Mark McShane
Die magischen Augen
Aus dem Englischen von Ute Tanner
FISCHER Digital
Mark McShane wurde 1929 in Sydney geboren. Er reiste lange in der Welt herum, bis er sich 1960 auf Mallorca niederließ und anfing, Kriminalromane zu schreiben. Sein drittes Buch ›Séance on a Wet Afternoon‹ machte ihn international bekannt. 1964 wurde es von Bryan Forbes mit Kim Stanley in der Hauptrolle verfilmt. McShane veröffentlichte auch unter dem Pseudonym Marc Lovell. Er starb 2013 auf Mallorca.
Die Vanetti, Londons größter Star, ist in ein heißes Komplott verwickelt, was ihren Mann zunächst kalt läßt.
Bis er merkt, daß man die Dinge, die da kommen, verdammt heiß nehmen muß ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561361-0
Jason schritt rasch aus. Es dämmerte, überall gingen die Lichter an. Wieder ist ein Sommertag gestorben, dachte Jason Galt – und stutzte sofort. Warum gestorben? Warum nicht: vergangen? Wahrscheinlich leistete seine Nervosität dramatischen Übertreibungen Vorschub, und gerade davor mußte er sich hüten. Die Situation war schon dramatisch genug.
Jason ballte die Fäuste, stemmte sich gegen eine Mischung aus Vorfreude und Angst, die in ihm aufstieg. Angst? Völlig überflüssig, versuchte er sich zu beruhigen. Es würde schon alles klappen, alle Voraussetzungen waren gegeben, der Plan war bis in alle Einzelheiten durchdacht.
Jason Galt war groß und schlank. Obgleich er schon siebenunddreißig war, hatte er einen noch jugendlichen Körper – wie ein Tänzer oder ein Boxer, der nun nichts mehr dazulernt und sich darauf beschränkt, gegen das Alter anzukämpfen. Er hatte breite, leicht vorgeneigte Schultern. Seine Hände waren groß, kräftig, zupackend. Man traute ihnen zu, daß sie Klavier spielen oder in fremde Taschen schlüpfen, einen Amor meißeln oder ein Huhn töten konnten.
Im Gegensatz zu den meisten Schauspielern, die, wenn sie nicht auf der Bühne stehen, wie Kellner aussehen, hatte Jason Galt auch im nüchternsten Alltag etwas Theatralisches an sich. Jemand hatte einmal von ihm gesagt: »Das Profihafte kriegt eben nur ein Amateur so hin!« Es war eine treffende Bemerkung gewesen.
An der nächsten Ecke stand ein Polizist und hielt nach Autos Ausschau, die noch ohne Licht fuhren. Ich werde hinter ihm vorbeigehen, dachte Jason und ärgerte sich sofort über seine Feigheit. Es war doch geradezu lächerlich, daß er, seit er begonnen hatte, sich mit seinem Plan zu beschäftigen, beim Anblick eines Polizisten prompt Herzklopfen bekam. Diese Angst machte ihn nur anfällig und unsicher.
Er ging dicht an dem Constable vorbei und sagte laut: »Guten Abend.«
»’n Abend, Sir«, erwiderte der Constable abwesend.
Und damit, mein lieber Jason, hast du dich genau so dämlich benommen, als wenn du dich hinten herumgedrückt hättest, überlegte Jason Galt verärgert.
Er bog um die Ecke. Das Einkaufsviertel lag hinter ihm. Triste graue Mietskasernen und Lagerhäuser säumten die breite Straße. Dieser Teil von Camden Town hatte sich seit Königin Viktorias Zeiten äußerlich und innerlich kaum verändert.
Jason mochte die Gegend. Das Schäbige, Dürftige ihrer Atmosphäre erinnerte ihn an die Stadt in Staffordshire, in der er aufgewachsen war; außerdem war hier immer etwas los, es war laut und lebendig, langweilig werden konnte es einem interessierten Beobachter nie.
Trotzdem, dachte Jason, werde ich dem Viertel ohne Bedauern den Rücken kehren, wenn dafür eine Luxuswohnung in einer guten Gegend winkt. Immer vorausgesetzt, daß der Plan klappt. Aber er würde schon klappen. Jason lächelte.
Das Lächeln verwandelte den ganzen Mann. Er wirkte plötzlich charmant, liebenswürdig und sorglos heiter. Aber lange hielt Jason das Lächeln nicht durch. Ihm fehlte die Übung. Gleich darauf wirkte er wieder ernst, fast düster. Daß er gut aussah, war trotzdem nicht zu übersehen. Jetzt hatte er etwas von einem romantischen Helden an sich.
Jason hatte dunkle Augen, eine gerade Nase, stark hervortretende Wangenknochen und ein kantiges Kinn. Der Mund war gut geschnitten, nur um die Mundwinkel lag ein leichter Zug von Bitterkeit. Die Stirn war hoch, die ebenfalls dunklen Haare nicht besonders gut geschnitten. Dazu paßten Anorak, offenes Hemd und Jeans. Man hätte ihn durchaus für einen durch lotterhaften Lebenswandel vorzeitig gealterten Studenten halten können.
Hinter der nächsten Ecke lag der Shank Place. Von den zwölf Straßenlaternen dort funktionierten nur fünf, so daß dem Beschauer viel von dem bröckelnden Verfall, dem desolaten Zustand der wenigen am Straßenrand parkenden Autos und den Kreideschmierereien an den Wänden verborgen blieb.
Shank Place, ein Platz ohne Durchgangsverkehr, hatte zehn Häuser rechts und links und vier am Ende. Alle besaßen sie die gleichen Stuckfassaden, die Säulen rechts und links der Haustür, die Erkerfenster, die zwei Meter tiefen Vorgärtchen.
In manchen Häusern waren Fenster und Türen mit Wellblech zugestellt. Schilder informierten den Betrachter, daß es sich um Abrißhäuser handelte. Eigentlich sollte die ganze Straße saniert werden, aber einige Hausbesitzer kämpften, um soviel wie möglich an Entschädigung herauszuschlagen, bis zum letzten Atemzug um ihr Eigentum.
Jason Galt strebte über den unebenen, rissigen Gehsteig einem Haus auf der Mitte der gegenüberliegenden Seite zu. Dort waren im obersten Stockwerk und im Erdgeschoß die Fenster mit Kistenbrettern vernagelt. Die Fenster im mittleren Stockwerk waren verglast, hinter Vorhängen drang Licht hervor.
Wie seine Nachbarn hatte das Haus fast ein Jahrhundert praktisch unbeschadet überstanden. Erst durch den Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges hatte der Zerfall begonnen, der sonst vielleicht noch einmal hundert Jahre hätte auf sich warten lassen. Vernachlässigung und die Witterung hatten dem Haus den Rest gegeben. Dennoch besaß es für Jason einen eigenen Reiz. In einem jener braven, ordentlichen Dutzendhäuser in den Vororten hätte er sich nicht wohl gefühlt. Insbesondere jetzt waren die Qualitäten des Hauses Shank Place Nr. 9 geradezu unschätzbar für ihn. Er stieg die vier Stufen hinauf, schloß die Haustür auf und trat ein.
»Jason?«
»Ja.«
Die Frauenstimme kam aus dem Obergeschoß, zu dem rechts vom Flur eine einst hochherrschaftliche, breite Treppe führte. Der Hausflur selbst war kahl, der Schritt hallte von nackten Bohlen wider, es roch dumpf und feucht.
Auch die Treppe war gleichsam nackt, ein lautes Hallen begleitete Jasons Aufstieg, obgleich er sich schon darin geübt hatte, so leise wie möglich aufzutreten.
Jenny sah übers Treppengeländer. »Was ist mit dem Fernseher?«
»Alles in Ordnung. Sie bringen ihn morgen.«
Die beiden Stimmen bildeten einen sonderbaren Kontrast; die von Jason war tief, volltönend und einschmeichelnd, Jennys schon normalerweise hohe Stimme hatte sich vor Aufregung noch ein bißchen höher geschraubt.
»Ich habe ihn auf drei Monate gemietet«, sagte Jason.
»Warum so lange?«
»Kürzer ging es nicht.«
Jenny nickte und trat vom Treppengeländer zurück. Sie war klein und zierlich; wäre ihre üppige Oberweite nicht gewesen, hätte man sie für eine Ballerina halten können. Sie hatte einen schwarzen, krausen Wuschelkopf, grüne Augen, eine freche kleine Nase und einen etwas zu großen Mund, dessen Form sie durch geschickten Einsatz von Lippenstift erfolgreich zu korrigieren pflegte. Auf einer Wange hatte sie ein Muttermal, das fast künstlich wirkte. Sie trug Jeans und einen Pullover.
Jenny Mead lebte seit zwei Jahren – seit sie fünfundzwanzig war – mit Jason zusammen. Es war eine für beide Teile befriedigende Beziehung. Sie stritten sich nie. Sie liebten sich nicht.
Oben an der Treppe blieb Jason stehen und sah sich um. Er hatte sich an das veränderte Bild noch nicht gewöhnt. Bis vor drei Tagen hatte auf dem breiten Treppenabsatz, von dem die vier Türen im Obergeschoß und die Treppe zu den Räumen unter dem Dach abgingen, nur ein Läufer gelegen. Vorgestern hatte sie die Möbel aus dem Vorderzimmer herausgeschleppt und hier eine Art Wohnzimmer eingerichtet: Stehlampe, Couch, Sideboard, Tisch und Stühle, alles beim Trödler erstanden, als sie hier eingezogen waren.
Das Vorderzimmer hatten sie zu ihrem Schlafraum gemacht, das frühere Schlafzimmer hatten sie für einen Gast hergerichtet, der in Kürze erwartet wurde. Die Einrichtung war karg; sie bestand nur aus einer Liege und Sessel. Die neuen Vorhänge allerdings waren aus besonders schwerem Material und ließen sich nicht zurückziehen.
Die anderen beiden Türen, die vom Treppenabsatz abgingen, führten zur Küche und zum Badezimmer.
Jenny hatte sich auf die Couch gesetzt. Sie saß sehr gerade und sah zu der Uhr auf dem Sideboard hinüber.
»Ja«, sagte Jason. »Ich muß bald los. Reg’ dich nur nicht unnötig auf.«
Jenny hob die Schultern. »Das sagst du so …«
»Es wird schon alles klappen.«
Sie lächelte. »Ich habe aber Angst …« Es war eine Eigenheit von Jenny, daß sie manchmal ein trauriges Gesicht machte, wenn sie glücklich war und umgekehrt. »So vieles könnte schiefgehen.«
»Nein. Ich glaube ganz fest an unseren Plan.«
»Ich wünschte, das könnte ich auch«, meinte Jenny.
»Aber du glaubst doch an mich. An mein Talent.«
»Das schon.«
»Es geht bestimmt nichts schief«, erklärte Jason. »Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«
Sie setzten sich mit ihrem Tee an den Tisch, der am Treppengeländer stand. Gegenüber stand das Sideboard, neben der Couch. Während sie tranken, sahen sie beide immer wieder verstohlen zur Uhr, immer in der Hoffnung, der Partner würde davon nichts merken. Jennys Erregung hatte sich auf Jason übertragen. Er hätte die Zeiger am liebsten vorgestellt, während es Jenny am liebsten gewesen wäre, wenn sie sich überhaupt nicht vom Fleck gerührt hätten.
Jason zwang sich zu einem Lächeln. »Schalt ab, Schatz. Denk an was Schönes. Denk an einen tollen Farbfernseher statt der miesen kleinen Schwarzweißkiste.«
»Mach’ keine Witze«, sagte Jenny. »Dazu ist es jetzt zu spät.« Er zuckte seufzend die Schultern. »Vielleicht passiert ja heute abend gar nichts.«
»Aber du rechnest damit.«
»Ja.«
»Ich auch«, bestätigte Jenny tonlos.
Diesmal war Jasons Lächeln spontan und voller Dankbarkeit. »Du bist lieb.«
Jetzt sahen sie beide ganz offen zur Uhr. Jason verglich die Zeit mit seiner Armbanduhr. Er stand auf, ging ins Vorderzimmer, machte Licht an und schloß die Tür. Er zog seinen Anorak aus und warf ihn beiseite, während er zum Ankleidetisch ging. Zwischen Töpfen und Döschen lag dort ein Büschel Haare, das aussah, als habe es jemand beim Friseur vom Fußboden aufgelesen. Daneben stand ein Leimtopf.
Jason schaltete das Licht über dem Spiegel an. Er setzte sich auf die Bierkiste, die als Hocker fungierte, und machte sich an die Arbeit.
Fünf Minuten später saß der Spitzbart fest. Er war alt und fransig und wirkte dadurch echt, was im Grunde nicht besonders wichtig war, aber falls doch etwas schiefging, konnte es nützlich sein.
Er stand auf, ging zu dem großen, entsetzlich häßlichen Kleiderschrank, machte die Tür auf und besah sich die linke Seite, in der seine Sachen hingen. Viel gab es da nicht zu sehen: seinen einzigen guten Anzug, eine Strickjacke, einen Dufflecoat, sechs Hemden (je drei auf einem Bügel), einen Abendanzug in einer Plastikhülle und einen grauen Mantel.
Er nahm den Mantel heraus und zog ihn an, wickelte sich einen Schal um den Hals, dann knöpfte er den Mantel ganz zu und schlug den Kragen hoch. Aus der hintersten Schrankecke holte er einen speckigen schwarzen Filzhut mit breiter Krempe, den er vor zwei Wochen aus einer Arbeiterkneipe gestohlen hatte. Mit dem Hut auf dem Kopf stellte Jason sich vor den Spiegel. Er schob den Schal hoch, bis er den falschen Bart bedeckte. Sehr gut, dachte er.
Er klopfte noch einmal sämtliche Taschen ab, um sich zu vergewissern, ob er auch alles hatte, was er brauchte, dann machte er das Licht aus und verließ das Zimmer.
Jenny stand an der Küchentür. Sie hatte den Kopf gesenkt und die Hände gefaltet – man hätte sie für eine Schülerin halten können, die zur Direktion gerufen worden ist, um sich die verdiente Standpauke halten zu lassen.
Jason ging zur Treppe, stieg zwei Stufen hinunter, blieb stehen und sah sich noch einmal um. Irgendwas mußte er sagen, wenigstens ein Wort der Anerkennung … Immerhin war dies ein bedeutungsvoller Augenblick. Er müßte ihr danken für ihre Ermutigung, für die Zuneigung, die sie ihm geschenkt hatte, für ihre finanzielle Unterstützung durch ihren Job als Bedienung. Dafür, daß sie diesen Job jetzt aufgegeben hatte, um ihm hier im Haus zu helfen. Dafür, daß sie sich in Gefahr begab.
Aber er brachte es nicht fertig, diese Dankbarkeit in Worte zu fassen. »Du bist eine tolle Frau, Jen«, sagte er nur.
Sie antwortete nicht.
Jason drehte sich um und ging weiter.
Er stieg aus, als der Bus in der Oxford Street hielt. Das Einkaufsparadies war hell erleuchtet, obwohl nur einige wenige Passanten an den Ladenfronten entlangbummelten. Es war zehn. Bald würden die Theater aus sein, dann die Kinos, in Kürze schlossen auch die Pubs. Um Viertel vor zwölf würden nur noch private Klubs und einige wenige Restaurants geöffnet sein. Dann waren die letzten Züge weg, Taxis würden kaum mehr zu sehen sein, und die Polizeistreifen würden einsame Fußgänger mit scharfem Blick mustern.
Während Jason die Charing Cross Road hinunterging, zog er den Schal nach unten. Seinen Zweck, den Bart vor eventuellen Bekannten aus der Nachbarschaft zu verbergen, hatte er erfüllt. Dann änderte Jason auch seine Haltung. Er zog die Schultern hoch und den Kopf ein. Das machte ihn älter, ließ ihn in dem schäbigen Hut und dem abgetragenen Mantel müde und apathisch erscheinen.
Es war nicht mehr viel Verkehr. Die Fußgänger waren in der Überzahl. Meist waren es Halbwüchsige, die sich in der Gruppe sicher fühlten und neugierig die ungewohnte Großstadtluft schnupperten.
Bei Foyle’s, der großen Buchhandlung, bog Jason nach Soho ab. Langsam ging er durch die schmalen Straßen. Er war noch immer angespannt, aber voller Selbstvertrauen. Daß auch Jenny das Gefühl gehabt hatte, es würde an diesem Abend geschehen, hatte ihm sehr geholfen.
Wieder regte sich die Dankbarkeit in Jason, und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, daß er dieser Empfindung vorhin nicht hatte Ausdruck geben können. Wenn der Erfolg kam – und er würde kommen! –, sollte sie haben, was sie wollte. Sie verdiente es. Sie hatte einen langen beschwerlichen Weg hinter sich – einen Weg, der bisher ins Nichts geführt hatte.
Jenny Meads Leben war eine ganz gewöhnliche Geschichte. Mädchen vom Land geht in die Großstadt, um auf Brettern, die die Welt bedeuten, zu Glück und Geld zu kommen; klappert die Agenten ab, geht zum Vorsprechen, hat nach zwei Jahren noch nicht einmal eine Statistenrolle ergattert. Versucht sich als Stripteuse, gibt aber bald voller Widerwillen auf. Zu stolz, um das schadenfrohe Grinsen der lieben Freunde daheim zu ertragen, bleibt sie in London und verdingt sich im Gaststättengewerbe, teilt sich eine Wohnung mit anderen jungen Frauen, ist erst Tellerwäscherin, dann Bedienung und fragt sich oft, ob es wirklich richtig war, daß sie es abgelehnt hat, sich ihr Geld durch Prostitution zu verdienen.
Ja, dachte Jason, Jenny verdient wirklich eine Chance. Vielleicht hatte sie ja gedacht, daß es aufwärts gehen würde, als sie ihn kennengelernt hatte. Er hatte, um der hübschen Person zu imponieren, mit seinen Theatererfahrungen renommiert, sie hatte höflich so getan, als sei ihr sein Name geläufig. Doch ihr Respekt verlor sich bald – wie der Glanz auf billigen Schuhen. Jason war schon zu lange im »Wartestand«. Dennoch waren sie auf Dauer zusammengeblieben und verstanden sich gut.
Aus den trüb beleuchteten Nebenstraßen traf er auf die Shaftesbury Avenue, war plötzlich umgeben von hell erleuchteten Läden und den Lichtreklamen der Theater. Er wartete auf eine Lücke im fließenden Verkehr und überquerte dann die Fahrbahn. Langsam ging er weiter, bis er auf gleicher Höhe mit dem nächstgelegenen Theater war. Er blieb stehen und sah hinüber. Meist weckten die Lichter und der Glanz, die ansprechend plüschige Atmosphäre des Foyers, das man durch die Glastüren sehen konnte, nostalgische Gefühle in ihm. Heute steigerte der Anblick nur seine Nervosität.
Neben den Türen waren großformatige Fotos angebracht, die Szenen aus dem gerade laufenden Stück und dessen Darsteller in Großaufnahme zeigten. Am häufigsten sah man das Gesicht einer jungen Frau, deren Name in großen Lettern unter den Fotos angebracht war und auch in Leuchtbuchstaben über dem Eingang prangte: Elsie Vanetti.
Die Aufnahmen zeigten ein eindrucksvolles Gesicht, das, je nach der Beleuchtung, mal hübsch, mal schön genannt werden konnte. Langweilig wirkte es nie, dazu waren die Züge zu lebendig.
Elsie Vanetti hatte ein festes Kinn und einen breiten Mund, eine fast römisch kühngeschwungene Nase zu dunklen Augen und blondem Haar, das in der Mitte gescheitelt war und ihr bis auf die Schultern fiel.
Sie war alles andere als eine Schönheitskönigin. Sie spielte weder die kindlich ahnungslose Naive noch die sinnliche Sexbombe. Ihr Geheimnis war wohl eher, daß sie bewußt überhaupt keine Rolle spielte. »Ich bin Schauspielerin«, schien sie zu sagen, während sie gelassen in die Kamera blickte.
Die jetzt zweiunddreißigjährige Elsie Vanetti hatte bereits einen internationalen Ruf. Auch Zeitgenossen, die nicht hätten sagen können, wer zur Zeit den Amtssitz in der Downing Street No. 10 innehatte, war ihr Name geläufig. Sie hatte Filmpreise in San Sebastian, Cannes, Venedig und Tokio gewonnen. Ihr skandinavischer Fanklub hatte 800000 Mitglieder. Hochangesehene Kritiker in London, New York und Rom lobten sie über den grünen Klee. Die Vanetti-Nase stand bei den Patientinnen der Schönheitschirurgen in der Beliebtheitsskala an zweiter Stelle. Sie war so berühmt, daß in Zeitschriften, die kostenloses Material für ihre Klatschspalten brauchten, ihr Name regelmäßig auf der Liste der schlechtestgekleideten Frauen erschien. Möglich, daß sie in einem Jahr schon vergessen und nur noch Theaterbesuchern ein Begriff war. Im Augenblick aber befand sie sich auf dem Gipfel ihrer Berühmtheit.
Die Lebensgeschichte der Vanetti stand in krassem Gegensatz zu dem, was Jenny Mead erlebt hatte. Elsie Vanetti war die im Showgeschäft seltene Ausnahme von der traurigen Regel. Sie war in Bristol als Tochter einer englischen Mutter und eines sizilianischen Vaters zur Welt gekommen und hatte sich mit achtzehn einer Revue angeschlossen, die durch die Provinz tingelte. Mit zwanzig wurde sie an die Repertoirebühne von Manchester engagiert. Vier Jahre lang blieb sie in dieser Fron. Jede Woche wurde ein neues Stück gespielt, die Schauspieler kamen kaum zum Atemholen. Aus dieser harten Schule sind viele große, ja, einige der größten Schauspieler dieser Welt hervorgegangen.
In Manchester wurde irgend jemand auf Elsie Vanetti aufmerksam, Beziehungen spielten, und eines Tages bekam sie eine kleine Filmrolle. Der Streifen war grauenhaft und wurde zu Recht von den Kritikern verrissen.
Ein schwedischer Regisseur aber fand Gefallen an dem unaufdringlich eindrucksvollen Spiel der kleinen Provinzschauspielerin. Da er außerdem ungern mit etablierten Stars arbeitete, bot er ihr die Hauptrolle in seinem nächsten Film an. Damit begann Elsies Karriere.
Noch vor zwei Jahrzehnten hätte man für den Film einen neuen Menschen aus ihr gemacht, hätte ihre Zähne überkront, die Form ihrer Augenbrauen und die Farbe ihres Haars verändert. Ganz gewiß hätte man sich für sie einen neuen Vornamen einfallen lassen – der Nachname Vanetti ging ja noch an! – und eine weniger prosaische Lebensgeschichte. Aber inzwischen herrschten andere Sitten, man hatte entdeckt, daß Talent durchaus auch etwas Schönes ist. Elsie durfte ihr Talent zeigen.
Nach dem schwedischen Film, für den sie in Venedig ausgezeichnet wurde, spielte sie in London Theater, dann kamen wieder eine Filmrolle, eine Saison in Stratford, Ontario, und zwei Fernsehshows in New York. Es folgten wieder Filme, Stücke am Broadway und in Rom, Othello mit Sir Laurence Olivier, drei Monate Manchester – Gage zehn Pfund pro Woche, nur aus alter Freundschaft –, ein neuer Pinter beim Edinburgh Festival und ein Hollywoodfilm, der zwölf Millionen Dollar kostete. Für ihre Rolle in diesem Film bekam sie den Oscar.
Jetzt spielte Elsie Vanetti wieder in London Theater. Das Stück war der Renner der Saison.
Arme Jenny, dachte Jason. Und glückliche Elsie. Wer weiß, vielleicht wird dein Glück auch unser Glück.
Er sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Ungefähr. So genau nahm man das beim Theater nicht. Da brauchten sie nur ein paar Minuten zu spät anzufangen, dann gab es vielleicht eine Wiederholung im zweiten Akt, noch einen Vorhang mehr – und schon stimmte die Rechnung nicht mehr ganz.
Jason sah zu einer schmalen Straße hinüber, die am Theater entlanglief und sich in der Dunkelheit verlor. »Hier anstellen für den Rang«, hieß es auf einem Schild. Dahinter, in der Dunkelheit kaum lesbar, verkündete ein kleineres Schild über einem Pfeil: »Bühneneingang.«
Rasch sah Jason zurück zu den Glastüren, wo er aus den Augenwinkeln eine Bewegung ausgemacht hatte. Im Foyer war ein Mann im Smoking aufgetaucht.
Jason beobachtete ihn scharf, obgleich die Situation klar war. Als einer der Londoner Doppeldeckerbusse sich zwischen ihn und die Theatertüren schob, ging er rasch ein paar Schritte weiter, um wieder freie Sicht zu haben.
Das Theater hatte drei Türen. Der Mann öffnete die erste und befestigte die Türflügel mit einem Haken; das gleiche Spiel wiederholte sich bei den anderen Türen. Dann trat er auf die Straße hinaus und sah sich müßig um. Jason wandte sich ab und ging gemächlich weiter.
Vorsichtig blickte er sich um. Der Mann hatte sich ins Foyer zurückgezogen. Jason machte kehrt.
Jetzt kamen die ersten Zuschauer heraus und quälten sich im Foyer in ihre Mäntel. Sie hatten einen seltsam leeren Blick, als könnten sie sich zwischen der Realität der Bühne und der Realität hier draußen noch nicht recht entscheiden.
Als Jason wieder direkt dem Theater gegenüberstand, war das Foyer voller Menschen, die in einem stetigen Strom auf die Straße quollen.
In der Seitenstraße hörte man Türen schlagen. Auch dort quollen Menschen heraus. Die Gehsteige um das Theater herum waren bald überfüllt, Taxis begannen sich vor den Theaterausgängen zu drängen.
Jason wartete. In überraschend kurzer Zeit hatte sich die Menge aufgelöst. Die Seitenstraße war leer. Nur noch ein halbes Dutzend Nachzügler stand an den Glastüren, die der Mann im Smoking bereits zu schließen begann.
Die Leuchtbuchstaben über der Markise erloschen.
Jason überquerte die Straße und ging die Seitenstraße hinunter zum Bühnenausgang. Mit einem beruhigenden Gefühl der Vertrautheit verschwand er in dem erfreulich dunklen Torweg. Fünfmal hatte Jason hier schon gewartet; fünfmal auch hatte er den Exodus der Theaterbesucher und das Schließen der Türen zur Straße hin beobachtet. Er wußte genau, wie viele Personen durch die Seitenstraße das Theater verlassen würden.
Zuerst kamen fünf Darsteller, drei davon Frauen, dann die beiden Bühnenarbeiter und der Elektriker. Danach die beiden Garderobieren, stämmige Weiblein, die aussahen wie Zugehfrauen, dann der Mann im Smoking, schließlich Miss Elsie Vanetti. Zuletzt der Pförtner und der Regisseur. Jason kannte alle Gesichter genau.
Die Schauspielerin war bisher meist allein gewesen. Für Jason war das nichts Bemerkenswertes. Nur der ahnungslose Durchschnittsbürger erwartet, daß eine gefeierte Schauspielerin stets von Bewunderern, Gaffern, Agenten und Reportern umgeben ist. Jason dagegen wußte, daß man auf dem Gipfel einsam ist. Schon gestern und vorgestern abend war Jason bereit gewesen, seinen Plan auszuführen. Doch ausgerechnet da hatte er Elsie Vanetti doch nicht allein erwischt.
Vorgestern war eine der Garderobieren ganz aufgeregt noch einmal umgekehrt, um der Schauspielerin eine Nachricht zu überbringen. Gestern abend war Elsie Vanetti in Begleitung einer Freundin gewesen, die sie offenbar nach der Aufführung hinter der Bühne aufgesucht hatte.
Man weiß eben nie genau, wie’s kommt, überlegte Jason. Deshalb tat man gut daran, immer den menschlichen Faktor zu berücksichtigen. Zum Beispiel konnte es ja ausgerechnet heute abend einem Polizisten einfallen zu prüfen, ob alle Ausgänge des Theaters ordnungsgemäß verschlossen waren.
Jason zuckte nervös. Er entschied sich für eine kleine Positionsänderung.
Rasch querte er auf die andere Straßenseite hinüber und ging bis zu dem kleinen Hof am Ende der Straße. Dort standen Mülltonnen und Kisten. Die einzige Beleuchtung war eine nackte Birne über der Tür in der Ecke, zu der eine kleine Treppe mit Eisengeländer führte.
Jason strebte einem Stapel von Kulissen zu, der an der Wand lehnte. Dahinter war reichlich Platz. Von dieser Position aus konnte er die Tür des Bühnenausgangs gut im Auge behalten. Noch eine Minute mußte er warten, dann ging die Tür auf.
Nacheinander kamen die Darsteller heraus, riefen von der Straße vergnügt ein »Gute Nacht!« zurück. Eine heisere Stimme antwortete. Der Pförtner.
Unmittelbar darauf erschienen die Bühnenarbeiter, der Elektriker und die beiden Garderobieren. Nach einer kleinen Pause kam der Mann im Smoking, der jetzt vermummt war, als gelte es, arktischen Kältegraden zu trotzen.
Und nun mußte gleich der Star des Abends herauskommen.
Jason holte tief Luft, wischte mit den feuchten Händen am Mantel entlang und machte sich bereit. Seine Aufmerksamkeit war geteilt zwischen dem Bühnenausgang und den Geräuschen, die von der Straße herüberdrangen.
Hinter der Tür hörte man eine Frauenstimme, die er sofort erkannte. Er hatte sich das laufende Stück angesehen, um sich mit den Darstellern vertraut zu machen und insbesondere Miss Vanetti zu beobachten.
Die Tür ging auf, Elsie Vanetti erschien.
Sie war mittelgroß und kräftig gebaut. Fünf Pfund mehr, und man hätte sie schon fast rundlich nennen können. Sie hatte einen rehfarbenen Regenmantel mit Gürtel an – in eine der Manteltaschen hatte sie ihr Unterarmtäschchen gestopft –, trug Straßenschuhe mit flachen Absätzen, Sonnenbrille und ein unter dem Kinn geknotetes grünes Kopftuch, unter dem das blonde Haar hervorquoll.
Ohne die Sonnenbrille hätte man Elsie Vanetti für eine Sekretärin oder eine brave Vorstadthausfrau halten können.
»Gute Nacht, Bill«, sagte sie.
»Gute Nacht, Miss Vanetti«, erwiderte die heisere Stimme respektvoll.
Die Tür klappte zu. Jason verließ sein Versteck. Er schätzte, daß er fünf, höchstens zehn Minuten Zeit hatte. Aber er durfte nichts übereilen, mußte sich zu äußerster Ruhe und Gelassenheit zwingen.
Elsie Vanetti war auf der mittleren Stufe der kleinen Treppe stehengeblieben und sah sich erwartungsvoll um. Jason erkannte, wie sie leicht die Schultern hob und wieder sinken ließ.
Er trat vor. Die Schauspielerin hatte ihn bemerkt und sah ihn fragend an.
Jason ging gebeugt, in seiner Altmännerhaltung, bis zum Fuß der Treppe, lüpfte seinen Hut und fragte: »Spielen Sie in dem Stück mit, Lady?«
Auf diesen Einfall war Jason regelrecht stolz. Elsie Vanetti nickte; sie war offensichtlich erleichtert, daß er sie nicht erkannt hatte.
»Hab’ ich mir gedacht«, meinte Jason.
»Worum handelt es sich denn?« Sie hatte eine schöne, klangvolle Stimme.
»Ja, also, ich hab’ da nämlich ’ne Kette gefunden«, erklärte Jason.
»Ach …«
Er steckte die Hand in die Tasche und holte das Schmuckstück hervor. Er war sehr viel ruhiger geworden. Das Warten hatte ein Ende. Jetzt tat er das, worauf er sich so gut verstand.
»Da vorn in der Seitenstraße hab’ ich sie gefunden. Gehört sie vielleicht Ihnen?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Elsie Vanetti, »ich vermisse nichts.«
Sie kam die restlichen Stufen herunter und war jetzt nicht mehr als dreißig Zentimeter von ihm entfernt. Jason trat noch ein Stück näher heran. Er ließ den Anhänger vor Elsies Augen an der Kette hin und her pendeln.
»Hübsch«, sagte sie.
»Ja. Nichts Kostbares natürlich, aber vielleicht hat es ja Erinnerungswert.«
Mit dieser Bemerkung gedachte er jeden Rest von Argwohn auszuräumen. Ich habe es nicht auf das Geld abgesehen, gab er damit Elsie zu verstehen.
Der Anhänger bewegte sich rhythmisch hin und her. Das Licht der nackten Birne über dem Eingang fing sich in seiner glänzenden Oberfläche, die es strahlenförmig zurückwarf.
»Wirklich hübsch«, wiederholte Elsie.
»Ja. Schauen Sie nur, wie sich das Licht darin fängt.«
Jasons Stimme hatte sich verändert, war tiefer geworden, leiser, fast liebkosend.
»Faszinierend, nicht? Und so beruhigend. Eine interessante optische Täuschung. Konzentrieren Sie sich ganz auf die Bewegung, dann sehen Sie, was ich meine.«
»Ja.« Elsie nickte langsam.
»Die Lichtstrahlen scheinen eine durchgehende Linie zu bilden. Konzentrieren Sie sich.«
»Ja.«
»Finden Sie nicht auch, daß es ganz so ist wie vor dem Einschlafen?« sagte Jason leise. »Wenn Sie müde sind … ganz müde. Wenn Sie sich nach Schlaf sehnen. Nach Ausruhen.«
»Ja, so ist es«, bestätigte die Schauspielerin. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
Jason seufzte erleichtert auf. Jetzt war es gleich geschafft. Er hatte die Aufmerksamkeit seines Mediums gewonnen, die Reaktionen waren bereits verlangsamt. Es war leicht gewesen, aber er hatte es nicht anders erwartet.
»Es ist wie der Augenblick, ehe der Schlaf kommt«, sagte er. »Wenn man müde ist. Ganz schrecklich müde. So schläfrig, daß man kaum die Augen offenhalten kann. Nicht wahr?«