Bente die Tür geöffnet hat.« Sie deutete auf die Wand neben der Wohnzimmertür. »Der hat sich da drüben erleichtert.«
»Genau«, sagte Eggesbø und nickte.
»Mehrere Tage zusammen mit Sissel eingesperrt«, konstatierte der Arzt.
»Kannten Sie sie?«, fragte Eggesbø.
Berg nickte.
»Eine Patientin von mir. Sie hat mir ein bisschen leidgetan. Sie hatte keine Geschwister und musste somit die Verantwortung übernehmen. Sie wissen schon: Einzelkind, alleinstehend, alte Eltern.« Er sagte es so, als habe Sissel keine andere Wahl gehabt. »Aber vielleicht auch gut, dass sie nicht allein gelebt hat. Die Eltern haben sich wohl ebenso sehr um sie gekümmert wie sie sich um die Eltern. Das habe ich jedenfalls gehört. Als ihr Vater dann starb, habe ich sie zu überreden versucht, in eine betreute Wohnung zu ziehen, aber sie wollte nicht.«
Während Berg sprach, untersuchte er Hals und Nacken der Toten.
»Vor ein paar Monaten war sie bei mir«, sagte er. »Wegen Magenschmerzen. Außerdem wirkte sie depressiv. Es war ja nicht gerade einfach, mit ihr zu kommunizieren, aber sie klagte darüber, dass sie nicht einschlafen konnte, dass ihr zu viele Gedanken im Kopf herumschwirrten.«
»Vielleicht nicht so verwunderlich, angesichts dessen, was mit ihrem Vater passiert ist«, warf Kajsa ein.
»Sie wollte nicht sagen, worum es ging. Aber bestimmt war es das. Komischerweise ging es ihr eigentlich besser, kurz nachdem er gestorben war. Aber im Sommer hat sie dann eine Depression bekommen. Ich habe ihr Antidepressiva verschrieben und geraten, rauszugehen und Leute zu treffen.«
»Und? Hat sie Ihren Rat befolgt?«
»Ich weiß nicht. Sie hätte vor einer Woche wiederkommen sollen, ist aber nicht erschienen. Ist häufiger passiert, dass sie einen Termin vereinbart hat und dann nicht gekommen ist. Und ich habe nicht …«
Der Lensmann unterbrach ihn und drehte sich zu Kajsa.
»Wir können später reden«, sagte er.
»Tja, da hast du jetzt wohl einiges zu tun«, erwiderte sie. »Das muss doch mit der Ermordung ihres Vaters zusammenhängen. Zwei Morde im selben Haus, das ist …«
»Kajsa …«, sagte Eggesbø warnend.
Abwehrend hob sie die Hände. »Okay. Schon gut.«
»Wie geht’s übrigens Karsten?«, fragte er.
»Gut«, gab sie über ihre Schulter hinweg zurück und ging zur Tür. »Alles gut.«
Ich will nicht an Karsten denken, dachte sie. Es wird sich schon alles regeln.
Kajsa blickte in den Kinderwagen. Jonas schlief mit halboffenem Mund, hatte die Arme ausgebreitet und die kleinen Fäuste geöffnet. Sie zog die Decke fester um ihn und sah zu Sissel Våges Haus hinüber. Wenn nicht die Vorhänge und die Pflanzen in den Fenstern gewesen wären, hätte man glauben können, das Haus sei verlassen. Der ganze Besitz strahlte eine Art Resignation und Lebensmüdigkeit aus, als hätte Sissel Våge sich nicht weiter darum gekümmert und die Pflege von Haus und Garten aufgegeben.
Die meisten Häuser in Losvika zeugten vom Wohlstand der Menschen. Einige in den fünfziger Jahren gebaute Häuser waren ursprünglich mit Eternitplatten verkleidet gewesen, doch nach und nach hatte man dieses asbesthaltige Material entfernt, es durch Holzverkleidung ersetzt, hatte die Häuser modernisiert, erweitert und ihr Aussehen völlig verändert. An Sissels Haus allerdings befanden sich noch immer diese grauen, vom Wetter gezeichneten Platten, und sowohl Windbretter als auch Fensterrahmen brauchten einen Anstrich.
Kajsa schickte sich an, mit Jonas im Kinderwagen den Heimweg anzutreten. Es war fast zweieinhalb Jahre her, dass sie und Karsten beschlossen hatten, das Haus zu renovieren, das sie in jenem Sommer von ihrer Tante geerbt hatte, als der Deutschenmord Losvika erschüttert und Karsten die Geschehnisse nur knapp überlebt hatte. Jetzt wohnten sie hier seit zwei Monaten.
Zunächst einmal würden sie nur ein Jahr bleiben. Danach wollten sie weitersehen. Thea und Anders, die aus Kajsas Ehe mit Exmann Aksel stammten, fühlten sich pudelwohl, doch wenn Karstens Gesundheit sich nicht verbesserte, würden sie nicht bleiben können. Immer öfter dachte Kajsa, dass es am besten wäre, wenn sie zurück nach Asker zögen. Karstens Schwermut wirkte sich auch auf sie aus, und häufig fühlte sie sich bedrückt. Nein, nicht bedrückt, aber traurig, so unendlich traurig, inmitten eines Lebens, das von Freude und Optimismus hätte erfüllt sein sollen. Sie hätte die Tage genießen und sich darüber freuen sollen, dass Karsten überlebt hatte und sie noch einmal Mutter geworden war. Stattdessen aber lief sie umher und spürte, dass es in ihrem Innern einen Widerstand gegen alles gab, was sie unternahm.
Sie verlangsamte ihr Tempo.
Eggesbø stand noch immer auf der Treppe und unterhielt sich mit Bente Rise. Sie hatte einen Schlüssel für Sissel Våges Haus besessen. Traf das auch auf den Mörder zu?
Kajsa hatte mit ihren Eltern und den beiden Schwestern in Losvika gelebt, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Wurzeln waren hier. Von Kindestagen an kannte sie die meisten Dorfbewohner und war auch als Jugendliche in den Ferien oft bei ihrer Tante gewesen. Bente Rise war ebenfalls hier geboren und aufgewachsen, doch ihr Mann kam von außerhalb. Kajsa kannte beide nicht sonderlich gut, aber sie grüßten einander. Sie hatten ein Haus auf dem Grundstück von Bentes Eltern gebaut, gleich neben dem von Sissel.
Kajsa hatte die Ermordete nicht gekannt. Sissel war erst nach Losvika gekommen, nachdem Kajsas Familie nach Asker gezogen war. Seit sie mit Karsten und den Kindern hier lebte, hatte Kajsa sie nur einmal im Laden gesehen. Sissel hatte damals ein Notizbuch aus der Tasche gezogen, etwas hineingeschrieben und es dann Else gezeigt, die den Dorfladen betrieb. Kajsa hatte Sissel für gehörlos gehalten, aber Else, Kajsas Jugendfreundin, hatte erzählt, dass Sissel schon als Jugendliche zu sprechen aufgehört habe. Als Sissel wieder gegangen war, hatte Kajsa ein Gespräch zwischen zwei Frauen mitangehört. Sie hatten sie als »die Ärmste« und »merkwürdig« bezeichnet und dann darüber zu reden begonnen, wie schrecklich es doch sei, dass die Polizei den Mord an ihrem Vater nicht hatte aufklären können.
Es war ganz offensichtlich, dass der Mord an Peder Våge die Menschen auch nach einem Jahr noch beschäftigte. Jedes Mal, wenn Kajsa in den Dorfladen kam, sprach irgendjemand über den Fall. Der Mord lastete wie ein dunkler Schatten auf dem Dorf. Else hatte erzählt, dass die Menschen ängstlich seien, besonders ältere Dorfbewohner, die allein lebten. Schon mitten am Tag schlossen sie die Türen ab und öffneten keinem Fremden, niemand ging abends allein auf die Straße, und häufiger als früher wurden die Kinder mit dem Wagen gefahren. Auch Kajsa holte Thea und Anders nach Einbruch der Dämmerung ab, wenn sie bei Freunden waren oder ihren Freizeitaktivitäten nachgingen. Als sie in ihrer Kindheit hier gelebt hatte, war das alles völlig anders gewesen. Nicht einmal nachts hatten sie sich die Mühe gemacht, die Türen abzuschließen.
Zwei Morde im selben Haus und innerhalb eines Jahres, dachte Kajsa. Da muss es doch einen Zusammenhang geben.
Sie warf einen Blick auf die verlassene Straße, die aus dem Dorf hinausführte und gleich gegenüber von Sissel Våges Haus begann. Die Leute nannten sie Stranda, wenngleich es hier gar keinen Strand gab, sondern nur einen steinigen Ebbestreifen. An einigen Stellen verlief die Straße dicht am Fuße der Felsen, an anderen durchquerte sie flacheres Terrain. Sie bog und wand sich zwei Kilometer entlang kleinerer und größerer Buchten und endete schließlich auf einer längeren Landzunge, wo es fünf oder sechs Häuser gab. Dort war vor zehn Jahren eine Brücke gebaut worden, die hinüber zur Nachbarinsel führte. Kajsa konnte den mächtigen und schön geformten Bau in der Ferne sehen. Die Brücke stieg erst bis zum Mittelpunkt an, bog sich sanft und senkte sich auf ein paar Schäreninseln hinab. Die Straße führte dann in einer weiteren Kurve über einen Damm, traf auf der anderen Seite des Fjords auf die Nachbarinsel und verschwand in einem Tunnel. Das Leben war einfacher geworden, seitdem es die Brücke gab. Das Gebäude der Kommunalverwaltung Vågen lag nur zehn Minuten Fahrtzeit entfernt.
Gleich gegenüber von Sissels Haus, zwischen Straße und Ebbestreifen, befand sich ein Sportplatz mit einem kleinen Schuppen, und etwa dreißig Meter dahinter lag eine Kreuzung. Die eine Straße führte ins Dorf, die andere, der Hamneveg, verlief, wie der Name schon andeutete, in Richtung Meer. Auf Höhe der Mole beschrieb der Hamneveg eine Kurve und führte zurück zur Hauptstraße, so dass ein Kreis entstand. Davon führten mehrere Stichstraßen zu kleinen Häuseransammlungen, die längste folgte der Landenge bis zum beliebten Badeplatz Kvitsandvika.
Kajsa war häufig mit dem Kinderwagen an Sissels Haus vorbeigekommen und hatte fast immer ihr Gesicht am Fenster gesehen. Der Ausdruck »lebendes Gemüse« war im Dorf verbreitet. Sissel hatte zu dieser Sorte gehört.
Kajsa rief sich noch mal den Tatort in Erinnerung. Die Blutspritzer, das Kleid, die Hundebisse, die Babykleidung im Wohnzimmer und die Art, wie Sissel dagesessen hatte. All das hatte sich in Kajsas Netzhaut eingebrannt. Wieso hatte sie ein Abendkleid getragen? Hatte sie sich für den Mörder hübsch gemacht?
Der Sessel war ein Beobachtungsposten, fiel Kajsa plötzlich ein. Alle, die in das Dorf kamen oder es verließen, mussten an Sissels Fenster vorbei. Außerdem hatte sie Ausblick auf das Meer gehabt und Boote beobachten können, die an- oder ablegten.
Kajsa machte kehrt und zog den Kinderwagen hinter sich her, damit der Wind nicht hineinblasen konnte. Sie betrat ein Bushäuschen und setzte sich in den Windschatten. Die Wolken waren inzwischen koksgrau geworden und zogen sich mehr und mehr zusammen. Bald würde es regnen.
La concierge. Sissel war die Pförtnerin gewesen, die alles sah und wusste, was sich zutrug.
Bente Rises Hände bewegten sich unaufhörlich. Mehrmals wischte sie mit einem Lappen über die ohnehin schon blitzblanke Arbeitsplatte. Dann wusch sie sich unter dem Wasserhahn gründlich die Hände und trocknete sie unnötig lange an einem Handtuch ab, das an der Wand hing.
Sie trug eine sportliche Kurzhaarfrisur mit etwas längeren Stirnlocken, die sie erfolglos hinter die Ohren zu klemmen versuchte. Ihr Gesicht war breit, mit langen tiefen Lachgrübchen, die selbst dann sichtbar waren, wenn sie nicht lächelte. Sie trug eine rote Tunika und dunkelblaue Jeans. Nur die Fingernägel passten nicht ganz zu dem perfekten Outfit; sie waren abgenagt bis auf die Haut.
»Du hast einen Schlüssel für Sissels Haus?«, fragte Kajsa.
Sie hatte angerufen und sich dann von Bente zum Kaffee einladen lassen. Der Kinderwagen mit Jonas stand auf der Terrasse, die nach hinten hinausging. Die Tür war angelehnt, damit sie ihn hören könnten, falls er wach werden sollte.
Bente Rises Blick irrte ziellos umher.
Sie ist noch immer in Sissels Stube, dachte Kajsa.
Die beiden Frauen saßen auf hohen Hockern am Ende einer Kücheninsel mitten im Raum. Die Kücheneinrichtung sah nagelneu und teuer aus, dunkle Arbeitsplatten aus Naturstein, glatte, eierschalenfarbene Oberflächen und Schränke, die bis zur Decke reichten.
Bente fegte ein paar unsichtbare Krümel weg und schob eine große Zinnschale mit Obst zur Seite, während ihr Blick noch unsicher umherzuckte.
»Ich hatte Sissels Schlüssel seit zwei Jahren«, erwiderte sie und fischte ihn aus der Hosentasche. Ein Herz aus Holz, wie es Kinder in der Bastelstunde anfertigen, war daran befestigt.
»Weshalb bist du überhaupt zu Sissel hinübergegangen?«, fragte Kajsa.
»Ich musste in den letzten Tagen öfter an sie denken. Normalerweise ließ Sissel jeden Tag den Hund raus, aber in der letzten Woche hab ich ihn nicht gesehen. Er kann natürlich draußen gewesen sein, ohne dass ich es bemerkt habe, schließlich bin ich auch nicht die ganze Zeit zu Hause. Aber in den letzten zwei Tagen war ich nicht woanders und hab ab und zu mal rübergesehen. Und ich dachte, dass … ja, dass ich mal gucken sollte, ob alles mit ihr in Ordnung ist, ob sie nicht krank ist oder so was.«
Ihre Lippen zitterten leicht, als sie fortfuhr.
»Ich hab lange geklingelt, und als sie nicht aufmachte, hab ich selbst aufgeschlossen. Es … es war ganz schrecklich, dieser entsetzliche Gestank.«
Sie stand auf und holte mehr Kaffee.
»Erst wurde der Vater ermordet und jetzt Sissel. Ich kann es gar nicht fassen.«
»Was weißt du über die Ermordung des Vaters?«
»Die Polizei hat den Mord als extrem brutal bezeichnet, hat aber keine Einzelheiten bekanntgegeben. Obwohl … ich weiß etwas mehr. Ich hab der Polizei geholfen, als sie Sissel vernehmen wollten. Sie hat sich geweigert, mit denen zu reden, also haben sie mich dazugeholt. Deshalb weiß ich auch ein paar Details, die sonst niemandem bekannt sind. Ich muss mich ja an die Schweigepflicht halten, hatte aber damals den Eindruck, dass Sissels Vater mehr oder weniger zu Tode gefoltert wurde.«
Sie schüttelte sich. »Es ist skandalös, dass sie den Täter nicht gefasst haben. Ein Alptraum für alle hier im Dorf. Man bewegt sich in ständiger Angst, besonders wir als ihre nächsten Nachbarn. Und was wäre, wenn es einer von hier ist? Wenn einer, den wir kennen, Peder und Sissel ermordet hat?«
»Erzähl mir was über Sissel«, bat Kajsa.
»Ich glaube, irgendwas stimmte nicht mit ihr.«
»Weil sie nicht gesprochen hat?«
»Ja, aber nicht nur deswegen. Sie hatte fast keinen Kontakt mit anderen. Komische Frau.«
»Wann hat sie denn aufgehört zu sprechen?«
»Das ist viele Jahre her. Sie war ja etwas jünger als ich. So gut kannte ich sie auch nicht.«
»Einmal hab ich sie im Laden etwas in ein Notizbuch schreiben sehen«, sagte Kajsa. »Hast du auch auf diese Weise mit ihr kommuniziert?«
»Ja, das Buch hatte sie immer bei sich.«
Obwohl Kajsa nur einen Schluck getrunken hatte, schenkte Bente ihr mehr Kaffee ein. Ihre Hand zitterte.
»Sie hat sich übrigens auch verändert, seit sie allein war«, sagte sie.
»Wie denn?«
»Es war, als ob … was soll ich sagen? Als ob sie anfing zu leben. Ihre Eltern waren sehr streng und altmodisch. Als die dann nicht mehr da waren, konnte sie wohl machen, was sie wollte, vermute ich.«
Das Telefon klingelte, und Kajsa hörte zu, wie Bente jemandem berichtete, was geschehen war.
»Was meinst du damit, dass sie tun konnte, was sie wollte?«, fragte Kajsa, nachdem Bente das Gespräch beendet hatte. »Was hat sie denn gemacht?«
»Sie fing an, sich zu schminken, die Nägel zu lackieren, hat moderne, farbenfrohe Kleidung getragen und sich das Haar gebleicht. Du weißt schon, was Frauen eben so tun.«
Bente berichtete, sie habe Sissel beim Begräbnis des Vaters zum ersten Mal in etwas anderem als Grau, Beige oder Braun gesehen. Sissel habe eine rote Jacke getragen.
»Ich fand das völlig unpassend. Sie hätte etwas Schwarzes tragen sollen, wie es auf einer Beerdigung eben üblich ist, und nichts Knallrotes. Sie sah aus, als wolle sie zu einer Party.«
Vor Kajsas geistigem Auge erschien Sissel in dem schwarzen Seidenkleid.
»Sie war hübsch«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte Bente. »Als ihre Eltern noch lebten, hab ich das nie gedacht. Da war sie eine graue Maus. Sie hat mir immer so leidgetan. Ständig wirkte sie traurig, und gelächelt hat sie auch so gut wie nie. Erst als sie allein lebte und anfing, etwas aus sich zu machen, fiel mir auf, wie hübsch sie eigentlich war, obwohl sie ja dieses große unschöne Mal im Gesicht hatte.«
»War das ein Geburtsmal?«
»Ich weiß nicht, was das war.«
»Kanntest du ihre Eltern gut?«
»Nicht besonders. Der Vater war Prediger. Er ist umhergereist und hat in Gebetshäusern gesprochen. Und die Mutter …« Bente zuckte mit den Schultern und seufzte resigniert. »Man soll ja nicht schlecht über die Toten reden, aber ich muss schon sagen, dass sie kein guter Mensch war. Der Vater übrigens auch nicht, wenn du mich fragst. Die haben sich auch ständig mit den Nachbarn gestritten. Besonders der Vater. Dag, mein Mann, hat sie mal gefragt, ob er ihnen einen halben Meter Rasen abkaufen könnte, als wir eine Garage bauen wollten. Aber das kam nicht in Frage, auch wenn er weit mehr als den üblichen Preis zahlen wollte.« Bente nagte am Nagel ihres kleinen Fingers. »Aber mit Johannes war es noch schlimmer.«
Sie zeigte aus dem Küchenfenster auf einen Hof, der hinter Sissels Haus lag. Ein weißes Steinhaus mit dunkelgrünen Fensterrahmen und einer roten Scheune.
Kajsa wusste, dass Johannes ein Junggeselle in den Dreißigern war und mit Vigdis, seiner Mutter, zusammenlebte. Sie erinnerte sich gut an die Frau, weil sie eine Freundin ihrer verstorbenen Tante war.
»Johannes konnte Sissels Eltern nicht ausstehen«, sagte Bente. »Vor einigen Jahren wollte er mal ein paar Bäume auf deren Grundstück beschneiden. Die waren so groß geworden, dass sie seine Terrasse völlig verschatteten. Er versuchte, Peder, also Sissels Vater, zu überreden. Aber da war nichts zu machen, Peder hat sich standhaft geweigert. Aber eines Tages waren plötzlich alle Bäume weg.«
»Johannes hat schließlich also bekommen, was er wollte?«, fragte Kajsa.
»Er wollte doch bloß die Kronen beschneiden«, schnaubte Bente. »Es war eine lange Baumreihe, die den Wind abhielt. Peder hat das nur aus Bosheit gemacht. Und jetzt bläst der Nordwind direkt auf Johannes’ Terrasse.« Sie sah hinüber zu dem weißen Haus und fügte hinzu: »Na ja, Johannes hat auch so seine Probleme. Er trinkt zu viel und stammelt dann ganz entsetzliches Zeug, kaum zu verstehen, was er da sagt. Er war auch schon einige Male in der Psychiatrie.«
»Ist er manchmal gewalttätig?«
»Gewalttätig nicht gerade, aber etwas aggressiv, wenn er getrunken hat. Aber im nüchternen Zustand ist er völlig in Ordnung.«
»Wann ist Sissels Mutter gestorben?«
Abermals wischte Bente ein paar unsichtbare Krümel weg. »Vor fünf Jahren. Sie ist ins Wasser gegangen. Jedenfalls nimmt man das an.«
»Ins Wasser gegangen?«
»Ja, also sie hat sich ertränkt. War eines Tages einfach spurlos verschwunden. Eine große Suchaktion wurde eingeleitet, aber sie haben sie nicht gefunden.«
Bente erzählte weiter, dass sie kurz danach den Schlüssel erhalten habe. Sissel habe für einen Tag ins Krankenhaus gemusst und sich Sorgen um den Vater gemacht, den sie alleine zu Hause lassen musste, obwohl er ein schwaches Herz hatte.
Ein Jahr sei es nun her, dass ein junger Mann die Leiche von Peder Våge gefunden hatte. Er habe Waren aus dem Laden anliefern wollen, und als niemand geöffnet habe, sei er zu Bente herübergekommen und habe gefragt, ob Sissel und der Vater verreist seien. Dann habe Bente ihm den Schlüssel gegeben.
»Wo war denn Sissel an diesem Tag?«, fragte Kajsa.
»Sie ist spazieren gegangen. Sie ist oft unten in Kvitsandvika oder oben durchs Gebirge gewandert. Ist gelaufen und gelaufen, immer allein.«
Von der Terrasse ertönte das leise Weinen von Jonas. Kajsa sah auf die Uhr, es war Zeit für den Aufbruch. Anders und Thea würden bald aus der Schule kommen.
»Mama«, gab Jonas von sich, als Kajsa ihn aufsetzte und umarmte.
»Ein schönes Alter«, sagte Bente und lächelte zum ersten Mal flüchtig.
Ein junges Mädchen tauchte in der Terrassentür auf.
»Das ist Tone«, sagte Bente. »Meine Tochter.«
Kajsa deckte Jonas zu, ging zu dem Mädchen und reichte ihr die Hand. »Hallo!«
Der Name Tone passte nicht richtig zu ihr. Sie schien aus Somalia zu kommen, vielleicht Äthiopien. Sie hatte ein schmales Gesicht, hübsche Augen und langes schwarzes Haar, das zu einem Zopf gebunden war. Alles war perfekt – bis auf den Mund. Eine tiefe Scharte verunzierte ihre Oberlippe.
Tone lächelte Kajsa vorsichtig an und sah dann zu ihrer Mutter.
»Warum ist die Polizei bei Sissel?«
Die Stimme klang leicht nasal. Wahrscheinlich hatte sie nicht nur eine Lippen-, sondern auch eine Gaumenspalte, dachte Kajsa.
Bente trat zu ihrer Tochter und legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Sissel ist tot«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Tot?«
»Sie ist … äh … jemand hat ihr das Leben genommen.«
»Was? Wurde sie auch ermordet?«
Bente nickte.
»Ich bin zufällig vorbeigekommen, als deine Mutter sie gefunden hat«, sagte Kajsa.
»Du hast sie gefunden?«, fragte Tone und sah ihre Mutter erstaunt an. »Was hast du denn bei Sissel gemacht?«
Bente erzählte ihrer Tochter, wie sich alles zugetragen hatte.
»Sie war komisch«, sagte Tone. »Aber sehr nett.«
Bente nickte. »Ja, das war sie.«
»Ich fahr jetzt zur Klavierstunde«, sagte Tone.
»Zu Hause bei Gisle? Habt ihr denn gar keine Stunden mehr in der Schule?«, fragte ihre Mutter.
Tone zuckte bloß mit den Schultern. Bente sah ihr etwas besorgt nach.
»Wie alt ist sie?«, fragte Kajsa.
»Vierzehn. Ein anstrengendes Alter.«
Bente begleitete Kajsa zur Vorderseite des Hauses. Im selben Moment kam ein großer schwarzer BMW SUV in die Einfahrt gefahren. Ein Mann, anscheinend Bentes Ehemann Dag, stieg aus und sah zu dem Streifenwagen und der Absperrung vor Sissels Haus hinüber. Er nickte Kajsa kurz zu. Vermutlich war er es, mit dem Bente telefoniert hatte.
»Was hast du bei Sissel gemacht?«, fragte er.
»Ich hab doch gesagt, dass ich mir Sorgen um sie mache.« Verstohlen blickte sie Kajsa an. »Und dann hab ich aufgeschlossen. Sie hat ja nicht reagiert, als ich geklingelt habe.«
»Hast du aufgeschlossen? Warum musst du dich immer …«, sagte er aufgeregt, hielt dann aber inne und sah Kajsa an. »Sorry, ich bin total fertig.«
Kajsa war nicht sicher, ob er auf den Mord anspielte oder auf die Tatsache, dass seine Frau die Tür der ermordeten Nachbarin geöffnet hatte.
»Ich geh jetzt mal nach Hause«, sagte sie. »Danke für den Kaffee.«
Bente begleitete sie bis zu den Briefkästen und spähte auf die verlassene Straße, die aus dem Dorf führte.
»Jemand von außerhalb muss das getan haben«, sagte sie. »Meinst du nicht?«
Bente Rise hatte Angst. Sie konnte den Anblick einfach nicht vergessen. Noch immer spürte sie diesen Geruch in der Nase und den ekelhaften Geschmack auf der Zunge. Doch es lag auch in ihrer Natur, sich zu ängstigen. Sie war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass viele Dinge sie ängstigten.
Nachdem sie die Post aus dem Briefkasten genommen hatte, ging sie direkt ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Sie konnte jetzt einfach nicht mit Dag reden, wollte nicht erleben, wie sie sich krümmen und in seinen Augen ganz klein werden würde. Er war verärgert, weil sie zu Sissel hineingegangen war. Sie verstand nicht, weshalb er deswegen wütend auf sie war, genauso, wie sie häufig seine Reaktionen nicht verstand, wenn sie etwas sagte oder tat. Aber so war er eben, so war es zwischen ihnen geworden.
Auf den ersten Blick hatte sie sich damals in Dag verliebt. Er hatte an Bord eines der Fischerboote gearbeitet, die ihrem Vater gehörten. Der Vater hatte Dag im Rahmen eines Jugendprojekts in die Mannschaft aufgenommen; in jedem Sommer stellte er ein paar Jungen ein, die aus schwierigen Verhältnissen kamen, und half ihnen dabei, sich im Arbeitsleben zurechtzufinden. Dag war einer derjenigen, die Erfolg hatten. Oft war er bei ihnen zu Hause und wurde für Bentes Vater so etwas wie ein richtiger Sohn. Von seiner eigenen Familie hörten sie nie etwas. Nicht mal zur Hochzeit waren sie gekommen. Bente hatte Dags Eltern nie kennengelernt, und Dag wollte nicht darüber reden, weshalb er den Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte. Schwierige Kindheit, war alles, was er sagte. Nach einem Jahr in der Bootsmannschaft des Vaters ließ sich Dag als Maschinist ausbilden und bekam eine feste Anstellung in der Reederei.
Zwei Jahre nach der Hochzeit hatte sich herausgestellt, dass er zeugungsunfähig war. Bente hätte ihn auf jeden Fall geheiratet, fühlte sich in gewisser Weise jedoch hintergangen, da sie eigentlich von einer großen Kinderschar geträumt hatte. Noch immer spürte sie die Sehnsucht danach, schwanger zu sein und ein Leben in sich wachsen zu fühlen. Etwas fehlte ganz einfach, und das blieb auch so, nachdem sie Tone adoptiert hatten.
Manchmal dachte sie, dass es noch nicht zu spät sei. Aber dann müsste sie ihn verlassen. Doch es war nun einmal Dag, der die Reederei leitete. Sie selbst hatte keine Ahnung von solchen Dingen. Wenn er nicht wäre, würde alles zusammenbrechen. Eine Ausbildung hatte sie auch nicht, obwohl sie in all den Jahren ihrer Ehe Lust verspürt hatte, einer Arbeit nachzugehen. Vielleicht im Reedereibüro oder in einem Kindergarten oder in einem Laden. Dag fand allerdings, das sei alles Unsinn.
Vor ein paar Tagen, als Dag wieder einmal wegen einer Nichtigkeit in die Luft gegangen war, hatte sie es – zu ihrer eigenen Überraschung – gewagt, ihn daran zu erinnern, dass sie die Hauptaktionärin der Reederei sei. Ohne sie wäre er nämlich niemals dahin gekommen, wo er jetzt war. Sein Blick hatte sich daraufhin auf eine Art und Weise verdüstert, dass sie schon glaubte, er werde sie ohrfeigen. Doch er hatte sich besonnen und zwischen zusammengebissenen Zähnen gemurmelt, dass er es sei, der dafür Sorge trage, dass die Reederei nach dem Tod des Vaters überhaupt noch existierte. Das solle sie bloß nicht vergessen. Niemand werde ihm wegnehmen, was er geschaffen habe. Niemand.
Schon vor langer Zeit hatte sie es begriffen: Er hatte sie aus purem Egoismus geheiratet.
Allerdings fand sie auch, dass er sich in letzter Zeit verändert hatte. Er wirkte bekümmert und regte sich schneller auf, als er es ohnehin schon tat. Vielleicht dachte auch er, dass sie so nicht weitermachen könnten.
Wenn es doch bloß so einfach wäre.
Bente zog die Bettdecke enger um sich und dachte plötzlich wieder an die tote Sissel. Bentes Angst vermischte sich mit Leere. Es war, als hätte sie einen Raum in ihrem Innern, der absolut nichts enthielt, als hätte sie keinerlei Bedeutung. Für niemanden. Tone hielt sich mehr oder weniger in ihrem Zimmer oder im ausgebauten Keller auf. Dag war kaum zu Hause, und wenn er es war, kümmerte er sich nie darum, wie es ihr eigentlich ging. Schon vor langer Zeit hatten sie aufgehört, Gedanken oder Gefühle miteinander zu teilen.
Dag hatte sich so schrecklich über die arme Sissel geärgert.
Die Leere in Bente breitete sich immer weiter aus und war kaum mehr zu ertragen.
3. November 1990
»Was gibt’s denn zu essen?«
Der Vater setzte sich an den fertig gedeckten Tisch.
»Fischfrikadellen«, erwiderte die Mutter, ohne ihn anzusehen.
Sie stand am Herd. Die Kinder setzten sich wortlos hin, warfen nur ängstliche Blicke auf ihren Vater.
»Fischfrikadellen?«, fragte er gereizt. »Schon wieder? Die gab’s doch erst vor ein paar Tagen.«
»Es ist eine Woche her, am letzten Montag«, sagte sie und stellte die Kartoffeln auf den Tisch.
»Der Topf gehört nicht auf den Tisch«, sagte er.
Sie beeilte sich, den Topf wieder wegzunehmen, und füllte die Kartoffeln in eine Schüssel um. Dann legte sie Fischfrikadellen, gebratene Zwiebeln und Möhren auf einen Teller und setzte sich.
Der Junge streckte die Hand aus, um sich zu bedienen. Seit zwei Stunden warteten sie darauf, dass der Vater nach Hause kam, der Junge war hungrig, vergaß sich.
Der Vater versetzte ihm einen harten Schlag auf die Hand, und der Junge zog sie zurück, legte beide Hände in den Schoß und senkte den Blick. Sein Mund zitterte.
»Was flennste denn?«, sagte der Vater barsch. »Du musst wirklich bald lernen, dass man sich erst bedienen darf, wenn ich es sage.«
Sie konnten seinen mit Alkoholdunst vermischten Atem spüren. Jetzt würde es wieder passieren, das wussten sie.
»Du weißt doch, dass ich keine Fischfrikadellen mag«, sagte er. »Warum kannst du nichts kochen, was mir schmeckt?«
Sie sah ihn nicht an und flüsterte: »Entschuldigung.«
»Entschuldigung? Ist das alles, was du zu sagen hast?«
Die Mutter blieb stumm.
»Wie?«, bohrte er nach. »Hörst du nicht, dass ich mit dir rede?«
»Ich …«, begann sie, verstummte aber dann.
»Ich höre nicht, was du sagst.«
Die Mutter warf einen schnellen Blick auf das ältere der Kinder und machte eine fast unmerkliche Bewegung mit dem Kopf. Das Mädchen stand vorsichtig auf und schlich vom Tisch weg, als glaubte sie, verschwinden zu können, ohne dass der Vater es bemerkte.
»Wo willst du hin?«, blaffte er.
»Hausaufgaben machen«, flüsterte sie.
»Lass sie gehen«, warf die Mutter mit flehender Stimme ein. »Bitte.«
Der Vater stand auf und stellte sich hinter den Stuhl der Mutter. Die Kinder sahen, wie sie zusammenzuckte.
Das Mädchen nahm die Hand des Bruders und zog ihn mit sich. Der erste Schlag kam, noch ehe sie die Tür erreichten. »Nicht hinsehen«, sagte sie, als der Bruder über die Schulter blickte.
Dann schob sie ihn vor sich her aus dem Raum.
Sie gingen zum Laden und blieben dort, ließen sich viel Zeit, denn draußen war es kalt. Aber sie konnten nicht für immer dort bleiben, also liefen sie zu ihrem Versteck im Wald.
Die Bäume hatten die Blätter verloren. Es musste um null Grad sein, kurz bevor der Schnee einsetzte. Sie krochen unter die Wurzel des umgestürzten Baumes. Dort hatten sie große Äste aufgestellt und ein Dach aus Tannengrün gebaut. Auf dem Dachboden hatten sie eine alte Schaumgummimatratze gefunden und sie zusammen mit ein paar Decken mitgenommen, die sie zum Schutz vor der Nässe in einer Plastiktüte aufbewahrten.
Sie setzten sich dicht nebeneinander. Der Junge weinte, das Mädchen zog ihn an sich, hielt ihn in den Armen, strich über sein Haar, flüsterte tröstende Worte, solche, die die Mutter benutzte.
»Schsch, alles wird gut. Wir kommen klar, wir haben ja uns«, sagte sie und versprach, immer auf ihn aufzupassen.
Sie muss ein starkes Mädchen gewesen sein, denn obwohl sie erst acht war, weinte sie nicht.
Sie hockte da und nahm die Gerüche des Waldes in sich auf, dachte, dass sie den Wald liebte, besonders abends, wenn die Dunkelheit kam und ihn in eine große Umarmung verwandelte, in der sie sich verbergen konnten.
Als sie zurückkamen, lag der Vater im Schlafzimmer, sie konnten ihn schnarchen hören. Die Mutter saß am Küchentisch. Sie hatte sich umgezogen, ihre Haare waren feucht. Die aufgeschlagene Bibel lag vor ihr auf dem Tisch.
»Da seid ihr ja, kommt, dann essen wir«, sagte sie, stand auf, umarmte die Kinder und küsste sie auf die Wangen. »Alles ist gut«, flüsterte sie. »Alles ist gut.«