Maxine Clair
Kirschbombe
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg
FISCHER Digital
Maxine Clair, die in Kansas City geboren und aufgewachsen ist, lehrt an der George Washington University und lebt mit ihren vier Kindern in einem Vorort von Washington. ›Kirschbombe‹ ist ihre erste Buchveröffentlichung.
›Kirschbombe‹, Maxine Clairs hochgelobtes Erzähldebüt, ist ein äußerst lebendiges, poetisches und liebenswertes Buch. In einer lose verbundenen Folge von Episoden, Momentaufnahmen, großen und kleinen Abenteuern beschreibt die amerikanische Autorin Atmosphäre und Milieu, das Leben und die Bewohner von Rattlebone, einer kleinen fiktiven Schwarzen-Gemeinde nördlich von Kansas City während der fünfziger Jahre.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561374-0
Meiner ersten Familie gewidmet –
Lucy und Robert Smith,
Robert jr., Gloria, Ronald,
Linda, Elinor, Joyce,
Donna und Steven
Und wie immer Stephen, Michael,
Joey und Adrienne
für diese Reise, diese Liebe
Wir hatten es von unseren Freundinnen, und die von ihren Großmüttern, die es beinahe mit eigenen Augen gesehen hatten, und von ihren Nachbarinnen mit den übersinnlichen Kräften, daß unsere Lehrerin, Miss October Brown, als sie in unserem Alter war, gesehen hat, wie ihr Vater in seiner Wut ihrer Mutter mitten ins Herz schoß. In einem Anfall rasender Trauer warf sich October Brown gegen die Wände und auf den Boden und nahm den Namen Gottes in den Mund, aber nicht nur aus Blasphemie, sondern um zu fluchen, daß es einen verkrüppeln konnte und Männer wie Schakale heulen ließ. Und man erzählte sich weiter, daß kurz darauf der Satan bei October Brown erschienen war, und von dem Tag an bis zu dem Jahr, in dem sie unsere Lehrerin wurde, trug sie auf der dunkelbraunen Haut ihrer linken Wange einen lodernden weißen Fleck: ein Mal, einen Teufelskuß.
Das paßte zu dem, was wir schon wußten, nämlich, daß ein Fleck ausgebleichter Haut den Tod bedeutete; das Weiße würde sich ausbreiten. Und wenn der ganze Körper davon bedeckt war, dann starb man.
Ich bezweifle, daß irgendwer von uns wirklich die ganze Geschichte glaubte, aber wir waren von dieser Vorstellung derart fasziniert, daß sie uns noch vor Ende des ersten Schultags in helle Aufregung versetzte – eine gedämpfte Aufregung, weil wir dachten, daß eine Frau mit einer solchen Geschichte bestimmt schnell gereizt war und wie ein Blitz in einer einzigen Bewegung von ihrem Pult zu deinem Tisch fahren konnte, dich an den mageren Schultern hochreißen, fest auf den Dielenboden stellen und dir mit knurrendem, zornentbrannten Unterton befehlen konnte, geradezustehen und zu sagen, was immer sie von dir verlangte, um dich dann im Mörser ihres schwarzäugigen Starrens zu zermalmen.
Intuition ist der Schutzengel der Kindheit; bei uns war sie stark ausgeprägt, und das war unser Glück. Bevor wir noch wußten, was Tagesereignisse überhaupt waren, fragte sie uns, wer Wallis Warfield Simpson sei, und wir saßen still. Starre fuhr uns in die Arme und nagelte unsere Fäuste auf die Tischmitte. Nicht eine einzige Hand erhob sich.
Unsere Blicke wagten nicht, ihr zu folgen, als sie von ihrem Pult aufstand, langsam tänzelnd durchs Zimmer ging, sich wie ein Kamel bei jedem Schritt in ihre geschmeidigen Knie sinken ließ, eine Runde nach der anderen drehte, fragte: »Wer war Eduard der Achte?« und schneller wurde, während sich ein paar Augen bewegten, ein paar Füße unter den Tischen scharrten.
»Wer weiß es, oder wer glaubt es zu wissen?« fragte sie und stand wieder am Pult.
»Na gut, wer war Georg der Sechste?«
Wir waren wieder still, bis sie ihr Thorndike International Dictionary auf den Tisch knallte und wir unsere Ellenbogen umklammerten.
»Schaut mich an.«
Wir schauten.
»Wer war Georg der Sechste?«
Wir schauten, und das blaue Lexikon flog über unsere Köpfe hinweg und knallte zwischen zwei Sprossenfenstern gegen die Hinterwand. Eine Eckglasscheibe, die in irgendeinem Winter oder Sommer zuvor von einem Luftgewehrschuß gelockert worden war, fiel auf den Heizkörper und zerschellte auf dem Fußboden.
»Morgen frage ich euch wieder.«
Meine Mutter meinte, das sei die nervöse Seite von Miss Brown, die da hervorkam, die schwarze Lehrerin October Brown, »die versucht, euch ein wenig Verstand in eure kleinen Niggerschädel zu bleuen«, sagte sie.
»Sagt euren Eltern, daß ihr dieses Jahr Französisch lernen werdet. Sagt ihnen, sie sollen mir eine Entschuldigung schreiben, wenn sie euch davon befreien wollen.« Und sie fuhr fort: »Diese Bücher sind alt, aber die Grammatik hat sich nicht geändert. Diese Bücher sind etwas Besonderes. Jedes einzelne davon gehört mir persönlich. Ihr könnt sie nicht kaufen oder ersetzen, also verhaltet euch entsprechend.« Dann sagte sie zu John Goodson: »Gib die Bücher aus, soweit sie langen, und teilt euch eins mit eurem Nachbarn.«
Es machte nichts, daß im Lehrplan von Kansas City Französisch überhaupt nicht vorkam, es machte auch nichts, daß der Inspektor für die Grundschulen ihr deswegen drohte. »Qu’est-ce que c’est?« »C’est le pupitre.« »Qu’est-ce que c’est?« »C’est la lumière.«
Die fleckenlose Seite von Miss Brown kam an den Mittwochnachmittagen nach der Pause zum Vorschein. »Köpfe runter, Leute«, sagte sie dann, schaltete einen Teil der Deckenbeleuchtung aus, senkte ihre Stimme und las unseren gebeugten Köpfen von der Zeit vor, als alles noch schwärzer war als hundert Mitternächte und ein einsamer Gott in den Raum trat, mit seinen blitzenden Augen blinzelte, die Erde erschuf und uns aus dem Lehm am Fluß formte, und sie las unseren müden Häuptern von Jungen vor, die auf einem Floß den Fluß hinuntertrieben, las uns mit entsprechender Stimme von einem Jungen und einem Mädchen vor, die sich, vom Unglück verfolgt, aus Versehen und absichtlich gegenseitig umbrachten. Sie las sich selbst laut vor, und wir hörten neugierig zu und warfen ihr verstohlene Blicke zu, wie sie seitlich auf ihrem Thron saß, die Beine graziös übereinandergeschlagen, ihr Gesicht ein stiller dunkler Brunnen voll Melasse, von einem Todeskuß gezeichnet. Ihr pechschwarzes Haar roch nach all ihren Lebensdüften; in der Mitte gescheitelt, hing es ihr in einer dichten Krause bis auf die gepolsterten Schultern ihrer adretten Kleider herab.
Diese Kleider. »Ich würde so was ja nicht tragen, aber sie hat schmale Hüften«, sagte meine Mutter. Sie waren an der Taille drapiert oder mit Volants besetzt, Crêpe mit paillettenbesetzten Drachen, Pfauen und glitzernden Schmetterlingen, Kleider, die wie die Sonne strahlten neben all den dunklen Sachen, die dunkle Mädchen am anderen Ende des Klassenzimmers trugen, wo es uns zur Mittagszeit hinzog, wo sie Klassenarbeiten benotete und ihre Serviette ausbreitete, für ein geschältes, hartgekochtes Ei, eine gehäutete rote Tomate, eine geschälte und zu einer Blume geöffnete Orange auf einem weißen Porzellanteller mit aquamarinblauem Rand. Wir knabberten an unseren Mortadellasandwiches, die Kruste zuerst, und versuchten, es ihr auf dem Butterbrotpapier in unseren Papiertüten gleichzutun.
Zum Essen in der Schule zu bleiben hieß für uns, den ganzen Tag von zu Hause fort zu sein, Himmel und Hölle zu spielen und uns Geschichten von Hank Mizell zu erzählen. Hank war der schlimmste Übeltäter unter uns, der von dem Geld für die Kriegsanleihemarken aus Miss Browns Schublade einen Dollar gestohlen und ihn im Schuh hinausgeschmuggelt hatte. Niemand hatte ihn verraten. Loyalität schuf Helden, und von dem Tag an war er unbesiegbar.
Aber meine Mutter sagte, die Mizells hätten genug Geld, um alles zu tun, worauf sie nur Lust hätten. »Und bilde dir nur nicht ein, daß du das auch darfst«, sagte sie und war ohne jeden Grund wütend auf mich.
Durch einen Umstand, der mir damals noch nicht klar war, hatte meine Mutter ein Baby in sich wachsen lassen und damit meinen Vater verärgert.
»Für wen hältst du mich eigentlich, Pearl, für einen Dukatenesel? Du holst besser deinen Kopf wieder aus den Wolken und nimmst noch mehr Bügelarbeit an oder so was.«
Wann immer sie miteinander sprachen, redeten sie übers Baby. Wann immer sie nicht miteinander sprachen, auch. Für mich hatten sie nur ein Schweigen übrig.
Falls Sie schon jemals an einem Sommernachmittag in Kansas nach einem Schauer die Erde gekostet haben, oder wenn Sie das insgeheim schon mal tun wollten, dann verstehen Sie vielleicht, warum ich oft in Versuchung war, ein Stück Kreide zu essen. Sie schmeckte nach dieser Erde. Aber wenn Sie das aufgeschossene Mädchen gesehen hätten, das ich damals war, wie es eines Tages mit blödem Gesicht an der Tafel stand und ein Stück Kreide lutschte, dann wäre Ihnen das vielleicht doch komisch vorgekommen.
»Irene, was ist los mit dir? Bist du krank? Schultern gerade und antworte mit ja oder nein«, sagte Miss Brown.
Ich konnte darauf keine Antwort geben.
»Wenn weiter nichts ist, dann schreib die Ergebnisse hin und setz dich«, sagte sie.
An jenem Morgen war ich von der Wut in der Stimme meines Vaters aufgewacht. »Wie oft muß ich dir das noch sagen, Pearl? Das Zeug kostet Geld! Seit wann kannst du denn keine Windeln mehr waschen? Für Reenie hatten wir auch keinen Windeldienst.«
Und dann die Wut meiner Mutter, als sie zu ihm sagte: »Fang ja keinen Streit mit mir an, James. Schließlich bin ich diejenige, die das Baby kriegt. Wer hat denn als letzter in diesem Haus ein Paar neue Schuhe gekriegt? Verrat mir das mal. Wer nervt mich denn die ganze Zeit damit, daß sein Papa jeden Sonntag Steak gegessen hat?« Mein Vater stürmte die Treppe hinauf. Meine Mutter stürmte sofort hinter ihm her und ließ nicht locker.
Sie befanden sich an entgegengesetzten Enden desselben Gleises, und ich wußte von anderen Gelegenheiten, daß sie beide Gas geben und aufeinander zurasen würden, bis sie nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren; dann würden sie beide nachgeben und poltern, bis wieder Stille eintrat. Später dann würde mein Vater Orangeneis mit nach Hause bringen, und meine Mutter würde ihm den Rücken rubbeln, und sie würden beide lachen.
Aber diesmal, noch bevor das Gepolter zu Ende war, hörte ich etwas, das so klang, als würde das Haus einstürzen. Mein Vater schrie auf, als koste es ihn seinen letzten Atem, und rannte die Treppe hinunter. Ich flog zum oberen Treppenabsatz. Er hob meine Mutter vom Boden auf und flehte die ganze Zeit: »Lieber Gott.« Er rief mir zu, ich solle die Krankenschwester anrufen, aber als er sah, daß ich mich nicht rühren konnte, trug er meine Mutter ins Bett und rannte los, um selbst anzurufen.
»Reenie, du wartest an der Tür auf die Schwester«, befahl er mir, aber ich konnte mich nicht vom Fußende des Bettes meiner Mutter wegrühren. Er deckte sie mit einer Flickendecke zu, bat sie, »bitte«, still zu sein, aber sie erzählte ununterbrochen von all den Sachen, die sie aus dem Katalog für das Baby bestellen wollte, und all den Häusern, in denen ich bleiben konnte, falls sie mich allein lassen mußten. Als die Krankenschwester kam, sagte sie zu meinen Eltern, sie sollten mich in die Schule schicken, aber mein Vater erlaubte mir, zu Hause zu bleiben, bis sie sich auf den Weg ins Krankenhaus machten.
Ich war mir sicher, daß der Sturz meiner Mutter nur das Vorspiel zu einem Unglück war, und ich stand da vor der Tafel, die Kreide im Mund, und lutschte und grübelte darüber nach, daß einer von beiden, Mutter oder Baby, wohl sterben würde. Ich versuchte, meine Trauer auf den Verlust des Bauches meiner Mutter zu richten, aber da ich mir nicht sicher war, welche Wirkung meine Entscheidung hatte, machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, meine Mutter zu verlieren.
»Irene, leg die Kreide hin. Setz dich und lern deine Wörter. Was ist los?«
Meiner Freundin Jewel Hicks, dem rosabeschleiften, geschwätzigen, dringend eine Tracht Prügel brauchenden Juwel von Mrs. Hicks, mit der wir uns das Telefon teilten, entging nichts von alledem.
»Ihr Pa hat ihre Ma die Treppe runterfallen lassen, und ihre Ma kriegt ein Baby.«
Wimmern ist das Geräusch, das man macht, wenn man sich räuspert, damit man wieder Luft kriegt, und man aus heißen Augen weint, damit man – »Na komm, Irene« – hinaus auf den Gang findet. Unser Hausmeister, der seinen Besen vor sich herschob, nickte im Zwielicht des Flurs: »Wie geht’s, Miss Brown«, und das vom Sägemehl gedämpfte Klicken ihrer hochhackigen Schuhe tröstete mich auf dem Weg zur Mädchentoilette ebenso wie ihr Arm um meine Schultern, und ich weinte so lange, bis ich einen Schluckauf bekam.
»Jetzt hör mal zu. Ganz gleich, was geschieht, du wirst schon klarkommen«, sagte Miss Brown. »Du bist ein prima Kerl, du bist nicht auf den Kopf gefallen, und du kannst stark sein, selbst wenn du Angst hast. Aber mach dir keine Sorgen, deine Mutter ist bald wieder okay, und dem Baby und deinem Pa wird es auch gutgehen.«
Als ich an jenem Nachmittag nach Hause kam, hatte mein Vater einen »Rate mal«-Unterton in der Stimme und ein kleines Lächeln auf den Lippen.
»Natürlich verläßt deine Ma uns nicht einfach so«, sagte er zu mir. »Und außerdem«, sagte er, »hat sie uns ein funkelnagelneues Baby gebracht, einen Jungen.« Ich war das glücklichste Mädchen in Rattlebone, Kansas City.
Ein paar Tage später kam das Baby mit meiner Mutter nach Hause. Es war ein winziges, wundes Ding, das sich wand und würgte. Es richtete sich plötzlich auf, spreizte die winzigen Finger, griff in die Luft und zitterte, als falle es. Es schrie und machte viele Umstände, und auf der hinteren Veranda türmte sich die dreckige Wäsche. Es schlief, und wir drückten unsere Ohren ans Radio und hörten uns Damon Runyon und Let’s Pretend an. Andauernd hieß es, das Baby dies, das Baby das; es dauerte bis Thanksgiving, bevor sich die Lage wieder normalisierte.
Zu Weihnachten schlief Junie die Nacht durch, und meine Mutter hatte wieder zu arbeiten angefangen und bügelte bergeweise anderer Leute Wäsche. Mein Vater fand Arbeit als Maurer beim Trockenausbau, und wir waren froh darüber, alle eine Beschäftigung zu haben. Eine Woche vor Weihnachten hielt der Lieferwagen von Montgomery Ward vor unserem Haus, und wir spielten verrückt. Ich wußte, einige der Versandhausbestellungen mußten für mich sein. Der Fahrer brachte ein paar Kartons an die Tür, und meine Mutter – »Mach mal Platz, Reenie« – trug sie schnell auf ihr Zimmer. Ich schaute nach, ob das alles war, und sah, wie zwei Männer eine strahlendweiße Überraschung die Ladebohlen auf den Bürgersteig herunterrollten. Ich rief so laut, daß meine Mutter angerannt kam und Jitterbug tanzte, als sie es sah. »Westinghouse« stand drauf. »Westinghouse!« rief ich. Sie stellten das Ding mitten im Vorderzimmer ab. »Die haben wir dringend gebraucht«, sagte mein Vater und grinste, als er heimkam und meine Mutter ihm um den Hals fiel.
Bei der Waschmaschine mit den zwei Wringern handelte es sich um ein richtiges Das-sollen-uns-die Mizells-erstmal-nachmachen-Vorzeigestück, aber noch viel glücklicher war ich über meinen ersten im Laden gekauften Faltenrock mit dazu passenden Kniestrümpfen. Mit uns ging es offenkundig aufwärts.
Der Winter setzte immer schon ein, wenn die Sonne noch nicht allzuweit südlich am Himmel stand; ein weißes Thanksgiving war so normal wie eisüberzogene Narzissen zu Ostern. Ein Schneesturm jedoch war ein Drama, bei dem das Haus einzustürzen drohte. Mit absurder Freude verglichen wir ihn mit der schlimmsten Zerstörung, die sich denken ließ: mit der Atombombe.
Schiefergraue Wolken rollten über den Himmel und explodierten zu nadeligen Graupeln. Dann brüllte der eisige Wind Tag und Nacht, peitschte den Schnee von einem Winkel in den anderen und fegte, unvorhersehbar, die Eisenbahnschienen und den Friedhof blank, unsere Außenposten und Grenzgebiete, die Ränder, an denen wir kehrtmachten und heimgingen.
Am Tag des Sturms saßen wir in der Schule fest, wütend darüber, daß wir immer noch auf die Mutter von einer von uns warten mußten, damit sie uns nach Hause brachte, obwohl wir doch schon acht Jahre alt waren. In den vorangegangenen Jahren waren die Klassenmütter bei Schneestürmen immer mit einem Teller, hochbeladen mit Regenbogensandwiches, gekommen – Dosenfleisch, Käse und süßer Aufstrich auf Brot, in dünne Streifen geschnitten –, und wir konnten alle hingehen und uns bedienen, aber immer nur eins. Ich erinnerte mich daran, daß ich insgeheim erleichtert war, mich bei zwei anderen einhaken zu können und Teil einer dunklen Horde mit improvisierten Kopfbedeckungen zu sein, die Williams Mutter bis zum ersten Lichtschein unserer eigenen Veranden folgte, wo wir dann unseren Müttern übergeben wurden.
Jewels Mutter kam hereingefegt und zog ihren Liebling an, Hanks Onkel kam und holte alle ab, die auf der Wynona Avenue wohnten. Es gab keine Sandwiches, aber John Goodsons Vater brachte Vanillewaffeln mit. Pfannkuchen aus Schnee glitten an den Glasscheiben herunter, rannen in die doppelte Pappe der Fensterfüllungen und tropften dann auf die Heizung. Ich schaute dabei zu.
Das war das einzige Mal, daß mein Vater jemals in die Schule kam, und er kam nicht einfach nur, er trat von außen heftig gegen die Klassenzimmertür. Als Miss Brown öffnete, stand mein schneebedeckter Vater in seiner rotschwarzen dicken Wolljacke und dem Jagdkäppi da und hielt eine mit einer Armeedecke abgedeckte Apfelsinenkiste in den Armen. »Hallo«, sagte er zu ihr. Er lächelte. Sie wandte sich ohne ein Wort zu sagen ab und wußte nicht, wohin mit ihren Augen.
»Das ist von den Klassenmüttern – genug Chili, um euch alle sattzukriegen«, sagte er.
Miss Brown schüttelte die Decke aus und hob den Einmachtopf meiner Mutter aus der Kiste, danach Schachteln mit Crackern, Pappbechern und Girlanden aus papierverpackten Holzlöffeln, die wie Achten aussahen. Was für ein Tag! Wir stellten uns an, bekamen unsere Becher gefüllt, setzten uns hin, wo wir wollten, und aßen.
Am anderen Ende des Zimmers breitete Miss Brown die Jacke meines Vaters über der Heizung aus, und die Wolle dampfte und schmorte. Mein Vater saß groß auf dem letzten Tisch in einer Reihe, Miss Brown kleiner in einer anderen am Gang, sie sah ihn an, und die beiden unterhielten sich, während wir unser Chili aßen.
Sie schälte ihre Orange und ließ ihre Beine in den Gang hinaus baumeln. Sie reichte sie ihm, eine Blumengabe auf einem Porzellanteller. Er schüttelte den Kopf. Sie aß einen Schnitzer, kirschglänzende Fingerspitzen zwischen kirschroten Lippen, ganz schicklich. Mein Vater redete. Er griff nach einem Stück von ihrer Orange. Sie redete. Sie redete. Er redete. Sie beugte sich vor und lachte, und ihr schweres, nur mühsam zu bändigendes krauses Haar fiel nach vorn und bedeckte ihr Gesicht. Sie warf ihm einen Blick durchs Haar zu. Sie richtete sich wieder auf und warf das Haar nach hinten, hielt es mit beiden Händen dort fest und breitete die Ellbogen wie Engelsflügel aus. Sie ließ ihr Haar los, schüttelte es zurecht, schlug die Beine übereinander und redete und redete.
Sie lächelte und berührte die bunte, mit einem Papagei bestickte Schulter ihres Kleids. Mein Vater lächelte und zeigte seine strahlend weißen Zähne. Ein hübsches Kleid. Schwarzes Crêpe, französisch. Sie machte einen Buckel und baumelte mit den Beinen wie ein Mädchen auf der Schaukel. Als mein Vater aufstand, um zu gehen, glitt er mit den Armen in die von ihr aufgehaltene Jacke. Sie hielt uns – »Wiedersehen, James« – die Tür auf.
Ganz egal, wie schnell er ging, ich blieb einen Schritt hinter ihm und trat tief in seine Fußstapfen, die Sherman Alley hinunter und die Lenexa Avenue entlang. Obwohl er die Kiste trug, wurde er kein bißchen langsamer. Ich überholte ihn, als wir in unsere enge Gasse bogen, und versuchte mit kribbelnden Füßen nach Hause zu laufen. Nach all der Eile hatte ich meiner Mutter, die mir, über meine kalten Füße in der Waschschüssel gebeugt, ihre Version von Nat »King« Coles »Sweet Lorraine« vorsang – Just found joy, he’s as happy as a baby boy, with another brand-new choo-choo toy, now he’s found his sweet Irene, Irene, Irene –, nichts mehr zu erzählen.
Der Winter schien endgültig und ausweglos, aber der Frühling kam so schüchtern und verspielt daher wie ein unschuldiges Mädchen, das so tut, als sei es erfahren. Eines Tages spürte man einen beinahe milden Hauch, ahnte den Duft der Krokusse oder bemerkte den fast violetten Sechs-Uhr-Himmel, und man dachte, daß es Frühling sei.
Mir war das ziemlich gleichgültig. Irgend etwas war in unser Haus eingedrungen. Ich beäugte den Bauch meiner Mutter.
»Sei nicht albern, Mädchen, ich hab schon fast meine Figur zurück«, sagte sie.
Aber das war es nicht. Irgend etwas Namenloses, Unsichtbares hatte sich bei uns eingenistet. Ich konnte es zum Beispiel daran erkennen, daß meinem Vater nichts recht war.
»Pearl, fällt dir eigentlich nichts anderes zu kochen ein als Nackenkotelett? Das Zeug schmeckt einfach grauenhaft. Haben wir denn außer Rührkuchen nichts Süßes?« sagte er.
Er war ungeduldig mit Junie – »Bring den Jungen zur Ruhe oder schaff ihn hier raus.« Oder er achtete nicht auf die Gefühle meiner Mutter – »Du siehst in dem Kleid einfach unmöglich aus.« Oder er war nicht da und spielte spät in der Nacht irgendwo Whist mit »Gott weiß wem«, wie meine Mutter sie nannte.
Ich hörte es an der Art, wie meine Mutter sagte: »Reenie, sei still«, oder: »Mach den Mund auf, Mädchen«, oder: »Du solltest mit dem Kochen doch schon längst fertig sein. Geh, spiel mit deinem Bruder.« Sie blieb stundenlang in ihrem Schlafzimmer und kam mit geschwollenen Augen heraus.
Sie weinte über meine Großmutter, sagte sie; sie war gestorben, als ich vier war. Sie weinte über meinen Onkel, sagte sie; er war in Korea. Über Junies Ausschlag, die Verbrennung an ihrer Bügelhand, ein Loch in meinem Strumpf. Über nichts, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung.«
Aber es war da.
Viel zu früh, noch vor dem Vogelgezwitscher, hörte ich eines Morgens das Schlurfen der Arbeitsschuhe meines Vaters und die Stimme meiner Mutter, die sich derart überschlug, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Türen und Schubladen knallten, ihre Stimmen wurden laut, breiteten sich aus und stießen durch den Fußboden und die Wände.
Als die schweren Schuhe meines Vaters zur Haustür und den Weg zum Bürgersteig hinunter donnerten, ohne sich auch nur für einen Augenblick so anzuhören, als mache er kehrt, rannte ich ans Fenster. In einem Morgenlicht, das war wie graue Gaze, sah ich, wie er einen großen Koffer in die Kabine seines Lasters schwang.
Ich konnte kaum meine eigene Stimme »Warum« fragen hören. Meine Mutter konnte kaum sagen: »Nur für eine Weile.«
Ich zählte die Tage und versuchte mir einzubilden, daß mein Vater auf einer Reise sei. Aber an den Abenden, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, wenn die ganze Nachbarschaft sich in die Küchen zurückzuziehen schien und ich allein an unserem Tisch saß und meiner Mutter zusah, die am Fenster stand und langsam in die Nacht hinein kaute – ihr ganzes Essen zwischen zwei Scheiben Brot –, wußte ich, daß mein Vater fort war.
Zuerst hielt er sich fern, doch schließlich gewöhnte er sich an, vorbeizuschauen und Geld oder Nahrungsmittel oder nur sich selbst mitzubringen, damit wir ihn sahen. Meine Mutter war dann immer in der Küche beschäftigt oder oben, und ich blieb zurück und fragte laut, warum und wo und für wie lange er noch dort bleiben würde, wo immer er wohnte, und wer ihm das Essen kochte.
»Immer langsam, Reenie«, sagte er. »Das ist eine Sache zwischen deiner Mutter und mir.« Aber er sagte zu mir, ganz egal, wo er wohne, er würde mich, wenn die Schule vorüber war, zum Wildgemüsesuchen mitnehmen und mir beibringen, wie man die guten Pilze von den schlechten unterscheidet. Ich war erleichtert, das zu hören, aber bis zum Ende des Schuljahrs war es noch eine Ewigkeit, etwas, was ich mir nicht vorstellen konnte.
An den Sonntagen aß mein Vater bei uns zu Mittag. Wenn er nach dem Essen auf dem Sofa einschlief, Junie ein dösendes Bündel auf seiner Brust, sahen meine Mutter und ich zu; wir taten so, als seien wir mit Nähen und Hausaufgaben beschäftigt, aber tatsächlich schauten wir zu, wie es wohl wäre, wenn wir irgendwie das Leben, das wir zusammen gehabt hatten, wieder zusammenflicken könnten.
Und dann, eines Morgens, nahm ich eine Abkürzung durch die Senke, und als ich an der Schule ankam, sah ich, wie ein blauer Laster mit Ladefläche losfuhr, genau wie der von meinem Vater, und Miss Brown das Gebäude betrat. Ich wollte erst rufen, aber der Mann in dem Laster trug einen Filzhut mit Krempe, die Art, die Männer zur Kirche tragen. Mein Vater besaß nur ein Jagdkäppi. Und außerdem, so legte ich es mir zurecht, mußte mein Vater schon lange, bevor ich in die Schule mußte, bei der Arbeit sein; er konnte es nicht gewesen sein.
Etwa um die Zeit kam mir die Schule sinnlos vor. Ostern kam und ging vorbei, und selbst mein neuer Faltenrock aus Leinen konnte mich nicht aufmuntern. Ich gab meinen Platz als Klassenbeste auf und beendete meine Freundschaft mit Jewel, und als wir in drei Kirchenbussen unseren jährlichen Schulausflug zur Nelson Gallery of Art machten und die Klassenmütter und Lehrerinnen unsere überschäumende Energie unter Kontrolle halten mußten, war ich wohl reif für eine neue Geisteshaltung.
In den darauffolgenden Tagen fing ich an zu malen. Völlig grundlos malte ich Bäume. Kahle Winterbäume, holzkohlenschwarz auf weißem Papier. Bäume ohne Knospen, ohne Blätter. Bäume, deren Wurzeln bis ins Nichts hinabreichten, Bäume, die nur durch den Raum auf dem weißen Blatt an ihrem Platz gehalten wurden. »Frühlingsgefühle«, sagte Miss Brown. Ich zeichnete dürre Äste und Zweige auf die Ränder unvollständiger Hausaufgaben und schlechter Klassenarbeiten.
»Nun verrat mir doch mal, was in dich gefahren ist, Irene«, sagte sie. Ich lernte immer weniger und zeichnete immer mehr Bäume, und sie strich sie mit roten X’en durch und fragte, warum ich so aussähe, als wolle ich gleich mit offenen Augen einschlafen. Ich zeichnete noch mehr, und sie zwang mich, die Aufgaben neu zu machen. Statt dessen zeichnete ich weiter schwarze Bäume, und sie behielt mich nahe bei ihrem Pult, achtete auf meine Aufgaben und stellte mir Fragen nach meiner Mutter und meinem Vater, die sie nichts angingen.
Es regnete. Es regnete noch mehr. Und an einem dieser verregneten Nachmittage, an denen wir die Pause über drinnen blieben, verließ Miss Brown das Zimmer. Hank Mizell wühlte im Vorratsschrank herum und tauchte mit einer Schachtel Kotex wieder auf, die Miss Brown für intime weibliche Katastrophen bereithielt. Unter herausfordernden Blicken beschmierte er eine der Binden mit roter Farbe. Miss Brown kam genau im richtigen Augenblick herein und erwischte ihn dabei, wie er die Binde in einer nicht gerade frommen Haltung auf ihren Stuhl legte.
»Raus!« Sie griff nach seinem Arm. Er entwischte ihr.
»Rühren Sie mich ja nicht an«, sagte er.
Sie packte diesmal schneller zu und erwischte ihn am Arm.
»Ich sagte, raus hier!« Und sie wies zur Tür.
»Lassen Sie mich los, Sie verdammte schwarze Schlampe! Meine Mama sagt, Sie sind eine Hure.« Und Hank sah mich an. Miss Brown sah mich ebenfalls an und wandte sich dann wieder ihm zu.
Ihr Blick strahlte eine solche Wut aus, daß wir alle den stummen Fluch spürten, mit dem sie ihn versengte, bevor sie kehrtmachte und erhobenen Hauptes zur Tür hinausstolzierte; ihr verwischter Teufelskuß leuchtete rosa. Hank sank zusammen und schlich hinter ihr her. Ich rannte zur Tür und sah ihnen, Henne und Küken, den ganzen Flur bis zum Büro nach.
Am nächsten Tag gab es Gerüchte, daß Hanks Mutter in die Schule kommen wollte, um die ganze Geschichte zu klären. Hank Mizells Familie gehörte das Beerdigungsinstitut, und so etepetete seine Mutter darin war, ihren guten Ruf zu wahren, so taub, stumm und blind war sie, wenn es um Hank ging. Wir waren aufgeregt. Unserer Jewel zufolge hatte Hank seiner Mutter erzählt, daß Miss Brown ihn geschlagen habe, draußen auf dem Gang sei es passiert, und daher stamme auch der Kratzer, den er hatte. Seine Mutter wolle Miss Brown vor die Behörde bringen, sagte Jewel. Vor die allmächtige, keinerlei körperliche Züchtigung duldende Schulbehörde.
Die Schuldirektorin wirkte bedrängt. »Wer hat gesehen, was zwischen Miss Brown und Hank Mizell vorgefallen ist?«
Alle Hände gingen hoch.
»Wer möchte mit mir ins Büro kommen und darüber sprechen?«
Alle Hände gingen runter.
Noch angespannter, drängte sie. »John Goodson?«
»Ich erinnere mich nicht an alles«, sagte er.
»Jewel Hicks?«
»Meine Mutter hat gesagt, ich soll nicht immer alles erzählen, was ich weiß«, sagte sie.
»Irene?«
Ich schwieg.
»In mein Büro, Irene.«
Im Büro setzten sich alle im Halbkreis vor den Schreibtisch der Direktorin. An einem Ende saß Miss October Brown aufrecht in einem Lehnstuhl, die beiden hochhackigen Füße auf dem Boden, und blätterte in einer Ausgabe des Weekly Reader, als sei sie allein im Zimmer. Sie faltete die Zeitung zusammen und verschränkte die Arme. Neben ihr saß Hanks Mutter. Sie trug einen ganzen Fuchs über der Schulter, und seine Glasaugen starrten in meine Richtung. Über die Lehne ihres Stuhls hinweg hielt sie Hanks Hand. Dann Hank, gebeugt und verkrampft im Griff seiner Mutter. Dann der Hausmeister, ebenfalls gebeugt.
»Setz dich, Irene«, sagte die Direktorin.
Ich strich die Falten meines Leinenrocks glatt und setzte mich vorsichtig.
Die Direktorin sagte: »Ich möchte Sie alle wissen lassen, daß wir hier versammelt sind, um diese Geschichte zu klären. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß wir damit schneller zu Rande kommen, wenn jeder von Ihnen einfach die Wahrheit sagt.« Und sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch.
»Henry, würdest du bitte anfangen und uns erzählen, was gestern geschehen ist?«
»Ja, Ma’am«, sagte Hank. In seiner Geschichte ging es darum, daß er erwischt worden sei, weil er sich von seinem Platz entfernt habe, obwohl doch Pause war, daß er von ihr am Arm gezerrt worden sei, der immer noch schmerze, daß er so sehr bedroht worden sei, daß er geflucht habe, und daß er geschlagen worden sei.
»Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben, richtig fest, und ihre Fingernägel sind scharf«, sagte er. »Sie haben mich gekratzt.«
Miss Brown schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. Hank Mizells Mutter besah sich die kirschroten Fingernägel und seufzte wie eine zu Unrecht Beschuldigte.
»Miss Brown?« sagte die Direktorin.
»Vorweg möchte ich Sie alle an etwas erinnern«, sagte Miss Brown, »dies ist nicht das erste Mal, daß Henry Mizell sich eines Fehlverhaltens schuldig macht, das nicht hingenommen werden kann, und es ist auch nicht seine erste Lüge.«
»Ich muß doch bitten«, sagte Hanks Mutter. »So reden Sie nicht in meinem Beisein über meinen Sohn. Das muß ich mir nicht bieten lassen.«
»Bitte, Mrs. Mizell, lassen Sie Miss Brown zu Ende sprechen.« Die Direktorin rang die Hände, während Miss Brown ihre Geschichte erzählte, unter anderem auch ihre Anweisung an die Klasse, auf den Plätzen zu bleiben, wenn wir malten, ihren Schock angesichts der Binde und die Beleidigung.
»Ich habe ihn am Arm gefaßt, um ihn für einen Augenblick zurückzuhalten, weil er gerade weglaufen wollte«, sagte sie. »Abgesehen davon habe ich ihm keinerlei körperliche Gewalt angetan.«
Der Hausmeister sprach, ohne aufzublicken. »Wissen Sie«, sagte er, »Sie sollten irgendeine Möglichkeit finden, wie die Kinder drinnen spielen können. Sie müssen sich austoben, wenn sie den ganzen Tag zusammengepfercht sind, sonst gibt’s Scherereien. Der Junge hat was falsch gemacht, aber ich finde, er mußte nur mehr Bewegung haben, und die Lehrerin auch. Vielleicht, wenn sie alle –«
Die Direktorin unterbrach ihn. »Haben Sie Miss Brown und Henry gestern im Flur gesehen?«
»Aber sicher.«
»Haben Sie gesehen, daß Miss Brown irgend etwas getan hat? Ich meine, Henry gegenüber.«
»Nein, Ma’am, hab ich nicht. Aber wissen Sie, diese Augen werden langsam alt, und da draußen ist es nicht hell genug. Ich glaub, ich hätte ihn schon gehört, wenn sie ihm eine geschmiert hätte. Aber vielleicht hat er ja auch nichts gesagt. Vielleicht hatte er Angst.«
Für einen Augenblick blieben wir ganz still.
»Irene?« sagte die Direktorin leise. Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich sah zu, wie meine Hände sich entfalteten und den Rock glattstrichen. Ich sah Miss Brown an, die mir ihren »Ich bin stolz auf dich«-Blick zuwarf. Ich sah die Direktorin an, und obwohl mein Mund ganz trocken war, meine Hände zitterten und das Herz in den Ohren pochte, sah ich ihr direkt in die Augen, so wie es Leute tun, wenn sie die Wahrheit sagen.
»Ja«, sagte ich. »Sie hat’s getan.« Ich sagte ruhig und deutlich, »sie hat ihn geschlagen.«
»Irene!« Miss Brown erhob sich. Ihr Teufelskuß glühte feuerrot, wie jedesmal, wenn sie wütend wurde. Aber sie setzte sich langsam wieder hin.
»Weiter, Irene«, sagte die Direktorin.
»Kurz bevor sie am Büro ankamen«, sagte ich, »hat sie sich umgedreht und ihn geschlagen. Ich konnte sie von der Tür aus sehen«, sagte ich. »Ich glaube, sie hat die Nerven verloren, weil er ihr ein übles Schimpfwort an den Kopf geworfen hat.«