e in seno accolti

il mar ci avrà

pria che risorga il giorno.

 

Der Fluss wird uns

mit sich tragen

und ins Meer befördern,

noch ehe der Tag beginnt.

 

Georg Friedrich Händel, Ottone

Nach einer sehr zuvorkommenden Begrüßung zog sich die Befragung an diesem Morgen nun schon eine ganze Weile in die Länge, und Brunetti empfand das allmählich als quälend. Er hatte sein Gegenüber, einen zweiundvierzigjährigen Anwalt, Sohn eines der reichsten und somit einflussreichsten Notare Venedigs, gebeten, wegen einer ihn belastenden Zeugenaussage in der Questura vorbeizukommen. Es hieß, der Anwalt habe vorletzte Nacht einer jungen Frau auf einer Party Tabletten verabreicht, die jene mit einem Glas Orangensaft aus seiner Hand heruntergespült hatte. Wenig später war die junge Frau zusammengebrochen und schwebte, als sie in die Notaufnahme des Ospedale Civile eingeliefert wurde, in Lebensgefahr.

Punkt zehn war Antonio Ruggieri eingetroffen und hatte als Beweis seines Vertrauens in die Polizei nicht einmal einen eigenen Anwalt mitgebracht. Auch über die Hitze in dem einfenstrigen Raum hatte er sich nicht beschwert, nur kurz nach dem Ventilator in der Ecke geschielt, der – vergeblich – sein Bestes tat, um der drückenden Schwüle des heißesten Juli seit Menschengedenken entgegenzuwirken.

Brunetti hatte sich entschuldigt, dass der Raum nicht besser belüf‌tet sei: Aufgrund der Hitzewelle habe man, um zu sparen, zwischen Computer und Klimaanlage wählen müssen. Ruggieri hatte Verständnis bekundet und nur darum gebeten, sein Jackett ablegen zu dürfen.

Angesichts der Bewunderung, die der linkische Commissario für das Haus Ruggieri und dessen stadtbekannte Klienten und Freunde bekundete, begegnete der Anwalt seinem älteren Gegenüber schon bald mit jovialer Herablassung.

Den uniformierten Polizisten neben Brunetti beachtete er gar nicht groß, er hatte lediglich im Visier, ob der junge Mann sich in Anwesenheit von Respektspersonen auch ja zu benehmen wusste.

Als dieser nicht die nötige Ehrerbietung an den Tag legte, wandte sich Ruggieri in der Folge nur noch an Brunetti. »Wie gesagt, Commissario, es war die Geburtstagsparty eines Freundes: Wir kennen uns seit der Schulzeit.«

»Dann waren Ihnen die meisten der Anwesenden also bekannt?«, fragte Brunetti.

»So gut wie alle: Wir sind von klein auf befreundet.«

»Und die junge Frau?«, fragte Brunetti leicht verwirrt.

»Die muss einer der geladenen Gäste mitgebracht haben. Sonst wäre sie gar nicht reingekommen.« Um Brunetti zu beweisen, wie gut er und seine Freunde ihre Privatsphäre zu schützen wussten, fügte er hinzu: »Einer von uns behält immer die Tür im Auge. Man weiß ja nie.«

»Wohl wahr«, sagte Brunetti mit zustimmendem Nicken, und als er Ruggieris Blick bemerkte: »Vorsicht ist besser als Nachsicht.« Er schob das Mikrophon auf dem Tisch ein wenig näher an Ruggieri heran. »Haben Sie

Ruggieri antwortete nicht sofort. »Nein. Ich habe sie mit niemandem reden sehen, den ich kenne.«

»Wie sind Sie dann mit ihr ins Gespräch gekommen?«, fragte Brunetti.

»Ach, Sie wissen doch, wie das ist«, erklärte Ruggieri. »Es waren viele Leute dort, man tanzte oder plauderte miteinander. Als ich einen Moment lang alleine dastand und den Tanzenden zusah, tauchte sie plötzlich neben mir auf und sprach mich an.«

»Dann waren Sie einander bereits vorher begegnet?«, fragte Brunetti.

»Keineswegs«, versicherte Ruggieri. »Und trotzdem hat sie sich einfach das Du herausgenommen.«

Brunetti schüttelte missbilligend den Kopf. »Worüber haben Sie denn gesprochen?«

»Sie sagte, sie sei neu hier und wisse nicht, wo es etwas zu trinken gibt.«

Als Brunetti nichts darauf erwiderte, fuhr Ruggieri fort: »Also musste ich sie fragen, ob ich ihr etwas bringen dürfe. Was bleibt einem Gentleman anderes übrig?«

Da Brunetti weiterhin schwieg, erklärte Ruggieri hastig: »Es schien mir unhöf‌lich nachzuhaken, warum sie niemanden auf der Party kenne. Aber selbstverständlich fragte ich mich das.«

»Versteht sich«, pflichtete Brunetti ihm bei, als ergehe ihm das häufig so. Er tat interessiert und wartete.

»Sie wollte einen Wodka mit Orangensaft, und ich fragte, ob sie dafür schon alt genug sei.«

»Sie sei achtzehn, und wenn ich ihr nicht glaube, würde sie schon jemand anderen finden.«

Brunetti spitzte missbilligend die Lippen, wie es Anna, seine Großtante mütterlicherseits, oft getan hatte. Neben ihm rutschte Pucetti auf seinem Stuhl herum.

»Keine sehr höf‌liche Antwort.« Brunetti tat pikiert.

Ruggieri fuhr sich durch den dunklen Haarschopf und zuckte resigniert die Achseln. »Die Jugend von heute, was will man machen. Alt genug, wählen zu gehen und Alkohol zu trinken, aber keine Ahnung von gutem Benehmen.«

Brunetti fiel auf, dass Ruggieri erneut auf das Alter der jungen Frau zurückkam.

»Avvocato«, begann er zögernd, »der Grund, warum ich Sie hergebeten habe, ist, dass jemand behauptet hat, Sie hätten dem Mädchen Tabletten verabreicht.«

»Wie bitte?« Ruggieri tat verwirrt. Dann versuchte er Brunetti auf seine Seite zu ziehen, indem er das Ganze mit einem Lächeln abtat: »Man sagt mir so mancherlei nach.«

Brunetti quittierte diese Bemerkung mit einem nervösen Lächeln, bevor er fortfuhr: »Das Mädchen – Sie haben es sicher in der Zeitung gelesen – wurde ins Krankenhaus gebracht. Als die Carabinieri Erkundigungen einzogen, hieß es, Sie seien mit dem Mädchen im grünen Kleid gesehen worden.«

»Wer hat das behauptet?«, fragte Ruggieri in scharfem Ton.

Brunetti hob wie zum Zeichen seiner Hilf‌losigkeit beide Hände. »Das darf ich Ihnen leider nicht sagen, Avvocato.«

»Der Zeitpunkt dafür wird sicherlich noch kommen, Signore«, meinte Brunetti vielsagend.

Ruggieri ging nicht darauf ein. »Was wurde sonst noch behauptet?«

Brunetti schlug umständlich die Beine übereinander. »Auch hierüber kann ich Ihnen keine nähere Auskunft geben, Signore.«

Ruggieri tastete mit dem Blick die Wand ab, als verstecke sich dahinter ein unsichtbarer Feind. »Ich hoffe, man hat Ihnen auch über die junge Frau berichtet.«

»Was denn?«

»Wie sie mich bedrängt hat!«, entfuhr es Ruggieri – die erste spontane Reaktion, seit er den Raum betreten hatte.

»Nun, tatsächlich hat jemand das Verhalten der jungen Dame als, hm, plump-vertraulich beschrieben«, antwortete Brunetti widerstrebend.

»Das ist noch sehr freundlich ausgedrückt«, erklärte Ruggieri und richtete sich kerzengerade in seinem Stuhl auf. »Sie hat sich an mich gelehnt, nachdem ich ihr etwas zu trinken geholt hatte. Dann hat sie mit ihrem Bein gegen mein Bein im Takt der Musik gewippt. Und dann hat sie sich auch noch das eiskalte Glas zwischen ihre Brüste gedrückt, die ihr fast aus dem Kleid hingen.« Ruggieri schien entrüstet über die Schamlosigkeit der Jugend.

»Verstehe, verstehe«, sagte Brunetti und registrierte zugleich, dass Pucetti neben ihm kaum noch zu halten war. Dabei hatte der junge Polizist erst kürzlich einen Jugendlichen verhört, der unter dem Verdacht stand, seine

»Was hat sie zu Ihnen gesagt, Signore?«

Ruggieri überlegte, setzte zum Sprechen an, stockte und erklärte schließlich: »Dass sie scharf auf mich ist.« Er ließ das auf die Polizisten wirken und fuhr fort: »Dann hat sie gefragt, ob wir nicht irgendwo hingehen könnten, nur wir zwei.«

»Du liebe Zeit«, rief Brunetti. »Was haben Sie erwidert?«

»Ich war nicht interessiert. Das habe ich geantwortet. Ich mag es nicht, wenn eine so leicht zu haben ist.« Brunetti nickte, und der Anwalt ergänzte: »Und egal, was die Leute Ihnen erzählt haben, von irgendwelchen Tabletten weiß ich nichts.«

»Das Mädchen, mit dem Sie gesprochen haben, trug doch ein grünes Kleid?«, fragte Brunetti.

Der Anwalt setzte ein jungenhaftes Lächeln auf. »Mag sein. Ich war ganz mit ihren Titten beschäf‌tigt, nicht mit dem Kleid.«

Pucetti schnappte hörbar nach Luft. Um dies zu überspielen, schlug Brunetti die Hand vor den Mund, auch wenn er einen beifälligen Lacher nicht unterdrückte.

Von Brunettis Reaktion ermutigt, setzte Ruggieri mit breitem Grinsen hinzu: »Ich hätte sie ohne weiteres flachlegen können, aber es war einfach nicht der Mühe wert. Hübsche Titten, aber ansonsten eine dumme Kuh.«

Eine Stunde vor der Befragung hatten Brunetti und Pucetti erfahren, dass die junge Frau in den frühen Morgenstunden verstorben war. Die of‌fizielle Todesursache war ein Asthmaanfall, doch das Ecstasy in ihrem Blut tat

Schon riss Brunetti, der dies um jeden Preis verhindern wollte, ohne nachzudenken seinen linken Arm hoch und stöhnte leise auf. Das Stöhnen schwoll zu einem schrillen Wimmern an, als habe er furchtbare Schmerzen. Brunetti stemmte sich mühsam hoch, rang qualvoll keuchend nach Luft.

Die anderen beiden fuhren erschrocken zusammen und starrten ihn an. Brunettis ganzer Körper wurde von einem Schmerz erfasst, der ihn zur Seite taumeln ließ. Den Arm hoch erhoben, kippte er nach links und fiel auf Pucettis Schulter, der von seinem Stuhl aufgesprungen war.

Wie um Hilfe suchend packte Brunetti den jungen Kollegen am Kragen und riss ihn zu sich heran. Pucetti stützte sich unwillkürlich mit der linken Hand auf dem Tisch ab und drückte den Arm durch, um Brunettis Gewicht aufzufangen. Mit dem rechten Arm hielt er den Commissario fest und ließ ihn dann, die eigene Panik niederkämpfend, langsam zu Boden gleiten.

»Holen Sie Hilfe«, herrschte er Ruggieri an. Tief über Brunetti gebeugt, um nach dessen Puls zu fühlen, sah Pucetti nur die Beine des Anwalts unter dem Tisch: Sie rührten sich nicht.

»Aber dem fehlt doch …«, fing Ruggieri an, Pucetti schnitt ihm das Wort ab: »Holen Sie Hilfe!« Die Beine bewegten sich; die Tür schwang auf und zu.

Pucetti beugte sich über seinen Vorgesetzten, der mit

Brunetti schlug die Augen auf und sah Pucetti ins Gesicht.

»Alles in Ordnung, Commissario?«, fragte Pucetti besorgt.

Mit völlig normaler Stimme, als erteile er eine dienstliche Anweisung, fragte Brunetti: »Ist Ihnen klar, was aus Ihrer Karriere geworden wäre, wenn Sie ihm an die Gurgel gesprungen wären?«

Pucetti wich zurück. »Wie meinen Sie das?«, fragte er.

»Sie waren kurz davor, sich auf ihn zu stürzen!« Brunetti versuchte gar nicht erst, seinen Tadel zu dämpfen.

Pucetti, sprachlos, ließ seinen vollkommen entspannten Vorgesetzten nicht aus den Augen. Er versuchte etwas zu sagen, fand aber erst nach einiger Zeit die Sprache wieder. »Die junge Frau ist tot, und er spricht so von ihr«, brach es aus ihm heraus. »Unmöglich! Unanständig! Man sollte ihm eine aufs Maul hauen.«

»Aber nicht Sie, Pucetti«, erwiderte Brunetti scharf und stützte sich auf einen Ellbogen. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, dem Mann Manieren beizubringen. Sie haben ihn mit Respekt zu behandeln, denn erstens ist er ein Bürger dieser Stadt, und zweitens wird er bis jetzt keines Verbrechens beschuldigt.« Brunetti überlegte kurz. »Und selbst wenn er eines Verbrechens beschuldigt würde.« Pucetti sah ihn mit versteinerter Miene an. Ob vor Verärgerung oder vor Verlegenheit, konnte Brunetti nicht erkennen, und es war ihm auch egal. »Haben Sie das verstanden, Pucetti?«

»Sì, Signore«, sagte der Jüngere und richtete sich auf.

»Nicht so hastig«, rief Brunetti ihn zurück, als draußen sich Stimmen näherten, und erklärte dem sichtlich verwirrten Pucetti: »Haben Sie nicht gehört, wie er gemeint hat, mir würde nichts fehlen?«

»Nein, Signore«, antwortete Pucetti.

»Genau das wollte er sagen, bevor Sie ihm ins Wort

Bleich und verunsichert folgte Pucetti den Anweisungen und kniete neben Brunetti nieder, der sich wieder auf den Rücken sinken ließ und die Augen schloss. Pucetti legte ihm eine Hand auf die Brust, die andere darüber, und begann zu drücken, wobei er leise die Sekunden zählte.

»Er ist da drin«, sagte Ruggieri auf dem Korridor.

Brunetti linste unter kaum gehobenen Lidern hervor und sah zwei uniformierte Beinpaare zur Tür hereinkommen, gefolgt von Ruggieris dunkelgrauen Hosenbeinen. »Was geht hier vor?«, wollte Tenente Scarpa wissen.

Nach wie vor rhythmisch drückend, hörte Pucetti zu zählen auf und antwortete: »Ich glaube, es ist sein Herz, Tenente.« Dann zählte er weiter.

»Die Sanitäter sind unterwegs«, erklärte Scarpa. Brunetti sah die beiden anderen uniformierten Beine kehrtmachen, während Scarpa befahl: »Gehen Sie runter, um sie in Empfang zu nehmen. Bringen Sie sie her.« Die Beine verließen den Raum.

»Was ist passiert?«, fragte Scarpa.

»Ich dachte, er wolle sich auf mich stürzen«, erklärte Ruggieri, »aber dann stand er auf und fiel auf ihn.« Brunetti hielt es für unwahrscheinlich, dass der Tenente aus diesem Wirrwarr von Pronomen schlau werden konnte, also schloss er die Augen und begann im Rhythmus von Pucettis Massage leise zu keuchen.

Brunetti hörte Schritte um den Tisch herum auf sich

»Das weiß ich nicht, Tenente. Aber vielleicht Vianello.«

Nach langem Schweigen fragte Scarpa: »Soll ich übernehmen?« Froh, dass er nichts sehen konnte, keuchte Brunetti weiter.

»Nein danke, Signore. Ich hab jetzt den Rhythmus raus.«

»Na schön.«

Von Ferne drang das Sirenengeheul der Ambulanz in Brunettis Bewusstsein. Großer Gott, was hatte er getan? Er hatte doch nur kurz für Ablenkung sorgen wollen, um zu verhindern, dass Pucetti sich auf den Mann stürzte, aber dann war alles außer Kontrolle geraten, und jetzt lag er am Boden, Pucetti rackerte sich an ihm ab, und ausgerechnet Tenente Scarpa wollte ihm dabei helfen.

Ob sie Vianello holen würden? Oder Paola anrufen? Paola hatte noch geschlafen, als er am Morgen gegangen war, sie hatten an diesem Tag noch nicht miteinander gesprochen.

Ohne an die Konsequenzen seines Verhaltens zu denken, hatte er, um Pucetti vor einer Dummheit zu bewahren, das Erstbeste getan, was ihm einfiel. Er hätte das sofort abbrechen sollen und behaupten können, er habe die Nacht nicht geschlafen, oder zu lange geschlafen, oder zu viel oder zu wenig gegessen. Kein Kaffee, zu viel Kaffee. Stattdessen hatte er dieses Schauspiel mit Pucetti aufgeführt. Und jetzt gab es kein Zurück mehr, die Sanitäter stürmten herein.

Schritte, Lärm, Pucetti weg, andere Hände, Maske über Mund und Nase gestülpt, Hände unter seinen Knöcheln

Rasch schob man ihn an der Rezeption vorbei, und dann wurde er im Flur an der Wand geparkt. Nach einiger Zeit vernahm er Schritte. Jemand schob ihm ein Kissen unter den Kopf, ein anderer legte ihm etwas ums Handgelenk, ein Laken wurde über seine Beine gelegt und bis zum Bauch hochgezogen, dann entfernten sich die Schritte.

Minutenlang lag Brunetti reglos da, die Augen fest geschlossen, bis ihm klar wurde, er musste einen Weg finden, um dieser Sache ein Ende zu machen. Er konnte nicht einfach wie Lazarus das Laken zurückschlagen, sich von der Bahre erheben und sagen, er müsse wieder an die Arbeit. Also blieb er liegen und wartete. Er war schon fast eingenickt, da geriet die Szene in Bewegung. Er machte die Augen auf und fand sich in einem kleinen Untersuchungszimmer wieder. Eine Schwester in weißer Schürze entriegelte gerade die Seitengitter seines Rollbetts. Doch bevor er sie etwas fragen konnte, war sie schon wieder verschwunden.

Kurz darauf betrat eine Frau in weißem Kittel das Zimmer und kam schweigend auf ihn zu. Ihre Blicke trafen sich, sie nickte. In einer Hand hielt sie eine Plastikmappe, mit der anderen fasste sie Brunettis Unterarm und fühlte nach dem Puls. Sie sah auf die Uhr, notierte etwas und zog

»Können Sie mich hören?«, fragte die Frau.

Brunetti hielt es für klüger, nur mit einem Nicken zu antworten.

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte dieselbe Stimme.

Er sah zu der Frau hoch, bemerkte ihr Namensschildchen, konnte es aber aus diesem Blickwinkel nicht lesen.

»Es geht«, flüsterte er.

Sie war etwa in seinem Alter, hatte dunkle Haare, fahle Haut und einen müden, aber wachsamen Blick.

»Wo?«

»Im Arm«, sagte er, sich daran erinnernd, dass Schmerzen im Arm auf einen Herzinfarkt hindeuteten.

Die Frau notierte etwas. Dann wandte sie sich ab und schob die Akte in eine am Kopfgitter des Betts befestigte Halterung.

»Können Sie mir sagen, was passiert ist, Dottoressa?«, fragte er in der Annahme, dass jemand, der vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht worden war, so etwas wissen wollte.

Als sie sich ihm erneut zuwandte, konnte er ihren Namen entziffern: Dottoressa Sanmartini. Ihre Miene war so ausdruckslos, dass Brunetti sich fragte, ob sie überhaupt wisse, dass sie mit einem Menschen rede. »Ihre Vitalparameter« – sie wies auf die Akte an seinem Bett – »lassen verschiedene Interpretationen zu.« Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Dann sah sie prüfend auf ihn hinunter. »Was machen Sie beruf‌lich?«

»Ich bin Commissario bei der Polizei.«

»Ich glaube, es geht mir schon besser«, sagte Brunetti nervös, um endlich Schluss mit diesem Theater zu machen. Er wollte nur noch weg.

»Wir müssen noch einige Tests durchführen«, unterbrach sie ihn. Vielleicht als Antwort auf seine entsetzte Miene fügte sie hinzu: »Keine Sorge, Signor …« Sie sah auf die Akte. »… Brunetti. Nur ein paar Kleinigkeiten, um festzustellen, was mit Ihnen los ist.«

»Ich glaube, da ist nichts«, sagte er ruhig und hoff‌te, die Festigkeit seiner Stimme werde sie überzeugen.

»Das zu entscheiden, sollten Sie vielleicht lieber uns überlassen, Signore«, erklärte sie freundlich bestimmt und machte Brunetti damit unmissverständlich klar, dass er für seine Unbesonnenheit würde bezahlen müssen.

Brunetti schloss resigniert die Augen. Er hatte dies hier losgetreten, jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als bis zum Ende durchzuhalten.

Plötzlich energisch und konzentriert, fuhr die Ärztin fort: »Als Erstes nehmen wir Blut ab, dann folgen ein paar weitere Tests. Nur um einige Möglichkeiten auszuschließen.«

Brunetti hätte gern gefragt, was sie ausschließen wollte, doch es war weiser, sich in sein Schicksal zu fügen. »Gut«, sagte er nur.

Schritte näherten sich, aber er widerstand dem Impuls, sich danach umzudrehen. Eine Männerstimme sagte: »Elena hat mich hergeschickt, Dottoressa.«

Neben Brunetti erschien ein weißbärtiger Hüne mit

Brunetti schloss die Augen. Er spürte den Griff des Mannes um sein Handgelenk, dann die leise Berührung der kalten Nadel an der Arminnenseite, dann gar nichts mehr, während er wartete, dass etwas geschah. Ein leichtes Druckgefühl, ab und zu ein Klirren, aber er behielt die Augen zu und wartete.

Ein Ratschen an seinem Arm ließ ihn aufschrecken, und er sah noch, wie der Mann die Manschette abnahm. Drei Glasröhrchen voll Blut standen aufrecht in einem Plastikständer auf dem Tablett.

Die Ärztin legte einen Zettel dazu. »Alles, was hier steht, Teo. Die Enzyme bitte als Erstes.«

»Selbstverständlich, Dottoressa.« Er nahm das Tablett und ging davon. Brunetti hörte, wie die Schritte sich über den Korridor entfernten. Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?

»Ich möchte meine Frau anrufen«, sagte er.

»Tut mir leid, aber telefonini funktionieren in den Untersuchungszimmern nicht. Kein Empfang«, erklärte Dottoressa Sanmartini.

Brunetti griff mit der wieder freien Hand nach dem Laken und schob es nach unten. »Immer mit der Ruhe,

Die Ärztin trat zurück, und die Schwester schob ihn aus dem Zimmer und durch die große Vorhalle direkt weiter in die kardiologische Notaufnahme. Aber einmal dort angekommen, ging alles wieder langsamer. Termine hatten sich aufgestaut, und Brunetti musste warten, bis drei andere Patienten durchgecheckt waren.

Paola hatte von alldem keinen blassen Schimmer. Er sah auf die Uhr: kurz nach Mittag. Noch eine Stunde, ehe sie anfangen würde, sich Sorgen zu machen.

Endlich machte ein Arzt das EKG, danach wurde Brunetti in einen anderen Raum geschoben, wo derselbe Mann ihm für einen Ultraschall kaltes Gel auf die Brust schmierte. Der Arzt sagte, Brunetti könne mit ihm auf den Monitor schauen, aber das ließ der Commissario lieber.

Der Arzt fuhrwerkte schier endlos in dem Gel auf Brunettis Brust herum. Immer wieder hantierte er an einem Computerbildschirm, machte Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln, alles ohne ein Wort. Schließlich riss er einen langen Streifen Papierhandtücher von einer riesigen Rolle und gab sie Brunetti. Nachdem dieser sich abgewischt und die Handtücher in einem großen Plastikeimer neben dem Bett entsorgt hatte, war er immer noch so schlau wie zuvor.

»Hm«, antwortete der Arzt auf Brunettis Frage, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei.

Der Arzt konnte seine Überraschung nicht verbergen: »Nach Hause?«

»Ja.«

»Das kann ich nicht entscheiden, Signore. Ich bin für Sie nicht zuständig.« Nach einem Blick auf den Monitor fügte er hinzu: »Ich hielte es für klüger, wenn Sie noch ein wenig bleiben würden.«

Bevor Brunetti darauf antworten konnte, wurde es vor der Tür des kleinen Zimmers unruhig. Eine Frauenstimme schimpf‌te laut, eine andere noch lauter. Die Tür flog auf, und Paola stürzte herein.

Brunetti stützte sich auf einen Ellbogen und streckte ihr den anderen Arm entgegen. »Paola, ganz ruhig. Alles in Ordnung«, versuchte er ihre Befürchtungen zu ersticken.

Sie eilte an sein Bett, und Brunetti warf dem Arzt einen hilfesuchenden Blick zu.

Paola beugte sich über Brunetti, und als er sie fragend ansah, zischte sie mit kaum verhohlener Wut: »Was hast du nun wieder angestellt?«

Der Arzt, sichtlich schockiert von diesen Worten und erst recht von dem Ton, in dem sie ausgestoßen wurden, fragte Paola: »Wer sind Sie, Signora?«

»Ich bin seine Frau, Dottore«, sagte sie, um einen ruhigen Ton bemüht. »Und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich für ein paar Minuten mit meinem Mann allein lassen könnten.«

Brunetti war auf die Reaktion des Arztes gespannt. Der legte den Kopf nach hinten, als könne er seine beiden Gegenüber so besser ins Auge fassen, und bewegte das Kinn hin und her und auf und ab, fast so wie ein Vogel, der die Lage sondiert. Dann schaltete er das Gerät aus, worauf es im Zimmer ein wenig dunkler wurde. Er ging, ohne ein Wort zu sagen, und schloss sehr leise die Tür hinter sich.

»So was habe ich noch nie erlebt«, bemerkte Brunetti.

»Was denn?«, fragte seine Frau zerstreut.

»Dass jemand einen Arzt aus dessen eigenem Untersuchungszimmer vertreibt.«

Paola atmete tief durch. Wie würde sich ihr Zorn äußern? Er hätte darauf bestehen sollen, sie anzurufen, hätte aufstehen und irgendwo ein funktionierendes Telefon auf‌treiben oder borgen sollen, hätte sich mit Hilfe seines Dienstausweises eins von der Empfangsschwester beschaffen sollen. Das alles hatte er nicht getan, sondern sich ganz jener Passivität hingegeben, die ein Krankenhaus den Patienten aufoktroyiert.

»Wer hat dich benachrichtigt?«, fragte er schließlich.

Paola fuhr sich mit der rechten Hand an die Stirn, den Ellbogen hielt sie in die Linke gestützt. Brunetti rief ihren Namen, doch sie wandte sich ab von ihm. »Paola. Erzähl’s mir«, sagte er so ruhig wie möglich.

Er schob das Laken weg und setzte sich auf die Bettkante, doch von der plötzlichen Bewegung wurde ihm schwindlig. Beide Hände an die Matratze geklammert, stützte er sich erst einmal ab. Er holte zweimal tief Luft und stellte die Füße auf den Boden; dann stand er auf.

Paola musste ihn gehört haben, denn sie ließ die Hände sinken und sah ihn an. »Pucetti war in der Uni. Er ist bei mir in der Vorlesung aufgetaucht. In Uniform. Mit einem furchtbaren Gesichtsausdruck.«

Ah, der treue, pflichtbewusste Pucetti, der alles wiedergutzumachen versuchte, indem er der Frau seines Vorgesetzten berichten wollte, was sich tatsächlich zugetragen hatte. Brunetti konnte sich die Szene vorstellen: der leichenblasse Polizist, wie er mit Schmerzensmiene in der Tür erschien.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Ich dachte, du bist tot, Guido«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Ich dachte, deswegen sei er gekommen – um mir zu sagen, dass du getötet wurdest. Von irgendwelchen Bankräubern oder durchgedrehten Geiselnehmern. Als ich ihn sah, wusste ich, du bist tot.« Sie sprach so heiser, als hätte sie stundenlang laut geschrien.

»Und was dann?«, fragte er, nach wie vor wachsam.

»Und dann hat er lächelnd den Daumen gehoben, zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Ich verstand immer noch nichts, aber er wollte mir bedeuten, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen.« Paola atmete ein paarmal tief durch.

Brunetti wartete.

»Meine Studenten wurden unruhig. Einige hatten sich nach Pucetti umgedreht, andere fingen zu reden an.« Sie hob die Rechte in einer Geste, die alles Mögliche bedeuten konnte. »Ich habe ihnen gesagt, sie können gehen.«

Brunetti nickte. Es klang vernünf‌tig, den Studenten freizugeben, statt so zu tun, als könne sie sich jetzt noch konzentrieren.

»Man könnte meinen, sie hätten noch nie einen Polizisten gesehen«, sagte Paola mit fast wieder normaler Stimme.

Brunetti blickte zu Boden und stellte fest, dass er keine Schuhe anhatte. Wo waren die hin? Er wollte sie unbedingt wieder an den Füßen haben, mit seiner Frau scherzen, im Büro hocken und sich langweilen.

»Als sie gegangen waren, kam Pucetti zu mir nach vorn. Er versicherte mir, alles sei nur gespielt, um ihn zu schützen. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, und ich verstehe es ehrlich gesagt immer noch nicht.«

»Erzählst du mir jetzt bitte, was du angestellt hast?«, meinte sie schließlich – dieselbe Frage wie bei ihrem dramatischen Auf‌tritt, aber wie anders klang sie jetzt!

»Ich habe zusammen mit Pucetti einen Verdächtigen vernommen. Plötzlich verlor Pucetti die Beherrschung. Ich dachte, gleich geht er dem Mann an die Gurgel. Also sprang ich auf, um Pucetti daran zu hindern und etwas Verwirrung zu stif‌ten – das kam ganz spontan –, und wenige Minuten später liege ich am Boden, Pucetti verpasst mir eine Herzdruckmassage, und Scarpa schaut ihm dabei zu.«

»Meinst du, Scarpa hat die Geschichte durchschaut?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, sagte Brunetti. »Da ich am Boden lag und Pucetti auf meinem Brustkorb herumdrückte, habe ich kaum etwas von dem gesehen, was sich im Zimmer abspielte.« Er rief sich die Szene ins Gedächtnis und meinte: »Scarpa schien besorgt, aber worüber, kann ich nicht sagen.« Kaum vorstellbar, dass der Tenente sich seinetwegen Sorgen gemacht haben könnte. Vielleicht wusste Pucetti Genaueres: Schließlich hatte er Scarpas Gesicht gesehen und mit ihm gesprochen.

»Als Nächstes wird dir Patta Blumen schicken.«

»Das würde ich mir gefallen lassen«, sagte Brunetti.

»Was?«, fragte sie.

»Ich glaube, ich bleibe dabei.«

»Wobei?«, fragte sie verwirrt.

»Oder auch nicht«, korrigierte Paola.

Brunetti lächelte. Alles war in Ordnung: Seine Frau machte wieder Scherze.

»Ich kann nicht mehr ertragen, was ich Tag für Tag zu tun habe«, kam es aus Brunetti zu seiner eigenen Überraschung heraus. »Ich führe dieses Theater auf, lande im Krankenhaus und muss mich von Ärzten betasten und stechen lassen, nur um einen Kollegen zu schützen, den die Umstände, unter denen wir arbeiten, fast zu einer Dummheit hingerissen hätten.« Er hatte so etwas noch nie laut ausgesprochen und es auch noch nie so betrachtet.

Brunetti trat einen Schritt zurück und lehnte sich an die Matratze, froh, sich abstützen zu können. Auch wenn er sein Verhalten dem einzigen Menschen erklärte, dem er vorbehaltlos vertraute, wollte er nicht weiter ins Detail gehen. Er hatte die ganze Geschichte satt.

»Hört sich an, als ob du am liebsten weglaufen möchtest«, sagte sie; es sollte wie ein Scherz klingen.

Brunetti nickte.

Sie musterte ihn genau wie vorhin der Arzt, legte sogar genau wie jener den Kopf in den Nacken, als könne sie ihn so besser sehen. Er beobachtete, wie seine Reaktion Paolas Gesichtsausdruck veränderte: Ihre Augen weiteten sich, dann wandte sie den Blick ab. Sie presste die Lippen aufeinander, wie sie es manchmal beim Lesen eines schwierigen Textes tat. Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er abwarten musste, bis sie das Ganze auf sich hatte wirken lassen und sich ein Urteil gebildet hatte.

Paola sah ihm lange ins Gesicht und fragte schließlich: »Bist du sicher?« Und als wollte sie sich vergewissern, dass sie vom selben Thema sprachen, fügte sie hinzu: »Dass du von zu Hause weglaufen möchtest?«

Sein Zuhause war Paola, davon war er aus tiefstem Herzen überzeugt. »Irgendwie schon«, gab er zu und erkannte entsetzt, wie sich das für sie anhören musste. »Nicht vor dir. Nicht vor den Kindern. Aber vor allem anderen.« Zur Verdeutlichung wies er in dem Krankenhauszimmer umher, als stehe dies für alles, wovon er redete.

»Ich denke schon lange darüber nach«, fuhr Brunetti fort und merkte, während er es aussprach, dass dem tatsächlich so war. »Ich brauche eine Auszeit. Einmal nicht an diese Arbeit denken, sie nicht tun müssen, nicht im Krankenhaus landen, weil ein Verdächtiger sich beleidigend über eine junge Frau geäußert hat.«

»Was für eine junge Frau?«, fragte Paola.

»Jemand hat ihr auf einer Party Tabletten gegeben, und heute früh ist sie gestorben«, sagte er, während ihm bewusst wurde, wo sie gelegen haben musste.

Paola schwieg eine Weile, wie man es tut, wenn man vom Tod eines Fremden erfährt. Schließlich sagte sie: »Wenn du Patta für jede seiner Beleidigungen eine Kugel verpassen würdest, sähe er aus wie ein Schweizer Käse.« Sie lächelte, und Brunettis Leben kam wieder ins Lot.

»Pucetti ist noch jung«, erklärte er.

»Aber ein Anfänger ist er schon lange nicht mehr, Guido.

Pucetti hatte an diesem Morgen keine getragen, aber wozu sollte Brunetti das jetzt erklären? Sein junger Kollege hatte – oder hätte beinahe – die Beherrschung verloren, ein Fehler, für den er einen of‌fiziellen Verweis verdiente, doch Brunetti war dem zuvorgekommen. Aber hatte er nicht, um Pucetti zu schützen, in gewisser Weise die Wahrheit verdreht? Vergleichbar damit, einem Getöteten eine Waffe unterzuschieben, damit es so aussieht, als sei er der Angreifer gewesen? Oder zu behaupten, der Verdächtige habe sich seiner Festnahme widersetzt und daher gebändigt werden müssen?

»Du hast recht«, sagte Brunetti. »Ich habe nicht nachgedacht. Ich wollte ihn nur davon abhalten, gewalttätig zu werden.«

»Du bist sein Chef, Guido, nicht sein Vater.«

»Würdest du nicht auch versuchen, deine Studenten davon abzuhalten, ihre Karriere zu ruinieren?«, fragte er, wohl wissend, dass das eigentlich nicht dasselbe war.

»Vielleicht«, sagte sie und stand auf.

Ihre Antwort änderte nicht viel für ihn. Er hatte es getan und würde es wieder tun. Wo sollte er einen neuen Pucetti hernehmen?

»Und?«, fragte er.

Sie überlegte kurz. »Wir haben davon gesprochen, dass du am liebsten weglaufen möchtest.«

»Das hört sich ziemlich kindisch an«, sagte er beschämt.

In all den Jahren hatte sie an seiner Arbeit nie Kritik geübt, sondern sich immer interessiert gezeigt, als Frau an seiner Seite, die ihm zuhörte, wenn er von den Greueln sprach, die er gesehen hatte, von den Folgen der Gewalt, die so dicht unter der Oberfläche des menschlichen Verhaltens schlummert. Sie hatte zugehört, wenn er von Mord, Vergewaltigung, Brandstif‌tung und Körperverletzung erzählte, und ihm nicht selten durch Fragen nach weiteren Einzelheiten zu neuen Einsichten und Perspektiven verholfen.

Und wie viel Interesse hatte im Gegenzug er an ihrer Arbeit bekundet? Ihre Leidenschaft für Henry James hatte er zu einem Dauerwitz zwischen ihnen gemacht, aber selbst nur wenige seiner Bücher gelesen. Mord war was für echte Männer, Bücher waren etwas für das schwache Geschlecht. Und jetzt konnte er es nicht mehr ertragen, und sie ermutigte ihn wegzulaufen.

»Ich hatte doch gerade erst Urlaub«, erinnerte er sie.

»Das ist zwei Monate her, und es hat dir nicht gefallen.«

»Weil es nur geregnet hat«, sagte Brunetti und dachte daran, wie missmutig er durch London, Dublin und Edinburgh gestapft war und ständig über den Regen und den grässlichen Kaffee schimpfend, ohne zu bedenken, dass seine schlechte Laune die Stimmung seiner Familie mindestens so dämpf‌te wie das Wetter.

»Das besprechen wir, wenn du nach Hause kommst. Hat man dir gesagt, wann du gehen kannst?«

»Soll das heißen, die haben was gefunden?«, fragte Paola alles andere als leichthin.

Wieder ging die Tür auf, und diesmal kam Dottoressa Sanmartini herein. »Guten Tag, Signora«, sagte sie kühl. »Darf ich Sie bitten, mich mit meinem Patienten allein zu lassen?«

Wäre in diesen Worten auch nur ein Hauch von Sarkasmus zu spüren gewesen, hätte Paola bestimmt darauf reagiert; aber da war nichts, nur eine höf‌liche Bitte. »Selbstverständlich, Dottoressa«, sagte Paola und ging.

»Setzen Sie sich bitte aufs Bett, Signor Brunetti?«, bat die Ärztin.

Brunetti gehorchte, neugierig, was eine Zivilistin zur Arbeit der Polizei und ihren Folgen für die Gesundheit zu sagen hatte.

Nachdem sie vergeblich auf Fragen seinerseits gewartet hatte, bemerkte die Ärztin: »Bestimmt haben Sie manchmal mit schrecklichen Menschen zu tun, die furchtbare Dinge getan haben, aber nicht in der Lage sind, das zu erkennen.« Hatte ihr jemand die Aufzeichnung des Gesprächs mit Ruggieri vorgespielt?, spekulierte er.

»Sie wissen aus eigener Anschauung, was Menschen einander antun können«, fügte sie hinzu.

»Genau wie Sie, Dottoressa, nehme ich an.«

»Ja, aber meine Verantwortung endet, wenn ich eine Patientin geheilt habe.« Interessant, dachte Brunetti, dass sie automatisch »Patientin« sagte. »Ich muss nicht zuhören, wenn der Täter seine Tat abstreitet oder gar legitimiert.«

Die Dottoressa legte ihre Papiere hin und wandte ihm ihre volle Aufmerksamkeit zu. »Signor Brunetti, darf ich aufrichtig sein?«

»Sind Sie als meine Ärztin nicht dazu verpflichtet?«, fragte er.

Sie machte ein Geräusch, halb Schnauben, halb Lachen. »Wohl kaum.«

»Dann ja, bitte, seien Sie aufrichtig.«

Sie wies auf die Akte. »Ich denke, die Testergebnisse haben sehr wenig mit dem zu tun, was Ihnen fehlt.«

Brunetti zuckte nur mit den Achseln und wartete. Als sie nichts weiter sagte, fragte er: »Sondern?«

»Ihre Arbeit. Dass Sie ständig etwas tun müssen, obwohl Sie gar nichts tun können

Sie hielt den Blick gesenkt, überlegte lange und fuhr schließlich fort: »Ihren Befugnissen sind enge Grenzen gesetzt. Sie können Tatverdächtige lediglich festnehmen und verhören. Aber Sie können ihnen nichts tun, und Sie haben kaum eine Möglichkeit, diese Leute zur Einsicht zu bringen.«

Sie sah auf. »Deswegen habe ich ›müssen‹ gesagt, Signore: Ich meine damit das Gefühl, moralisch verpflichtet zu sein. Und weil Sie sich ohnmächtig fühlen, sind Sie jetzt hier.«

»Ist diese Erklärung nicht vielleicht etwas zu einfach?«, fragte Brunetti freundlich.

»Wenn ich mir die Tests ansehe, ist es so einfach«, antwortete sie. »Möchten Sie wissen, warum?«

»Ja.«

Brunetti lächelte erleichtert und schloss kurz die Augen. »Da fällt mir ein Stein vom Herzen«, sagte er und schämte sich dafür, dass er weiter den besorgten Patienten spielte.

»Aber Ihr Blutdruck ist zu hoch: 180 zu 110

Er versuchte gar nicht erst, seine Nervosität zu verbergen.

»Da Ihr Herz keinerlei Schädigungen aufweist, kommt als Ursache für den Bluthochdruck nur Stress in Frage.«

Brunetti unterbrach sie: »Ist das besser oder schlechter, Dottoressa?«

»Weder noch, Signore.« Sie ließ ihm Zeit, das zu verarbeiten, und sagte schließlich: »Ich habe Ihnen Kopien der Ergebnisse gemacht. Die können Sie Ihrem Hausarzt zeigen. Meine Diagnose lautet: Sie leiden unter Stress, der Ihre Gesundheit gefährdet, und Sie sollten etwas dagegen tun.«

»Ich bin zu alt, mir einen neuen Job zu suchen, Dottoressa.«

Endlich lächelte sie einmal. »Und zu jung für den Ruhestand, möchte ich meinen.«

»Leider.«

»Trotzdem, und unabhängig von Ihrem Alter, sollten Sie eine Auszeit nehmen von dem, was Ihnen Stress verursacht. Ich weise in meinem Bericht darauf hin: Sie leiden an beruf‌lich bedingter Erschöpfung, die irgendwann negative Auswirkungen auf Ihr Herz haben kann.«

»Ich werde Ihrem Vorgesetzten schriftlich empfehlen, Sie für zwei Wochen – verlängerbar auf drei – von allen Dienstpflichten zu entbinden. Kontakt sollte nur im äußersten Notfall mit Ihnen aufgenommen werden.« Sie sah ihn an, und er bemerkte, dass ihre Nase ein klein wenig nach links gebogen war, wie von einer alten Verletzung, um die man sich nicht richtig gekümmert hatte. »Was immer das für Notfälle sein mögen. Vom bürokratischen Alltag sollten Sie jedenfalls ferngehalten werden.«

Er riskierte die Bemerkung: »Sie sprechen wie jemand, der viel mit Bürokratie zu tun hat, Dottoressa.«

»Asche auf mein Haupt«, sagte sie lächelnd.

»Und wann darf ich nach Hause?«

»Wenn Ihre Frau Sie begleiten möchte, können Sie jetzt gehen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Dottoressa.« Er versuchte sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

Sie nickte. »Aber auch sehr pragmatisch.«

»Verzeihung?«

»Wir brauchen das Bett.«

Vor dem Zimmer fand er Paola, und in dem Korridor, wo er gelegen und auf einen Arzt gewartet hatte, fand er seine Schuhe. Kurz darauf gingen sie Arm in Arm ins stechende Licht und in die brütende Hitze eines Spätnachmittags Mitte Juli hinaus. Als Brunetti über die Schwelle der kühlen Eingangshalle des Ospedale ins Freie trat, war ihm, als schütte ihm jemand einen Eimer heißes Wasser über den Kopf, um ihn anschließend in eine Heizdecke zu wickeln. Auch in dem Verhörraum, wo er den Zusammenbruch vorgetäuscht hatte, war es heiß gewesen, aber nicht annähernd so wie jetzt.

»Ich hätte mir für die Ambulanz eine Hin- und Rückfahrkarte besorgen sollen«, sagte er zu Paola.

»Und dich wieder in die Questura bringen lassen?«, fragte sie, während sie in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille kramte. Nicht gleich fündig geworden, suchte sie im Schatten Zuflucht und kam mit der Brille auf der Nase zu Brunetti zurück.

»Gehen wir nach Hause«, sagte er. »Das ist ja nicht auszuhalten.«

Sie gingen langsam und nahmen extra den Weg über den Campo della Fava, um das Gedränge in der Calle della Bissa zu vermeiden. Am Fuß der Rialto-Brücke sahen sie voller Schrecken nach oben. Ameisen, Termiten, Wespen. Sie drängten diese Vorstellung beiseite, hakten sich unter und stiegen hinauf, den Blick fest auf ihre Füße und die

»Ich ertrage das nicht länger«, sagte Paola und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. »Könnte der Gazzettino nicht mal die Meldung verbreiten, hier in der Stadt sei die Cholera ausgebrochen? Oder die Pest?«

Brunetti gab ihr einen Kuss aufs Haar. »Man könnte auch um einen Tsunami beten«, flachste der Commissario.

Er spürte Paolas Kichern. Schließlich löste sie sich von ihm und meinte gleichmütig: »Nein, ich möchte nicht, dass den Gebäuden etwas passiert.«

Als sie die Haustür erreichten, hatte er Hemd und Jackett durchgeschwitzt, und Paola klebten feuchte Haarsträhnen an der Stirn. Schweigend erklommen sie die Treppe, einzig von dem Wunsch erfüllt, oben in das Lüftchen zu gelangen, das durch ihre Wohnung wehte.

Als Brunetti das Jackett abstreif‌te, glaubte er, das schmatzende Geräusch zu hören, mit dem es sich von seinem Hemd löste. Er ging ins Wohnzimmer, wo die Luft,

Unwillkürlich zitierte Brunetti:

»La pastorella alpestra et cruda

posta a bagnar un leggiadretto velo,

ch’a Laura il vago e biondo capel chiuda.«

Paola nahm die Hände aus den Haaren und lächelte ihn an. »Wenn du schon die Schäferin bewunderst, die den Schleier wäscht, mit dem sie ihr Haar vor dem Wind verbirgt, dann empfindest du in dieser Hitze hoffentlich auch den eisigen Liebesschauer«, beendete sie das Gedicht.

»Ob ich jemals etwas zitieren kann, das du nicht erkennst?«, stöhnte Brunetti.

»Versuch’s mal mit etwas weniger Berühmtem als Petrarca«, antwortete sie lächelnd. »Möchtest du als Erster unter die Dusche? Du warst schließlich den ganzen Vormittag im Krankenhaus.«

»Das habe ich mir selbst eingebrockt«, sagte er und ging zum Kleiderschrank, frische Sachen holen.

Neugeboren kam Brunetti aus dem Bad, erst hatte er so heiß geduscht, wie es gerade noch auszuhalten war, dann, wenn auch wesentlich kürzer, dem kalten Wasser getrotzt. Seine Frau hatte es sich unterdessen auf dem Sofa bequem gemacht und nippte an einer blassen Flüssigkeit, die, wie an dem stark beschlagenen Glas zu erkennen war, eiskalt sein musste. Während er noch im Stillen seine

»Für mich?«, fragte er.

Zu müde oder zu erschöpft, mit einem Scherz zu antworten, begnügte Paola sich mit einem Nicken. Er setzte sich neben sie und nahm das Glas. Nach dem ersten Schluck stellte er es wieder ab. »Limonade?«, fragte er und gab sich alle Mühe, nicht wie ein Polizist zu klingen.

»Schmeckt’s dir nicht?«, fragte sie. »Ich könnte jetzt nichts anderes trinken.«

Brunetti nahm noch einen Schluck. »Du hast ja recht. Ich war nur überrascht.«

»Dass es kein Wein ist?«, fragte Paola.

Die Frage war ihm unangenehm, als sei damit angedeutet, er trinke nichts, was keinen Alkohol enthalte. »Schmeckt gut«, sagte er und nahm noch einen Schluck. Aber ein Spritz wäre ihm lieber gewesen.

Paola trank aus und stellte ihr Glas ab. »Nun?«

Brunetti überlegte sich die Antwort genau. »Man hat mir zwei bis drei Wochen vollständige Ruhe verordnet«, sagte er schließlich.

»Und die nimmst du dir?«

»Ja«, antwortete er, ohne zu zögern. »Ja.«

»Gut«, sagte sie. »Du hast es nötig.«

»Und sei es, damit ich nicht noch mehr Dummheiten mache?«, wollte er wissen.

»Das war nicht dumm, Guido, überhaupt nicht«, sagte Paola. »Übereilt, vielleicht, oder impulsiv, aber auf gar keinen Fall dumm.«

Brunetti fragte sich, ob es seinen Kindern auch so ging,

Sie ging darüber hinweg. »Was willst du mit deinen zwei bis drei Wochen anfangen?«