Mark McShane
Ein Sommer zum Sterben
Aus dem Englischen von Ute Tanner
FISCHER Digital
Mark McShane wurde 1929 in Sydney geboren. Er reiste lange in der Welt herum, bis er sich 1960 auf Mallorca niederließ und anfing, Kriminalromane zu schreiben. Sein drittes Buch ›Séance on a Wet Afternoon‹ machte ihn international bekannt. 1964 wurde es von Bryan Forbes mit Kim Stanley in der Hauptrolle verfilmt. McShane veröffentlichte auch unter dem Pseudonym Marc Lovell. Er starb 2013 auf Mallorca.
Nach einem Nervenzusammenbruch sucht die Schauspielerin Stella Ruhe in einem kleinen walisischen Dorf. Sie will die Traumfabrik Hollywood und ihren Geliebten vergessen.
Die Menschen im Dorf begegnen ihr unverständlicherweise mit Feindseligkeit und Mißtrauen. Stella hat Angst. Und ihr unbestimmter Verdacht wird nach und nach zur grauenvollen Gewißheit ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561362-7
Aus großer Höhe folgt die Filmkamera der schmalen Straße, über der sich die Augustsonne träge hinter Wolken und rauchfarbenem Dunst verbirgt. Die müde Stimmung, die über der kurvenreichen, langsam ansteigenden Straße hängt, das Schläfrige der sie umgebenden Grün- und Grautöne – das alles ist wie weggeblasen, als ein kleines, rotes Kabrio sich in schnellem Tempo der Kamera nähert.
Die Kamera kommt näher, erfaßt die Frau am Steuer, den Hund neben ihr, die teuren Koffer auf dem Rücksitz, fixiert noch, einmal die Straße und holt dann das Gesicht der Frau zu einer Großaufnahme heran.
Sie ist neununddreißig und sieht gut aus, ist allerdings keine Schönheit. Mag sein, daß das Gesicht früher einmal schön gewesen ist, als die sehr blauen Augen noch nicht so viel gesehen hatten, als die Gedanken hinter der hohen Stirn unschuldig, hoffnungsvoll, von ruhiger Gelassenheit waren. Es ist ein wenig rundlich, dieses Gesicht, ebenso wie der Körper, den im Augenblick ein Regenmantel verbirgt. Es ist ein Gesicht, das überdurchschnittlichen Charakter, überdurchschnittliche Intelligenz verrät. Ein starkes Gesicht, eine starke Frau, das spürt man selbst an dem kurzen braunen Haar, das der Wind zerzaust.
Ist das wirklich ein ehrliches Bild, fragte sich Stella Grifith. Entschlossen beendete sie das Spiel, das Filmen hieß, und sperrte die Kamera wieder in ihren Kopf ein.
Wie war das vorhin gewesen: Es ist ein wenig rundlich, dieses Gesicht … Wahrscheinlich war pummelig der treffendere Ausdruck, aber das störte sie nicht weiter, es war herrlich, nach zwanzig Jahren strenger Diät plötzlich von allem so viel essen zu dürfen, wie man wollte. Und schön – nein, schön war sie nie gewesen, auch nicht als junges Mädchen und nach stundenlanger Behandlung durch die besten Visagisten der Filmindustrie. Ein dummes Spiel eigentlich. Im übrigen wäre vierzig ehrlicher gewesen als neununddreißig; in Wirklichkeit war sie einundvierzig. Sie würde bald anhalten und das Verdeck hochklappen müssen. Und sie würde lernen müssen, keine gedanklichen Purzelbäume zu schlagen. Apropos Kamera: Hatte sie heute früh nicht ihren Fotoapparat im Hotel vergessen?
Stella konzentrierte sich auf eine scharfe Kurve. Sie fuhr gut und sicher und konstatierte immer wieder, daß Autofahren zu den wenigen Dingen gehörte, die sie sich noch zutrauen konnte, ohne fürchten zu müssen, daß die Nerven ihr wieder einen Streich spielten.
Stella Grifith war Hollywoodflüchtling und schickte sich an, sechstausend Meilen von einem Ort entfernt, an dem sie sich nie heimisch gefühlt hatte, ein ganz neues, ganz anderes Leben anzufangen.
Seit sechs Wochen war sie jetzt in Wales. Warum es sie ausgerechnet nach Wales gezogen hatte, hätte sie nicht sagen können. Bisher hatte sie noch nie den Drang verspürt, dem Land ihrer Väter einen Besuch abzustatten. Wahrscheinlich, überlegte sie, jage ich einem Stückchen Kontinuität und Stabilität nach. Klingt ganz sinnvoll – aber was ist schon sinnvoll für mich? Warum war sie seit Wochen kreuz und quer durchs Land gegondelt, statt geradewegs nach Rythgollen zu fahren? Hatte sie denn jetzt vor allem Angst?
Statt weiterzugrübeln, griff Stella Grifith zum Schalthebel. Da war sie nun also in Wales, übernachtete in altmodischen kleinen Gasthäusern in altmodischen kleinen Orten, deren Einwohner wahrscheinlich ihr Leben lang noch keine zehn Filme gesehen hatten. Aus ihrem Bekanntenkreis wußte niemand, soweit sie das beurteilen konnte, wo sie geblieben war. Es war eine gelungene Flucht gewesen. Dabei hatte sie sich noch nicht einmal besondere Mühe gegeben, ihre Spuren zu verwischen. Weder die freundlichen Herren von der Paß- und Zollkontrolle, noch die Angestellten der Fluggesellschaft hatten sie angesprochen, niemand hatte sie um ein Autogramm gebeten, die Presse schwieg sich aus. In Hollywood würde man denken, daß sie sich in ein Sanatorium zurückgezogen hatte. Falls man dort überhaupt noch einen Gedanken an sie verschwendete.
Stella schnitt ein Gesicht. Kein Selbstmitleid bitte, das fehlte gerade noch. Es gibt genug Leute, die sich Gedanken um dich machen. Da ist zum Beispiel Sam Cullen, Agent, Freund, ehemaliger Liebhaber. Sam denkt an dich, sooft er sich seine Kontoauszüge besieht. Nein, das war gemein, Sam ging es nicht nur ums Geld. Er mochte sie wirklich.
Die Flucht also war überraschend glatt gegangen. Daß man sie nicht auf Schritt und Tritt erkannt hatte, war erfreulich und gleichzeitig ein bißchen enttäuschend gewesen. Sie dachte an die Reaktion des Autoverkäufers in London, bei dem sie den Hillman erstanden hatte. Warum hatte sie sich übrigens, wenn sie schon so viel Wert darauf legte, alle Brücken hinter sich abzubrechen, ausdrücklich ein Rückgaberecht vorbehalten? Wollte sie denn wieder zurück? Hoffte sie doch insgeheim auf ein großes Tamtam mit fetten Balkenüberschriften: Filmstar spurlos verschwunden? War es Selbstbetrug, wenn sie mit dem Gedanken spielte, ein Haus auf dem Land zu kaufen und den Rest ihres Lebens in Ruhe und Abgeschiedenheit zu verbringen?
»Nein, ich bin Stella Grifiths Cousine«, hatte sie dem Mann auf seine Frage geantwortet. »Wir sehen uns allerdings ziemlich ähnlich und haben ja obendrein den gleichen Namen.« Der Autoverkäufer hatte sich mit ihrer Erklärung zufriedengegeben. Nur der abgerissene Mann auf dem Straßenmarkt, der ihr Randolph verkauft hatte, ließ sich mit dieser Erklärung nicht abspeisen.
»Mir machen Sie nichts vor«, erklärte er. »Ich hab’ Sie im Kino gesehen, Sie sind ’n richtiger Star. Die fünf Pfund für einen neun Monate alten Foxterrier, reinrassig, stubenrein, kerngesund, die können Sie sich bestimmt leisten.«
Sie hatte dann den Hund gekauft, weil sie fand, daß der Mann einen grausamen Mund hatte. Vielleicht war sie ihm in Wahrheit schlicht und einfach dankbar gewesen.
So oder so – es war ein gutes Geschäft, dachte Stella, während sie Randolph, der sich auf dem Beifahrersitz räkelte, den Bauch kraulte. Randolph war entschieden ein Hund mit Charme, und sie waren inzwischen die besten Freunde geworden.
Erst in Wales hatte sie Schwierigkeiten mit ihrem Nachnamen. Die Empfangschefs in den Hotels wurden nicht müde, ihr mit einem nachsichtigen Lächeln zu erklären, daß ein F in ihrem Namen fehlte, ein Vorwurf, dem sie nur begegnen konnte, indem sie ihren Paß zückte.
Vielleicht galt die ungewöhnliche Schreibweise nur für ihre eigene Familie, überlegte Stella. Möglicherweise hatte ein Vorfahr aus reinem Snobismus ein F aus seinem Namen gestrichen. Anders zu sein als die anderen, hatte eben von jeher einen besonderen Reiz.
Anders sein als die anderen … Lächelnd dachte Stella an Sam Cullen, der immer das Unerwartete sagte und tat. War sie eigentlich in Sam verliebt? Und wenn nicht, warum mußte sie dann ständig an ihn denken?
Bei ihrer ersten Begegnung war er ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Der Anlaß war eine jener Hollywoodpartys, bei denen Starlets in Fummeln, die sie sowieso nicht mehr zu tragen gedenken, in den Swimmingpool fallen, bei denen man nur um des Redens willen redet und bei dem der prominenteste Gast der Vetter eines bekannten Regisseurs ist, der Schwager des Doubles eines berühmten Stars, eine Sekretärin vom Besetzungsbüro, ein Zeitgenosse, der mal Greta Garbo gekannt hat oder ein früher berühmter, inzwischen abgeschlaffter Drehbuchschreiber, der sich ungebeten von einer Party zur anderen handelt, sich unbekümmert vollaufen läßt und absichtlich nie eingeladen wird, damit der Gastgeber bei seinem Erscheinen entzückt den anderen Gästen zuraunen kann: »Ratet mal, wer jetzt gekommen ist …«
Stella, die noch neu in diesem Milieu war, hatte sich alles in allem gut amüsiert – obgleich sie wußte, daß alle so taten, als spielten sie in einem Kolossalfilm namens Hollywood und obgleich es Sam Cullen nicht weiter zu stören schien, daß sie ihm nach einem ersten, ziemlich heftigen Zusammenstoß betont auswich.
Später traf sie Sam bei einer ganz anders gearteten Party wieder, die so langweilig war, wie eben nur das Echte und Solide langweilig sein kann, und ließ sich unvorsichtigerweise auf ein erneutes Wortgefecht mit ihm ein. Sie zog bei fast jedem Disput den kürzeren und war fast kindlich beglückt, wenn sie mal einen Treffer landete. Er fuhr sie heim, gab ihr einen sehr nachdrücklichen Kuß, ehe sie entschieden hatte, ob sie überhaupt geküßt werden wollte, und fragte, ob sie ihn nicht hineinbitten wolle. Sie war so wütend, daß sie ja sagte.
Das war jetzt vier Jahre her. Jene Nacht war der Anfang und das Ende ihrer Affäre zugleich gewesen. Danach hatte sie lange jeden privaten Kontakt mit ihm gemieden, vielleicht aus dem Gefühl heraus, sich erniedrigt zu haben, vielleicht auch, weil sie ihn wirklich gern hatte, oder weil zwischen beiden Gefühlen eine gewisse Wechselwirkung bestand. Sam war dann ihr Freund, ihr Agent und ihr Trauzeuge geworden, und an seiner Schulter hatte sie sich ausweinen können, als die Ehe gescheitert war. Zu Sam konnte sie immer kommen, wenn sie in Schwierigkeiten war, er hatte ihr auch beigestanden, als sie zum ersten Mal …
Stella verbot sich energisch weitere Erinnerungen.
Die Straße stieg stetig an. Der graue Dunst hatte sich verdichtet. Stella fuhr mit der Hand über den feuchten Trenchcoatärmel. Sie fuhr gern im offenen Wagen, aber wenn das Wetter sich weiter verschlechterte, mußte sie doch anhalten und das Verdeck hochklappen. Andererseits konnte es nicht mehr weit zum Dorf sein.
Tatsächlich, hinter der nächsten Kurve stand das Ortsschild: »Rythgollen«. Über eine kurze Strecke verlief die Straße hier ganz eben; Stella lenkte den Wagen auf den Grasstreifen und hielt an.
Sie befand sich am höheren Ende eines flachen, von grünen Hügeln gesäumten Tals. Unten verlor sich die Straße zwischen hohen Bäumen, über denen sich ein Kirchturm erhob.
Stella beschlich ein seltsames Gefühl. Von hier aus hatte ihre Großmutter vor sechzig Jahren als junge Frau zusammen mit anderen Grifiths die lange Reise ins ferne Pennsylvania angetreten, wo man, wie auch hier, vom und mit dem Bergbau gelebt hatte. Sie waren in Unfrieden von Rythgollen geschieden. Worum es damals bei dem Streit gegangen war, hatte Stella nie erfahren, sie hatte wohl auch nie beharrlich genug nachgefragt. Als Einzelkind hatte sie sich oft einsam gefühlt und deshalb gern den in einem Mischmasch aus Englisch und Walisisch geführten Monologen der Großmutter zugehört. Vom Dorfklatsch hatte sie da erfahren, von Festen und Fehden, Hochzeiten und Begräbnissen. Großmutter Grifith wäre gern wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Dazu war es nicht mehr gekommen. Erst ihre Enkelin hatte das geschafft.
Jetzt entdeckte Stella in einiger Entfernung ein großes Haus, das sie, ohne es je gesehen zu haben, sofort erkannte. Es war die Grange, das Herrenhaus des Dorfes. Ihre Großmutter hatte oft erzählt, wie sie und andere Kinder dort die Obstbäume geplündert, sich heimlich auf einen der Gäule geschwungen hatten oder Steinchen über den Teich hatten hüpfen lassen. Im Nebel und der aufkommenden Dämmerung war das Haus nicht deutlich zu erkennen. Stella beschloß auszusteigen und ein bißchen näher heranzugehen. Als sie die Wagentür öffnete, heulte Randolph kurz auf. Stella sah ihn überrascht an.
Der Hund hatte sich aufgesetzt und ließ die Ohren hängen. Sein Blick sagte sehr deutlich: Mir gefällt das nicht, Miss Grifith.
»Was gefällt dir nicht?«
Zu ärgerlich, dachte Stella, daß wir Menschen die Hundesprache so schlecht verstehen. Sie merkte nur, daß Randolph sich nicht wohl in seiner Haut fühlte; weshalb, das konnte er ihr nicht begreiflich machen.
»Jetzt werde du nicht auch noch neurotisch«, mahnte sie ihn streng.
Sie stieg aus, sah sich das Haus genauer an – und runzelte die Stirn.
Irgend etwas stimmte hier nicht. Die Großmutter hatte immer von zwei Türmen gesprochen. Jetzt sah man nur noch einen. Langsam ließ sie den Blick an dem zweigeschossigen grauen Bauwerk entlanggleiten. Ihr Gesicht wurde traurig.
Nur ein Ende des Hauses war im Original erhalten, sie erkannte die Zacken und Türmchen, die Wasserspeier und vorspringenden Simse, die bunten Glasfenster in den Spitzbogen, all das gruslig-schöne, düster-romantische Drum und Dran einer in ihrer Bombastik ein wenig lächerlich wirkenden Gotik. Zu zwei Dritteln bestand das Haus aus einem Neubau im Stil einer mediokren Moderne.
Bei flüchtiger Betrachtung aus der Entfernung verwischte sich der Kontrast zwischen alt und neu. Aus der Nähe mußte der Eindruck niederschmetternd sein.
Stella seufzte. Wahrscheinlich war ein Teil des Hauses unbewohnbar geworden, und ein Verrückter mit mehr Geld als Bildung hatte ihn abgerissen und durch diese scheußliche Architektur ersetzt. Vermutlich jemand vom Fernsehen.
Sie seufzte wieder und sah zu den Bäumen hinüber, hinter denen sich das Dorf verbarg. Auch dort würde sich vieles verändert haben. Inzwischen waren sechzig Jahre vergangen. Neubauviertel, Hotels, Kinos, Verkehrsampeln und all die anderen Errungenschaften des Fortschritts würden vor Rythgollen nicht haltgemacht haben.
Sehnsüchtig dachte sie an das Dorf, wie sie es aus den Erzählungen ihrer Großmutter kannte. Damals hatte es praktisch aus einer langen Straße bestanden, an der sich rechts und links die Häuser hinzogen, alle aus dem grauen Stein der Gegend gebaut, mit grauem Schiefer gedeckt. In den Vorgärten blühte es bunt, fleißig drehte sich das Förderrad der Zeche. Meist standen ein paar alte Männer und ein Pferdegespann vor dem einzigen Wirtshaus herum. Es gab einen Dorfladen, in dem sich die Frauen zu einem Klatsch auf walisisch zu treffen pflegten – nur wenige Dörfler sprachen damals Englisch –, die Kinder trabten zur Schule und wurden am Sonntag, in unbequeme dunkle Kleidung gesteckt, zur Kirche geführt. Und immer schien die Sonne.
Stella war froh, daß ihre Großmutter die alte Heimat nicht mehr wiedergesehen hatte.
Randolph stieß einen langen, vorwurfsvollen Heuler aus, der in einem Knurren endete.
Stella wandte sich um. »Was hast du denn?« fragte sie erstaunt. Der Hund war ihr nicht gefolgt wie sonst, wenn sie aus dem Wagen stieg. Sonderbar, dachte sie.
Er hatte die Vorderpfoten aufs Armaturenbrett gestellt und ließ noch immer die Ohren hängen. Diesmal erkannte Stella selbst aus der Entfernung sehr deutlich, was er sagen wollte. Ich will weg von hier.
»Ja, wohin denn?« fragte sie lachend.
Randolph drehte den Kopf nach hinten, als wolle er ihr den Weg weisen.
Unheimlich, dieser Hund …»Wir können nicht zurück«, sagte sie. »Es ist spät, und ich bin müde.« Sie ertappte sich dabei, daß sie auf eine Bestätigung ihrer melancholisch gefärbten Erwartungen hoffte: Vielleicht verfügte das moderne Rythgollen tatsächlich über ein Hotel, das neuzeitlichen Anforderungen entsprach. Langsam war sie die zwar romantischen, aber eben auch aller modernen Errungenschaften baren Dorfgasthäuser leid. Heute stand ihr der Sinn nach Zentralheizung, einem heißen Bad und gutem Essen.
Unwillkürlich sah sie noch einmal zur Grange hinüber und ließ kopfschüttelnd den Blick über die Längsseite des Hauses gleiten. Dann stutzte sie und kniff unwillkürlich die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Auf halber Höhe des Hauses hatte es offenbar einmal einen Seitenflügel gegeben, von dem nur noch die Grundmauern und ein Häufchen rußgeschwärzter Schutt übriggeblieben waren. Auch die Hauswand war an dieser Stelle geschwärzt; hell leuchteten nur die Stellen, an denen Türöffnungen zugemauert worden waren.
Es sah so aus, als wäre das Herrenhaus zu zwei Dritteln abgebrannt und als habe man nur ein Drittel wieder aufgebaut. Aber warum war dann auch der Neubau rauchgeschwärzt?
Warum dieses übertriebene Interesse, fragte sie sich laut und gab sich gleich selbst die Antwort: Warum eigentlich nicht? Für irgend etwas muß ich mich ja interessieren. Übrigens – wie lange führst du schon diese Selbstgespräche? Länger als du denkst, mein Kind. Deshalb hast du dir nämlich Randolph angeschafft, damit du dir selbst etwas vormachen kannst. Preisfrage: Wann wird eine Neurose zur Psychose?
Stella zuckte zusammen. Am gotischen Ende des Hauses hatte sich etwas bewegt. Ein Mensch. Sie nahm sich zusammen. Was hatte sie erwartet? Ihre Großmutter als junges Mädchen wiederzusehen?
Was sich dort unten bewegte, war kein junges Mädchen, sondern ein Mann. Es war jetzt schon ziemlich dunkel, so daß man Einzelheiten nicht mehr erkennen konnte. Nur daß der Mann sich seltsam verstohlen bewegte, war nicht zu übersehen. Er ging gebückt und vorsichtig, wie über Glatteis. Mit einer Hand stützte er sich an der Hauswand ab und drehte ständig den Kopf hin und her.
Stella verfluchte die zunehmende Dunkelheit und beruhigte sich gleichzeitig mit dem Gedanken, daß sich jeder für einen Mann interessieren würde, der auf verdächtige Weise um ein Haus herumschleicht.
Warum eigentlich auf verdächtige Weise? Mußte sie denn alles dramatisieren? Wahrscheinlich spielte er mit seinen Kindern Verstecken.
Stellas Blick glitt unvermittelt in eine andere Richtung. Hinter dem Mann war an der Hausecke eine zweite, eine weibliche Gestalt aufgetaucht. Auch sie bewegte sich verstohlen, konstatierte Stella ohne besondere Überraschung. Langsam, mit dem Rücken zur Wand, schob sie sich vorwärts.
Jetzt fing es an zu regnen. Zögernd, und mehr mit Rücksicht auf das offene Kabrio als auf sich selbst, trennte Stella sich von der spannenden Szene.
Zwanzig Sekunden später war Stella wieder am Wagen angelangt. Aus dem sanften Nieseln war inzwischen ein Wolkenbruch geworden. Fluchend kämpfte sie mit dem Verdeck. Als sie endlich im geschlossenen Wagen saß, war sie naß bis auf die Haut. Notdürftig trocknete sie Gesicht und Hände, dann startete sie den Wagen, stellte die Heizung und Scheinwerfer und Scheibenwischer an.
Plötzlich merkte sie, wie Randolph ihr eine Pfote auf den Arm legte. Als wolle er sie warnen, zurückhalten. Freundlich, aber bestimmt machte sie sich los, tätschelte ihn tröstend und fuhr los.
»Mach kein Theater, mein Junge. Und halt dich schön fest. Wir suchen uns jetzt schleunigst eine Herberge für heute nacht.« Sie rollte auf die Straße zurück und gab Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Die Sichtweite betrug knapp fünfzehn Meter. Erfolglos bemühten sich die Scheinwerfer, den Regenvorhang zu durchdringen, der immer wieder vor ihr zurückwich.
Stella nahm in hoher Geschwindigkeit eine Kurve. Eigentlich, dachte sie, macht das alles richtigen Spaß. Der Regen, der auf das Verdeck pladdert, die hektisch arbeitenden Scheibenwischer, die sich mit dumpfem Laut durch Pfützen arbeitenden Reifen, die wie erschrocken zurückweichende Regenwand – das alles empfand sie als seltsam erregend.
Sie ging in eine unübersichtliche Steigung, ohne das Gas wegzunehmen, und mußte das Steuer herumreißen, um eine unmittelbar folgende Haarnadelkurve zu nehmen. Die Reifen kreischten protestierend.
Stella lächelte, ihre Augen glänzten. Schön war das. Erst jetzt hatte sie so richtig das Gefühl, auf der Flucht zu sein.
Die Kurve lief nicht allmählich aus, sondern ging in eine unvermittelt gerade Strecke über. Stella wäre um ein Haar an der Böschung gelandet. Sie schob das Kinn vor, sagte Randolph, er solle gefälligst stillsitzen, und stieg voll aufs Gas.
Schon wieder eine Kurve. Stella nahm Gas weg. Dann war plötzlich die Regenwand verschwunden, und Stella schrie entsetzt auf.
Höchstens einen halben Meter vor ihr stand eine Frau, eine schattenhafte Gestalt. Die drei weiß leuchtenden Flecken waren zwei vorgestreckte Hände, ein Gesicht, dessen Züge im gleißenden Scheinwerferlicht nicht zu erkennen waren.
Stellas Schrei erstarb bei der Anstrengung, das Steuer herumzureißen und auf die Bremse zu treten. Dann war die Frau nicht mehr da, eine Böschung ragte auf. Stella konnte nicht mehr gegensteuern, sie wurde nach vorn geschleudert, mitten in ein ohrenbetäubendes Krachen und Bersten hinein.
Über dem schmerzhaften Dröhnen, das ihren Kopf erfüllte, hörte sie Randolph bellen, eine Frau jammern und einen Mann schreien. Sie spürte, wie sie das Bewußtsein verlor, und dachte: Willkommen daheim. Das geschieht dir recht, du Kamel.
Sie wußte nicht recht, ob sie wachte oder träumte. Das ging schon eine ganze Weile so. Der Nebel war nämlich merkwürdigerweise schon in ihrem Traum dagewesen, einem Traum, der im Filmatelier gespielt hatte. Das Filmatelier war weg, aber der Nebel war immer noch da. Vielleicht ging ja der Traum hinter dem Nebel weiter, aber das war dann ein reichlich dummer Traum, und ihre Träume waren meistens sehenswert, manchmal eine richtige Doppelvorstellung mit Wochenschau.
Wenn ich wieder Witze machen kann, folgerte Stella, muß ich wohl wach sein. Sie blinzelte und stellte fest, daß sie im Bett lag. Der Nebel erwies sich als das blasse Glimmen eines Nachtlichts, das weder die Zimmerdecke noch das Fußende des Bettes erreichte.
Wahrscheinlich, überlegte sie, bin ich im Krankenhaus. Sie gab es auf, die Düsternis durchdringen zu wollen, es strengte die Augen zu sehr an. Weh tat ihr nichts, nur am Kopf hatte sie ein sonderbar dumpfes Gefühl. Vorsichtig hob sie eine Hand; ihre Finger berührten weichen Mull. Vom linken Auge zog sich ein Verband schräg nach oben. Sie ließ die Hand sinken. Ernsthafte Sorgen machte sie sich in diesem Augenblick nur darüber, ob es wohl schlimmer war, wenn es sie an der Stirn erwischt hatte, wo man später vielleicht die Narbe sehen würde, oder am Hinterkopf, wo ihr vermutlich das Haar weggeschnitten worden war. Sie schloß die Augen, lag ganz still und versuchte sich zu erinnern. An die rasende Fahrt im Regen, an die Frau, die plötzlich vor ihr aufgetaucht war, an den Aufprall, die Schwärze der Bewußtlosigkeit, in der sie versunken war. Später hatte sie undeutlich wahrgenommen, wie jemand sie ausgezogen hatte. Große Pause. Dann sprach sie ganz vernünftig mit einem Mann, offenbar einem Arzt, der ihr eine Spritze gab. Wieder große Pause.
Es mußte ein ziemlich mildes Beruhigungsmittel gewesen sein, zumindest im Vergleich zu ihren Schlaftabletten, denn es war ja noch Nacht, und sie war schon aufgewacht. Sie überlegte, ob sie nach der Schwester klingeln und sich ein Schlafmittel geben lassen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie fühlte sich durchaus wohl, fast behaglich, sicher aufgehoben.
Dann fiel ihr Randolph ein, sie rief nach ihm, horchte vergeblich auf Pfotengetrappel, ein Schniefen. Panik stieg in ihr auf. Dann dachte sie daran, wie energisch er nach dem Aufprall Laut gegeben hatte. Im Krankenhaus ließ man Hunde nicht zu den Kranken, das war ein ehernes Gesetz. Doch sie würden schon gut für ihn sorgen.
Als ihr wieder einfiel, wie sonderbar sich Randolph kurz vor dem Unfall benommen hatte, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung. Es war doch etwas dran an dem alten Spruch vom sechsten Sinn der Tiere. Er hatte gewußt, daß ein Unglück geschehen würde, und hatte versucht, sie zu warnen. Sie war richtig stolz auf ihn. Wäre sie ihm nur gefolgt … Sobald sie wieder auf den Beinen war, würde sie Randolph im besten Restaurant von Nordwales ein Riesensteak spendieren.
Das Lächeln über diesen Vorsatz verging ihr rasch. Sobald sie wieder auf den Beinen war … Die gängige Redensart hatte plötzlich einen ominösen Beiklang. Wer weiß, vielleicht war ihr Zustand ernster, als sie glaubte, womöglich hatte sie innere Verletzungen.
Wieder kämpfte Stella mit der Versuchung, nach der Schwester zu klingeln, wieder drängte sie den Wunsch zurück. Sie durfte sich jetzt nicht verrückt machen, es würde schon alles in Ordnung kommen.
Aber ein Witz wäre es doch, überlegte sie, wenn ich hier, in einem gottverlassenen walisischen Krankenhaus, sterben würde. Vermutlich wußte niemand, wer sie war, die guten Leute würden große Augen machen, wenn plötzlich die Reporterschwärme anrollten. Und daß die Presseleute Wind von der Sache bekommen würden, ehe es zu Ende ging, damit durfte man getrost rechnen. Filmschauspielerin kämpft mit dem Tod. Eigentlich eine dramatische Schlußszene, so ein Autounfall. So schön romantisch. Filmstar von berühmten Ärzten betreut. Ein gefundenes Fressen für die Reporter. Tagelang würde sie Schlagzeilen machen, bis es hieß: Filmstar stirbt auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. (Nur in Hollywood würde man wissen, daß es eher der Tiefpunkt war.) Sie würde ihr Bestes geben, für den letzten Akt all ihre Kräfte aufbieten müssen. Star stirbt mit Lächeln auf den Lippen.
Die Kamera fährt langsam über den Gang des Krankenhauses, erfaßt eine Gruppe bedrückter Menschen mit traurigen Gesichtern, die sich um eine Tür drängen, dann sieht man ein verdunkeltes Zimmer, in dem noch bedrücktere Menschen mit noch traurigeren Gesichtern herumstehen, die Kamera fährt hinüber zum Bett, erfaßt das schöne Gesicht auf dem Kissen. Die berühmte Filmschauspielerin hat die Augen geöffnet, in denen Tränen stehen. Ein Lächeln spielt um ihre Mundwinkel. Sie erinnert sich.
Rückblende.
Mit der Schauspielerei hatte Stella am College angefangen. Zunächst hatte sie nur widerwillig bei dem Studententheater mitgemacht, aber dort hatte sie der Bazillus erwischt, von dem sie sich nie mehr erholen sollte. Das Theater wurde ihr Leben. Vom zweiten Collegejahr an spielte sie Hauptrollen, nach dem Abschluß ging sie nach Hollywood.
Nach einem Jahr und mehreren Affären hatte sie begriffen, daß sie nichts erreicht hatte und auch nie etwas erreichen würde, daß sie mit Abertausenden junger Mädchen konkurrierte, von denen viele mehr Erfahrung hatten und die fast alle hübscher waren als sie, daß sie in Gefahr geriet, das Heer der Frauen zu verstärken, die sich auf diese oder jene Art prostituieren mußten, um leben zu können. Sie ging nach New York.
Drei Winter lang verdiente sie sich als Bedienung und mit allen möglichen Jobs hinter der Bühne das Geld für die Schauspielschule, vier Sommer lang spielte sie kleine Rollen in Sommertheatern, studierte als Ersatzfrau die Rollen der Hauptdarstellerinnen ein und lernte wie besessen. Im vierten Winter bekam sie eine durchaus achtbare Nebenrolle bei einer Truppe, die mit einem Broadwayhit auf Tournee ging. Das war der Wendepunkt. In den nächsten zehn Jahren bekam sie immer wieder gute Rollen am Broadway, eine Saison lang spielte sie Shakespeare in Stratford, Ontario. Ganz reizend, sagten die Kritiker. Sehr fähig, urteilten sie. Immer besser. Erfreulich einsichtsvolle Rollenauffassung. Achtbare Leistung. Immer gern gesehen. Hauptstütze eines schwachen Stückes. Sie schien dazu bestimmt, zeit ihres Lebens die zweite Rolle zu spielen.
In diesen Jahren heiratete sie einen Bühnenbildner. Sie erfuhr, daß sie nie Kinder haben würde, was sie eher als kränkend denn als bedauerlich empfand. Als bei ihrem Mann die Aufträge ausblieben, stellte sie fest, daß sie mit einem Verbalsadisten verheiratet war. Vergeltung war zwecklos, Beleidigungen rannen an ihm herab wie Wasser am Gefieder einer Ente. Die Scheidung war unerfreulich. Sie hatte ein paar flüchtige Affären mit Schauspielern und eine längere Liaison mit einem Taxifahrer. Nach drei Jahren trennten sie sich in aller Freundschaft, zu Weihnachten schickte er ihr immer noch einen Gruß.
Als sie vierunddreißig war, bot ihr ein italienischer Produzent die Hauptrolle in einem Film an. Das Honorar war fast beleidigend niedrig. Er brauchte einen amerikanischen Namen, um den Film in den USA verkaufen zu können, konnte sich aber keinen Topstar leisten. Stella wußte das, sie wußte auch, daß der Produzent eigentlich lieber eine andere Schauspielerin gehabt hätte, trotzdem akzeptierte sie. Nach sieben Wochen Drehzeit in Rom war der Film fertig und machte auf den Filmfestivals die Runde. In San Sebastian bekam Stella den Preis für die beste schauspielerische Leistung, der Film selbst verschwand in der Versenkung, ebenso ging es in Cannes und in Venedig. Plötzlich sprach alle Welt von Stella Grifith. Hollywood nahm die Zigarre aus dem Mund und sprach das Zauberwort.
Sie geriet an verschiedene Produzenten. Einer hatte genau die richtige Rolle für sie, nur … Und dann kam das übliche mehr oder weniger eindeutige Angebot. Die Situation war für Stella nicht neu. Sie bekam die Rolle, ohne das Angebot anzunehmen, indem sie dem Produzenten freundschaftlich den Arm tätschelte und ihm erklärte, sie sei zwar eine gute Schauspielerin, aber mies im Bett.