{5}Auf der Vitrine mit aufgespießten Motten ruhten der Schädel eines Elefanten und eine ausgestopfte Schwalbe; Exponate, die unten in den Ausstellungsräumen des Museums keinen Platz mehr hatten. Der Vogel war besonders schön, knapp acht Zentimeter groß mit einem ockerfarbenen Hals und blauen, sich gabelnden Flügeln. Seine schwarzen Knopfaugen schimmerten, und Cathy hätte schwören können, dass er ihr gerade zugeblinzelt hatte.
Ein paar Korridore weiter beherbergte ein Saal von der Größe eines Tennisplatzes Tausende weiterer ausgestopfter Vögel, und wenn diese Schwalbe hier gerade auf magische Weise zum Leben erwachte, vielleicht putzten sich dann dort drüben die matronenhaften Pelikane auch gerade das Gefieder, streckten die Flamingos ihre Beine, niesten die Pinguine, und raschelten zweihundert Kolibris mit den Flügeln, bereit, sich für die Jahrzehnte zu rächen, in denen sie gepiesackt und ausgestopft worden waren. Bei diesem Gedanken lächelte Cathy und hielt den {6}Atem an, als die Schwalbe plötzlich zwitscherte. Die Federn an ihrem Hals vibrierten: Es war gar kein Exponat. Sie flog in einer Schleife von ihrem Ausguck hinab und segelte an einer Vitrine mit Libellen vorbei, um dann auf einem Stapel Zeitschriften zu landen.
Cathy war nicht so leicht zu erschrecken. Sie ging allen voran in Geisterbahnen und schwor auf das Leben anderer Menschen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken – doch als die Schwalbe nach einem Fluchtweg aus dem Zimmer suchte, zitterten ihre Hände. Vögel, die in der Falle saßen, waren eine Warnung, hätte ihre Mutter gesagt.
»Sie mag dich«, sagte Tom von der Tür aus. Cathy drehte sich nicht zu ihm um, sondern griff über einen Schreibtisch, um der Schwalbe das Fenster zu öffnen. Gelächter und die leisen Klänge von Jazz drangen von der Party im Foyer des Museums zwei Stockwerke tiefer zu ihr herauf.
»In ihrer Situation kann sie nicht wählerisch sein.« Als Tom den Raum betrat, hielt sie den Kopf noch immer abgewandt. Der Vogel verharrte auf dem Zeitschriftenstapel und starrte Cathy an. Tom rückte seine Brille zurecht und tat dasselbe. In {7}ihrem seidenen, grünen Abendkleid wirkte sie vertraut, aber auf eine Art und Weise neu, als hätte sie eine Hülle abgestreift und wäre als neuer Mensch daraus hervorgestiegen. Tom bemerkte, dass ihre Hände zitterten, und als sie ihn endlich ansah, entdeckte er einen blauen Fleck um ihr Auge und etwas Blut an ihrem Mund.
Sie zuckten beide zusammen, als die Schwalbe durch den Raum schoss, weg vom Fenster und hinüber zu einer Vitrine mit Monarchfaltern, wo sie ein weißes Rinnsal an der Scheibe hinterließ.
Das kleine Geschöpf blieb flügelschlagend in der Luft stehen, den Körper wie ein Komma gekrümmt. Cathys Haut glänzte fiebrig. Sie leckte sich mit der Zunge etwas Blut von der Lippe.
»Wirst du mir erzählen, was heute Abend passiert ist?«, fragte Tom. »Du hast mir gefehlt.«
Die Vergangenheit ist nicht beständig. Der Vorgang des Erinnerns verändert uns, und jedes Leben kann innerhalb eines Tages neu geschrieben werden.
Am Morgen vor der Party war Cathy im Eingang des Berliner Museums für Naturkunde stehen geblieben und hatte das Skelett des Brachiosaurus, dessen schmaler Kopf auf dem langen Hals fast bis zum Glasdach des Lichthofes reichte, mit einem Lächeln begrüßt. Ihr Kleid hatte sie bereits aus der Reinigung geholt, es hing an ihrem Arbeitsplatz, doch die hochhackigen Schuhe trug sie in der Hand über den Marmorboden, vorbei an Fossilien und Eisbären.
Es würde heute schon wieder so schwül werden. Botaniker, Techniker und wissenschaftliche Mitarbeiter trotteten durch das Foyer des Museums, während ein Raumpfleger einen Glaskasten mit Drontenknochen abstaubte. Cathy bog im Lichthof links ab, die Stufen hinauf in die Dunkelheit der {10}Ausstellung Kosmos & Sonnensystem: neun fußballgroße Planeten um eine Sonne herum, die irreführenderweise dieselbe Größe hatte wie die Planeten selbst. Ein Tag auf der Venus dauert 243 Erdtage, stand auf einem Poster. Der Jupiter braucht für die Drehung um die eigene Achse nur 9,8 Stunden. Vor allem auf Jugendliche übte diese Ausstellung einen besonderen Reiz aus. Vielleicht war es die Vorstellung, ihr gesamtes Universum sei einst ein einzelner, unvorstellbar heißer Punkt im Weltall gewesen, doch wahrscheinlich schlichen sie sich einfach nur gern ins Dunkle, um dort zu knutschen.
Cathy trug eine weiße Bluse, gut geschnittene Hosen und Ballerinas; ihr langes, rotbraunes Haar war ordentlich hinter beide Ohren gestrichen. Während sie die Wendeltreppe hoch und anschließend an den verschlossenen Türen verschiedener Labors und Sammlungen vorbeiging, drehte sie die zusammengerollte Schlange ihres Verlobungsringes an ihrem linken Ringfinger. Die Fenster des Lichthofes sowie die Türen standen in der ungewöhnlichen Sommerhitze offen, um den Geruch von Fell und Konservierungs-Chemikalien zu mindern. Sie schob sich in ihr Büro, einen langgezogenen Raum mit niedriger Decke, zugestellt mit Möbeln und einer sich ständig ändernden Ansammlung an Exponaten, für {11}die unten kein Platz mehr war. Kaputte Bürostühle stapelten sich in derselben Ecke, wo auch eine ausgestopfte Eule hockte, auf einer der vielen grünen Vitrinen, die im Raum aufgestellt waren, lag ein Elefantenschädel. In den Vitrinen befand sich alles Mögliche – von einer Atlasmotte in der Größe eines Babykopfes bis zur Miniermotte, kleiner als ein Komma dieses Satzes.
Cathy setzte sich an ihren Schreibtisch vor ein Zedernholztablett mit Totenkopfschwärmern, deren Flügelunterseiten orangefarben waren. Wegen des Totenkopfmusters auf dem Leib hatten sie über alle Zeiten hinweg immer als schlechtes Omen gegolten. Cathy liebte die Reihen ordentlich aufgepiekter Körper mit ihren zerbrechlichen Kostümen, doch genauso hatten es ihr die leeren Flächen zwischen den Exponaten angetan. Es waren diese Zwischenräume, die eine Ordnung erzeugten. Sie fand, die Schönheit von Museen, genau wie die von Landkarten und die zwischenmenschlicher Beziehungen, lag ebenso sehr in der Distanz wie in der Nähe.
Am Morgen war sie neben Tom aufgewacht, in ihrer Zweizimmerwohnung mit den weißen Dielen in Neukölln, im Südosten Berlins, einer Gegend voller heruntergekommener Waschsalons und türkischer Cafés, wo sie seit vier Jahren lebten, und {12}hatte ihn schlafen gelassen. Sie war Engländerin, er Amerikaner – Teil der bunten Mischung Vertriebener und Umherziehender, aus der die Stadt bestand. Wenn Tom schlief, sah er mit dem eckigen Kinn und dem gebräunten Gesicht aus, als gehöre er einer evolutionär überlegenen Gattung an. Seine fein gezeichneten Augenbrauen verliehen ihm einen ständig amüsierten Ausdruck. In dem Moment, in dem er aufwachte, würde er anfangen, an seiner häufig kaputten Brille herumzufummeln, von einem Fuß auf den anderen zu treten und Kette zu rauchen, doch im Schlaf war er makellos.
Das Apartment hatte die leere Atmosphäre einer Ferienwohnung. Das Herzstück war ein schmiedeeisernes Bett, das eher einem unerzogenen Haustier glich, weil es ebensolche Geräusche von sich gab. Tom schlief, ohne sich zu bewegen, doch Cathy unterhielt sich nachts regelmäßig mit dem Bett. Der Rahmen stöhnte, wenn sie sich streckte, und die Matratze quietschte, wenn sie sich wand. Sex war immer ein Dreier, wobei das Bett der lautstärkste Teilnehmer war. Es schien sie zu verspotten, wenn sie aus dem Rhythmus gerieten. Sie ließen sich dann auf den Boden rollen, doch es fühlte sich immer noch so an, als wäre das Bett irgendwie mit von der Partie.
{13}Als Cathy sich an ihren Schreibtisch setzte, bemerkte sie einen Karton von der Größe ihrer Hand in der hinteren Ecke, neben dem Mikroskop. Das braune Paket musste früh an diesem Morgen angekommen sein oder nachdem sie gestern das Büro verlassen hatte. Sie war froh, dass gerade niemand anderes im Raum war, ihr Herz schlug so laut, dass es jeder gehört hätte.
Nervös zog Cathy das Paket zu sich heran. Sie hatte in wissenschaftlichen Zeitschriften zwei Artikel über Schwärmer veröffentlicht, weswegen ihr manchmal Leute Motten zuschickten, damit sie sie identifizierte oder als Geschenk für die Sammlung des Museums, doch sie wusste instinktiv, dass das braune Paket keine Motte enthalten würde. Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Sie schlitzte das Klebeband mit der Spitze einer Schere einmal längs und zweimal quer auf und öffnete die Klappen. Sie griff mit der rechten Hand in die Styroporflocken, fand eine weiße Schachtel und schob den Deckel mit dem Daumen hoch.
Zwischen Lagen von Zeitungspapier fand sie einen zweieinhalb Zentimeter großen, leuchtenden Bernstein, der sich zwischen ihren Fingern kühl anfühlte. Sie hielt ihn ans Licht. Im Bernstein war ein Panstrongylus megistus eingeschlossen, eine Raubwanze, mit seinem schlanken Kopf im Harz {14}erstickt. Ein Fühler schien zu zucken, als reagiere er auf die Wärme von Cathys Hand. Zeitlose Geschöpfe, schimmernde Kugeln, die man im Englischen »Kissing Beetle«, küssender Käfer, nannte, weil sie schlafende Menschen in die weiche Haut um die Lippen und die Augen bissen. Es war weder ein erklärender Brief beigefügt noch sonst ein Hinweis auf den Absender, doch sie wusste, von wem diese Botschaft kam.
Daniel ballte und streckte die Finger. Die Haare an seinen Handgelenken unter den Ärmeln des Hotelbademantels klebten noch nass an der Haut. Er hatte Arthritis und inzwischen mehr Freude am Schwimmen als am Kämpfen, aber wenn er seine Hände ansah, dachte er schwärmerisch an flüsternde Luft und das Brennen, wenn ein Handschuh auf Haut traf. Ein erster Schlag auf das Jochbein seines Gegners, das Geräusch brechender Knochen, doch keine Zeit, sich darüber zu freuen. Er fuhr sich mit den Fingern durch das feuchte Haar.
Auf dem Tisch lag die versteinerte Kralle eines Seeadlers, einige Zentimeter schokoladenbrauner Knochen, der ordentlich an einer Kralle saß. Die Klaue war an einer Spitze leicht restauriert worden, aber ansonsten makellos. Cathy hatte ihm einmal erzählt, dass die Anordnung der Knochen bei der {15}Vordergliedmaße einer Maus, eines Delphins, eines Fledermausflügels, eines menschlichen Arms und einer Walflosse gleich waren. Seine eigenen knotigen Hände hatten die gleichen Vorfahren wie ein Raubvogel oder eine Fledermaus.
Davids pochende Knöchel machten ihn unruhig, möglicherweise eine Vorahnung auf das Ende der Hitzewelle, die über der Stadt lag, vielleicht ein Sturm nach der tagelangen Schwüle. Er war noch nicht an die Freiheit gewöhnt, die er jetzt besaß, das Wissen, hingehen zu können, wohin er Lust hatte. Er berührte die Spitze der Klaue mit seinem Zeigefinger und dachte an Cathys geschmeidige, knochige Hände mit dem Perlmuttring am Mittelfinger. Für ein dekoratives Fick-Dich, hatte sie mal gesagt.
Cathy faltete die Zeitungsseiten auf, in die die Raubwanze eingepackt gewesen war, und studierte sie. Es war die entzweigerissene gestrige Ausgabe der Welt mit einem halben Artikel darüber, wie der Autobahnasphalt in Niederbayern in der Nähe von Abensberg sich wegen der Hitze wellte. Ein Schulbus war gegen eine Leitplanke geprallt, und zwölf Kinder waren dabei umgekommen. In der linken Ecke der Seite, oberhalb der Zeilen, klebte ein Teil von einem Aufkleber, auf dem stand:
{16}ments of
Shiro
eakfast!
Cathy studierte dieses Stückchen Information genauer. Es gab eine Hotelkette namens Shiro, die auch in Berlin Niederlassungen hatte. Die Zeitung war eine Beigabe zum Frühstück gewesen. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Auf dem Karton war kein Poststempel, doch sie ließ ihren Finger über die tiefen Furchen gleiten, die entstanden waren, als er ihren Namen auf den Deckel schrieb. Es war vier Jahre her, seit Daniel ihr ein derartiges Objekt geschickt hatte.
Alle Fenster des Raumes waren geöffnet, doch durch keines schien eine Brise zu kommen. Ihr Büro war im obersten Stockwerk des Museums und überblickte die Rasenfläche des Vorplatzes. Zu ihrer Linken konnte sie, über Hotels und Häuserblocks hinweg, die gigantische Discokugel des Berliner Fernsehturms glitzern sehen. Die meisten von Berlins alten Museen waren auf ihrer eigenen Insel im Stadtzentrum gefangen, doch das Naturkundemuseum war ein einsamer Wolf in der Nähe der Universität und des Hauptbahnhofs. Es war ein langgestrecktes Gebäude mit einem flachen Dach, die Fenster hatten Rundbögen und {17}abgasgraue Skulpturen schmückten die Fassade, hinter der sich ein Labyrinth aus revovierten und baufälligen Ausstellungsräumen befand. Sie konnte die Kinder und Touristen draußen hören sowie die Sprechchöre der Demonstranten, die seit kurzem auf dem Platz vor dem Museum herumlungerten und gegen die Sponsorengelder eines Ölkonzerns protestierten. Im Büro raschelte es leise, als ihre Kollegen, die inzwischen eingetroffen waren, sich über Tabletts mit Marienkäfern oder Computertastaturen beugten. Sie schloss die Augen, und die Zeichnungen von Falterflügeln, bunte Kreise und Zickzacklinien tanzten auf der Rückseite ihrer Augenlider.
Cathy nahm einen kleinen Messingschlüssel aus den Seiten ihrer Encyclopaedia of Insects, die im Regal lag, und öffnete damit die Zedernholztüren eines Schränkchens unter ihrem Schreibtisch. Man hatte ihre Abteilung des Museums vor einigen Jahren renoviert, und die meisten der antiken Schränke waren entweder verkauft oder eingelagert worden, um Platz für den grünen Stahl zu machen, der nun das Büro füllte. Cathy hatte einen der alten Schränke für sich zurückgehalten, einszwanzig breit mal sechzig hoch, mit einem Riss im Holz der Flügeltüren. Sie hatte ihn unter ihren Schreibtisch gestellt, doch er hatte nie etwas enthalten, das zu {18}den Schildern an den Kästen passte: Phylogenie, Biogeografie, Flügelpolymorphie.
Die Türen öffneten sich quietschend, und Cathy hielt kurz inne, um sicherzugehen, dass ihre Kollegen alle damit beschäftigt waren, Flügel aufzupinnen oder Hinterleibe zu sezieren, indem sie winzige Schnitte zwischen den Pulsschlägen ihrer eigenen Daumen ausführten. Eines der vielen Dinge, die Cathy an ihrer Arbeit in Naturkundemuseen liebte, war, dass sie nie die Einzige mit merkwürdigen Schrullen sein würde. Im Lagerraum für Wale war ein Mann, der eine Schublade mit der Aufschrift »Schnurstücke, zu kurz zum Benutzen« besaß.
Die Schubladen in Cathys Schrank waren mit über zweihundert kleinen Erinnerungsstücken gefüllt, die sie seit ihrer Kindheit gesammelt hatte. Den Anfang hatte ein makelloser Mäuseschädel gemacht, den sie im Winter vor ihrem zehnten Geburtstag am Strand in Essex gefunden hatte, wo sie aufgewachsen war. Es war ein perfektes Exemplar, beinahe unversehrt und weiß ausgeblichen, mit einem Kiefer, der sich immer noch öffnen ließ. In ihrem Archiv befanden sich Erinnerungsstücke von allen Orten, an denen sie gelebt hatte: Essex, bis sie im Alter von zweiundzwanzig nach Los Angeles geflohen war, und nun die vier Jahre in Berlin mit Tom. Das letzte Stück hatte sie erst vor ein paar {19}Tagen hinzugefügt, die Skizze ihres Mundes, die Tom auf eine Restaurantserviette gezeichnet hatte. Ihre Lippen waren weit geöffnet, und die schmale Lücke zwischen den Schneidezähnen trat übertrieben stark hervor. Zwischen diesen beiden Rändern ihres Lebens lagen Geburtstagskerzen, Zugfahrkarten und Spielzeugfiguren. Sie mochte es nicht, wenn Erinnerungen unkontrolliert in ihrem Kopf herumschossen, sich Synapsen und chemische Verbindungen beständig auf neue Gemütszustände einstellen mussten, und dadurch ins Ungleichgewicht gerieten. In ihrem eigenen kleinen Museum hatte sie die Erinnerungen im Griff und konnte die Tür hinter ihnen schließen.
Sie besaß eine Reihe von Gegenständen wie diese Raubwanze, die mit Daniel in Verbindung standen: den Backenzahn, den er ihr ausgeschlagen hatte, als sie zwanzig war, bei dessen Anblick sie jedes Mal meinte, Blut zu riechen, ein Büschel Haare in einer Streichholzschachtel, das ihr im Alter von einundzwanzig ausgerissen wurde, einen ausgestopften weißen Tiger mit Wackelaugen aus einer Spielhalle am Meer, bei dessen Anblick sie sich nicht nur daran erinnerte, wie es war, das erste Mal verliebt zu sein, sondern durch das Verschmelzen von Zeit und Raum Mr Whippy Eiscreme schmecken konnte und das Kitzeln von Bartstoppeln an ihren Lippen {20}spürte. Andere Objekte waren Drohungen, die ihr per Post zugeschickt worden waren, nachdem sie ihn verlassen hatte. Sie besaß Alk- und Tölpelschädel, Seesterne, geschnitzte Boote und Möwenfedern. Angesichts dieser Gegenstände standen ihr nun die Haare im Nacken zu Berge, und ihre Haut glühte. Das letzte Paket, vor der Raubwanze, lag vier Jahre zurück und hatte den Unterkiefer eines Engelhais mit Zähnen so scharf wie Nägel enthalten. Danach hatten die Sendungen aufgehört.
Cathy war in der Nähe eines Vogelschutzreservates in einem von zwölf Ferienhäusern aufgewachsen, Relikte einer Fehlinvestition aus den fünfziger Jahren. Ein schwimmender Campingplatz hatte ihre Mutter die Straße immer genannt. Cathy hatte ihre Kindheit damit zugebracht, die sumpfige Küstenlandschaft zu erforschen, wo Seeschwalben in den Süden zogen und die Gezeiten der Nordsee die Landschaft alle paar Stunden verwandelten. Auf der Suche nach seltsam verformten Treibholz und rundgeschliffenen Meerglasjuwelen schleppte sie das vor Salz knirschende, farnartige weiße Gras hinter sich her, das unter ihren Gummistiefeln kleben blieb.
Die zwölf Strandhäuser in ihrer Straße waren kaum isoliert, und die Leitungen verrichteten ihre Arbeit geräuschvoll. Sie waren nicht gebaut, um {21}im Winter darin zu wohnen, doch an irgendeinem Punkt hatte ihr Vater entschieden, dass er zu keiner anderen Gesellschaft gehören wollte als zur Essex Bird Watching Society. Also hatten sie, solange Cathy sich zurückerinnern konnte, an diesem gottverlassenen Ort gelebt. Sie war damit aufgewachsen, Ebbe und Flut in einer Tabelle zu notieren, die Worte ihrer Mutter im Hinterkopf, dass eines Tages alle Gebäude einfach mitten in der Nacht holpernd über die struppige Marsch und hinaus aufs Meer treiben würden.
In Lee-Over-Sands war es nie still. Selbst der Name hörte sich an wie ein schlechtes Omen, das O zwang den Mund, sich zu öffnen, doch dann endete man mit einem Zischlaut. An trüben Tagen, wenn der Nebel zu schnell über die wechselnden Gezeiten fiel und es schien, als hingen die Vögel vom Himmel herab, dachte man unweigerlich an Geister. Es war ein Ort, an dem die Natur das Sagen hatte.
Cathy fuhr kreischend mit dem Rad den Kiesweg über den Deich zwischen Meer und Stadt hinunter und glitt bei Flut in ihrem orangefarbenen Ruderboot übers Meer, das vor der Terrasse ihres Hauses angespült wurde, als sie acht war.
Damals begann sie, merkwürdige Dinge aufzuheben, die sie irgendwo fand, ohne in ihnen eine besondere Bedeutung zu sehen. Jeder in {22}Lee-Over-Sands sammelte irgendwelche Sachen. Die gesamte Straße hinunter waren die Fenstersimse überfrachtet mit Treibholz, Knochen und Gläsern voller Muscheln. Selbst in verlassenen Häusern lagen neben Federn und modrigen Seilknäueln immer noch haufenweise Glasscherben und Vogelschädel. Damals waren die Gegenstände, die Cathy ergattert hatte, einfach nur Raritäten. Ihre Erinnerungen speicherte sie im Kopf. Erst später wurden sie der Anker zu ihren Gefühlen, als eine schmutzige Kaninchenpfote an einer Goldkette das Wesen ihrer Mutter verkörperte. Als ein Feldstecher mit verschmierten Linsen und zwei leere Miniflaschen Bombay Sapphire Gin alles waren, was von ihrem Vater übriggeblieben war. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr war Cathy nur eine Sammlerin; jemand, der den Strand abgraste und Taschen und Schubladen füllte.
Tom stellte einen Pappbecher mit schwarzem Kaffee auf ihren Schreibtisch, legte eine Handvoll Zuckerpäckchen daneben und rückte seine Brille zurecht, die an einer Seite von Klebeband zusammengehalten wurde. Er küsste ihren warmen Nacken und sog den Duft von Shampoo und Schweiß ein. Als er sie küsste, berührte sie den Verlobungsring an ihrem Finger, als wolle sie sich vergewissern, dass er immer noch da war.
»Es ist schon wieder so heiß«, sagte Tom und strich Cathy eine Haarsträhne hinters Ohr. Cathy konnte Hitze nicht gut ertragen, sie bekam schlechte Laune und ihre Venen traten hervor. Sie war gemacht für regnerische englische Sommer.
»Guten Morgen«, sagte sie lächelnd und küsste seine linke Hand, die auf ihrer Schulter lag. Dann begann sie, Zuckerpäckchen in ihren Kaffee zu schütten, fast hochmütig, damit Tom es ja nicht wagte, sie davon abzuhalten oder ihr zu sagen, wie ungesund es sei.
{24}Sie kam immer mehrere Stunden vor ihm zur Arbeit, da er nicht in der Lage war, pünktlich zu sein, und sie unfähig, zu spät zu kommen. Wenn er zum Museum radelte, flatterte sein zerknittertes Hemd hinter ihm her, und in seinem Mundwinkel hing eine Zigarette, bereit, in dem Augenblick angezündet und geraucht zu werden, in dem er sein Fahrrad abstellte. Er hatte ein Talent dafür, die kleinen Augenblicke des Lebens zu genießen. Am Checkpoint Charlie versuchte er, die Touristen nicht aus dem Weg zu klingeln, und fuhr dann weiter, die Straße hoch, über die Spree. Wenn er den Kanal auf der Hallesche-Tor-Brücke überquerte, nahm er immer die Füße von den Pedalen. Auf dem Vorplatz des Museums rauchte er die erste Zigarette des Tages und kaufte dann in der Cafeteria einen Kaffee, um ihn Cathy mitzubringen.
Sie war sein Lieblingsmotiv, in zahllosen Notizbüchern hatte er mit dem Bleistift jeden Teil ihres Körpers vermessen, neben Walrippen oder Zacken auf der Wirbelsäule eines Stegosaurus, die er gerade studierte. Sie waren seit fünf Jahren zusammen, vier Jahre in Berlin und davor ein Jahr in Los Angeles, wo sie sich kennengelernt hatten, und doch hatte er immer noch nicht das Gefühl, auf einem Bild je eingefangen zu haben, wie sie wirklich aussah. Ihre perfekt symmetrischen Augen und schmalen Lippen waren nicht direkt hübsch. Es war ein Gesicht {25}wie eine weiße Leinwand, das Außergewöhnliche daran nur sichtbar, wenn sie lebhaft an etwas interessiert oder in etwas vertieft war. Dann wurde sie plötzlich wunderschön, doch vortäuschen konnte sie dieses Interesse nie.
Er arbeitete immer zügig: der Schwung ihrer Ohren, die hohe Stirn mit der fast drei Zentimeter langen Narbe, die sie sich zugezogen hatte, als sie mit zwölf Jahren ausgerutscht und in einen Haufen Baumaterial gefallen war. Ihr Körper war übersät von kleinen Makeln – vom Kies, auf den sie gefallen war, oder davon, wenn sie als Kind mit älteren Jungs »Der Kaiser schickt Soldaten aus« gespielt hatte. Als Jugendliche war sie zum Beispiel in einen Autounfall verwickelt gewesen, einer von vielen Zwischenfällen in einer beschissenen Kindheit, über die sie nicht gern sprach. Die Narben und Makel hatten ihn schockiert, als er sie das erste Mal sah, doch nun faszinierten sie ihn: Linien auf ihrer Schulter, nachdem sie in einen Brombeerstrauch gesprungen war, Narben auf ihren Fingerknöcheln, Ellenbogen und der Stirn, die vom Autounfall herrührten – ihre Vergangenheit so anders als Toms eigenes umsorgtes Aufwachsen in der Stadt. Als Kind hatte sie sich ihren Mittelfußknochen gebrochen, als sie von einer Mauer gesprungen war, und hatte eine winzige Delle an der Außenseite ihres rechten Fußes; wenn {26}man sie berührte, zuckte sie zusammen. Nie bekam er diese kleine Delle richtig hin.
»Der Körper eines Erwachsenen enthält über 100000 Blutgefäße«, sagte Tom, als sie fortfuhr, den Falter vor sich mit Nadeln zu fixieren, die Lippen zusammengepresst, während sie über diese Aussage nachdachte. Cathy verbrachte ihre Tage damit, Falterflügel auszubreiten, Nadeln durch ihre Thoraces zu stechen und sie in einem ständigen Gleitflug zu bannen.
»Wahr. Der größte Diamant der Welt hat zehn Milliarden Trillionen Trillionen Karat«, bot sie an. Sie nahm den nächsten Falter aus einem Umschlag.
»Hört sich unwahrscheinlich an.« Sie spielten dieses Spiel in der Supermarktschlange und beim Abendessen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Bett, neckten sich damit und sammelten ständig Fakten über das Leben, um sie miteinander zu teilen.
»Es ist wahr, großes Pfadfinderehrenwort. Es ist ein Stern namens Lucy, benannt nach Lucy in the Sky with Diamonds, fünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt«, sagte sie.
»Du warst nie bei den Pfadfindern. Du hast nicht den geringsten Teamgeist.« Er berührte ihre Wirbelsäule im Nacken, die hervorstand wie eine Insel nach der Flut. »Die Zunge eines Blauwals {27}wiegt genauso viel wie ein ausgewachsener weiblicher Afrikanischer Elefant«, sagte er. Cathys rotbraune Haare ließen auf braune Augen schließen, doch sie waren blau, und manchmal blitzten sie auf. Tom witzelte immer, dass man ihre Schönheit erst auf den siebten Blick erkennen würde; unaufdringlich schlich sie sich in die Herzen der Menschen.
Als er sie letzte Woche im Volkspark Hasenheide, gleich gegenüber ihrer Wohnung, gebeten hatte, ihn zu heiraten, und ihr den Ring seiner Großmutter gab, eine Schlange mit einem Rubin im Kopf, hatte in ihrer Nähe gerade eine Gruppe von Akrobaten geübt. Ein Passant bot hinterher an, ein Foto von ihnen zu machen. Auf dem Bild waren ihre Köpfe abgeschnitten, doch sie machten trotzdem einen Abzug davon und stellten es auf den Küchentisch. Man sah ihre geköpften Körper und im Hintergrund ein Kind, das Handstand machte.
»Wahr«, sagte sie. »Einen großen Schwarm Stare nennt man im Englischen murmuration.«
»Wahr. Eine Krähe kann sich an menschliche Gesichter erinnern und jemandem etwas verübeln«, sagte er.
»Falsch. Legende«, sagte sie. Sie lächelte zu ihm auf. »Nirgendwo im Humpty-Dumpty-Reim wird ausdrücklich erwähnt, dass die Figur ein Ei ist.«
»Falsch. Dort steht ganz bestimmt, dass er ein Ei {28}ist. Aber was die Krähe angeht, das stimmte. Leg dich nie mit einer Krähe an.«
»Lernt man in Kalifornien keine Kinderreime? Banausen.«
»Mittagessen heute um 14 Uhr 30?«
»Perfekt«, sagte sie und nahm einen weiteren Schluck ihres zuckrigen Kaffees. Sie drehte wieder den Kopf, um seine Hand zu küssen. »Und ich wäre eine exzellente Pfadfinderin gewesen, vielen Dank auch.«
»Du hättest ein pedantisches Regiment geführt.«
Manchmal blätterte Cathy durch seine Skizzenblöcke und versah seine chaotischen anatomischen Zeichnungen mit ordentlichen Beschriftungen. Die fehlende Struktur seiner Bücher machte sie unruhig. Sie mochte Ordnung. Dass ihr eigenes Becken sich mit den Zehen eines Ankylosaurus eine DIN-A4-Seite teilte, konnte sie nicht mit ihrem Instinkt vereinbaren, der sich darauf richtete, Leben zu katalogisieren. Also setzte sie sich an den kleinen Tisch, den sie in ihrer Wohnung als Schreibtisch benutzten, und zog die Stirn kraus, während sie ihren eigenen Gehörgang, Ohrmuschel und Cartilago beschriftete. Mit anständigen Pfeilen. Das Gleiche beim Skelett eines Kolibris: Elle, Speiche, Brustkorb, Lendenwirbel. Sie sagte die Begriffe laut vor sich her, während sie schrieb. Sie beschriftete die {29}Skizzen, die er von ihren langen Beinen angefertigt hatte, verschlungen in die billigen Laken ihres Bettes. Schienbein, schrieb sie. Cathys Wadenbein. Cathys Oberschenkelknochen. Cathys Steißbein, Cathys Kreuzbein.
Nachdem Tom ihr Büro verlassen hatte, verstaute Cathy den küssenden Käfer sicher in einer der oberen Schubladen, neben der Skizze ihres halbgeöffneten Mundes. Sie bewahrte ihr privates Museum im Büro auf, da Tom an keiner Schublade und keinem Zeichenblock vorbeigehen konnte, ohne eines davon zu öffnen; er war unsagbar neugierig, was Cathy an ihm liebte, allerdings nicht in diesem speziellen Fall. Sie hatte ihm diese Sammlung nie gezeigt, weil sie Zukunft und Vergangenheit nicht mischen wollte. Die bedrückende Freude und Stille, die der Katalog ihrer Erinnerungen auslöste, waren etwas, das sie nicht teilen mochte, noch nicht einmal mit jemandem, den sie so sehr liebte wie Tom. Ihre Achtung vor Gegenständen war fast spirituell, jedoch keine Gemeinschaftsangelegenheit.
Eines ihrer Lieblingsstücke in dem Schrank war ein grünes Cocktailschirmchen, das sie zwischen ihren Fingern gedreht hatte, als sie das erste Mal mit Tom sprach. Sie hatten kurz vor Weihnachten auf einer Mauer am Venice Beach gesessen, die nackten {30}Füße im kalifornischen Sand. Sie war damals seit drei Monaten in Los Angeles und hatte sich seit der Trennung von Daniel noch nicht neu erfunden. Ihre Persönlichkeit hatte noch keine harten Konturen, sie war wie frisch geschlüpft und unsicher. Sie hatte ihre rostigen Kreolen und schlammverdreckten Jogginganzüge und all ihre muffigen Klamotten, die nach Zuhause rochen, weggeworfen und sich dann in einem Secondhandladen auf dem Hollywood Boulevard, Ecke Western Avenue, neu eingekleidet. Abgesehen davon, welchen Kaffee sie bei Starbucks wollte, brauchte sie wochenlang mit niemandem zu reden. Es schienen Monate vergangen, dass jemand sie berührt hatte. In Los Angeles fühlten sich Beton und Sperrholz und Metall für sie gleich an, waren auf die gleiche Weise heiß und feucht. Ihr Zugeständnis an menschlichen Kontakt war der Besuch von billigen Massagesalons, die nach Dumplings rochen und in denen sie, durch Vorhänge von den anderen Kunden getrennt, nackt auf einem Futon lag. Sie ließ zu, dass Thailänderinnen ihre Verspannungen lösten, ihre Ellenbogen in die verknoteten Muskeln zwischen den Schulterblättern bohrten und die Gelenke mit ihren kleinen Fingern lockerten. Über ihre Narben verloren sie kein Wort. Sie vermisste es, durch den Schlick zu waten, während die Gezeiten an ihren Zehen leckten, als würde sich ihr Körper {31}physisch von der Flut an Gefühlen entgiften, von denen ihr Leben bis dahin bestimmt worden war.
Ihre Universität in Essex hatte für sie ein Praktikum im Los Angeles Natural History Museum arrangiert, wo sie versteinerte Insekten aus der Eiszeit katalogisierte, die in den La-Brea-Teergruben ausgegraben worden waren. Sie hatte um einen der wenigen Auslandsjobs gebeten, die angeboten wurden, doch als sie erst einmal dort war, machte sie keine Anstalten, Freunde zu finden. Es war eigentlich keine große Überraschung, dass niemand mit ihr sprach, als sie auf der Weihnachtsfeier des Museums am Venice Beach auftauchte. Sie bedauerte es, den Weg mit den vielen verschiedenen Bussen auf sich genommen zu haben, kaufte sich einen Cocktail, setzte sich am Strand auf die niedrige Mauer, nippte an ihrem Drink und drehte das Cocktailschirmchen zwischen den Fingern. Irgendwann kam ein blonder Mann mit weißen, perfekten Zähnen und blauen Augen und setzte sich neben sie, zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr auch eine hin.
Sie lehnte ab. Er roch nach Bier und begann leicht lallend davon zu faseln, dass er Weihnachten bei seiner Familie in Palm Springs verbringen würde, und von der komplizierten Dynamik, die mit Missbilligung, Liebesaffären und Geld zu tun hatte. {32}Cathy hatte höflich gelächelt und sich gefragt, warum er ihr das alles erzählte. Sie vermutete, dass er sich nur dorthin gesetzt hatte, um eine zu rauchen, und sie zufällig auch dort saß. Als er sie nach ihren Weihnachtsplänen fragte, log sie und erzählte ihm, sie verbrächte die Feiertage zu Hause in Essex; sie mochte nicht sagen, dass sie nirgendwohin gehen konnte. Sie und diese erste Inkarnation von Tom betrachteten den Santa Monica Pier in der Ferne, wo die pinkfarbenen und blauen Lichter eines Riesenrades sich wie eine Pfütze Sorbet auf dem sonst dunklen Wasser spiegelten. Getränkedosen hüpften über den Bürgersteig, als Heißluft von Nevada und Utah hinunter nach Los Angeles strömte, Flächenbrände und Unruhe verbreitete und sich dann über dem Meer verlor. Die Atmosphäre war statisch aufgeladen. Auf Feuertreppen und den Balkonen der Apartmenthäuser am Meer standen Leute, rauchten Zigaretten und betrachteten die stürmische See, und die Straßencafés waren voller Menschen.
Während der Santa-Ana-Winde steigt die Anzahl der Morde und Selbstmorde, hatte Tom nach einer Pause in seinem gedehnten kalifornischen Tonfall gesagt. Ihr Sommerkleid wurde immer wieder von heißen, stürmischen Böen hochgepustet, und sie stopfte es ein ums andere Mal unter ihre Oberschenkel. Dann setzte sie ihre Baseballkappe ab und {33}bedauerte es sofort, weil er sie vielleicht nach der Narbe auf ihrer Stirn fragen könnte. Sie verlief vom äußeren Ende ihrer rechten Augenbraue zu ihrer Schläfe, und sie deckte sie immer mit Make-up ab, bevor sie das Haus verließ, doch man sah sie trotzdem, eines der Erinnerungsstücke aus ihrem alten Leben, das sie nicht in eine Kiste stecken konnte, um den Deckel darüber zuzuklappen.
So sind sie, die Santa Anas, sagte er über den Wind und schien gar nicht auf ihr Gesicht zu achten.
Cathy drehte ihr Cocktailschirmchen und nippte an ihrem Drink. Er schmeckte nach Gin und Zimt. Drei Elfen und ein Mann verkleidet als Weihnachtsfrau ergossen sich aus der Bar hinter ihnen. Tom entzündete eine weitere Zigarette an der ersten, wirkte dabei aber nicht nervös, sondern nur sehr energiegeladen. Er war in ständiger Bewegung, tippte mit dem Fuß auf den Boden, und sein Daumen rollte über das Feuerzeug in seiner Hand. Sie kannte ihn aus dem Museum – er war ein erfolgreicher Paläontologe, der bereits diverse Arbeiten veröffentlicht hatte. Er hatte ein kantiges Kinn und einen schmalen Mund, der häufig lächelte. Als sich in der Menge hinter ihnen ein Gejohle erhob, drehten Cathy und Tom sich um. Ein betrunkener Mann mit Dreadlocks war von seinem Skatebord gefallen, doch Cathys Blick landete sofort bei den drei älteren {34}Männern, die in einem nahe gelegenen überfüllten Café Bier tranken. Einer der Männer hatte einen Seitenscheitel und dichte Augenbrauen, der zweite war braun gebrannt, mit einem Vollbart. Er schien in Cathys Richtung zu starren. Der dritte Mann hatte Cathy den Rücken zugewandt, doch beim Anblick seiner ungewöhnlich breiten Schultern und dem gelockten schwarzen Haar bekam Cathy einen Kloß im Hals. Er konnte es nicht sein, doch ihr wurde trotzdem übel.
Daniel hatte fast sofort, nur Wochen, nachdem sie Essex verlassen hatte, herausgefunden, wo sie war. Wie er das geschafft hatte, wusste sie nicht. Er kam nicht, um sie zu holen, doch schickte ihr weiter Geschenke, so, wie er es getan hatte, als sie zusammen gewesen waren. Zuerst kam eine tropische Muschel im Los Angeles Museum of History für sie an, drei Wochen nachdem sie in Kalifornien eingetroffen war. In einer weißen Schachtel voller Seidenpapier lag eine schöne Chicoreus ramosus,{35}